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Im Feenpalast

Für diejenigen, die sich mit dem Feenvolk nicht recht auskennen:

Also, Feen sind gute Frauen mit viel Weisheit im Kopf. Meistens erscheinen sie einem als Menschenfrauen, vielleicht etwas schrullig, aber immerhin erkennbar. Häufig aber ziehen sie es vor, sich unsichtbar zu machen. Hauptsächlich wenn sie auf Reisen gehen, denn da müssen sie große Strecken zurücklegen und das geht in der unsichtbaren Form am schnellsten.

Selbstverständlich können sie auch zaubern, ganz klar. Sehr alte und uralte Feen wohnen gerne in Luftschlössern und alten Burgen, in Nebelschwaden und Wolken­palästen. Einmal im Jahr lädt die Feenkönigin ein zum geselligen Beisammensein. Da werden dann Geschichten erzählt, der neueste Klatsch herumgetratscht, aber auch viel Schönes erdacht.

Und schon sind wir mittendrin im Feenspektakel. Der Wind hatte die königliche Einladung weithin übers Land getragen, der Blitz hat um Aufmerksamkeit gebeten und der Donner hat es hinterdrein gebrüllt. „An alle Feen und Elfen, an alle Feen und Elfen… am Sonnwendstag ist großes Feentreffen, wie immer im Kristallpalast der Feenkönigin. Ich wiederhole: an alle Feen und Elfen, an alle Feen und Elfen…!“

Mein Lieber, da war vielleicht was los! Sie huschten, die Feen und sie machten sich schön. Sie tauchten ihre Zauberstäbe noch rasch mal in die Zauberbrühe, damit sie nur ja recht scharf wurden und sie verständigten die Blumenelfen, damit sie ihnen zu Hilfe kämen, falls sie bei der Feenkönigin irgendetwas brauchten.

 

Und jetzt ist es soweit. Die Feenkönigin sitzt in ihrem golddurchwirkten Schleiergewand auf ihrem Thron aus himmelblauem, durchsichtigen Aquamarin, die Elfen haben ihr ein weiches Daunenkissen draufgelegt, damit es nicht so hart ist bei der langen Sitzung. Die Grillen zirpen bereits Ouvertüren, Stare und Amseln sind angetreten zum Vogelchor, ein heller Gongschlag ertönt und es geht los.

„Ich freue mich, dass ihr wieder so zahlreich erschienen seid, meine Lieben“, begrüßt die Königin die Feenschar. „Es wird viel zu erzählen geben und deswegen schlage ich vor, wir fangen gleich damit an. Ich werfe euch jetzt meinen Federball zu und wer ihn auffängt, darf beginnen. Hier – aufgepasst!“

Der Federball fliegt durch die Luft und hach! Da hat ihn eine der Feen gefangen. Es ist Ingard, eine noch junge Fee, die bei den Menschen wohnt. Braune Löckchen umrahmen ihr Gesicht und sie ist gekleidet in ein braunes Seidengewand, auf dem orangefarbene Muster schillern. Überrascht schaut sie in die Runde und sagt: „Was soll ich euch jetzt bloß erzählen! Wartet mal, lasst mich nachdenken.“ Ingard macht die Augen zu und überlegt. Allmählich entspannen sich ihre Züge, sie lächelt und sieht jetzt aus wie ein Kätzchen, das gleich anfangen wird zu schnurren.

„Ach ja, da fällt mir was ein“, sagt sie schließlich. "Es handelt sich um ein Waisenkind. Aber um was für eins, das werd' ich euch jetzt erzählen." Und sie beginnt.

Das Waisenkind

 

 „Es war voriges Jahr im Frühling. Ich hielt mich gerade im Schloßgarten auf. Ostern war eigentlich schon vorbei. Die erschöpften Osterhasen hatten alle Urlaub und erholten sich im grünen Gras.

Hoppla, ein Hasenmädchen und sein Freund Rübchen streunten am Waldrand entlang und kosteten von den frischen Frühlingskräutern. Auf einmal stutzte Rübchen. "Hoppla, komm doch mal her!" rief er. "Schau mal, da liegt ein vergessenes Osterei in dem Grasbüschel!"

Hoppla kam neugierig nachschauen. "Wer macht denn sowas! Ein graues Osterei! Nur gut, daß es niemand gefunden hat, man müßte sich ja schämen als Osterhase!" schimpfte sie. Im Nu hatte sich eine Horde Spatzen im Gebüsch um die beiden versammelt.

"Vielleicht war's ein Opa-Osterhase!" spottete einer.

"Haha, tschilp, tschilp - ein Opa-Osterhase, ein Opa-Osterhase!" fielen die anderen mit ein.

Da tauchte ein hübsches Rotkehlchen auf. Sehr zurückhaltend blieb es etwas abseits sitzen. "Pieps", machte das hübsche Ding. "Was ist los? Pieps, piepsi!"

Das feine Stimmchen ging unter bei dem lauten Getschilpe der Spatzen. Eine Amsel kam angeflogen.

 "Türeli-türerürelii", sang sie. "Schreit doch nicht so laut!" Aber die Spatzen lärmten weiter. "Ein graues, altes Osterei! Von einem grauen alten Opa-Osterhasen! Tschilp, tschalp, tschulp, hihihihi!"

"Tiretireli - na und?" sang die Amsel.

Nun begann es hoch in den Bäumen über ihnen energisch zu klopfen. Es war ein Specht-Ehepaar, das in der Rinde nach Maden suchte. Frau Specht äugte neugierig hinunter auf die aufgeregte Gesellschaft.

 

 

"Du, Spechti", sagte sie zu ihrem Mann, "die haben da unten ein Ei gefunden. Gehen wir mal nachschauen, von wem es ist?"

"Geh du, ich hab gerade ein Nest mit Larven entdeckt. Mmm, mhmhm!"

Frau Specht flog also runter und setzte sich neben das merkwürdige Ei.

"Ein Opa-Osterhasenei!" schrien gleich wieder die Spatzen.

"Ach Quatsch", sagte Frau Specht. Es ist ein ganz normales Ei, das irgendwo aus dem Nest gefallen ist. Es muß ganz schnell wieder ins Warme und ausgebrütet werden. Wer übernimmt das?"

"Mein Nest ist voll!" flötete die Amsel.

"Für uns ist es zu groß", schrien die Spatzen. Und das Rotkehlchen machte "pieps! Für mich auch." Da griff sich Frau Specht kurzerhand das Ei und flatterte damit zu ihrem eigenen Nest in einer Baumhöhle. Zwar lagen da schon etliche eigene Eierchen. Doch für das da war gerade noch Platz. Frau Specht setzte sich auf das ganze Gelege und blieb da sitzen, um es auszubrüten. Herr Specht fütterte sie und nach mehreren Tagen begann es sich unter ihr zu regen. Ein Ei nach dem anderen bekam Sprünge und ein kleines Vögelchen arbeitete sich daraus hervor. Als letztes rührte es sich in dem grauen Überraschungsei. Frau Specht half ein bißchen nach - und dann erstarrte sie vor Schreck. Was da heraus kam, sah ihren eigenen Vogelkindern überhaupt nicht ähnlich. Das mit Eigelb verschmierte Köpfchen war breit und groß, der große Schnabel saß mitten im Gesicht und war nach unten gebogen. Es sah fast aus wie ein menschliches Gesicht mit einer Nase. Was für einen Unhold hatte sie sich da ins Nest geholt? Nach viel Gestrampel lag das seltsame Vögelchen endlich erschöpft vor ihr. Ach, wie häßlich fand sie es doch! Ihre eigenen Kinder begannen bereits nach Futter zu schreien. Sie mußte los, um welches zu besorgen. Draußen vor dem Nest traf sie ihren Gatten.

"Spechti, das neue ist gerade geschlüpft. Erschrick nicht, es sieht fürchterlich aus. Was sollen wir jetzt machen?"

Papa Specht lugte ins Nest. Im Nu gellte ihm das Hungergeschrei seiner Brut entgegen. Er stopfte in die aufgerissenen Schnäbelchen, was er mitgebracht hatte und sah nun auch das komische Vogelkind da liegen.

Oh Mannomann, war das häßlich! Seine Augen waren noch geschlossen, wie bei den anderen Kleinen in den ersten Tagen auch. Aber seinen krummen Schnabel hatte es schon aufgesperrt und wartete auf Futter. Was half's? Es mußte mit gefüttert werden, man konnte das arme Waisenkind doch nicht verhungern lassen. Schnell machte er sich wieder davon auf Futtersuche.

Die Zeit verging, den Vogelkindern wuchs ein weicher Flaum, ihre Äuglein waren auch schon aufgegangen und sie piepsten und schrien von früh bis spät nach Futter. Nur das abscheuliche Findelkind rührte sich fast nicht. Es schlief den ganzen Tag und wenn es Abend wurde und die Eltern todmüde ihre Schlafplätze aufsuchen wollten, begann es zu schreien und zu quäken und schien fast am Verhungern zu sein. Die armen Vogel-Stiefeltern mußten bis tief in die Dämmerung hinein nach Nahrung suchen, um den schreienden Fremdling satt zu bekommen. Erst wenn sie vor Dunkelheit nichts mehr sehen konnten, gingen auch sie schlafen. Der kleine Piepmatz mußte sich zufrieden geben mit dem, was Spechtens so spät am Abend noch auftreiben konnten. So ging es Tag für Tag. Tagsüber schlief er und abends schrie er seinen Hunger hinaus.

Die Spechtkinder waren inzwischen herangewachsen, hatten ein Federkleid bekommen und im Nest wurde es allmählich zu eng. Es gab viel Streitereien deswegen und schon probierten einige, hinauf zum Einflugloch zu gelangen. Wer am ersten dort war, bekam auch als erstes was Gutes in den Schnabel gesteckt. Es war ein heiß umkämpfter Platz da oben an der Haustür. Nur der dicke Graue blieb still liegen. Er schlief den ganzen Tag und machte niemandem Schwierigkeiten. Erst abends, wenn die anderen schon schliefen, kletterte er hinauf zum Loch und sah in die dunkle Nacht hinaus. Dort blieb er sitzen, auch wenn die Spechteltern schon längst zur Ruhe gegangen waren. Er schlug seine großen, runden Augen auf und besah sich still die ganze Umgebung. Er konnte gut sehen, der Kleine. Er sah den Fuchs durch den Wald streichen, beobachtete die flinken Mäuschen, die am Waldboden hin- und her huschten, horchte in die Nacht hinaus - und hatte Sehnsucht. Er wußte selbst nicht, warum. Denn er hatte es doch gut. Niemand belästigte ihn, er bekam genügend zu essen und er hatte es warm und mollig hier im Nest. Aber er sehnte sich nach etwas, nur, nach was? Er konnte es ja nicht wissen, daß es das elterliche Nestchen war, das ihm abging. Seine eigenen Geschwister, die er vermutlich hatte und vor allem seine wirklichen Eltern. Leute, die ihm ähnlich sahen und die wußten, was ihm fehlte.

 

 

Niemand redete hier mit ihm. Wie auch! Er schlief ja den ganzen Tag und wenn er munter wurde, lagen die anderen müde im Bett, hatten keine Lust mehr, sich zu unterhalten. So wuchs der kleine Fremdling wortlos auf, saß am Eingang und starrte traurig in die Nacht hinaus. "Ich glaube, er ist mondsüchtig", meinte eines Abends Mutter Specht, als sie ihn so reglos da sitzen und starren sah. "Hoffentlich fällt er uns nicht mal runter. Ist ja keiner da, der ihm helfen könnte in der Nacht."

"Und wenn schon", antwortete Spechti, "dann hätten wir die Verantwortung los."

Frau Specht sagte nichts darauf, aber sie dachte sich wohl was Ähnliches.

Wieder einmal war es Nacht. Doch diesmal eine helle. Der Vollmond war aufgegangen und der ganze Wald stand wie versilbert in seinem Licht. Der kleine Nachtschwärmer saß im Eingang und sah mit großen Augen um sich. Wie war es schön und still bei Nacht. All die kleinen Geräusche, das Geraschel und Geknackse des nächtlichen Treibens waren ihm vertraut. Es zog ihn hinaus in dieses Unbekannte, Geheimnisvolle. Doch es war niemand da, der es ihn gelehrt hätte, sich von seinem Platz zu schwingen und hinabzugleiten in die Dunkelheit. Er sah und guckte.

Plötzlich drang ein Ton an sein Ohr. Ein vertrauter, wie ihm schien. Obwohl, er hatte ihn noch nie gehört. Es klang wie "kiwitt, kiwitt", und es verlor sich in der Ferne. Der Kleine lauschte. Von weit her klang es wieder: "kiwitt, kiwitt!" Ihm war, als riefe ihn jemand. Zaghaft versuchte auch er, sich bemerkbar zu machen. "Kiwwww, keeewett, kewett", kam es heraus. Und ganz leise noch dazu. Er verstummte wieder. Nach einiger Zeit hörte er, wie etwas durch den Wald schwebte. Ganz deutlich konnte er vernehmen, wie es sich auf einen Ast setzte, ein bißchen mit den Flügeln schlug. Noch einmal tönte dieses "kiwitt, kiwitt" zu ihm herüber. Seine Sehnsucht wurde grenzenlos. Er wünschte sich so sehr, mit diesem großen Vogel dort durch den Wald zu schweben, weg von der kleinen Baumhöhle, weg von diesen lärmenden Geschwistern. Er reckte sich und schrie aus tiefster Kehle ein "kiwitt, kiwitt" hinaus, daß es fast klang wie echt. Gleich noch einmal. Diesmal wurde es schon besser. Dann verstummte er wieder und wartete.

Der große Vogel da drüben auf dem Ast war neugierig geworden. Lautlos verließ er seinen Platz und schwebte auf den Kleinen zu. Er ließ sich ganz nah ihm gegenüber auf einer Buche nieder, machte seine großen, runden Augen auf und zu und beäugte sich den Kleinen gründlich.

"Wie kommst du denn da her?" fragte er schließlich.

"Ich wohne hier", antwortete der Kleine.

"Das ist doch bei Specht's, da gehörst du doch gar nicht hin!" sagte der Große vorwurfsvoll.

"Nein? Davon weiß ich nichts. Ich wohne immer schon da."

"Aber du bist doch kein Specht", wunderte sich der andere wieder.

"Wenn du es sagst!" meinte der Kleine. "Was bin ich denn?"

"Du bist ein Käuzchen, genau wie ich", antwortete der mit den großen Augen. "Ist dir das noch nicht aufgefallen?"

"Weiß nicht", piepste der Kleine. "Aber gefallen tut es mir hier nicht. Kannst du mich nicht mitnehmen?"

"Hm, tja - es wäre wohl das beste", überlegte der große Waldkauz. "Aber was werden deine Eltern sagen? Ich meine, was werden Specht's dazu sagen, wenn du weg bist?"

"Vielleicht ist es ihnen sogar recht, sie sind immer so müde, wenn sie abends zu mir kommen", mutmaßte das Käuzchen.

"Versuchen wir es halt", seufzte der große Kauz. "Ich zeig dir jetzt, was du machen mußt, damit du fliegen lernst. Paß gut auf." Und er machte sich ganz lang, schlug mit den Flügeln, streckte sich dann und schwebte elegant davon. Klein-Käuzchen machte das nach. Er reckte sich hoch, schlug mit den Flügeln und - oh nein, es schwebte durchaus nicht davon. Denn im letzten Moment hatte es Angst bekommen. Er klammerte sich mit den Zehen ganz fest an seinem Platz fest und wäre fast hinuntergefallen, denn er hatte sich bereits vorgebeugt, um ebenfalls davonzuschweben. Doch so einfach war das nicht. Und dann diese Höhe! Da sollte er hinunter? Zum Glück kam der große Kauz wieder angeflogen.

"Nun versuch es nochmal, Kleiner. Also strecken, mit den Flügeln schlagen und dann nach vorne beugen, Flügel ausbreiten und abstoßen!" machte er ihm Mut.

Bis zum Flügel ausbreiten kam er schon, aber mit dem Abstoßen haperte es noch.

 

 

"Ich trau mich nicht!" rief Käuzchen. "Vielleicht morgen?"

Noch ehe der alte Kauz etwas darauf sagen konnte, hörten sie laute "Kiwitt-kiwitt-Rufe" immer näher kommen. "Das sind meine Kinder, die suchen mich", sagte er. Und schon waren sie da, drei kleine Käuzchen, die alle prächtig schweben und "kiwitt" sagen konnten. Sie setzten sich auf die Äste rund um den kleinen Angsthasen und klappten mit ihren großen, runden Augen.

"Wer ist denn das, Papa?" fragten sie.

"Das ist ein Findelkind und es getraut sich nicht zu fliegen. Zeigt es ihm doch, vielleicht gelingt es euch besser, als mir!"

"Schau her! Einfach Flügel ausbreiten und weggleiten. Ist ganz leicht!" machte es ihm der erste vor.

Dann streckte sich der zweite. "Komm mit, kiwitt, komm mit!" rief er und schwebte direkt vor dem Kleinen vorbei.

Der dritte löste sich von seinem Ast und flog um den Baum herum, auf dem der Kleine saß. "Du kannst es, jetzt loslassen! Flügel ausbreiten! Ja! Es geht doch!" rief er, denn das Specht-Käuzchen hatte es ihm tatsächlich nachgemacht, sich gestreckt, mit den Flügeln geschlagen und sich dann einfach fallen gelassen. Und siehe da, die weit ausgestreckten Flügel fingen ihn auf, trugen ihn wieder höher, er bewegte sie leicht und schon befand er sich mitten unter der anderen Käuzchenschar. Sie schwebten über- und unter ihm, der Neue fühlte sich ganz sicher, als könnte ihm nichts geschehen. Er bewegte seine Flügel wie zwei wundervolle Geschenke und sie trugen ihn fort, fort durch den mondhellen Wald, hinaus auf unbekannte Wiesen, die er noch nie gesehen hatte, er war eins mit der Nacht, mit der neuen Kauzfamilie und mit dem schönen, herrlichen Leben. Und er freute sich und war glücklich. Ganz und gar glücklich.

"Kiwitt, kiwitt" riefen sie. Lautlos kam noch ein großer Kauz herangeschwebt. Das war Mutter Waldkauz. "Wo habt ihr denn das Kleine aufgegabelt?" fragte sie Papa Kauz.

"Er saß bei Specht's vor dem Eingang und getraute sich nicht weg"; gab er Auskunft.

Mutter Kauz wurde nachdenklich. "Vielleicht ist es unser Jüngstes, das uns damals gestohlen wurde, als ich kurz Pause machte vom Brüten."

"Kann schon sein"; sagte der Papa und sie flogen ihren Kindern nach.

Noch lange hörte man ihr "kiwitt-kiwitt", nur eines war dabei, das klang ein bißchen daneben. Aber es wird schon noch, es hat je jetzt nach Haus gefunden. 

 

 

 

Einen Augenblick herrscht Schweigen. Aber dann beginnen sie alle zu klatschen. „Das war aber eine hübsche Geschichte, Ingard!“ ruft jemand. „Gib’s zu, da hast du selber die Finger mit im Spiel gehabt.“

„Nein, nein, die Vögel haben alles unter sich selbst ausgemacht. Ich hab mich überhaupt nicht eingemischt, nur zugehört.“

Wieder ertönt der Gong. Die Feenkönigin ruft: „Zur Sache, meine Lieben! Ingard hat uns eine schöne Geschichte erzählt, wie wir uns das wünschten. Nun wollen wir noch mehr hören. Wer fängt den Ball?“ Wieder wirft sie den Ball aus bunten Kolibrifedern in die Menge. Die Hände fliegen in die Höhe, eine der Damen schreit entzückt: “Isch abe ihn, isch werde euch erzählen! Pscht, pscht!" Diesmal ist es eine Französin, deswegen die seltsame Aussprache. Uta heißt sie. Uta ist aus den Vogesen in Frankreich angereist. Sie bewohnt dort einen Wolkenpalast über den Ballons, diesen Stauseen. Blonde Haare rieseln ihr über die Schultern, worin sich das Sonnenlicht fängt. Über ihrem pinkfarbenen Gewand trägt sie einen Schleier mit silbernen Sternchen. Sie sieht in die Runde und hebt ihren Zauberstab. Im Nu herrscht Stille, aller Augen sind erwartungsvoll auf sie gerichtet.

„Isch erzähle euch eine Geschichte, die isch nicht selbst erlebt abe. Aber sie stammt aus zuverlässigen Quellen. Stellt euch vor, die Wichtel vom Walde waren bei den Menschen!“

„Was?“ „Das gibt es doch nicht!“ „Die Wichtel? Niemals, das glaub ich nicht!“ so ruft es durcheinander. Wieder legt Uta ihren Finger auf den Mund, dreht sich rundherum und macht „Pscht, pscht! Isch werde euch erzählen.“ Das wirkt. Uta schüttelt ihr langes blondes Haar und beginnt. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Wichtel vom Walde

  

Im tiefen Wald, da, wo sich Fuchs und Has gut Nacht sagen, wohnen die Wichtelmännchen. Man kann sie nicht erkennen, weil sie Kleider haben aus Gras und Blättern, aus Rinde und Moos. Und als Knöpfe nehmen sie bunte Beeren. Es ist noch früh am Morgen, die Sonnenstrahlen fangen gerade an, die Tautropfen zu kitzeln, da sitzen die kleinen Wichtel schon zusammen und halten Unterricht. Der Herr Lehrer ist ein großer, alter Wichtel mit einer Hose aus Birkenrinde und einem schönen grünen Pullover drüber. Den hat ihm seine Frau gestrickt aus lauter feinen Grashalmen. Er heißt Hutzel und ist mindestens so groß wie ein ausgewachsener Fliegenpilz.

Die kleinen Wichtel sitzen vor ihm auf hübschen Moospolstern und sind schon neugierig auf die erste Schulstunde heute.

„Wer sagt mir, was wir zuletzt gelernt haben?“ fragt der Lehrer. Ein Wichtelchen mit einer umgestülpten Blume auf dem Kopf meldet sich eifrig.

„Wir hatten Naturkunde und wir haben die verschiedenen Käferarten durchgenommen“, sagt Sabelinchen, das Wichtelmädchen.

„Sehr gut, fein gemerkt!“ lobt Herr Lehrer Hutzel. „Heute wollen wir mit der Menschenkunde anfangen. Von den Menschen habt ihr sicher schon viel gehört. Irgendwann einmal werdet ihr sie auch zu sehen bekommen. Darauf will ich euch vorbereiten, damit ihr euch nicht zu sehr erschreckt, wenn ihr einmal einem begegnet. Sie sind riesengroß, so groß, dass man sie gar nicht mit einem einzigen Blick erfassen kann.“

 

Die Wichtelkinder staunten ebenso wie die Menschenkinder, wenn ihnen von den Riesensauriern aus der Urzeit berichtet wird. Nur dass man einem Menschen wirklich und wahrhaftig begegnen kann und einem Saurier nicht. Das machte die Sache richtig spannend.

„Wir teilen sie in verschiedene Arten ein“, fuhr Herr Hutzel fort. „Da gibt es Männchen und Weibchen oder in der Menschensprache: Männer und Frauen. Diese wieder werden eingeteilt in Mütter und Väter. Natürlich gibt es auch noch Kinder. Und dann noch die verschiedenen Rassen.“

Nun gab es viele Fragen und der Herr Lehrer hatte Mühe, die Wichtelchen zur Ordnung zu rufen. Als wieder Ruhe eingekehrt war, erzählte er weiter.

“Wir nehmen zuerst die Mütter durch. Von den Müttern kennen die Menschen wiederum drei Unterarten. Die Mütter, die Großmütter und die Schwiegermütter.“ In dem Moment ertönte ein feines Gebimmel wie von vielen Glöckchen. Das waren die Glockenblumen, die die Pause einläuteten. Schon wollten die Schüler fortstürmen, da rief sie Herr Hutzel noch einmal zurück.

„Moment, Moment, ihr bekommt noch eine Hausaufgabe. Versucht einmal herauszufinden, was es mit den Müttern, den Großmüttern und den Schwiegermüttern auf sich hat. Und noch eins. Die Menschen haben einen hübschen Brauch. Sie feiern einmal im Jahr Muttertag. Was könnte das wohl sein? Wer es herausbekommt, darf zum Lohn einmal mit dem Mäusebussard einen Rundflug machen. So, und jetzt schaut, dass ihr wegkommt. In der nächsten Stunde haben wir Schönschreiben!“

 

 

 

Hui, wie flitzten da die kleinen Kerlchen in alle Richtungen, holten ihre Brote aus Geisblattsamen heraus, beschmiert mit Mäusebutter und belegt mit Beerenscheiben. Dazu tranken sie die letzten Tautropfen, die sich versteckt im Wald noch fanden.

Sabelinchen und ihre Freundinnen standen schwatzend und lachend zusammen. „Das traust du dich nie!“ rief gerade Moosmützchen aus. „Und wenn, wie willst du das denn machen?“

„Was traust du dich nicht?“ mischte sich da eine kräftige Jungenstimme ein. Es war Siebenmalgescheit, ein Wichtelschüler, der immer vorne dran sein wollte.

„Ach, das geht dich gar nichts an!“ riefen die Mädchen.

„Und ich trau mich doch!“ sagte da plötzlich Sabelinchen. „Er kann es ruhig wissen, der Siebenmalgescheite. Ich gehe nämlich zu den Menschen und schau sie mir von weitem an.“

„Das tust du nicht, Sabelinchen!“ erschrak da Siebenmalgescheit. „Das ist viel zu gefährlich. Wir kennen sie doch noch gar nicht.“

„Eben. Und wie sollen wir sie denn anders kennenlernen, he? Und wie sollen wir herausbekommen was ein Muttertag ist? Na also!“

Sie stritten noch eine Weile, aber dann erbot sich Siebenmalgescheit, für ein Transportmittel zu sorgen und außerdem wollte er unbedingt mitkommen.“

„Wenn du alleine gehst, sag ich’s dem Lehrer. Und deinen Eltern. Dann gibt’s ordentlich was hinten drauf.“

„Da hat er recht“, meinte Moosmützchen. „Geht lieber zu zweit. Wir verraten auch niemandem was davon.“

So war es also abgemacht. Ein Hase erklärte sich bereit, die beiden bis zum Waldrand mitzunehmen. Von dort empfahl er ihnen, sich ein anderes Transportmittel zu suchen. Er selber wollte mit den Menschen nichts zu tun haben.

Oh, wie waren die beiden Wichtelkinder aufgeregt, als sie das Häschen bestiegen und sich in seinem Fell festkrallten, um nicht herunterzurutschen bei dem Gehoppel. Am Waldrand mussten sie absteigen. „Viel Glück“, sagte das Häschen und entschwand.

Wie war die Wiese groß! Und die Wichtelchen so klein. Sie konnten ja nicht einmal über die Grashalme hinwegsehen. Zurück ging’s auch nicht mehr. Viel zu weit für ihre kurzen Beinchen. Sie fassten sich an der Hand und marschierten vorsichtig in diesen Wald aus Gras hinein. Mücken schwirrten, Ameisen sagten batzig: „Geht aus dem Weg, wir haben’s eilig!“ Grillen zirpten ihnen die Ohren voll, Grashüpfer machten sie ganz konfus mit ihrem vielen Gehüpfe. „Hallo!“ schrie Sabelinchen, „ist denn da niemand, der uns mitnehmen könnte? Hallo, wir sind’s, die Wichtel aus dem Walde!“

Siebenmalgescheit überlegte. „Du, ich hab eine Idee. Wir machen es wie die Hasen, wenn sie sich verständigen wollen. Wir klopfen ein paar Mal feste auf den Boden.“

Aber mit ihren schwachen Kräften richteten sie nicht viel aus. Auf einmal bemerkte Sabelinchen, wie sie zwei schwarze Augen aus den Grasbüscheln heraus beobachteten. Sie erstarrte förmlich vor Schreck.

„Du, da ist jemand“, flüsterte sie ihrem Begleiter zu und starrte weiterhin in diese unheimlichen Augen vor ihnen. Siebenmalgescheit räusperte sich. Auch er hatte einen Mordsschreck bekommen, aber wie schon sein Name sagt, er wollte immer vorne dran sein.

„He du, komm heraus da!“ rief er beherzt. Da schob sich ein rosa Schnäuzchen durch die Halme, machte knapp vor den beiden halt. Die winzigen Geschöpfe in ihren grünen Blättermänteln wagten nicht zu atmen.

"Wwer bbbist du denn?" brachte Siebengescheit schließlich heraus. Statt einer Antwort schnupperte es nur. Die beiden wagten nicht, sich zu rühren. Da schob sich eine Pfote vor und ein langes, dünnes, geschmeidiges Tier stand vor ihnen. Es bewegte seinen schmalen Kopf auf und ab, hin und her, sog die Luft ein und sagte:

"Ich bin das Wiesel, hab euch noch nie gesehen. Also, Mäuse seid ihr nicht."  Und wieder streckte es seinen Kopf vor, diesmal bedenklich nahe. Plötzlich kam etwas vom Himmel herabgeschossen, packte die beiden Wichtelmännchen und schwebte davon. Gerade im richtigen Augenblick, denn soeben hatte das Wiesel seinen Rachen aufgerissen und wollte eines von den beiden kosten. Enttäuscht sah es dem Räuber nach. Es war ein Mäusebussard. Die Kleinen in seinen Fängen schrien und quietschten um die Wette vor Angst. Da kreischte sie der Vogel an.

"Nun seid aber mal still, seid lieber froh, daß ich euch gerettet habe. Mit dem Wiesel ist nicht zu spaßen! Was treibt ihr überhaupt hier draußen? Wie kommt ihr nur so weit heraus aus eurem Wald?"

Nun erzählten sie ihr Mißgeschick.

"Wir wollten die Menschenmütter kennenlernen und haben uns deshalb auf den Weg gemacht. Aber Häschen brachte uns nur bis zum Waldrand und dann kam dieses schreckliche Tier."

"Die Menschenmütter wollt ihr kennenlernen?" fragte der Mäusebussard ungläubig.

"Ja, und den Muttertag. Unser Lehrer Hutzel hat es uns als Hausaufgabe aufgegeben."

"Aha", meinte der Bussard. "Aber das ist doch viel zu gefährlich für euch beide. Ich bringe euch besser wieder nach Hause."

"Könntest du uns denn nicht zu den Menschen bringen?" versuchte es Sabelinchen.

"Lieber nicht", antwortete der Vogel, "den Menschen bleib ich lieber fern. Aber da sind wir ja schon!"

Damit ließ er sich auf den Waldboden nieder, setzte die kleinen Kerlchen vorsichtig ab und flog davon.

Sabelinchen und Siebengescheit aber trollten sich, total entmutigt.

Trotzdem wurden sie als große Helden gefeiert. Keiner von den anderen hätte sich getraut, sich so weit von zu Hause zu entfernen. Nun beratschlagten sie gemeinsam, was wohl mit diesen verschiedenen Mutterarten und mit dem Muttertag gemeint sein könnte. Aber sie kamen und kamen nicht drauf. Also beschloß Herr Lehrer Hutzel, die kleine Gesellschaft selbst damit bekannt zu machen.

"Ich glaube, da müssen wir doch mal einen Ausflug zu den Menschen wagen. Und das machen wir genau einen Tag vor dem Muttertag", sagte er.

Nein, war das aufregend! Und ein toller Lehrer dazu, nicht?

 

Nun wurden die Wichtelschüler wieder ausgerüstet mit allerlei Gutem, damit sie nur ja keinen Hunger bekamen unterwegs. Es gab Vollkornbrote mit Samenkörnern, wieder Mäusebutter obendrauf, gebratene Schwammerl­scheiben wie bei uns den Schinken, Beeren- und Honigbrote und Süßwurzel als Nachtisch. Davon bekam man wieder schöne saubere Zähne. Kleine Becher aus zusammengerollten Blättern oder Eichelschalen dienten ihnen zum Trinken. Der Lehrer Hutzel aber trug einen großen Sack mit Tee. Den Sack hatte ihm freundlicherweise die Nachbarin, Frau Spinne, gewebt. Ganz dicht und fein, dazu leicht und gut zu tragen.

Acht Wichtelkinder waren es, dazu der Lehrer. Der hatte neun Tauben bestellt, die sollten die ganze Gesellschaft zu den Menschen bringen.

 

 

Bei den Menschen

 

Wißt ihr schon, wann Muttertag ist? Anfang Mai. Wenn die Menschen aufmerksamer wären, müßte ihnen aufgefallen sein, daß um diese Zeit ein Schwarm Tauben über den Dächern kreiste und daß immer mal die eine und die andere herunterkam, um irgendetwas abzuladen. Das waren die Wichtel. Herr Lehrer Hutzel hatte die Tauben gebeten, sie zu den Menschen zu tragen, denn die Tauben kannten sich ja aus. Jeweils zwei Wichtelkinder sollten sich in einem Haus verstecken und gut aufpassen, was sie über den Muttertag zu hören kriegten. Und über die Groß- und Schwiegermütter. Es war Samstag und sie mußten über Nacht dort bleiben, denn am anderen Tag sollte Muttertag gefeiert werden. Klar, daß die Wichtel ganz fürchterlich neugierig und aufgeregt waren.

Sabelinchen und Siebengescheit waren zusammen­geblieben. Jetzt standen sie vor der großen Treppe und darüber erhob sich die ungeheure Eingangstüre, fest verschlossen. Wie sollte man denn da hineinkommen? Herr Lehrer Hutzel stellte einem schon manchmal recht schwere Aufgaben! "Wir verstecken uns erst mal in dem Blumentopf neben der Treppe", schlug Siebengescheit vor. "Und dann warten, warten, warten."

Gesagt, getan. Es dauerte aber gar nicht lange, da blieb ein Mann vor der Gartentür stehen. Er klingelte. Die große Haustür ging auf und ein kleines Mädchen sprang die Treppe hinunter. "Papi, Papi!" schrie es und warf sich dem Mann in die Arme. "Hallo, mein kleines Röschen"; sagte der und fing das Kind auf. "Ist deine Mama zu Hause?"  "Ja, ja, sie wartet doch schon auf dich!" rief es und schmiegte sich eng an des Mannes Kinn.

"Jetzt!" kommandierte Siebengescheit, als die beiden vorbei waren. Sie hüpften hinunter, die Treppen hinauf und schnell, schnell durch die Tür. Sabelinchen erwischte ein Hosenbein und hängte sich daran, Siebengescheit rannte hinterher. So gelangten sie in die Küche. Da stand eine Frau, die Mutter. Die sagte mit ihrer lauten, aber freundlichen Menschenstimme:

"Da bist du ja. wir warten schon ewig. Magst du Kaffee?"

Der Mann mochte das gerne und Röschen saß die ganze Zeit auf seinem Schoß.

"Ich will dich nicht lang aufhalten, Hilde", sagte er.

"Wir ziehen gleich los. Morgen vormittag bring ich sie dir wieder."

"Das will auch hoffen", sagte die Frau streng. "Wir haben morgen auch noch etwas vor."

Der Mann trank rasch seinen Kaffee aus, nahm ein Köfferchen in die eine Hand und das kleine Mädchen an die andere und dann wollten sie gleich wieder fort. Sabelinchen und Siebengescheit hockten hinter einem Stuhlbein und waren ratlos. Was jetzt? Als der Mann an der Garderobe draußen noch rasch nach einem Mantel für das kleine Mädchen griff, rannten sie plötzlich los, kletterten husch, husch an ihm hinauf und waren schon verschwunden. Eins in seiner Hosentasche, das andere im Kindermantel. Die beiden Menschen sagten lauter Dinge, von denen sie nichts verstanden. Da kamen Worte vor wie 'Tiergarten', 'Kindergarten', 'Eis essen', 'Kino gehen'. Aber dann fiel ein Wort, da spitzten sie die Ohren. 'Muttertag'. Der Mann hatte gesagt. "Da laufen wir nun herum einsam und allein und dabei ist morgen Muttertag. Da müßten wir deiner Mutter doch eine Freude machen."

"Ja? Warum?" fragte das Mädchen.

"Ach, mein kleines Röschen, wenn wir noch eine richtige Familie wären, wüßtest du das alles längst. Also, das ist so. Am Muttertag macht man seiner Mutter eine kleine Freude, aus Dank dafür, daß sie sich das ganze Jahr über um einen kümmert."

"Kümmert? Weil mich Mami früh in den Kindergarten bringt und dann wieder abholt?"

"Ja, und weil sie für dich kocht und wäscht und für dich zur Arbeit geht."

"Es wäre mir aber viel lieber, ich müßte nicht in den Kindergarten gehen, sondern mit meiner Mami zur Arbeit. Dann könnten wir den ganzen Tag lang zusammensein. Bei der Mami ist es viel schöner."

Der Mann seufzte. "Wenn es nach mir ginge, bräuchte deine Mami auch nicht arbeiten gehen. Wenn wir zusammen wären, könnte sie den ganzen Tag bei dir zu Hause bleiben."

"Auf fein, dann sagst du es ihr. Das ist bestimmt eine gute Freude für den Muttertag. Und für mich auch gleich. Oder dürfen sich nur Mütter freuen am Muttertag?"

Der Mann mußte lachen. "Oh mein kleines Röschen!" sagte er. "Am besten wär es natürlich, wenn sich alle am Muttertag freuen könnten. Aber leider ist es in Wirklichkeit nicht so. Die Mami möchte nicht, daß ich bei euch wohne, und daß sie zu Hause bleiben kann. Aber das verstehst du noch nicht. Komm, wir gehen ein Eis essen und reden von was anderem."

Das kleine Mädchen hieß eigentlich Rosemarie, aber sein Papa nannte es liebevoll immer 'mein kleines Röschen'. Das wußten die Wichtelchen nicht, war aber auch egal. Jetzt machten sie erst mal ihre Erfahrungen in einem Eiscafé und die waren überwältigend. Das könnt ihr euch ja denken, sie waren doch noch nie aus ihrem Wald herausgekommen. Den Rest des Tages hatten sie ihre große Not damit, nicht entdeckt zu werden. Immer wieder mußten sie unauffällig ihre Plätze wechseln. Als sie endlich am Abend mit dem Mann in seine Wohnung kamen und Röschen zu Bett gebracht war, fühlten auch sie sich so müde, daß sie sofort einschliefen, jedes auf seinem Platz. Sabelinchen mittlerweile in einer Socke von Röschen und Siebengescheit am Fußende ihres Bettes, schön eingekuschelt unter der Bettdecke.

 

Sie erwachten wie gewöhnlich, gerade als die Sonne die ersten Strahlen über die Dächer sandte. Es war natürlich sehr ungewohnt für die beiden, nirgends ein weiches Moospolster zu finden oder große Blätter mit dem Tau der Nacht, worin sie sich hätten waschen können. Nichts, keine Bäume, keine Düfte nach Wald und grünen Pflanzen und Pilzen - nur lauter Menschenwerk. Aber Hunger hatten sie. Vorsichtig packten sie ihre Brote aus, ließen es sich schmecken und danach ging es ihnen gleich besser. Neugierig besahen sie sich Röschens Gesicht, die langen Wimpern, die goldenen Haare, das rote Mündchen, alles, was aus der Bettdecke heraussah, wurde begutachtet. Später kam der Papa ins Zimmer. Die Wichtelchen erlebten, wie und wo sich Menschen waschen, wie sie sich anziehen, was sie essen. Die Zeit verging wie im Flug. Wieder mußten sie sich ein Versteck in den Kleidern der Menschen suchen, damit sie mitgenommen wurden, wohin auch immer es jetzt ging.

 

. ° . ° . ° . ° .

 

Schauen wir mal, wie es Rosemaries Mama erging, nachdem sie mit ihrem Papa fortgegangen war. Nun ja, Frau Hilde lief herum und machte Ordnung. Da klingelte es erneut. Sie ging öffnen. Eine ältere Dame mit dunkelroten Haaren stand vor der Haustür. Die waren natürlich gefärbt, normalerweise hätte sie schon graue Haare gehabt. Frau Hilde empfing sie freundlich. "Guten Morgen, Mama! Komm herein, jetzt machen wir es uns erst mal gemütlich", sagte sie.

Die beiden ließen sich im Wohnzimmer nieder, Frau Hilde lief hin und her und deckte den Tisch und dann rührten sie in ihren Kaffetassen und unterhielten sich.

"Hat dein Verflossener die Kleine schon abgeholt?" fragte die Dame mit den roten Haaren.

"Er war natürlich wieder überpünktlich", antwortete Röschens Mama, obwohl sie doch schon auf ihn gewartet hatte! "Eine ewige Hetzerei ist das. Ich hab grad zu tun, daß ich die Kleine fertigmache, bis er kommt. Aber wehe, er ist morgen nicht genauso pünktlich beim Zurückbringen! Dann kriegt er seine Tochter nicht mehr so schnell zu sehen!" Das klang drohend. Wieso sagte sie nur so böse Sachen? Röschens Vater war doch ganz lieb und nett!

"Na, na, nun sei nur nicht gleich so hart", beschwichtigte die Rothaarige. "Er liebt sie halt und die Kleine braucht euch beide."

"Das verstehst du nicht, Mama", tat es die Frau ab. "Bleibst du da über Nacht? Dann könnten wir uns noch einen netten Abend machen."

"Freilich bleib ich da, Kind", sagte die Mama, "ich laß dich doch nicht allein."

 

- * - * - * - * -

 

Der nächste Morgen kam, der Muttertagsmorgen. Mit Sonnenschein und Vogelgezwitscher. Man sollte meinen, alle Menschen müßten sich nun freuen und vergnügt sein, so schön war es draußen. Aber weit gefehlt. Frau Hilde saß mit ihrer Mutter am Tisch, stocherte in ihrem Frühstücksei herum und war traurig. Die Mama wollte sie ein bißchen aufheitern.

"Nun genieß doch mal den ruhigen Vormittag, Hilde", sagte sie. "In zwei, drei Stunden hast du sie ja wieder, deine Kleine. Und wenn du nur wolltest, deinen Richard auch."

Aber Frau Hilde brauste auf: "Hör mir bloß auf mit dem! Ich bin froh, daß ich jetzt allein bin und meine Ruhe hab. Du weißt ja nicht, was da gelaufen ist. Nein, nein, kein Wort mehr davon!" Aber in Wirklichkeit war sie sehr, sehr traurig, daß Röschens Papa nicht mehr da war, alles kam ihr so leer vor ohne ihn. Sie wollte es bloß nicht zugeben.

Die beiden Damen gingen spazieren, machten sich ein zweites Frühstück - und da klingelte es schon und Vater mit Tochter standen vor der Tür. Eigentlich müßte man sagen Vater mit Tochter und mit zwei Wichtelmännchen aus dem Wald. Denn die hatten sie wieder mitgebracht. Diesmal gut versteckt in einem Körbchen mit Blumen, das Papi dem Röschen für den Muttertag gekauft hatte. Röschen lief freudestrahlend auf ihre Mutter zu.

"Mami, Mami, das ist für dich!" rief es und streckte ihr das Blumenkörbchen entgegen. "Und ich soll dir auch sagen, alles Gute zum Muttertag. Und Papi auch" - sie drehte sich um - "Papi, sag's doch! Sag's doch, daß du auch Muttertag machen möchtest!" Da konnten Rosemaries Eltern nicht mehr anders, sie mußten aus vollem Halse lachen und lachen.

"So, du möchtest also auch Muttertag machen!" lachte die Frau, als sie wieder zu Atem gekommen war.

"Na, dann komm rein. Wir wollen sehen, was sich machen läßt." Immer noch lachend betraten sie das Wohnzimmer. Das Blumenkörbchen mit den Wichteln drin wurden auf den Tisch gestellt, so daß sie genau verfolgen konnten, was nun weiter geschah. Die alte Dame mit den roten Haaren saß aufrecht auf dem Sofa, sie wußte nicht ganz, warum da draußen so arg gelacht worden war. Röschen lief strahlend auf sie zu. "Omi, Omi, du bist auch da! Nun sind wir alle zusammen. Nun sind wir wieder eine richtige Familie!". Und sie fiel ihrer Oma um den Hals und drückte sie ganz fest vor lauter Freude.

"Omi heißt sie also", flüsterte Sabelinchen leise. "Abwarten!" flüsterte Siebengescheit zurück..

Die Dame mit den roten Haaren drückte ihre Enkelin auch ganz fest an sich. Immer noch lächelnd kam Frau Hilde dazu und ermahnte ihre Tochter: "Nun zerdrück deiner Großmutter nicht gleich die neue Frisur! Sag erst schön guten Tag!"

"Aha - Großmutter heißt sie also auch!" meinte Siebengescheit. Aber es wurde noch schöner! Röschens Papa kam nämlich hinterdrein, gab der Großmutter-Omi die Hand und sagte:

"Wie schön, daß du da bist, Schwiegermutter. Dann ist Hilde nicht ganz allein am Muttertag."

"Sie ist auch eine Schwiegermutter!" flüsterte Sabelinchen wieder. Aber die alte Dame wurde böse. "Nun macht aber Schluß, Kinder. wie lange soll denn dieses Theater noch gehen! Denkt ihr denn gar nicht an eure Tochter? Hilde, gib deinem Richard schon einen Kuß! Und du, Richard, nimmst jetzt sofort deine Frau in die Arme, wie sich das gehört am Muttertag!"

Aber Richard stand stumm herum, mit hängenden Armen, und getraute sich nicht. Hilde sah ihn an und wußte auch nicht recht, ob sie nun sollte oder nicht. Aber Röschen wußte es. Es rutschte von seiner Groß­mutter herunter, gab dem Papi einen Schubs, daß er vorwärts taumelte, die Mami konnte ihn gerade noch auffangen. Dann lagen sich die beiden in den Armen und küßten sich so innig und herzergreifend, daß der Omi die Tränen kamen.

"Na also", sagte sie. Röschen aber drängte sich dazwischen und rief: "Ich auch! Ich will auch Muttertag haben!" Da lachten die beiden, beugten sich hinab und nahmen ihr Töchterchen auf die Arme, küßten es und waren wieder eine richtige schöne Familie. Und eine glückliche dazu.

 

Sabelinchen und Siebengescheit in ihrem Blumen­körbchen waren auch ganz gerührt. Siebengescheit wollte sich aber nichts anmerken lassen. Er sagte forsch: "Nun wissen wir es also genau. Ist aber schwer zu behalten, das mit den Müttern und Großmüttern und Schwiegermüttern, die dann doch wieder ganz anders heißen. Mami und Omi und wer weiß, was noch alles, wenn man noch länger zuhören muß."

Als sich dann alle um das Festessen kümmerten, flitzten die Wichtel schnell aus dem Zimmer, kletterten aus einem offenen Fenster und warteten im Garten auf ihre Reisetaube. Die brachte sie zu dem vereinbarten Treffpunkt, wo der Herr Lehrer mit den anderen schon versammelt war. Alle schnatterten durcheinander, jeder wollte erzählen, was er alles erlebt hatte. Die Sonne stand schon tief am Himmel, sodaß der Lehrer Hutzel mahnen mußte: "Nun aber rasch aufgesessen, erzählen können wir zu Hause!"

Bald schon schwebten sie über ihrem heimatlichen Wald. Die letzten Sonnenstrahlen geleiteten die Taubenschar mit ihren müden Reitern hinab aufs weiche Moos. Die kleinen Abenteurer waren so erschöpft, daß sie nur noch gähnen konnten.

Jetzt liegen sie alle in ihren Bettchen und träumen. Von der weiten Welt da draußen vorm Wald, von den Menschen und vom Muttertag.

Der Lehrer Hutzel aber nimmt sich vor: Menschenkunde, dieses Fach müssen wir noch lange beibehalten.

  

 

 

Feengeschichten

 

"Nun, was sagt ihr dazu? Waren die kleinen Wichtel nicht ganz, ganz mutig?" wandte sich die Fee Uta an ihre Zuhörerinnen.

"Das kann man wohl sagen, und der Lehrer Hutzel hat ganz recht", pflichtete eine der Feen bei. „Menschenkunde ist durchaus wichtig heutzutage. Man ist ja nirgends mehr vor ihnen sicher, überall tauchen sie auf. Sollten wir nicht den Wichteln helfen, die Menschen kennenzulernen?“

„Ja, das machen wir!“ rief eine andere Fee. „Uta, du musst uns nur sagen, wo wir sie finden. Wir geben ihnen Unterricht in Menschenkunde!“ „Und wir bringen sie ungesehen hin zu ihnen!“ „Jawohl, und wir passen auf, dass ihnen nichts passiert!“ Die Damen sind Feuer und Flamme für diese neue Aufgabe. Wieder sieht sich die Feenkönigin gezwungen, einzuschreiten. Sie gibt dem Vogelchor ein Zeichen und schon legen die los mit Flöten und Jubilieren und mit Trillern. Da verstummen die Feen, weil sie jetzt sowieso kein Wort mehr verstehen können. Wieder ertönt der Gong, die Vögel schweigen und die Königin spricht: „Dieses Thema werden wir morgen behandeln. Wer weiß, ob die Wichtel Hilfe wünschen. Doch nun weiter im Vortrag. Ich werfe den Ball!“ Das bunte Ding wirbelt durch die Luft, viele Hände strecken sich ihm wieder entgegen, hie und da versucht sogar ein erhobener Zauberstab, ihn zu lenken. Aber unbeirrt  schwirrt er auf eine der Damen zu und nimmt Platz auf ihrem Schoß. Es ist Anelia, eine kleine Fee mit traurigen Augen. Dabei hat sie sich so hübsch gemacht für dieses Treffen. Ein großer schwarzer Hut aus Tüll mit rosa Tupfen ziert ihre braunen Haare, dazu trägt sie ein gleichfalls rosafarbenes Feengewand aus glänzender Seide. Perlen aus Rosenquarz sind in einem Goldgeschmeide zusammengefasst und zieren ihr Decoltee und der schwarzgoldene Zauberstab liegt vor ihr auf dem Pult.

Sie dreht den Ball unentschlossen in ihren Händen. „Ach“, sagt sie, „da soll ich euch etwas Nettes erzählen, dabei bin ich selbst so traurig. Liebe Königin, darf ich den Ball weiterreichen?“

„Das gilt nicht, Anelia“, klingt es aus der Runde. „Sag uns lieber, was dich bedrückt.“

Die Königin meint das auch. „Ja, erzähl uns deinen Kummer. Vielleicht können wir dir helfen. Dazu sind wir ja da“, ermuntert sie die Traurige. Eine Blumenelfe nimmt ihr den Ball aus der Hand und fliegt damit zurück zur Königin. Aber Anelinchen kann sich nicht dazu aufraffen. „Meinen Kummer werde ich euch nicht aufbürden“, sagt sie, „aber ich danke euch für eure Anteilnahme, meine Lieben. Mir fällt da gerade etwas ein, was ich euch erzählen könnte. Es ist zwar keine Geschichte, aber ein denkwürdiges Erlebnis, das ich bei den Menschen hatte.“

Anelia hat nämlich noch Verwandte unter den Menschen. Dort gilt sie als Großmama, sie ist also ebenfalls eine noch junge Fee. Denn die alten haben längst keine Verwandten mehr, die sind schon alle seit langer Zeit verstorben. Deswegen leben sie auch in den schon erwähnten Luftschlössern, Wolkenpalästen und ähnlichen Wohnstätten, wo sie den Menschen nicht mehr so nahe sind. Anelia beginnt.

„Meinem kleinen Enkel hatte ich vor einigen Jahren einen Vogel geschenkt. Den hielt er in einem großen Vogelkäfig und kümmerte sich rührend um ihn. Die beiden wurden richtig gute Freunde. Das Vögelchen flötete und zwitscherte fröhlich drauflos, sowie es den Jungen nur sah. Der öffnete dann das Käfigtürchen und Hansi, der Vogel, flog heraus und setzte sich ihm auf die Schulter. Dann schmusten die beiden und oft schien es, als verstünde Peter sogar, was ihm Hansi vorzwitscherte. Mein Peterchen konnte mit Hansi sogar in den Garten gehen, ohne dass er davonflog. Die beiden waren ein Herz und eine Seele. Doch eines Tages hörte Hansi auf zu singen, er fraß nichts mehr, wollte auch seinen Käfig nicht mehr verlassen, so sehr ihn Peter auch lockte. Die ganze Familie war sehr traurig und niemand wußte, was da zu tun war. Des Nachts, als alle schliefen, schlich ich mich einmal zum Käfig, lüftete das Tuch und befahl meinem Zauberstab: ‚Mach Hansi gesund!’ Nichts geschah. ‚Wirst du wohl gehorchen?’ schimpfte ich mit dem Stab. ‚Noch einmal: Mach Hansi gesund!’ Der Zauberstab zuckte in meiner Hand und wurde ganz heiß. Ich war davon überzeugt, dass er nun alle seine Kräfte eingesetzt hatte, um meinen Befehl auszuführen und ging schlafen. Am nächsten Morgen hörte ich, wie Peter gleich nach dem Aufwachen zu seinem Vögelchen lief. Ich blieb in meinem Zimmer, damit er seine große Überraschung ganz allein erleben konnte. Hansi gesund! Jeden Moment erwartete ich sein Freudengeschrei. Aber nichts rührte sich. Im Gegenteil. Ich hörte Peter mit leiser Stimme den Vogel rufen. „Was ist denn mit dir, Hansi? Komm, wach doch auf!“ Da ging ich nachschauen. Hansi lag auf dem Rücken unten am Käfigboden und Peterchen streichelte vorsichtig mit einem Finger über sein Bäuchlein. ‚Oma, ist er tot?’ fragte er mich und ich musste es leider bestätigen.“

Anelia verstummte und griff nach ihrem Zauberstab.

„Er hat versagt“, meinte sie traurig. „Zum ersten Mal hat mein Zauberstab versagt. Es zerschnitt mir das Herz, als ich Peterchen so bestürzt sah und ich will euch seine Verzweiflung nicht schildern. Seine Eltern kamen und sein Schwesterchen. Alle trauerten um das Vögelchen und keiner konnte Peter trösten. Da ging ich in mein Zimmer, zauberte eine wunderschöne Schachtel herbei und gab sie Peter. „Sieh mal, Peter, dahinein legst du nun ein schönes, weiches Tuch und bettest deinen Hansi zur letzten Ruhe. Dann gehen wir in den Garten und suchen ihm das schönste Plätzchen aus, wo er schlafen soll.“ Peter entschied sich für ein blühendes Gebüsch, worunter wir seinen Hansi begruben. ‚Kommt er nun in den Himmel, Omi?’ fragte er mich. ‚Ja, Peter, er ist schon unterwegs dorthin.’ ‚Und die schöne Schachtel? Die kommt doch auch mit ihm in den Himmel, nicht?’ Was sollte ich darauf sagen? ‚Ja’ sagte ich, ‚die kommt auch in den Himmel.’ Peter war getröstet. ‚Dann ist es gut, wäre schade gewesen um sie, so unter der Erde.’ Aber ganz wohl ist mir nicht dabei. Diese Himmelfahrtsschachtel war schon ein bißchen dick aufgetragen, nicht wahr?“

„Du hast es ja gut gemeint und der Junge ist getröstet“, sagte die Königin. „Wir danken dir für die hübsche Geschichte, Anelia. Und da sie mit dem Vögelchen im Paradies geendet hat, ist auch gar nichts Trauriges mehr daran. Vielleicht geht es dir mit deinem geheimen Kummer ebenso. Wenn du einmal darüber gesprochen hast und genauer hinsiehst, entdeckst du bestimmt auch eine gute Seite dabei. Du weißt ja, dass wir immer für dich da sind. Wenn du also darüber sprechen willst oder einen Rat brauchst, dann komm zu mir oder sprich zu uns. Für jetzt wollen wir eine Pause machen und uns stärken. Seht nur, die Elfen haben schon den Tisch gedeckt und warten auf uns.“

In der Tat, die Elfen hielten weiter hinten im Saal einen Vorhang aus Blütenschnüren zur Seite und gaben den Blick frei auf lange, schöngedeckte Tische mit den herrlichsten Köstlichkeiten darauf. Da gab es gegrilltes Gemüse in allen Farben, lecker zubereitete Pilze, dazu knuspriges Gebäck und Mäusebutter. Auf dem Tisch verteilt standen Graskörbchen mit Haselnüssen, Walnüssen und Mandeln. Obst- und Beerentorten luden ein zum Schlemmen und in Blumenkelchen wurde Nektar serviert. Elfen schwirrten umher und boten Milchshakes an, reichten die Schüsseln herum und machten sich überall nützlich.

Mit erstaunten Ah’s und Oh’s wurden diese Herrlichkeiten begrüßt und man setzte sich zu Tisch. Am meisten freute sich die Feenkönigin über die gelungene Überraschung. „Nun greift alle zu und lasst es euch schmecken“, rief sie in den Saal, hob ihren Blumenkelch mit Nektar und rief: „Auf alle Feen und solche, die es noch werden wollen, auf ein schönes Sonnwendfest und auf ein friedliches Miteinander in Feld und Wald und überall!“ Die Feen erhoben ebenfalls ihre Kelche und prosteten der Königin zu. „Auf alle Feen und Elfen und auf die Feenkönigin!“ riefen sie, tranken einen Schluck und widmeten sich dann dem Essen.

Man begann mit garnierten Storcheneiern und Froschlaich in Kräutersoße als Vorspeise. Danach gab es panierte Pilze mit frittiertem Gemüse, weichgekochte Maiskolben und Kartoffeln, in der Schale geröstet. Dazu wurden Sonnenblumenkerne gereicht. Eine der uralten Feen wandte sich beim Schmausen an die Königin: „Sag mal, du lebst doch noch bei den Menschen. Wann ist dir eigentlich aufgefallen, dass du eine Fee bist? Du hast doch sicher noch viele Pflichten, da kann diese Tugend leicht untergehen.“

„Ja, da hast du recht“, antwortete die Königin. „Wenn mir nicht immer wieder so seltsame Dinge begegnet wären, die sonst kein Mensch beachtet, wäre ich wohl nie darauf aufmerksam geworden.“

„Was für seltsame Dinge zum Beispiel?“

„Nun, mir winkten oft aus den Wolken Gestalten zu. Manche lachten mich an und wenn die Sonnenstrahlen sich ins Gewölk verirrten, war es, als erschienen Gesichter mit blitzenden Augen, die mir zuzwinkerten, als wollten sie mir etwas Bestimmtes sagen. Das machte mich nachdenklich und ich beobachtete meine Umwelt aufmerksamer. Der Wind rauschte in den Bäumen, als hätte auch er eine Botschaft für mich und die Tiere benahmen sich viel zutraulicher. Das alles hielt meine Sinne gefangen. Allmählich begann ich zu verstehen, die ganze Natur begann ich zu verstehen. Ich fühlte Kräfte in mir wachsen und ich konnte sie auch weitergeben. Eines Nachts, als ich in unseren mondhellen Garten lief, stand ich plötzlich in einer Zauberwelt. Der Nachtwind raunte in den Zweigen: ‚willkommen im Feenreich’, Elfen räkelten sich aus ihren Blumenblättern und tanzten einen Reigen im Silberlicht des Mondes, das Zirpen der Grillen verstand ich plötzlich als Tanzmusik – ich stand verzückt und lauschte und staunte. Da kamen die Elfen zu mir, schmückten mich mit Schleierkraut und Rosenblüten, nahmen mich an der Hand und zeigten mir den Elfentanz. Ich fühlte mich so leicht, so froh und hell, mein Menschsein war verschwunden und ich tanzte mit den Elfen bis zum Morgen. Noch eh die Sonne aufging, war der ganze Spuk verschwunden. Ich fühlte mich müde, Tau klebte in meinen Kleidern, ich ging zurück ins Haus und schlief ein. Von da an war ich oft bei Mondschein zu Gast bei den Elfen. Sie zeigten mir das Feenreich und lehrten mich verstehen, was ich bisher nur ahnte. Aber die Menschen verstanden nicht, wenn ich ihnen erzählen wollte von der Märchenwelt inmitten ihrer eigenen. So wurde ich eine der euren. Eines Tages lag ein Zauberstab auf meinem Kopfkissen und da mir die Elfen schon oft davon erzählt hatten, wußte ich, was es zu bedeuten hatte. Ich war aufgenommen ins Reich der Feen und Elfen.“

„Ja“, sagte die uralte Fee, „auf derart wunderbare Weise ging es mir auch. Vor langer, langer Zeit, da sahen die Menschen noch ganz anders aus. Sie wohnten auch in anderen Häusern und es gab noch tiefe Wälder und Postkutschen und alles war ganz anders, als heute. Ich war schön und jung und geriet in die Hände der Kobolde. Die Feen haben mich daraus befreit und in ihren Kreis aufgenommen. Seither wohne ich in den ziehenden Wolken und betrachte mir das Menschenvolk von oben.“

„Und ich von unten“ mischte sich da Gundilde ein, eine fröhliche Fee mit einer frechen, ganz unfeenhaften Schirmmütze auf dem Kopf. „Die Wolkenliese ist meine Freundin und lädt mich oft zu sich ein, wenn sie über meine Gefilde hinwegzieht“, erklärte sie der Feenkönigin.

„Und wo sind deine Gefilde, liebe Gundilde?“ wollte die Feenkönigin wissen. „Ganz in der Nähe, gleich da unten am Fluß. Dort in den Nebelschwaden bin ich zu Haus.“

„Du bist aber doch noch eine ganz junge Fee, die viel bei den Menschen zu tun hat“, wunderte sich die Feen­königin. „Das stimmt schon“, sagte Gundilde, „ich bin aber froh, wenn ich mich abends in meine Schwaden zurückziehen kann, denn die Menschen sind mir oft zuwider.“

„Erzähl doch von unseren Streichen, Gundilde!“ rief die uralte Fee und blies ihre Pausbacken auf vor verhaltenem Lachen.

„Oh weh, Streiche – die sind bestimmt nichts für die Ohren unserer Königin. Hättest du lieber deinen Mund gehalten!“ lenkte Gundilde ab. Auch die anderen Feen waren auf das Gespräch aufmerksam geworden. „Und doch wollen wir eure Streiche hören!“ schrie es aus einer Ecke. „Nun, dann schießt mal los!“ stimmte Dagmira; die Feenkönigin zu.

Gundilde warf einen verschmitzten Blick auf ihre Freundin und begann. „Wie schon gesagt, sie da, die Wolkenliese, lädt mich öfters einmal ein, mit ihr über die Wiesen und Dörfer zu ziehen. Ich schwebe also eines Abends aus meinen Nebelschwaden zu ihr hinauf, wir zuckeln gemütlich so dahin und schaun hinab auf die Erde. Da sehen wir in einem viel zu kleinen Pferch Schafe stehen. Auch ganz junge Lämmchen sind dabei. Sie blöken ganz jämmerlich, denn es ist schon später Abend und immer noch hat sie niemand hineingelassen in den Stall. ‚Die müssen doch Hunger haben und Durst’ sagen wir uns. Wo ist denn der Schäfer? Wir lassen uns ein bißchen tiefer sinken und schon sehen wir, was mit dem Schäfer los ist. Der sitzt mit ein paar Kumpanen in einer alten Hütte und zecht und säuft, dass es nur so eine Art hat. Seine Tiere hat er darüber ganz vergessen. Auch seine Hirtenhunde kläffen ganz umsonst und betteln um Futter. Er schlägt nach ihnen mit den Füßen, heißt sie räudige Köter und schreit: ‚macht, dass ihr fortkommt!’ Das haben die treuen Tiere nicht verdient. Wir waren sehr empört. Die Wolkenliese zückt ihren Zauberstab, richtet ihn auf den betrunkenen Schäfer und zieht ihn zu uns herauf. Blöde schaut er uns an und begreift gar nichts. Er ist auch viel zu schwer und plumps, fällt er wieder hinunter, mitten hinein in einen Tümpel. Da ist ihm dann wohl sein Rausch vergangen. Aber eine Lehre sollte er bekommen. Wir kreuzten unsere Zauberstäbe und befahlen ihnen, mit vereinter Kraft alle Mutterschafe mit ihren Lämmern auf meine Wiese zu schaffen. Schwups – waren sie weg. Ich ließ mich wieder in meine Nebelschwaden sinken und die Wolkenliese reiste weiter auf ihren Gewitterwolken.“

Die Wolkenliese konnte das Lachen kaum mehr halten. Jetzt prustete sie los und riß das Wort an sich. „Hähähä, hihihi, huuuhhu – das waren gleich zwei Streiche, Gundilde, was? Denn du wusstest mit den Schafen ja auch nichts anzufangen und der Schäfer hätte dich bestimmt angezeigt.“

„Ja, ja. spotte du nur!“ schimpfte Gundilde. Und zu den lauschenden Feen gewandt: „Die tut sich leicht mit ihrer Herumzauberei. Denkt nicht dran, dass ich danach die ganzen Scherereien ausbaden muß. Freilich hat der Schäfer sich geärgert und ist gleich zur Polizei gegangen. Da musste ich ganz allein nur mit meinem einzigen Zauberstab die Viecher einzeln wieder rüberbimen. Allerdings hab ich mir den Spaß gemacht und mitangehört, was sich der Schäfer von den Polizisten alles gefallen lassen musste, als plötzlich die Herde wieder vollzählig war. Der hat sich an den Kopf gegriffen und gesagt, wahrscheinlich war er einfach nur zu besoffen und es wird nicht wieder vorkommen.“

„Und das war’s jetzt?“ fragte Dagmira, die Feenkönigin.

„Nicht ganz. Ich hab mir nämlich später wirklich zwei Lämmer geholt und einen kleinen Schäferhund aus dem letzten Wurf dazu. Wozu hab ich denn eine so schöne, große Wiese? Jetzt hab ich wenigstens Gesellschaft, wenn ich in meinen Schwaden herumschwadiere. Und meine Enkelkinder sind auch oft draußen bei mir. Die freuen sich am meisten über die Tiere.“

“So soll es auch sein“, lobte die Feenkönigin. „Aber nun wollen wir auf unsere Plätze zurückkehren. Vielleicht will uns noch jemand eine Geschichte erzählen. Oder hat jemand einen anderen Vorschlag?“

„Also ich würde jetzt gern ein Schläfchen machen und mich danach mal bei meinen Kindern umsehn“, meldete sich Christina, eine besonders zauberhafte Fee mit langen blonden Locken und einem Festgewand aus türkisblauen Schleiern. „Kein Problem, das könnt ihr halten wie ihr wollt. Morgen Vormittag treffen wir uns wieder.“

Die Damen zerstreuten sich. Die jungen Oma-Feen zauberten sich kurzerhand zu ihren Familien, die alle in der Nähe wohnten, die alten und uralten Feen ließen sich noch ein bißchen von den Elfen verwöhnen und verrieten einander so manches gute Rezept für die Zauberbrühe.

Am nächsten Morgen kamen die guten Feen wieder zusammen. Die einen spazierten plaudernd in Grüppchen herein, andere schwebten von irgendwoher hernieder und wieder andere erschienen plötzlich aus dem Nichts auf ihren Plätzen. Die hatten sich einfach hergezaubert. Die Sonne funkelte in den kristallenen Wänden des Feenpalastes, die Elfen hatten wieder überall Blumenschmuck verteilt, so dass es nach tausend Düften roch. Die Vögel ließen ihre verschiedenen Stimmen vernehmen, der Tag begann und die Neugierde wuchs. Bis die Feenkönigin ihren Platz eingenommen hatte, wurden noch lustige Anekdoten erzählt. Da hört man zum Beispiel Gerdina in Jugenderinnerungen schwelgen.

„Aber wenn ich’s doch mit eigenen Ohren gehört habe!“ ereifert sie sich gerade. „Die Leute haben ganz laut gesagt und so, dass ich es hören musste: ‚Daß die sich nicht schämt, in ihrem Alter schon ein Baby. Die ist doch höchstens 14. Die armen Eltern!“

„Und? Hast du dich geschämt?“ wollten die Zuhörerinnen wissen. „Ach i wo! Diebisch gefreut hab ich mich. Wir haben also wirklich ausgesehen wie zwei jugendliche Sünder mit ihrem Baby. Der Nachbarjunge, der mit mir mein neuestes Geschwisterchen spaziere­gefahren hat und ich.. Er hat sofort die Gelegenheit genutzt und seinen Arm um meine Taille gelegt und außerdem hat er mir einen Kuß gegeben. Auf die Wange.“

„Haben das die Leute auch gesehen?“ „Ich glaube schon.“ „Und deine Eltern? Was haben die gesagt?“ „Die haben’s ja nicht erfahren. Aber mir war es schon ein bißchen so... so kribbelig und nicht ganz recht. Mit 14!“

„Was heißt mit 14!“ mischte sich da Dagmira ein, die inzwischen hinzugekommen war und die letzten Sätze mitangehört hatte. „Heute ist es ganz normal, dass die Mädchen mit 14 schon einen festen Freund haben. Die würden sich eher schämen, noch keinen zu haben. Ist ja auch kein Wunder, so selbständig wie die heutzutage sind. Und jede schmückt sich wie eine kleine Königin. Da können wir mit unserer unschuldigen Jugendzeit nicht mehr mithalten.“

“Sprichst du aus Erfahrung, Dagmira, oder haust du bloß auf den Putz?“

„Nein, nein, ich hab doch selbst eine Enkelin. Die ist zwar erst elf, aber ihr solltet sehen, wie das Mädchen daherkommt. Das glitzert und funkelt nur so an ihr und geschminkt ist sie wie höchstens die Schauspielerinnen. Wenn ich was sage, meint sie bloß, da könnte ich nicht mitreden und ob ich wollte, dass sie eine Außenseiterin wäre. Man muß sie einfach lassen, unsere Mädchen. Sie sind ja auch sonst viel weiter, als unsereins in dem Alter war. Meine Enkelin kocht und backt schon wie eine Große, wenn’s drauf ankommt.“

„Und unser Simon, mein jüngster Enkel, ist auch gut drauf mit seinen Sprüchen“, lacht Christina mit den goldenen Locken dazwischen. „Schaltet der mir gestern einfach den Staubsauger ab, weil er mit mir spielen will. Und dabei wollte ich mich noch ein bißchen nützlich machen, bis sein Papa mit dem Hund zurück ist. Ich sag zu ihm: 'Nun schalt den Staubsauger wieder ein, du bist doch schon ein Großer!' Da meint er doch glatt: 'Nein, ich bin erst fünf und noch ganz neu.' Was sagt ihr dazu?“ Na, ein Gelächter gab es, ein ganz arges! Da ertönt der Gong. Hellklingend und melodisch lädt er ein zum Platz nehmen und erzählen. Auch die Feenkönigin hat ihre Gewänder auf dem Thron aus himmelblauem Aquamarin ausgebreitet. Ein Diadem aus Goldkäferflügeln und Blüten ziert ihr hochgestecktes Haar. Nun beugt sich ihre zierliche Gestalt vor, sie zückt den Zauberstab – im Nu herrscht Ruhe im Palast.

„Zuerst einmal einen recht schönen guten Morgen, meine Lieben“, beginnt sie. „Guten Morgen, guten Morgen auch!“ schallt es ihr entgegen.

„Den heutigen Tag wollen wir den aus fernen Ländern angereisten Damen widmen. Sie sollen uns erzählen, wie es dort geht mit den Menschen, mit den Wichteln und Kobolden und was wir bessern könnten. Will sich jemand zu Wort melden?“

Aus einer sonnendurchglänzten Ecke erhebt sich eine Lichtgestalt, ganz in Weiß gekleidet, das Gewand unter dem Busen gegürtet und gerafft an der Schulter wie in alten Zeiten. Armreife mit Edelsteinen prangen auf ihren Armen, ein Diamantencollier funkelt auf ihrem stolzen Busen, um das Fürsten sie beneiden könnten. Schwarzes Haar, von perlenbesetzten Spangen zurückgehalten, fällt in sanften Wellen auf ihre Schultern. Auch sie ist eine noch junge Fee und kommt aus dem fernen Griechen­land. Anmutig verbeugt sie sich leicht vor der Königin, rafft ein wenig ihr Gewand und spricht:

“Ich heiße Tharissia und bin das erstemal hier unter euch. Der Westwind hat mich eingeladen und ihr habt mich alle so freundlich aufgenommen. Dafür danke ich euch. Ich möchte euch von meiner Heimat erzählen und auch von meinen geheimen Sorgen. Wollt ihr mich hören?“

„Gerne wollen wir dich hören und freuen uns auf deinen Bericht, liebe Tharissia“, lächelte ihr Dagmira zu. Ermutigt sieht die Schöne mit großen, dunklen Augen in die Runde.

„Meine Heimstatt liegt an den Gestaden des Peloponnes, denn ich liebe das Meer. Ich habe eine sehr zahlreiche Familie. Den Kindern bin ich besonders zugetan, und reiße mich nur ungern von ihnen los. Doch bin ich mal hier, mal dort und meine größte Freude ist es, mich in meinem Lande umzusehen.“

Hier wird Tharissia unterbrochen. Dagmira, die Feenkönigin, will wissen: „Sag mal, wie geht’s den alten Göttern dort? Feiern auch sie noch auf dem Olymp? Oder hat sie der Abgasdampf vertrieben?“

„Sie feiern mehr denn je“, gibt die Griechin Auskunft. „Schon lange haben sie eingesehen, dass sie gegen den Fortschritt machtlos sind. Ihr geliebtes Athen versinkt in einer Smogwolke, die alten Ideale sind nur noch Märchen für die Menschen und keiner vermag mehr, einen Gott zu erkennen, wenn er in Menschengestalt sich unter das Getriebe mischt. Nur außerhalb der Städte finden sie noch Menschen, in denen sie ihr altes Volk erkennen. Genügsam und glücklich, teilen diese Leute gerne ihre Freuden mit jedem und Götter lernte ich bei ihnen kennen, die sich wohl fühlen unter diesen einfachen Menschen. Mitunter vermählen sie sich immer noch mit ihnen und so kann es vorkommen, dass ein unerkannter Gott als Chef in einer Autowerkstatt sitzt und über Sein oder Nichtsein der Motoren herrscht.“

“Ist es da nicht schwer, eine gute Fee zu bleiben - bei dieser Götterwirtschaft?“ möchte jemand wissen.

„Manchmal bin ich machtlos, das muß ich sagen“, gibt Tharissia zu. „Als ich einmal mit meiner Familie und meinen Enkelkindern zu Verwandten fuhr, streikte unser Auto plötzlich. Keiner wußte sich zu helfen. Auch die Mechaniker vom Abschleppdienst waren ratlos. Dann trat der Gott zu uns herein in die Werkstatt. Ich hatte ihn sofort erkannt und er auch mich. Ich merkte es an seinem Augenzwinkern. Ein Wink, ein Griff – und das Vehikel funktionierte wieder. Wir setzten unsere Reise fort. Doch nun kommt die Sache mit den Kindern, die mich mit Besorgnis erfüllt.“ Tharissia holt tief Atem und die Feenkönigin gebot ihr, sich lieber zu setzen, weil das offenbar doch was Längeres werden würde. Mit sorgenvoller Miene geht es weiter. „Die Kinder scheinen mir von Kobolden besessen. Wie waren sie früher aufmerksam und lieb, Engelchen mit schwarzen Augen und schwarzen Löckchen. Gerne hat man ihnen alles verziehen und sie trotzdem auf den rechten Weg gelenkt.

Aber jetzt werden wir Älteren immer mehr verlacht, es fehlt die Ehrfurcht und auch sonst noch allerlei. Ich frage euch, gibt es das Übel auch bei euch? Und wisst ihr euch zu helfen?“

Noch während die Ärmste sich ratlos umsah, begann es fern zu grollen und zu donnern. Das grelle Sonnenlicht hatte sich in bleigrau düsteren Wolken verfangen und ließ die Farben intensiver leuchten. Eben sagte eine der uralten Feen: „Mit den Kobolden haben wir auch oft unsere liebe Not. Sie sind so unberechenbar. Ich persönlich“…-

In dem Moment geschah etwas, was die ganze Versammlung sprachlos machte. Ein kleines Mädchen, vielleicht so zehn, elf Jahre alt, lief geradewegs auf den Feenpalast zu und sah ängstlich zum Himmel auf. Die ersten dicken Tropfen begannen bereits zu fallen und da – da hatte die Kleine den Palast erreicht. Dagmira erschrak. „Still!“ sagte sie, „man darf uns nicht entdecken. Alle Zauberstäbe hoch!“ Die Feen wussten, was das zu bedeuten hatte. Wenn sie alle gemeinsam in einem einzigen Augenblick ihre Zauberstäbe erhoben, musste sich der ganze Palast mit allen darin Anwesenden in ein ganz gewöhnliches Waldstück verwandeln, so dass kein menschliches Auge je die Versammlungsstätte der Feen erblicken konnte. Jetzt hatte das Mädchen das Tor erreicht, setzte ihren Fuß über die Schwelle und blieb wie angewurzelt stehen. Erschrocken sah es sich um, konnte es nicht fassen, in was für eine Festversammlung es da geraten war. Auch die Feen glotzten richtig mit erhobenen Zauberstäben in der Hand auf das Kind. Nichts hatte sich in Wald

verwandelt, die Feen hingen nicht als Vögel oder Fledermäuse in den Ästen wie sonst bei solchen Gelegenheiten. Sie konnten das Kind und dieses die Feen und den ganzen Kristallpalast sehen. Oh Gott! Auf einmal ein Ruf. „Sylvie!“ Es war Dagmira, die ihre Enkelin erkannt hatte. Der Kleinen gab es einen Ruck. Sie sah hin zu der Ruferin, rief „Omi! Was machst du denn da? Und wie siehst du denn aus?“ Und dann lachte sie wie verrückt und konnte fast nicht mehr aufhören. „Was spielt ihr denn da Schönes, so ganz im Geheimen?“

„Sylvie, komm her zu mir!“ befahl Dagmira streng. Doch Sylvie hatte anderes im Sinn.

„Das muß ich meiner Freundin erzählen. Du glaubst es nicht! Omi, Omi, wer hätte das gedacht!“ Damit zückte sie ihr Handy und wollte allen Ernstes mitten in der Feenversammlung und völlig ungerührt ihre Freundin anrufen. „Laß das sein, Sylvie!“ sagte die Feenkönigin streng. „Du machst dich nur lächerlich. Es glaubt dir sowieso niemand, was du hier siehst.“

Sylvie tippte ungerührt auf ihrem Handy herum. „Dann soll Karin eben herkommen. Die wird staunen!“ Dagmira streckte ihren Zauberstab aus. „Versuch’s nur!“ Sylvie hämmerte wie wild auf den kleinen Tasten ihres Handys herum. „Sch…“ dieses Wort blieb ihr im Munde stecken, denn Omis Zauberstab wirkte auch bei solchen Ausdrücken. „Meine Batterie ist alle. Das gibt’s doch nicht!“

„Kommst du jetzt endlich her zu mir!“ befahl Dagmira. Erst jetzt schien das Mädchen ernsthaft zu begreifen und begann nun wirklich zu staunen. Langsam ging es durch

die Reihen der Feen, schaute mal nach links, dann nach rechts, konnte offensichtlich immer noch nicht glauben, was doch ganz greifbar vor seinen Augen lag. Endlich war es bei ihrer Oma angekommen. Die nahm das Kind in ihre Arme, strich ihm übers Haar und erklärte ihm lächelnd: „Sylvie, das alles sind gute Feen und ich bin ihre Königin. Und das Schönste ist, du bist auch eine Fee! Wirklich und wahrhaftig. Sonst hättest du den Feenpalast nie zu Gesicht bekommen, er wäre dir wie ein Wald erschienen. Wie gut, dass wir das jetzt herausgefunden haben.“

„Aber, aber…wieso hatten wir alle keine Ahnung, dass du eine Fee bist? Ich dachte immer, die wohnen irgendwo, bloß nicht bei den Menschen. Und ich – ich auch? Wirklich wahr? Ich soll auch eine Fee sein?“

„Ja, Sylvie, genauso ist es. Komm, setz dich neben mich. Ich erklär dir das alles noch, aber jetzt musst du schön still sein, denn Tharissia dort will uns gerade etwas über die griechischen Kinder berichten.“

Sylvie war denn auch so gefangengenommen von den vielen merkwürdigen Gestalten, von dem herrlichen Kristallpalast, den darin herumschwirrenden Blumenelfen und vor allem von ihrer Großmama.

 

 

Da saß sie nun da in ihrem altmodischen Goldgewand mit dem albernen Blütenschmuck auf dem Kopf und einer Rose im Ausschnitt – wenn auch wirklich in königlicher Haltung und trotzdem voller Liebreiz. Sylvie war ihrer Oma ja schon immer sehr zugetan gewesen, doch jetzt stieg sie noch gewaltig in ihrer Achtung. Auf alle Fälle wollte sie sich bemühen, eine ebenso feierliche Haltung einzunehmen und gut aufzupassen. Dagmira nahm das Gespräch wieder auf.

„Wir waren bei den Kobolden stehengeblieben und die Frage erhebt sich, wie befreien wir unsere Kinder wieder von ihnen?“

Kobolde! –Sylvie horchte auf. Das wurde ja immer toller. Nein, sie musste unbedingt ihre Freundin erreichen. Die glaubten alle ganz im Ernst an solche Märchen! Das konnte sie nicht für sich behalten. Karin musste herkommen, so schnell wie möglich und sie mußte sich den ganzen Spuk selber ansehen. Verstohlen glitten ihre Finger suchend über die Handytasten. Autsch, da hatte sie was gestochen! Und schon wieder! Als besäße ihr Handy plötzlich lauter Stacheln statt Knöpfe und Tasten. Sie sah zu ihrer Großmama auf. Aber nein, die hatte bestimmt nichts bemerkt, die war ganz Ohr wegen dieser Koboldskinder.

Sylvie täuschte sich, ganz gewaltig täuschte sie sich. Denn nicht nur ihre Feenoma registrierte jeden Versuch, das Handy zu aktivieren, auch alle anderen Feen empfingen durch ihre Zauberstäbe jedes Mal einen Impuls, sobald Sylvies Finger eine Handytaste berührte. Das Missbehagen, das sie dabei empfanden, ließ ihre Stäbe automatisch gegenreagieren. Das waren die Stiche, die Sylvie spürte. Eine ungemütliche Spannung baute sich auf. Und jetzt schrie die dicke Wolkenliese ganz laut über alle hinweg: „Dagmira, deine Enkelin hat einen Kobold mitgebracht. Sie soll ihn sofort von sich tun!“ Erschrocken sah Sylvie zu ihrer Oma auf. „Aber nein, Sylvie ist ein ganz liebes Mädchen, sonst hätte sie doch gar nicht zu uns her gefunden.“

„Doch, doch, ein Kobold ist mit ihr hereingekommen, ich spür’s doch ganz genau!“ bestätigte Gundilde. Und auch in die übrige Gesellschaft war Bewegung gekommen. „Sie soll nach Hause gehen oder den Kobold fortschicken. Er gibt keine Ruhe, mein Zauberstab zuckt und zappelt, ich hab ihn fast nicht mehr unter Kontrolle“, ereiferte sich eine andere uralte Fee, die sonst fern von Menschen in einem Luftschloß wohnte.

„Das muß dein Handy sein“, flüsterte die Feenkönigin ihrer Enkelin zu. „Leg es weg!“ Sylvie kam nicht mehr dazu. Denn mit einemal zischten alle Zauberstäbe in die Höhe in Richtung Sylvie, die tat einen Schrei, das Handy flog in hohem Bogen hinaus zur Tür, drehte dort ein paar Kapriolen und – peng, knallbum, donner, donner, krachte und bollerte es da plötzlich, eine Windbö fegte durch den Saal, der Himmel hatte sich verdunkelt und mit dem Sausewind wischte auch etwas Dunkles, Funkensprühendes herein. Es krachte auf den Boden, Dampf stieg auf wie von einem Riesenkurzschluß und gleich darauf wurde eine schlanke Gestalt in einem dunkelgrün schillernden Umhang sichtbar. Es war Dirgni, die böse Fee, die man wieder einmal nicht eingeladen hatte und die doch jedes Mal herausfand, wo die Feen-Sonnwendfeier stattfand.

 

 

 

Alles erschrak und wer beim Koboldaustreiben aufgestanden war, der saß vor Schreck wieder auf seinen vier Buchstaben.

„Hahahaha – damit habt ihr nicht gerechnet, ihr Süßen, was? Scheint’s bin ich grade zur rechten Zeit gekommen. Ihr spielt ja ganz schön wilde Spiele und schmeißt mit Handys rum. Wo habt ihr das überhaupt her? Ihr seid doch sonst nicht so für das Moderne.“

Sylvie sprang auf. „Das ist meins! Es ist mir aus der Hand geflogen.“ Die böse Fee wandte sich mit einem süßsauren Lächeln dem Mädchen zu. „Nun, da hast du es wieder und steck es gleich weg, damit es nicht wieder davonfliegt!“ Und wieder schüttelte sie sich vor Lachen.

„Danke“, sagte Sylvie und zu Dagmira leise: „Die ist aber schön, Omi. So möchte ich gern mal werden.“

„Pst, Sylvie, das ist eine böse Fee. Wenn sie dich hört, nimmt sie dich auf der Stelle mit und macht auch eine böse Fee aus dir.“

„Au ja, das wär aber fein!“ wisperte sie zurück. Dagmira hatte nun anderes zu tun, als sich mit ihrer Enkelin zu unterhalten. Zumal gerade die Wolkenliese aufsprang, in die Hände klatschte und begeistert rief „Bravo Dirgni, das hast du fein gemacht. Klasse!“ Natürlich gefiel das Funkenstieben dieser Donnerwolkenfee, die in diesen Elementen ja zu Hause war. Dagmira aber wies die Ruhestörerin zurecht.

„Dirgni, wenn du nun schon mal da bist, dann setz dich bitte und nimm an unserem Gespräch teil. Wir unter­hielten uns gerade über die griechischen Kinder, die anscheinend von Kobolden besessen sind.“

„Nicht bloß die griechischen, alle, meine Liebe, alle!“ sagte Dirgni hämisch und lächelte bös von einem Ohr zum anderen. „Da hab ich euch gleich einen mitge­bracht. Einen von der übelsten Sorte!“ schrie sie und schüttelte ein Bündel Arme und Beine in bunten Kleidern, dass es nur so klapperte.

„Aber das ist ja der Kasperl!“ rief Sylvie aus.

„Ganz recht, der Kasperl. Im Wald hab ich ihn erwischt, geschlafen hat er wie ein Murmeltier. Aber ich hab’s aus ihm herausgebeutelt, was er schon wieder angestellt hat. Da, er soll’s euch selbst erzählen!“ Damit warf sie den Kasperl den Feen vor die Füße.

Da saß er nun, alle Knochen taten ihm weh, er sah sich um und sagte ganz kleinlaut: „Es war nur wegen der Musik, wegen der schönen Musik!“

Dagmira winkte ihn zu sich. „Komm her zu mir, setz dich und erzähl uns alles von Anfang an.“

Erleichtert machte sich der Kasperl auf und begann.

 

„Meine lieben Damen, Sie glauben ja gar nicht, was ich eben erlebt habe, ehe mich die böse Fee da gefunden hat! Und wenn ich mich bei der ganzen Sache etwas ungeschickt benommen habe, dann ganz bestimmt nicht mit Absicht. Ich hab auch eine ganz schöne Strafe dafür bekommen, aber diese Dirgni kann ja nicht zuhören. Ich werde es Ihnen jetzt ganz genau erzählen! Es war mir selber recht peinlich, doch ist alles gut ausgegangen.

Also, paßt mal auf.

 

 

Kasperles Strafe

 

 

Es war gerade zur Vollmondzeit, so kurz vorm Schlafen­gehen, da hör ich doch plötzlich ganz lautes Hunde­gebell. “Was regt sich der bloß so auf!“ denk ich noch und will schon mein Fenster schließen. Da! auf einmal ertönt zarte Musik zu mir herüber. Gerade, als der Hund Luft schnappen muß für sein nächstes Bellkonzert.

Das war aber komisch!

Die Musik schien von weit her zu kommen, von hinter den Wiesen, hinter dem Wald. Ja, vielleicht gar vom Mond selber? Denn genau aus der Richtung, wo der Mond aufgegangen war, kam die Musik.

Wie ihr vielleicht wißt, sind wir Kasperl ein recht neugieriges Volk. Wir müssen immer allem sofort auf den Grund gehen. Also zog ich wieder meine Schuhe an, unterdrückte ein Gähnen und lief hinaus in die silberhelle Vollmondnacht. Der Hund kläffte wieder, die wunderschöne Musik lockte und der Mond goß seinen milden Schein über alles hin.

Während ich so dahinlief, immer diesen Tönen nach, kamen nach und nach immer mehr Geräusche hinzu. Es raschelte, knisterte, plätscherte um mich herum. Je weiter ich kam, desto mehr Geräusche begleiteten mich. Es begann zu klopfen, zu blasen, zu quietschen und zu scheppern. Und immer wieder das laute Wau, Wau von dem unsichtbaren Hund. Mir wurde schon ganz bänglich ums Herz. Wenn nicht zwischendurch ab und zu die hübsche Musik zu hören gewesen wäre, ich glaub`, ich wäre trotz meiner Neugier wieder umgekehrt. Aber die

Musik lockte mich so sehr, sie war gar so hübsch und einschmeichelnd.

 

 

Nachdem ich durch die Wiesen gegangen war und auch den mondhellen Wald durchquert hatte, stand ich plötzlich vor einem großen Berg. Der war voller Geräusche. Aus ihm drang Klopfen und Schlagen, es trappelte bergauf und bergab, es plätscherte, rasselte und quiekte, pfiff und dröhnte. Ich weiß gar nicht, was das alles für Geräusche waren. Jedenfalls machte der Berg einen Höllenlärm, als ich näherkam. Mitten daraus erklang diese Musik. Ich konnte sie fast nicht hören vor lauter Lärm. Und sie war doch so schön! Ich guckte und guckte, aber ich konnte sie nicht finden. Da wurde ich richtig ärgerlich über diesen Lärm, der die Musik so ganz und gar unterdrückte. Ich stellte mich vor den Berg und schrie, so laut ich konnte:

"Ruhe! Seid doch mal still, man kann die Musik gar nicht hören vor lauter Krach!"

Damit hatte ich aber was Schönes angerichtet! Es ging noch viel ärger los als zuvor, ja, es donnerte sogar und mir wurde himmelangstundbang.

Nun hörte ich auch eine laute Stimme, die rief:

"Du Wicht, merkst du nicht, daß du störst? Was suchst du hier zu nachtschlafender Zeit? Du gehörtest längst ins Bett!"

Wieder ging der Höllenspektakel los. Ich fuhr richtig zusammen vor Schreck! Zwar wollte ich noch was sagen, aber man ließ mich gar nicht zu Worte kommen. Die Stimme fuhr fort, mich anzubrüllen.

"Du bist hier in eine Geräuscheversammlung eingedrungen. Gerade in dem Augenblick, wo wir alle

ganz still sein wollten. Denn es wird soeben ein neues Geräuschlein geboren. Wir müssen aufpassen, daß wir es hören, wenn es da ist. Wir waren nur so laut, weil wir dich vertreiben wollten!"

Ärgerliches Rascheln, Klopfen und Quieken bekräftigte diese Rede.

"Ach so, Entschuldigung, das habe ich nicht gewußt", sagte ich kleinlaut. "Aber wo ist denn nun euer neues Geräuschlein?"

Da schrie mich die Stimme wieder an: "Wirst du wohl still sein! Gerade hat es sich vernehmen lassen. Jetzt haben es nicht alle gehört!"

Empört begannen die Geräusche wieder zu toben. Es trappelte, klopfte, pfiff und donnerte. Da ließ sich die Stimme vernehmen:

"Still! Hört nur! Unser neues Geräuschlein ist geboren!"

In der Tat schwieg alles still. Dann erklang ein zarter, feiner Ton, so, als würde jemand mit einem Löffel sachte gegen ein leeres Weinglas schlagen. Oder auf einem Xylophon den höchsten Ton anstimmen.

Da rief die Stimme:  "Es  ist da! Habt ihr es gehört? Unser neues Geräuschlein ist geboren!"

Wie auf Kommando legten alle Geräusche wieder los, daß es nur so eine Art hatte.

Mir wurde das Ganze aber doch zu unheimlich. Ich verdrückte mich lieber. Jetzt fällt’s am wenigsten auf, dachte ich mir.

Aber weit gefehlt! Als die Geräusche nachließen, tönte diese fürchterliche Stimme über mich hin, über den Wald, über die Wiesen, die ganze helle Nacht durchzitterte sie und sprach:

"Aber dieser Störenfried muß bestraft werden. Ab sofort kannst du nur noch drei Sätze hintereinander ungestört sprechen. Und zwar so lange, bis du herausgefunden hast, welche Sprache unser neues Geräuschlein spricht."

Dann begannen wieder die Geräusche zu rumoren und ich lief und lief und suchte nach einem Ort, wo ich mich verstecken konnte.

 

 

 

Ich weiß nicht, wie lange ich gelaufen war. Jedenfalls kam ich an ein schönes Schloß. Ich schlich mich erst mal ran an eins der hellerleuchteten Fenster, um zu sehen, wer da überhaupt wohnte. Was ich sah, verschlug mir direkt den Atem. Denn dort, in einem prächtigen Gemach, saß ein richtiger König gemütlich auf einem Sofa aus blauem Samt, ihm zur Seite eine kleine, zarte Prinzessin. Aber das Seltsamste war, daß sich quer über die Füße der Prinzessin ein Krokodil gekuschelt hatte. Eine Weile betrachtete ich die kleine Gruppe. Traurig sahen sie aus, die Drei. Doch auf einmal erhellte sich die Miene das Königs, er legte einen Arm um seine Tochter und dann sagte er irgendetwas zu ihr. Ich preßte ein Ohr ganz dicht ans Fenster. Vielleicht konnte man verstehen, was er sagte. Es klappte!

"Mein liebes Kind", begann der König, "freust du dich denn gar nicht auf deinen Geburtstag morgen? Du sitzt gar so traurig da, sagst kein Wort, bist nicht einmal neugierig, was für Geschenke dich erwarten werden. Wir wollen Deinen Geburtstag so richtig feierlich begehen, weißt du!"

"Ach ja", sagte darauf die Prinzessin, "das ist lieb von dir, Vater. Aber was soll mir das alles, wenn ich immer nur allein bin? Eigentlich kann ich mich auf meinen Geburtstag gar nicht recht freuen. Ja, wenn Kinder da wären, denen ich meine Geschenke zeigen könnte! Wie gerne würde ich alle meine Spielsachen mit ihnen teilen. Wir könnten den ganzen Tag lang spielen. Ich hab ja so viel! Und ich bekomme immer noch mehr geschenkt."

Da hob das Krokodil seinen langen Kopf und sagte mit menschlicher Stimme:

"I c h  könnte mit dir spielen. Alles was du willst."

"Ich weiß, mein liebes Krokodaxerl", sprach die Prinzessin. "Du bist so lieb zu mir. Aber es wäre halt doch viel schöner, wenn unser ganzes Schloß voller Kinder wäre."

Das Krokodil klappte traurig sein Maul auf und zu und brummte "Ja, ja!"

Der König drückte die kleine, betrübte Prinzessin zärtlich an sich und sagte so zuversichtlich, wie er nur konnte:

"Es wird bestimmt ein schöner Tag, warte nur ab."

Da konnte die Prinzessin nicht mehr anders, sie mußte ganz einfach weinen. So allein und einsam kam sie sich vor. Die Tränen tropften auf das Krokodaxerl zu ihren Füßen. Als es das spürte, richtete es sich ein bißchen auf, legte seine riesige Schnauze auf den Schoß der Prinzessin, sah sie treuherzig an  -  und dann hörte ich das Verrückteste, was man sich nur vorstellen kann. Nein, vorstellen kann man sich so etwas nicht. Hört selber, womit das Krokodaxerl nun herausrückte!

"Nein, meine kleine Herrin, das ist zuviel. Weinen darfst du nicht. Das kann ich nicht sehen. Da muß ich dir eben mein Geheimnis verraten. Es sollte zwar eine Geburts­

tagsüberraschung für dich werden, aber jetzt will ich es dir schon vorher sagen. Nur damit du aufhörst zu weinen und dich ein klein wenig freust."

"Aber was könntest du mir denn schon für eine Überraschung bereiten?" wunderte sich die Prinzessin. "Von dir würde ich sowas am allerwenigsten erwarten."

"Nun bist du neugierig geworden, was?" sagte das Krokodil. "Ich habe Spielgefährten für dich gefunden und sie zu deinem Geburtstag eingeladen. Viele! Eine ganze Menge!" gestand es.

"Was? Spielgefährten? Kinder? Dann kommen doch Kinder morgen zu meinem Geburtstag?"

"Nein, keine richtigen Kinder", fuhr das Krokodil fort. "Es sind Geräusche. Die Geräusche habe ich zu dir eingeladen. Sie wollen Verstecken und "Rate mal" mit dir spielen. Den ganzen Tag lang. Und überhaupt immer, so oft du nur willst. Du brauchst nie mehr einsam zu sein!"

"Geräusche?" fragte die Prinzessin ungläubig. "Ja wie soll das denn zugehen? Geräusche kann man doch nicht einladen. Mit Geräuschen kann man doch nicht spielen! Aber trotzdem, ich danke dir, daß du mich hast trösten wollen."

Die Prinzessin umarmte das Krokodil und küßte es mitten auf den Kopf zwischen seine Augen.

Ach, wie sah das arme Krokodaxerl enttäuscht und belämmert aus! Nun glaubte ihm die Prinzessin gar nicht. Und wie hätte es ihr auch verständlich machen können, daß es das wirklich gab? Geräusche als Spielgefährten.

 

 

 

Da kam mir eine Blitzidee. Wenn überhaupt jemand, dann war ich es, der dem Krokodaxerl beistehen konnte. Ich hatte genug Erfahrungen mit den Geräuschen gemacht, mir mußte die Prinzessin wohl glauben. Außerdem, vielleicht gestattete sie mir, mich in ihrem Schloß vor der Strafe der Geräusche zu verstecken.

Ich klopfte an die Tür. "Ja, herein", erklang es erstaunt von drinnen. Ich machte also die Tür auf, trat ein und verbeugte mich ehrfurchtsvoll vor der erlauchten Gesellschaft.

"Ja, wer bist du denn?" fragte der König. "Uuii!" machte die Prinzessin. Das Krokodil aber fing vor lauter Überraschung an zu bellen, sodaß ich vor Schreck fast in Ohnmacht gefallen wäre. Ein Krokodil, das bellt! Hat man sowas schon erlebt? Ich nahm mich zusammen, sagte artig "Guten Abend" und dann versuchte ich, so gut wie möglich meine Situation zu erklären.

"Entschuldigen Sie bitte, Herr König, und Sie auch, Fräulein Prinzessin. Und du ebenfalls, Krokodaxerl, daß ich so hereingeschneit komme. Ich muß nämlich dem Krokodil helfen, dem niemand glauben will."

Plötzlich klapperte es laut, sodaß wir alle drei erschraken.

"Ich gestehe, ich habe am Fenster draußen gelauscht und dabei vernommen, was das Krokodil über die Geräusche gesagt hat. Es hat nämlich recht, das müssen Sie, Fräulein Prinzessin, unbedingt glauben!"

Wieder klapperte es.

"Du kannst gerne ‚du‘ zu mir sagen" wandte sich die Prinzessin an mich. "Als ‚Fräulein‘ Prinzessin komme ich mir viel zu erwachsen vor. Und dann - wie könnte ich denn glauben, daß mein Krokodaxerl die Geräusche als Spielgefährten zu mir eingeladen hat! Sowas gibt`s doch gar nicht!"

"Wer bist du denn eigentlich?" fiel der König ein, "und wie heißt du?"

"Also, ich bin der Kasperl und ich werde von den Geräuschen verfolgt. Sie wollen mich bestrafen, weil ich in ihre Versammlung eingedrungen bin. Ich wollte Sie noch inständig bitten, ob ich mich in Ihrem großen Schloß eine Weile verstecken darf."

Das waren drei Sätze. Sofort begann es nach dem dritten Satz zu klopfen.

"Vielleicht vergessen sie mich und meine Bestrafung nach einiger Zeit, wenn sie mich nicht finden."

Da brach der König in ein Lachen aus. "Ha, ha, ha, das ist die lustigste Geschichte, die ich je gehört habe. Eine Geräuscheversammlung! Und sie wollen dich bestrafen! Ja wofür denn, wenn ich fragen darf?"

"Weil ich die Geburt eines neuen Geräuschleins gestört habe", antwortete ich. "Sie machten alle furchtbar viel Lärm, weil sie mich vertreiben wollten und darüber haben sie nicht hören können, als das neugeborene Geräuschlein sein erstes Tönchen von sich gegeben hat. Deshalb soll ich nur noch drei Sätze ungestört hintereinander sprechen können. Bis ich herausgefunden habe, welche Sprache das neue Geräuschlein spricht."

Jetzt klapperte  u n d  klopfte es gar.

"Nun", sagte der König nachdenklich, "so wie es aussieht, müssen wir dir wohl glauben. Die Strafe wirkt ja schon. Aber mit dem Verstecken allein ist es nicht getan. Am besten wird sein, du findest wirklich heraus, welche Sprache das neue Geräuschlein spricht. Dann hat die Sache ein für allemal ein Ende."

"Und ich weiß auch schon, wie!" ermunterte mich die Prinzessin. "Wenn die Geräusche wirklich morgen zu meinem Geburtstag kommen, bringen sie bestimmt das neue Geräuschlein mit. Du versteckst dich inzwischen in unserem Geheimgang da hinter dem Bücherschrank. Wenn wir dann das neue Geräuschlein gehört haben, können wir gemeinsam überlegen, welche Sprache es spricht. Wir finden das bestimmt heraus!"

"Ja, das machen wir", pflichtete der König bei. "Aber jetzt gehen wir alle ganz schnell schlafen, damit wir morgen munter sind, wenn deine neuen Spielgefährten kommen", wandte er sich an die kleine, aufgeregte Prinzessin. Er ließ mir noch ein herrlich weiches Bett in den geheimen Gang hinter dem Schrank stellen und dann gingen wir alle schlafen.

 

. * . * . * . * .

 

Der nächste Morgen war so voller Vogelgezwitscher, daß sogar ich in meinem dunklen Versteck davon erwachte. Im ersten Moment glaubte ich schon, die Geräusche wären angekommen. Doch da öffnete sich die Tür und ein Diener geleitete mich in den Salon, wo er mir ein herrliches Frühstück servierte. Nicht lange, da kam auch schon die Prinzessin hereingehuscht. Hinter ihr drein watschelte das drollige Krokodil, das bellen konnte.

"Hallo, Kasperl!" rief die Prinzessin. "Bist du jetzt fertig mit Frühstücken? Dann können die Geräusche ja kommen. Mein Krokodaxerl hat gesagt, sie warten nur darauf, daß es bellt. Dann sind sie im Nu bei mir!"

"Ja, es kann losgehen!" sagte ich und und versteckte mich schnell wieder in dem dunklen Geheimgang. Da lief das Krokodaxerl hinaus und fing an zu bellen wie der allerbeste Schloßhund.

Die Prinzessin stand mitten im Zimmer und hatte vor Aufregung ganz rote Bäckchen.

Und da kamen sie schon, die Geräusche.

Vorneweg fegte ein Brausen und Rauschen durch den Wald, wie von einem Sturmwind. Hinterdrein trappelte, klopfte, schlug, quietschte und pfiff es, es knisterte, raschelte, plätscherte, rasselte, es klingelte und hustete.

Mit einemal war alles still. Das Krokodil allein wußte, was das zu bedeuten hatte und was jetzt zu tun war.

"Sie stehen vor der Tür, Prinzessin, du mußt sie hereinlassen", forderte es das Geburtstagskind auf.

Schnell lief das kleine Mädchen zur Türe, machte sie weit auf und rief: "Seid mir willkommen, ihr Geräusche alle, kommt herein und spielt mit mir!"

Am liebsten hätte ich sehen mögen, was jetzt passierte. Denn in meinem dunklen Versteck hörte ich nur ein tolles Durcheinander von Geräuschen. So, als purzelten und kullerten sie nur so über die Diele. Dann hörte ich die altbekannte Donnerstimme von diesem Berg der Geräusche:

"Liebe Prinzessin, wir Geräusche gratulieren dir zum Geburtstag und wünschen dir alles Gute. Wir haben dir auch etwas mitgebracht. Hier, unser neues Geräuschlein soll unser Geburtstagsgeschenk für dich sein."

Eine kurze Weile lang hörte ich nichts mehr. Dann vernahm ich einen kleinen, zaghaften Ton. Da jubelte die Prinzessin und rief laut: "Danke, danke, ihr Geräusche! Das ist aber auch ein hübsches Geschenk! So ein zartes, kleines Geräuschlein! Komm, du sollst mich überallhin begleiten."

Dann verlief sich die ganze Gesellschaft. Nur von fernher hörte ich noch fröhliches Getümmel. Wahrscheinlich wurde der Prinzessin jetzt zum Geburtstag gratuliert. Sie bekam ihre Geschenke und sie spielte den ganzen Tag lang Verstecken und "Rate mal, was bin ich?" mit den Geräuschen. Dabei gab sie acht, daß man nicht in meine Nähe kam und mich vielleicht doch noch entdeckte.

So ein Tag ist ganz schön lang. Das könnt ihr mir glauben! Besonders, wenn man hört, daß alles fröhlich ist und man selbst darf sich nicht mucksen.

Na, am Abend endlich kam die Prinzessin angesprungen. Sie öffnete freudestrahlend die Geheimtür und rief mir zu:  "Komm heraus, Kasperl, ich hab die Geräusche nach Hause geschickt. Es besteht keine Gefahr mehr für dich! Vielleicht haben sie deine Bestrafung schon vergessen!"

Ach, war ich froh, endlich wieder hinaus zu dürfen!

"Zuerst einmal herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!" sagte ich. "Na, war`s nett? Hast du schön gespielt mit deinen neuen Spielgefährten?"

Ach herrje! Schon wieder ging`s los mit Klopfen und mit Trampeln! Scheints wurden diese beiden Geräusche hier im Schloß damit beauftragt, mich nach jedem dritten Satz zu stören.

"Es ist immer noch das alte Lied mit dir", lachte die Prinzessin. "Aber das werden wir bald haben. Hör nur, mein neues kleines Geräuschlein, wie es pfeift oder so was Ähnliches! Und vielen Dank für deine Glückwünsche. Ja, es war ein wunderschöner, lustiger Tag!"

Wir setzten uns auf den weichen Teppich, das Krokodaxerl zwischen uns, und dann beratschlagten wir, welche Sprache denn nun das neue Geräuschlein sprach.

"Sag mal", sinnierte ich, "ist das wirklich ein Pfeifen? Oder vielleicht eher ein Zirpen? Wie würdest du denn das Geräuschlein nennen, Krokodaxerl?"

Schon wieder ging es los mit der Klopferei, wieder einmal hatte ich drei Sätze gesagt und mußte gestört werden.

Die kleine, glückliche Prinzessin amüsierte sich nur über mein Ungemach.

"Na warte, du Klopfgeist!" drohte sie lachend, "wenn wir dich finden, jagen wir dich in den Wald hinaus! - Aber ein Zirpen ist es nicht. Eher ein, ein - ..."

In dem Moment trat der König ins Zimmer. Das neue Geräuschlein begann vor Schreck, lauter kleine, zarte Töne von sich zu geben. Das hörte der König.

"Nanu", sagte er, "wer flötet denn da so hübsch? Hast du noch jemanden versteckt, mein Kind?"

"Oh Vater!" jubelte die Prinzessin, "du hast es gesagt! Du hast es erraten! Ja, es stimmt tatsächlich. Mein kleines Geräuschlein spricht die Sprache der Flöte! Du bist erlöst, Kasperl! Nun kannst du zu dem Berg zurückgehen und der Stimme erzählen, was sie wissen möchte!"

Vor lauter Freude fiel die kleine Prinzessin ihrem Vater um den Hals, küßte ihr Krokodil und faßte dann mich an den Händen, um fröhlich herumzutanzen.

Der kluge Herr König lachte, das Krokodil bellte, das Geräuschlein flötete und meine beiden Störenfriede klapperten und trommelten, wohl auch nur aus lauter Überraschung.

Ganz plötzlich hielt die Prinzessin stille und sagte wehmütig zu ihrem Vater:  "Aber was soll ich denn mit meinem Geräuschlein, wenn ich es nicht sehen kann?"

"Dem kann abgeholfen werden, Prinzessin", fiel mir gerade zur rechten Zeit ein. "Du hast von mir doch noch kein Geburtstagsgeschenk bekommen. Gib mir einen Tag Zeit und ich werde dir eine Flöte machen, in die du dein neues Geräuschlein hineinblasen kannst. So ist es immer bei dir und ihr werdet viel Spaß miteinander haben."

Gesagt, getan. Ich gab mir sehr viel Mühe und schnitzte der Prinzessin aus einem Holunderstab eine wunder­schöne Flöte. Dahinein blies sie das kleine Geräuschlein. Sie setzte die Flöte so oft an den Mund, um mit ihm zu sprechen, und das Geräuschlein bemühte sich so sehr, der Prinzessin zu gefallen, daß es bald ganz viele, zauberhafte Töne hervorbringen konnte. Und die Prinzessin soll zu einer wunderbaren Flötenspielerin geworden sein, habe ich gehört.

 

Ich aber ging so bald wie möglich zu dem Berg mit den vielen Geräuschen, stellte mich vor ihn hin und rief:

"Stimme! Hallo! Stimme! Hörst du mich?"

"Ich höre dich!" tönte die Stimme aus dem Berg. "Was willst du schon wieder?"

"Ich weiß, welche Sprache euer neues Geräuschlein spricht!" schrie ich zurück.

"Dann sage es!" knarrte die Stimme.

"Es ist die Sprache der Flöte!" lautete meine Antwort.

"Sehr gut, es stimmt", dröhnte es aus dem Berg.

"Du bist befreit von deiner Strafe. Wir werden dich nicht mehr belästigen!"

Noch einmal erbebte der Berg vor Geräuschen, die mir alle zum letzten Mal tüchtig was vormachten. Da lief ich schnurstracks davon und lief und lief, bis ich nicht mehr konnte. Ich fiel hin und muß vor lauter Erschöpfung eingeschlafen sein. Bis mich die böse Fee gefunden hat."

 

 

 

 

 

Der Kasperl riskierte einen schrägen Blick hin zu Dirgni, die grünschillernd und zähneknirschend die Wahrheit mitanhören mußte.

Die Feen hatten gespannt gelauscht. Ihre Mienen erhellten sich zusehends. Das hörte sich gar nicht so schlecht an. Nur eine der uralten Feen sah halt doch wieder eine Bosheit darin.

„Ja, ja, immer muß er stören, dieser Kasperl. Das war schon früher so. Natürlich ist er ein Kobold. Wir werden diese Koboldsbrut auslöschen, ja, das werden wir!“ droht sie aufgebracht.

„Nur nicht gleich so heftig, Dorisa“, beschwichtigt Dagmira. „Der Kasperl ist kein Kobold, die Kinder lieben ihn. Außerdem sind Kobolde wohl auch für etwas gut, sonst gäbe es sie nicht. Laßt uns nach einem Weg suchen, wie wir sie von unseren Kindern fernhalten können.“

Da springt Dirgni, die böse Fee, auf und schleudert ihre Arme hoch. „Das könnt ihr nicht, das kann niemand!“ schreit sie blitzeschleudernd. „Die Kobolde sind überall, sie stecken in der Elektronik, im Spielzeug, in den Gehirnen der Menschen. Ihr könnt nichts gegen sie tun. Ihr nicht!“ Und wieder sprüht es Funken um sie her.

Sylvie verkriecht sich schaudernd hinter dem ausgebreiteten Gewand ihrer Großmama. ‚Die ist ja toll’, denkt sie sich im stillen, ‚die ist das reinste Sonnwend­feuerwerk, phantastisch!’

Jetzt wurde es aber selbst der Feenkönigin zu bunt. „Dirgni!“ ruft sie streng, „wenn du schon so gut Bescheid weißt, dann verdonnere ich dich dazu, bis zur nächsten Sonnwendfeier eine Lösung zu finden. Und jetzt verschwinde. Wenn ich nicht wüsste, dass auch in dir ein guter Kern steckt, könnte man dich selbst für einen Kobold halten. Störe unser friedliches Fest nicht länger.“ Sie erhebt den Zauberstab und richtet ihn drohend auf die böse Fee. Das wirkt. Ihr dunkelgrün schillerndes Gewand wird plötzlich ganz blaß, sie sieht gar nicht mehr kämpferisch aus. Ja, Dirgni verbeugt sich sogar demütig vor der Königin und sagt:

„Entschuldigt bitte mein Temperament. Es ist wieder einmal mit mir durchgegangen. Ich schäme mich. Ich mach es wieder gut, ihr werdet schon sehen. Bis zum nächsten Jahr!“ Damit schlägt sie ihren weiten Umhang um sich, wirbelt einmal um sich selber und saust durch die Luft zum Tor hinaus. Alle atmen auf.

“Tja, nun müssen wir warten, bis Dirgni wiederkommt und uns einen Vorschlag macht“, seufzt die Königin. „Bis dahin versuchen wir es in Liebe, unsere Kinder von Kobolden fernzuhalten.“

Wieder haben die Elfen die Tische herrlich geschmückt  und Nahrhaftes daraufgestellt. Nach all der Aufregung schmeckt es den Feen besonders gut. Die Zeit vergeht wie im Flug, man plauscht, erzählt sich so manche Unverschämtheiten von den Kobolden und ihren Verwandten, den Trollen hoch im Norden. „Nur gut, dass die sich bei Tag nicht sehen lassen dürfen, sonst verwandelt sie die Sonne sofort zu Stein,“ bemerkt gerade die kalte Sofie. Und eine andere will wissen: „Die haben doch auch Riesen und Dämonen und auch Elfen und Feen, nicht?“ Die Wolkenliese, die weit herumgekommen ist in der Welt, kann sie beruhigen. „Das stimmt, aber das sind ganz andere Leute, als wir. Die lassen sich nichts gefallen von den Menschen und diese geh’n dem Zaubervolk aus dem Weg. Sie lassen sich gegenseitig in Ruhe und das sollten wir auch anstreben.“ Doch die Feenkönigin hat da was dagegen. „Das ginge hier gar nicht, weil so viele junge Feen unter uns sind. Die haben alle noch Familie und müssen aufpassen, dass alles klappt. Wir sollten aber allmählich an unser Sonnwendfest heut Abend denken. Nach der Mittagspause wollen wir unsere Feiergesänge proben.“

Die Feen singen in der Sonnwendnacht nämlich die Sonne herbei. Es ist die kürzeste Nacht des Jahres und die Sonne geht am frühesten auf. Die Feen verteilten sich denn auch bei Sonnenuntergang auf den Wiesen, die Elfen gingen schlafen, die Grillen wachten auf. Der Sonnwendchor begann. Mit sanften Liedern begleiteten sie die Sonne bis unter den Horizont. Als das letzte Abendleuchten verschwunden war, verstummten die Feen, die Heimchen und Frösche übernahmen das Konzert. Nun wurden überall die Sonnwendfeuer entzündet, die Menschen begingen diese Nacht wesentlich lauter. Geschrei, Blasmusik und Bratwurstdampf wehte zu ihnen herüber. Sie ließen es über sich ergehen und verharrten in andächtiger Stille. Etliche nickten ein und schlummerten bis zum Morgengrauen. Die anderen summten immer wieder leise die uralten Sonnwendmelodien, es war eine schöne, harmonische Nacht. Gegen Morgen mischten sich Vogelstimmen dazwischen, die Chöre klangen erwartungsvoller und endlich, als die Sonne rot und glühend am Horizont heraufzog, schien das ganze Land in einen Jubel auszubrechen. Aller Augen hingen an dem wunderbaren Schauspiel, wie der rote Sonnenball den Himmel mit rosa Tönen überzog, immer strahlender und goldener wurde und schließlich hell und gleißend den Tageslauf begann. Die Feen verstummten. Die Wolkenliese bestieg ihre Gewitterwolken und segelte davon. Gundilde verschwand in ihren Nebelschwaden, auch Uta, die Französin aus den Vogesen war nicht mehr zu sehen. Sie hatte sich unbemerkt zurück nach Hause gezaubert. Tharissia stand noch ganz entrückt und konnte sich nicht vom Anblick der strahlenden Sonne lösen. Schließlich sagte sie: “Ich werde mit der Sonne reisen. Wie hab ich Sehnsucht nach meinem schönen Griechenland!“ Ganz kurz sah man sie noch empor­schweben, der Sonne entgegen, dann war auch sie verschwunden. Unbemerkt hatten sich auch die alten und uralten Feen zurückgezogen. In ihre Wolkenpaläste, Luftschlösser und ferne Burgruinen.

Dagmira hielt die schlafende Sylvie im Arm. Zu den ansässigen Feen gewandt meinte sie: „Für uns wird es auch Zeit, unsere Familien warten.“ Noch einmal fassten sich alle an der Hand, um sich alles Gute zu wünschen und sich zu verabschieden, dann verschwand eine nach der anderen. Auch der Feenpalast verwandelte sich wieder in einen ganz gewöhnlichen Wald, keine Spur des Festes war mehr zu sehen.

 

Sie sind verschwunden, die Feen. Doch wer Glück hat und mit wachen Augen durch die Welt geht, kann wohl unversehens einer begegnen.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 30.05.2014

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