Das Experiment
... eine Phantasiegeschichte ...
von
Isabella B.
2. Ausgabe / 8. März 2014
„Das Experiment“
Durch Zufall entdecken Bewohner eines fernen Kristallsterns unsere Erde. Sie beschließen, Proben mitzunehmen, um sie zu Hause gründlich zu erforschen. U.a. auch ein schlafendes Mädchen aus einer Hängematte. Die Sache geht schief, die Proben sterben, wenn man sie zum Leben erweckt. Es gibt dort nämliche keine Atmosphäre. Also werden sie zurückgebracht. Inzwischen sind 200 Jahre vergangen, das Mädchen wacht in einer völlig neuen Welt auf, hat zudem auch das Gedächtnis verloren.
Jetzt beginnt das große Chaos. Die Wesen des Kristallsterns wollen sich ebenso um die junge Frau kümmern wie die Menschen. Keiner kennt den anderen. Es spielt sich ein Durcheinander ohnegleichen ab, denn die fremden Geistwesen - oder was auch immer - sind unsichtbar. Am Ende wird alles getrennt und neu gemischt. Ob das nun besser ist - wer weiß?
Und im übrigen: Natürlich sind sämtliche Charaktere und Handlungen frei erfunden. Sollten dennoch Ähnlichkeiten mit realen Personen erkennbar erscheinen, so ist dies dem puren Zufall geschuldet...
Es fing ganz harmlos an...
Ach ja, ich muß wohl erklären, woher ich komme, das vor allem. Bei so vielen Lebensformen in unserer Milchstraße!
Meine Heimat ist ein hell leuchtender Planet, eigentlich viel heller, als ihm zukommt. Er strahlt nämlich nicht selbst, wie die anderen gleißenden Sterne und Sonnen. Nein, er wird angestrahlt. Nur wirkt das bei ihm viel heller, weil er fast ganz und gar aus Bergkristall besteht. Er funkelt nur so im Licht seiner Sonnen, es ist ein herrlicher Planet, mein Heimatstern. Übrigens könnte ich gar nicht sagen, wo er in diesem Gewimmel von Himmelskörpern zu finden wäre. Unser Kristallstern schwimmt irgendwo in der Milchstraße herum, soviel weiß ich.
Und ich bin hier auf der Erde! So weit weg von den Meinen - allmählich ertrage ich das kaum mehr. Schon lange erlebe ich ein ganz neues Gefühl. Es ist, als würde alles an mir dadurch gelähmt. Erst dachte ich, es wäre eine Krankheit. Aber das ist es nicht.
Jetzt weiß ich es endlich. Ich möchte zurück - zurück nach Hause. Ich hab es nur nicht gewußt. Nicht, wohin. Heute, nach diesem Tag voller Enttäuschung, ist mir klargeworden, was mir fehlt. Meine Heimat, Wesen, die sind wie ich. Es ist eigentlich nicht vorgesehen, daß ich ein Bewußtsein meiner wahren Existenz wahrnehme. Nur diese Enttäuschungen durch den Menschen, dem ich mich verbunden fühle wie nur irgendeinem aus unserem Volk, das ließ mich schließlich in mein Selbst zurücksinken und da ist mir nach und nach wieder die Erinnerung an ein anderes Dasein gekommen. An das freie, schöne, weite Leben als Wesen aus dem All, geborgen im Universum, eins mit allen Erscheinungsformen, die es gibt.
Immer mehr freue ich mich auf das Ende dieses Körpers. Laßt es nicht so lange dauern, ihr Lieben dort draußen - irgendwo!!!
War es ein guter oder ein schlechter Einfall, sich diese Proben von der Erde mitzunehmen? Wir wollten alle zusammenhelfen, es diesen Geschöpfen an nichts fehlen zu lassen.
Es ist mißglückt. Nichts ist so, wie sie es auf der Erde gewohnt sind. Noch einmal sollten sich mehrere von uns auf der Erde niederlassen, um die Lebensweise der Menschen zu erkunden. Deshalb bin ich hier.
Ich will erzählen, wie es begann. Alles, von Anfang an. Von dem Moment an, wo dieser Komet auf uns zugerast kam - und eine ganze Horde von uns sich ihm nur aus lauter Jux entgegenwarf, um mitgenommen zu werden. Wir kamen weit hinten im Kometenschweif zu sitzen und freuten uns auf die unerwartete Fahrt durchs Universum. Schnell gesellten sich noch einige mehr aus unserem Volk zu uns, denn es hieß, sich in ein Abenteuer stürzen. Und dieses Abenteuer führte uns doch in eine ganz besondere Richtung, die nicht nur mein Schicksal bestimmen sollte:
Auf einen grünlichblauen leuchtenden Punkt zu, der uns das Unterhaltsamste schien weit und breit.
Vergnügt saßen wir schön reihenweise ausgerichtet in unserem Stück Kometenschweif und schwebten durchs All. Diese Reise ließ sich bereits ganz interessant an und wir genossen die Fahrt.
Von Zeit zu Zeit lassen wir uns nämlich von unserem Heimatstern davontragen, wenn wir bei unseren Ausflügen in irgendein sich bewegendes Feld geraten, das unserem Stern zu nahe kommt. Meist vertrauen wir uns dem Sternenwind an. Das ist so eine Wolke von abgeblasenen Teilchen, wie sie die Sonne während ihrer Erruptionsphasen ausstößt. Oder er stammt von längst explodierten und in alle Richtungen zerstobenen alten Sternen her. Dann kam es schon des öfteren vor, daß uns so eine Bö dieses ausgepufften Gasnebels erfaßt und in unbekannte Zonen getragen hat. Ich könnte euch Geschichten erzählen – das glaubt mir keiner. Ein Komet ist natürlich etwas ganz anderes und daher eine besondere Attraktion.
Wir saßen und kicherten und hielten uns umschlungen, während Sterne, Materiebrocken und Sonnen an uns vorüberzogen. Einmal überholte uns ein Komet und hinterließ einen stinkenden Schweif von Abgasen, der sich aus ihm löste. Nach und nach verstummten wir und genossen nur das Schauspiel der Natur. Wie immer in solchen Fällen, beeindruckte uns die strenge Ordnung, die jedem Ding innewohnt. Oft scheint es wohl ein Chaos, doch folgen alle Turbulenzen nur bestimmten Gesetzen. Wenn sich das Chaos gelegt hat, wird offenbar, zu was es gut war. Dann ist was Neues entstanden.
Na, jedenfalls senkte sich nach einiger Zeit die heilige Stille des Alls in uns. Wir guckten nur, waren zufrieden und irgendwie glücklich. Da tauchte in der Ferne ein Farbklecks auf. Zuerst beachteten wir ihn gar nicht. Zu viele hell leuchtende, ja gleißende Riesensterne fesselten unsere Aufmerksamkeit. Unerreichbar weit entfernt. Um sie ranken sich viele Märchen in unserem Volk. Jetzt schwebten wir daran vorbei. Kein Wunder, daß ein kleiner blaugrüner Klecks zunächst unbeachtet blieb. Uranus leuchtet auch grün, ist aber nichts dran an dem Kleinen.
Die Farben wurden konkreter. Als Mensch würde ich es so ausdrücken: Wie auf Porzellan gemalt, im Gegensatz zu der Transparenz, wie sich uns das Universum darbot. So ungefähr etwa. Allmählich fesselte unseren ganzen Verein das Schauspiel des langsam rotierenden, fein kolorierten Planeten, mit einer hauchdünnen Atmosphärenschicht außen herum, der sich zauberhaft machte im Licht seiner Sonne. Stimmen wurden laut. "Was ist das nur?" "Ist das der wundertätige Kristall, den der Riese Onyx verlor, als er gegen den Herrscher fremder Welten kämpfte?" Eine unserer Sagen erzählt davon, wie sich Onyx, der Beherrscher der Milchstraße, rüstete zum Kampf gegen Virtuados, den Sieger über viele Welten, die er alle in Schwarze Löcher verwandelt hat. Eine spannende Geschichte. Die will ich aber jetzt nicht ganz erzählen. Nur soviel, daß Onyx im Innern seiner Milchstraße ein Juwel bewahrte, dem Zauberkräfte nachgesagt wurden. Einen bunten Stein. Er sollte imstande sein, abgewürgte Sterne wieder zum Leben zu erwecken. Ihn pflückte sich Onyx und machte sich auf, Virtuados entgegen. Unterwegs berührte er viele tote Sterne mit seinem Wunderstein, machte noch ein bißchen Hokuspokus drumherum und siehe da, in wenigen Milliarden Jahren erwachten sie zu eigenem Leben und Onyx gewann viele Vasallen hinzu. Als er aber Virtuados gegenüberstand, verlor er im Handgemenge den Wunderstein. Bestürzt darüber ließ er ab vom Kampf und begab sich auf die Suche. Virtuados blieb verblüfft ob des merkwürdigen Ausganges ihres Treffens zurück. Statt weiter zu zerstören, verfolgt er seither mit Argusaugen seinen Widersacher Onyx. Er will herausfinden, was der sucht. Was Onyx wichtiger war, als ein Kampf mit ihm, Virtuados, dem Allmächtigen. Die Geschichte hat noch ein paar interessante Details. Jeder von uns kennt sie. Jedem geisterte sie im Kopf herum und schließlich riefen alle durcheinander.
"Wir haben den Wunderstein gefunden! Was sonst kann es sein?! Es ist ein wahres Märchen, dort ist der Beweis!"
"He, los, wir halten darauf zu und sehen nach, was es damit auf sich hat!" Das waren die Pioniere. Die können nie still an einem Schauspiel vorübereilen und sich nur an seinem Anblick erfreuen. Die müssen immer gleich mitmachen. Immer mitten rein in die Bretoullie und allem auf den Grund gehen!
Wir waren alle einverstanden. Mit gemeinsamen Kräften lösten wir unser Stück Kometenschweif ab und gaben ihm eine neue Richtung. Bald erreichten wir mt diesem "Transportfeld" das äußere Orbit des Planeten. Eine ganze Weile ließen wir uns um ihn herumtreiben. Wolkenwirbel verdeckten oft das Bild, atmosphärische Stürme drohten großen Schaden anzurichten. Doch Gottseidank blinkten immer wieder die smaragd- und azurfarbenen Meere zu uns hinauf und auch die grünen und braunen Kontinente schienen unversehrt.
"Aus welcher Art Materie besteht das alles nur?" fragten wir uns. Blauen Meeren waren wir noch nie begegnet. Daß es Meere waren und nichts Festes, das konnten wir gut sehen.
"Los, wir gehen runter und sehen nach!" forderten ein paar Pioniere auf. Aber wir hatten Bedenken. "Was ist, wenn wir in der Atmosphärenschicht aufgelöst werden? Denkt nur an unser letztes Abenteuer, das so vielen von uns das Leben gekostet hat!"
"Das ist hier nicht zu befürchten", meinten die Pioniere. "Hier handelt es sich um harmlose Gase, wir können unbedenklich hindurchgleiten. Was seid ihr nur für Feiglinge! Wir haben wahrscheinlich den Wunderstein entdeckt und ihr sitzt herum und begnügt euch nur mit Ansehen! Das ist eine epochale Entdeckung, das ist doch klar. Wir können uns doch nicht mehr sehen lassen zu Hause, wenn wir mit leeren Händen und Köpfen zurückkommen. Wir machen uns ja lächerlich!"
Aber die meisten stimmten dafür, das herrliche Farbenspiel noch eine Weile zu bewundern und dann zurückzukehren. Der blaue Planet bot nämlich noch ein Phänomen, wenn man ihn lange genug beobachtete. Er rotierte langsam vor sich hin und durchwanderte eine bestimmte Bahn um seine Sonne. Wenn deren Strahlen im Laufe der Umdrehungen schräg auf den Wunderstein auftrafen, flammte alles in Rot und Gold, es war ein phantastischer Anblick. Desgleichen versank die sich der Sonne abkehrende Seite langsam in violetten und graublauen Schatten, bis die Schwärze des Universums nichts mehr darauf erkennen ließ. Lange Zeit verharrten wir außerhalb des kostbaren Juwels unter den Sternen und konnten nicht genug kriegen von diesem wundervollen Farbenzauber. Den Pionieren war das allmählich zu bieder. Ein letztes Mal erging der Ruf an uns: "Freiwillige her zu uns, wir steigen ab. Wer Mut hat, melde sich!"
Na, da hab ich mich halt aus der Reihe meiner Genossen gelöst und bin hin zu ihnen. Es ist schließlich doch ein ganz schöner Pulk an Freiwilligen zustande gekommen, der sich aufmachte, die Erde zu erkunden.
"Erde", dieses Wort haben wir von den Menschen übernommen, die wir in der Folge kennenlernen sollten."Verteilt euch", rieten die Pioniere, "so kommen wir leichter hinunter auf den Grund und die Atmosphäre erfährt keine Störung. Sie ist ein so zartes Gebilde, daß man besser behutsam umgeht damit."Also haben wir uns um den ganzen Erdball verteilt und uns dabei aus den Augen verloren. Ich befand mich in einer kleinen Gruppe, die von einem Pionier geleitet wurde. Schon von weitem erkannten wir bizarre Lebensformen, auch wieder liebenswürdig in ihrer lebendigen, wie atmenden Erscheinung. Das waren die Bäume, wie wir viel später erfuhren. So vielfältig, anmutig, auch ernst beschützend, wie wir es uns nicht hätten träumen lassen, vorzufinden. Da, wo wir landeten, gab es nur Bäume. Wir dachten zuerst, es sei die Urbevölkerung, denn sie wiegten und verbeugten sich unablässig und ihre Sprache war ein Raunen, Knacken, Flüstern, Rauschen. Also verneigten auch wir uns und merkten uns ihre Sprache. Aber schon im nächsten Moment erkannten wir mobile Lebewesen, die zwischen den Bäumen lebten, ja sogar auf ihnen. Es war unmöglich, die Gewohnheiten oder die Sprache jedes Einzelnen zu lernen. Lebewesen waren sie alle. Welchem von ihnen gebührte nur der Vorrang vor allen anderen? Den Bäumen, weil sie majestätisch ruhig auf ihren Plätzen verharrten und in Weisheit sich den Gesetzen fügten? Oder den größten der beweglichen Gesellschaft, die den Wald durchkreuzte? Waren es die großen Vierbeiner oder die Geflügelten, die sich über alles erheben konnten? Sogar unser Pionier stand wie versteinert und ratlos herum.
"Da hilft nur eines: Wir müssen losziehen und Erfahrungen sammeln. Sonst werden wir nie schlau aus diesem Gewimmel." Also setzten wir uns in Bewegung und schwebten durch den Wald. Wie oft hielten wir erstaunt inne, wenn wir unbekannte Bewohner erblickten. Wir verfolgten ihr Tun und entsetzten uns zum ersten Mal vor dem Erlebnis, wie immer eins fürs andere sein Leben lassen mußte. Alle waren sie so hübsch und liebenswert, so voller Geist und Erfindungen, daß es uns grausam und willkürlich erschien, wie jedes dieser Individuen binnen kurzem hingemordet und gefressen wurde. Das Wehgeschrei, die Todesangst der Opfer erschütterte uns. Ein grausamer Planet, so schön er von außen auch anzusehen war.
Wir glitten aus dem Wald hinaus, ließen uns über duftende Ebenen tragen, überquerten Berge, ließen uns an Flüssen nieder und an Seen. Welch ein Frieden, welche Herrlichkeit von oben! Leider wurden wir am Boden jedesmal ernüchtert durch die unbarmherzige Natur, die ihre Geschöpfe zwang, Krieg zu führen untereinander. Und doch betörte uns das Leben hier. Faszinierend, wie Leben und Tod aufeinander abgestimmt waren, wie eines das andere hervorbrachte, immer wieder in der gleichen Vollkommenheit und Intelligenz wie das Vergangene.
Als wir schon dachten, alles kennengelernt zu haben, stießen wir auf Menschen. Sie sahen anders aus, trugen sich anders, mordeten anders, waren auch geistvoller als jedes Lebewesen, das uns bisher begegnet war. Das Verblüffendste an ihnen: Sie konnten uns nicht sehen. Anfangs dachten wir, das sind aber unhöfliche und wenig liebenswerte Wesen, weil sie unsere herzlichen Begrüßungsgesten einfach ignorierten. Da standen wir ganz nahe vor ihnen, bereit, sie in uns aufzunehmen, all unsere Liebe schlug ihnen entgegen. Sie aber blieben teilnahmslos, gingen einfach ihrer Beschäftigung nach oder redeten miteinander. Geradeso, als ob wir nicht da wären. Ich muß sagen, das hat uns schon arg verletzt. Gekränkt ließen wir unsere Hüllen an ihren Körpern streifen, um ihnen unsere Verachtung zu zeigen. Keine Wirkung. Sie merkten nichts. Das heißt, des öfteren hielt sich der eine oder andere den Kopf und klagte über Schmerzen. "Das ist wieder dieser Föhn, der macht mich ganz krank", sagten sie. Und: "Ja, ich merk's auch wieder an meinem Herzen. Das sticht und pumpt mal wieder wie verrückt!" Wir wollten ihnen ja nichts Böses. Wir hatten auch nicht gewußt, daß unsere Verachtung eine solche Wirkung auf die Menschen hat. Also ließen wir es gut sein. Sie sehen uns nicht oder wollen uns nicht sehen. Akzeptiert.
Das Ausschlaggebende bei der Feststellung, daß diese Leute wahrscheinlich die dominanteste Art auf dem Planeten sind, schien uns zu sein, daß wir mühelos ihre verschiedenen Sprachen verstanden. Es handelt sich da um geistige Ausstöße, die mit der Zunge in der Mundhöhle artikuliert werden. Es ist gar nicht nötig, die einzelnen Laute zu verstehen, die 'Worte', wie wir jetzt gelernt haben. Es genügt, die Ausstrahlung des Geistes zu definieren. Der ist unserem so ähnlich, daß wir beschlossen, uns eingehend mit den Menschen zu beschäftigen. Lange Zeit blieben wir unter ihnen, studierten sie - und wurden doch nicht schlau daraus."Den anderen geht es bestimmt genauso", stellten wir fest. "Wir müssen uns wieder vereinen, um unsere Erfahrungen auszutauschen. Auch wird der wartende Rest in unserem Kometenschweif schon ungeduldig werden. Kehren wir zurück!" Das schien uns das Beste.
"Aber nicht mit leeren Händen!" entgegnete unser Pionier. "Ich nehme eine Probe von diesen Lebewesen mit. Sonst wäre unsere Entdeckung wertlos!" Wir anderen fanden es zwar beunruhigend, uns mit einer derart kompakten Form von Materie zu belasten, aber unser Pionier nahm die ganzen Scherereien damit auf sich. Wir suchten uns ein junges, völlig intaktes und sehr schönes Exemplar aus. Es lag schlafend in einer Hängematte zwischen Apfelbäumen. Unser Pionier umgab es mit seiner Hülle, verschmolz damit und lag als unser auserkorenes Musterexemplar in dessen Gestalt in der Hängematte. Die Gestalt wurde nun transparenter, die Maschen der Hängematte sahen schon durch und endlich stand der Vorwitzige wieder unter uns. In Form und Gestalt wie das Mädchen, das er durchdrungen hatte, aber als einer der Unseren und unsichtbar für die Menschen. So kehrten wir zurück. Das Erstaunen war groß, als sich so viele verschiedene Proben von der Erde unter den Ankommenden befanden. Nicht nur Zweibeiner wie unser Mädchen, auch Vierbeiner waren darunter, ja sogar Bäume und schöne Blumen und große Schmetterlinge. In so viele Arten hatten sich unsere Erdkundler verwandelt, daß es auf der Heimreise kein Ende nahm mit Bewundern und Geschichten erzählen. Sie mußten nämlich in der Gestalt bleiben, in die sie sich auf der Erde verwandelt hatten. Erst auf unserem Stern war es möglich, sie wieder in die Wirklichkeit zurückzuversetzen. Wie sonst hätten die mitgenommen zahlreichen Proben unsere Reise überstehen sollen? Unsere Weisen würden staunen. Unser ganzes Volk würde das!
Es gab eine Riesenaufregung, als wir mit unseren Proben wieder in unserem Transportfeld landen wollten. Hier in der irdischen Atmosphäre hatte es ständig die Bestrebung, sich aufzulösen. Durch die Sonneneinstrahlung wurden seine Bestandteile ionisiert und der zurückgebliebenen Mannschaft fiel es schwer, es einigermaßen beieinander zu halten. Das sah man von der Erde aus und die Leute meinten, es wären atmosphärische Störungen oder Nordlichter. Wir bemerkten aber schon von weitem, welche Probleme die da oben hatten.
Als wir nun mit unseren Proben ankamen, wurde der Trubel noch größer. Die ganze Reih- und Gliedordnung war durcheinander geraten. Um zielsicher reisen zu können, müssen nämlich alle Partikel, in dem Fall also wir, schön ordentlich ausgerichtet sein, damit die durchfließenden Ströme kein Hindernis vorfinden. Sonst gibt’s Stockungen und andere Überraschungen. Das wußten wir natürlich, aber im ersten Freudentaumel beachtete niemand diese elementarsten Regeln. Bei dem Durcheinander ging erst mal jeder Versuch, die Erde zu verlassen, schief.
Nun kamen wir rasch zur Vernunft und suchten fieberhaft nach der Ursache des Problems. Aber erst als auch die irdischen Wunderwerke gründlichst begutachtet waren, erkannten wir, was wir uns damit eingebrockt hatten: Die neuen Formen brauchten viel mehr Platz. Die altbewährte Reiseordnung war so nicht mehr möglich. Die Pioniere hatten die größte Mühe, dafür eine Lösung zu finden - aber nach einiger Zeit schafften sie es.
Nun verteilten wir uns auf marschmäßig vorgeschriebene Plätze. So, nun waren wir wieder manövrierfähig. Die Heimreise konnte angetreten werden. Doch oh Schreck! Durch die vielen Versuche war uns soviel Energie verloren gegangen, daß es uns zunächst nicht gelang, unsere Umlaufbahn zu verlassen.
In einer letzten gemeinsamen Anstrengung klappte es aber doch. Wir wurden hinauskatapultiert in die Schwärze des Alls.
Um uns funkelte und blitzte es, all die Sterne, farbigen Nebel, die Sonnensysteme mit ihren um sie kreisenden Planeten ließen uns wissen, daß wir uns auf großer Fahrt befanden. Die Erhabenheit dieses Schauspiels versetzte uns wieder in ehrfürchtiges Staunen. Ruhe kehrte ein, Stille.
Solche Reisen dauern lange. Es blieb nicht aus, daß wir uns Gedanken darüber machten, wie es zu Hause weitergehen sollte. Unser Stern hat keine Atmosphäre wie die Erde. Bestürzt erkannten wir unseren großen Fehler: Nun würden alle diejenigen, die sich in ein Wesen von der Erde verwandelt hatten, in dieser Form weiterleben müssen. Wir waren schon zu weit entfernt, als daß es noch Sinn gemacht hätte, sie wieder auf ihren Planeten zu bringen. Außerdem wehrten sich die Betroffenen heftig dagegen.
"Nach wie vor bleibt der Grund bestehen, warum wir Proben mitgenommen haben, das sei ein für allemal festgehalten! Ein solches Wunder zu entdecken und ohne Beweise zurückzukommen, das ist einfach undenkbar."
"Wie wollt ihr eure Kreaturen denn am Leben erhalten? Nichts bei uns ist so, daß sie dort existieren könnten. Wie wollt ihr ihnen Nahrung verschaffen, zum Beispiel?"
"Ja, oder das, was sie über ihren Körpern tragen. Wie wir gesehen haben, ist es nicht fest mit ihnen verbunden, so wie unsere Hüllen mit uns. Es sind lose übergezogene Gewebe, wir wissen nicht einmal, wie sie dazu gekommen sind."
"Vielleicht sterben sie sofort, wenn sie ohne ihre Atmosphäre aus der Rückverwandlung aufwachen. Vielleicht kann man sie gar nicht mehr zurückverwandeln!"
Da wurden die Proben schon recht nachdenklich. "Das stimmt leider alles", sagten sie, halt immer mal der eine oder andere, nicht alle miteinander.
"Laßt uns nachdenken, was wir tun können."
Das Nachdenken breitete wieder Stille über unsere Gesellschaft. Es war ganz schlimm. Wir fühlten uns vollkommen überfordert - und kein Weiser in der Nähe, der auch nur ansatzweise einen Hinweis hätte geben können. Es war fast, als schliefen wir alle miteinander, in solch trostloses Nachdenken waren wir versunken. Auf einmal ein Freudenmuckser - ich kann nicht sagen, ein Freudenschrei. Im Universum gibt es keine Geräusche, weil keine Atmosphäre da ist, keine Teilchen, die die Schallwellen hätten weitertragen können. Wir verständigen uns auch nicht mittels Schall. Das muß sowieso mal gesagt werden. Unsere Verständigung ist bedeutend intensiver und direkter, als es Töne sein können. Deswegen war es den Menschen auch nicht möglich, uns zu bemerken. Wir können keine Töne hervorbringen und diese Wesen sind doch darauf angewiesen! Sie verarbeiten Schallwellen in ihren Sinnesorganen zu Informationen, mittels derer sie kommunizieren können und die es ihnen auch ermöglichen, instinktiv zu lernen, ihre Umwelt zu unterscheiden. Wie das genau funktioniert, das werden wir schon noch herausbekommen. Es sind äußerst interessante Kreaturen.
Der Freudenmuckser teilte sich uns sofort mit und auch, was er bedeutete. Man hatte bemerkt, daß sich jede Menge der Teilchen, aus denen die irdische Atmosphäre zusammengesetzt ist, in unserem Stück Kometenschweif verfangen hatten. Als wir das erst herausgefunden hatten, fiel uns auch auf, wieviel von diesem Stoff in manchen Bereichen vorhanden war, durch den wir zogen. "Sicher finden unsere Weisen einen Weg, genügend davon herauszufiltern, um unsere Proben am Leben zu erhalten."
"Dazu braucht es keine Weisen", protestierten ein paar Pioniere.
"So ein großes Kunststück ist das gar nicht. Notfalls bringen wir das auch noch zuwege. Es gibt da verschiedene Möglichkeiten."
"Na prima, dann sind unsere Weisen wohl überflüssig?"
"Das will nicht damit gesagt sein. Ich denke, unser ganzes Volk ist da gefordert. Es wird sehr viel Arbeit geben. Bis alles so eingerichtet ist, daß wir an die Umwandlung denken können, wird noch viel Zeit vergehen." Der Pionier, der hier das Wort ergriff, war bekannt für seinen Mut und seinen Unternehmungsgeist. Für uns ist es kein Problem, die einzelnen Leute an ihren Eigenschaften zu erkennen und sie auch damit anzusprechen - sozusagen. Aber wie könnte man ihn auf irdisch nennen? Die Menschen müssen immer für alles einen Namen haben, den sie in Schallwellen ausdrücken können. Nicht nur für sich als Person, nein, für alle Dinge, für alles, womit sie in ihrem ganzen Leben in Berührung kommen. Am besten wird sein, ich ziehe die ersten Silben von den paar Eigenschaften zusammen, die bei uns jemand aufweist, und mache daraus dessen Namen. Aus Mut und Unternehmungsgeist mache ich einfach 'Mutun'. So, da haben wir einen Namen für den Pionier, der eben das mit der vielen Arbeit gesagt hat. 'Mutun'.
Ich brachte auch einen kleinen Einwand vor. "Wollen wir uns nicht so gruppieren, daß die Proben in der Mitte sitzen? Ich meine nur, wegen der besseren Übersicht ." Ich heiße übrigens 'Zuschick' - Zufall des Schicksals. Weil mein Leben aus so vielen Zufällen besteht, wie kaum ein anderes. Schon meine Hervorbringung war ein Zufall. Von da an prägten mich Zufälle massenweise, ich kenne fast keine normale Entwicklung, wie sie jeder andere durchmacht. Das ist nicht immer angenehm. Man fällt auf, weil die Reaktionen anders sind, als wenn man Stück für Stück in die Harmonie unseres Volkes aufgenommen wird. Sogar meine Gedanken scheinen oft nur rein zufällig in mich zu kommen. Wenn mir das Leben nicht so ausnehmend gut gefallen würde, ich hätte allen Grund, mich zu verstecken, um nicht andere mit meinem Wesen zu belästigen. Aber die Lebensfreude kommt immer wieder durch. Manchmal glaube ich, ich freue mich mehr, als sonst einer. Eben wegen der vielen Zufälle. Die verschaffen mir mehr Grund dazu. Auch weil es so amüsant ist. Ach, basta, ich bin 'Zuschick', mehr erfährt man vielleicht auch zufällig über mich. Im Verlauf dieser Geschichte.
"Gute Idee", war das allgemeine Echo auf meinen Gruppierungsvorschlag.
"Ist auch besser, wenn wir uns so zu Hause präsentieren. Nicht da ein Modell und dort irgendwo, und dann noch ein schöneres, die werden ja ganz konfus daheim, wenn sie uns in einem so wirren Haufen antreffen."
Also dachten wir uns gemeinsam schöne lebende Bilder aus, die unsere Proben einnehmen mußten. Da lagerten sich Vierfüßer in einem Hain aus Bäumen, daneben erblühte ein Garten aus vielfältigen Blüten, drumherum niedrigeres Gewächs. Die Menschen verteilten wir dazwischen.
"Wird ein bißchen schwierig werden, in dieser Formation auszuhalten!" meinten die lebenden Bilder. "Ihr habt ja Zeit, euch jetzt daran zu gewöhnen"; trösteten wir anderen. Danach verfielen wir in die mannigfaltigsten Betrachtungen unserer Beute. Wie sie am Leben zu erhalten wären, wie wir ihre Behausungen und Lebensräume gestalten sollten und so vieles mehr.
Und dann kam unser Stern in Sicht.
Ich bin jetzt in der Lage, ihn gut zu beschreiben, weil ich als eingeborener Mensch Kenntnis davon habe, wie alles genannt wird. Ich habe viel gelernt in der Zeit meines Menschseins. Glücklicherweise kann ich jetzt behaupten, unser Stern besteht hauptsächlich aus Silizium. Er ist ein riesiger Bergkristall. In seinem Innern birgt er schwere Elemente, die sich in der Jugendzeit unsres Sterns austobten, wo sie noch sehr radioaktiv waren und ihn flüssig und sogar gasförmig erhalten haben. Viele Metalle geben weiten Gebieten unseres Kristallsterns reizvolle Farben. Er ist aber nicht mehr vollständig heil. Wie alle Himmelskörper, haben ihn mehrere böse Kometeneinschläge erwischt, noch vor unserer Zeit. Dadurch sind fremde Partikel hiergeblieben und haben andersartige Landschaften gebildet. Es ist ein schöner Stern und wir wohnen in wahren Kristallpalästen. Es gibt Künstler unter uns, an die kann man sich wenden, wenn man etwas Besonderes zur Behausung haben möchte. Die beraten einen gerne, aus welchem Stoff etwas entstehen soll und in welcher Form, welche Farben und Lichteffekte eingebaut werden könnten undsoweiter undsofort. Dann braucht man die Weisen und die Pioniere, die sich um alles Weitere kümmern. Die Pioniere sind diejenigen, denen die Orte bekannt sind, wo welche Stoffe vorkommen und die Weisen wiederum wissen, wie man sie am besten isolieren und dann verarbeiten kann. Oft helfen sehr, sehr viele zusammen, um etwas entstehen zu lassen. Denn immer nehmen eine ganze Menge unserer Leute daran Anteil, wenn einer von uns etwas Besonderes haben möchte. Wir helfen uns stets gegenseitig. Zum Beispiel mit Energieschüben, mit Aushöhlen, Umschmelzen, Aufrichten der Einzelteile. Eigentlich ist es wie bei den Menschen. Mit dem einen Unterschied, daß wir nicht mit Muskelkraft und mit Maschinen arbeiten, sondern mit Strahlung, mit der Umsetzung von Magnetkraft und solchen Dingen. Und noch was ist anders hier: Niemandem würde einfallen, für seine Mitarbeit irgendeine Gegenleistung zu erwarten. Es geschieht aus reiner Freude an einer neuen Idee, aus Freude daran, wie entzückt der zukünftige Besitzer sein wird, wenn erst einmal alles fertig und die vielen Ideen verwirklicht worden sind, die jeder miteinbringt. Ich wüßte auch gar nicht, was ich denen dafür geben könnte, die mir geholfen haben, mich in meinem Kristallgarten niederzulassen. Vielleicht jedem ein schönes Stück Nickel, womit sie irgendwelche Räume ihrer Wohnungen grün färben könnten? Oder Mangan, damit es schön rosa wird? Also, das fänd' ich ganz schön lächerlich. Was gibt's sonst noch bei uns zum Hergeben? Soll ich ihnen ein paar Spitzen durchsichtiger Kristalle vor die Tür legen? Ach was, mir fällt wirklich nichts Vernünftiges ein. Außerdem kommt's eher einer Beleidigung gleich, wer weiß überhaupt, ob sie sowas haben wollen. Das wäre doch ein Eingriff in die Intimsphäre. Es würde nur aus Höflichkeit angenommen werden und vielleicht sogar Mißfallen erregen, weil man einen ganz anderen Geschmack hat. Nein, nein, bei uns ist die Mithilfe schon ganz gut geregelt. Mit Freude mitarbeiten und mit noch mehr Freude belohnt werden, wenn man sieht, daß sich ein andrer darüber freut.
Wir machten uns fertig, unser Gefährt zu verlassen. Das ist ganz schön schwierig. Ich bin selber schon einmal zu früh abgesprungen und irgendwo weit weg von zu Hause gelandet. Ein daherfegender Sternenwind hat mich dann mitgenommen und zum Glück auf unseren Kristallstern geweht. Doch diesmal gaben die Pioniere das Kommando zum Absprung. Es klappte prima. Zwar purzelte alles durcheinander, die lebenden Bilder wurden in unserem ganzen Pulk verstreut. Doch immerhin schwebten wir alle gemeinsam im weit gezogenen Feld auf unsere glitzernde und schimmernde Heimat hinab.
Wir verfolgten das Treiben der Bevölkerung unter uns. Die zarten Körper bewegten sich hierhin und dorthin. Einige unterhielten sich damit, das Licht mittels bunter Prismen zu reflektieren. Das Licht unserer beiden Sonnen, die uns mit der nötigen Energie versorgen, um existieren zu können. Die eine ist eine noch junge Sonne mit blitzendem Gesicht, die andere spendet bereits sanfte, eher gelbe Strahlen. Ihr Ende ist in bedeutend kürzerer Zeit zu erwarten, als das der strahlend hellen. Wir werden es trotzdem nicht mehr erleben. Vielleicht Generationen nach uns. Unser Stern bewegt sich in einer Bahn zwischen beiden Sonnen hindurch, so daß es nur auf einem verhältnismäßig schmalen Bereich dunkel ist. Das allerdings konstant. Die Zone in der Mitte wird nie ganz ausgeleuchtet. In dieses dunkle Gebiet zieht es viele Abenteurer. Dort findet man Ablagerungen, die nie vom Licht erfaßt und verändert wurden. Es gibt tiefe Höhlen und mancherorts sickert der Schein der roten Glut aus dem Inneren hindurch. Das findet man sonst nirgends in unserer Galaxis, soweit wir auch herumgekommen sind. Man sieht eben überall, daß unser Stern wirklich ein einziger, riesiger Bergkristall ist und er strahlt auch sehr hell aus der Ferne. Er wird ja auch von zwei Sonnen beleuchtet.
Eine kleine Gruppe befand sich gerade auf dem Weg zu einem unserer 'Entstehungsorte'. Das sind tiefe Grotten, in denen sich radioaktive Vorgänge abspielen und es wird dort extrem heiß. Wer sich Nachwuchs wünscht, stellt sich dort mit einem Gegenüber auf und veranlaßt die Strahlung zur Reflexion in ihren Körpern. Wenn die Temperatur auf Höchstleistung steigt, gibt es eine kleine Explosion und ein kleines Strahlenbündel wird abgesondert. Es beinhaltet die Elemente der beiden sich Gegenüberstehenden und muß sofort abgefangen werden, ehe es verpufft. Zu diesem Zweck stehen schon andere bereit. Das Strahlenbündel wird kompensiert und bekommt im Laufe der allmählichen Abkühlung unsere Gestalt. Man könnte es am ehesten vergleichen mit durchsichtigen Milben, die ich auf der Erde oft beobachtet habe. Dort sind sie aber so klein, daß die Menschen sie ohne Mikroskop gar nicht wahrnehmen können. Unseren Kleinen wächst mit zunehmendem Alter eine Hülle, angefangen vom Scheitel, den Rücken hinunter bis ans andere Ende. Fußsohlen, würde man auf der Erde sagen. Nur haben wir keine Füße, sondern es verläuft sich einfach. Die Hüllen können wir vollkommen um uns herum schlagen, so daß wir aussehen wie Kokons. Diese Entwicklung erfolgt ganz anders, als auf der Erde. Ähnlich sind sich vielleicht noch die Gene, die bei uns genauso wie auf der Erde weitergegeben werden. Sie beinhalten die Naturgesetze, die Informationen, nach denen unsere Wesen gebaut sind und wonach wir uns entwickeln. Jedes Ding auf der Welt trägt sowas in sich. Seien es Steine, Kristalle, sogar die kleinsten Teilchen, die es überhaupt gibt, müssen es in sich tragen, weil sie sich immer gleich verhalten. Es ist selbstverständlich, daß sich jeder um das neue Wesen kümmert, der ihm begegnet. Wir haben alle daran teil. Ganz besonders natürlich die Gruppe, die der Entstehung beigewohnt hat.
Eines unter uns, dem ich den Namen 'Hübschni' oder besser 'Hübschi' geben möchte, weil es sehr hübsch und niedlich aussah, meinte:
"Recht nett würden sich unsere lebenden Bilder dort drüben ausmachen, wo das Licht etwas gedämpfter ist. Dort, am Fuße der Kristallberge." Und es deutete in die Ferne, wo sich ein weiter, spiegelglatter Platz zu Füßen hoher Bergspitzen dehnte, die Berge schon etwas ramponiert durch's lange Stehen.
"Ja, da müßten sie ganz gut zur Geltung kommen", wurde zugestimmt. Nacheinander ließen wir uns auf die große, schimmernde Fläche gleiten und nahmen dort Aufstellung.
"Nun müßt ihr euch gedulden, bis die Weisen verständigt sind", wurden die Erdenproben ermahnt. "Ich bleib' bei euch", entschied ich. Mit mir leisteten ihnen noch viele andere Gesellschaft, damit sie sich nicht wie Ausgestoßene vorkommen mußten. Die übrigen verflüchtigten sich rasch, um die Weisen zu befragen, was nun weiter geschehen sollte.
Da standen sie nun, unsere Musterexemplare, fast wie in ihrer Heimat, der Erde. Nur leider war der Boden nicht erdig und mit Gras bewachsen, sondern glatt und an vielen Stellen durchsichtig, wie auf einem zugefrorenen See. Die Gestalten durften sich nicht bewegen. Es hätte komisch ausgesehen, wenn sie plötzlich durcheinandergeflogen wären, wie unseren Wesen das möglich ist. Menschen und Pflanzen und Tiere, alles vermischt und womöglich über den Bergspitzen schwebend. Das von uns mitgenommene Mädchen lag immer noch schlafend und lieblich da.
Zweifelsohne war es nicht gerade das Angenehmste für unsere lebenden Bilder, sich so mucksmäuschenstill zu verhalten. All diesen mitgebrachten Formen, die jetzt so schön arrangiert zu Füßen des bewußten Berges lagerten, wohnte ja ein lebendiges Kerlchen aus unserem Volke inne. Sie konnten sich durchaus bewegen, herumflattern wie wir, jedoch hätte sich dadurch nicht das Geringste an der Form, in der sie sich befanden, verändert. Z.B. unser schlafendes Mädchen. Mutun, der sich in es verwandelt hatte, war nicht in der Lage, auch nur einen Finger selbständig zu bewegen. Er war als schlafendes Mädchen mit herabgeschwebt und hatte bereitwillig den ihm zugewiesenen Platz in dem blühenden Garten eingenommen. Zwischen ihm und den Blumen, auf denen er ruhte, entspann sich bereits eine heftige Diskussion. Die Leutchen, die sich in den Blumen befanden, beschwerten sich offenbar. Ihr Gespräch wurde immer lauter. Oder vielmehr intensiver. Töne können hier bei uns nicht entstehen, weil wir keine Atmosphäre haben. Unsere Sprache funktioniert anders. Darauf geh ich jetzt aber nicht ein, es wäre zu umständlich. Lieber nehme ich die irdische Ausdrucksweise zur Hilfe.
„He, Mutun!“ kam eine Stimme aus dem Untergrund, „so war das aber nicht gedacht. Du flegelst dich da auf uns rum, als wärst du die Hauptperson hier. Siehst du nicht, daß du unsere Blumengestalten ramponierst? Leg dich gefälligst woanders hin!“
Ein anderes Blümchen schimpfte: „Läßt sich einfach auf uns nieder! Du suchst dir auf der Stelle einen anderen Schlafplatz oder ich mach nicht mehr mit!“
„Genauso war es auf der Erde auch“, maulte Mutun, „da hab ich auch die Leute auf der Wiese liegen gesehen, ganz egal, ob Blumen unter ihnen waren oder nicht. Ich hab nur getan, was mir gesagt wurde. Ihr werdet es wohl noch so lange aushalten, bis uns die Weisen gesehen haben.“
So wäre es wohl noch eine Zeitlang weitergegangen, wenn ich nicht eingegriffen hätte. „Komm schon, Mutun“, sagte ich, „sei nicht so engstirnig. Leg dich dazwischen oder daneben, ist doch Platz genug da.“ Er knurrte nur unwillig und machte auf stur.
Ich ging mir die anderen ansehen. Als ich mich einmal umdrehte, sah ich das schlafende Mädchen hoch über unserer Erdidylle schweben, allerdings auf dem Bauch, was schon recht seltsam aussah. Mutun suchte sich aus der Vogelperspektive einen anderen Platz zum Landen. Ich sah, wie er auf eine Baumgruppe zuhielt und sich dort niederließ. Auch gut.
Obwohl ich auf der Reise hierher doch Zeit genug gehabt hatte, mir die neuen Gestalten gründlich zu betrachten, war ich überwältigt von deren Schönheit und Vielfalt. Nur eines machte mich stutzig. Da quälte sich ein Fisch auf einem Moospolster ab, die richtige Positur zu finden. „Nanu“, sprach ich ihn an, „ich glaub fast, du bist nicht in der richtigen Umgebung. Gehörtest du nicht eigentlich ins Wasser?“ Der Ärmste krümmte sich vergebens, um auf der Schwanzspitze zu stehen. Dann wieder versuchte er, sich auf seinen gespreizten Flossen zu halten. Das ging natürlich ebensowenig. Er mußte mit der Lage auskommen in der sich der Fisch gerade befand, als unser Mann mit ihm verschmolz.
„Nein, das ist mir jetzt bald zu dumm. Man kann nicht sitzen, nicht stehen und wenn ich mich flach auf den Bauch lege, komm ich mir vor wie weggeworfen. Sehen kann man so auch nichts mehr. Ein blödes Spiel, sag ich dir!“
Ich mußte lachen. „Du Ärmster! Das kommt davon, weil du beim Umwandeln nicht daran gedacht hast, daß es hier kein Element gibt, in dem du dich richtig bewegen könntest. Deine Gruppe hätte das gar nicht erst zulassen sollen.“
„Bla, bla, bla! Hinterher kann man leicht gescheit reden. Wir waren halt alle voller Begeisterung und jeder wollte etwas ganz Besonderes aus sich machen. Ich bin sowieso der einzige Fisch, soviel ich gesehen hab.“ Er räkelte und wand sich da vor mir auf dem Boden, als läge er in den letzten Zuckungen. Plötzlich rief er ungehalten: „Nein, nicht einen Augenblick länger. Jetzt reicht’s!“ Damit schnellte er sich hoch drehte ein paar Kurven zwischen den Baumstämmen herum und ließ sich schließlich in ein Vogelnest fallen, das in einem Gebüsch hing. Ich mußte so lachen, daß alles an mir zitterte.
„He, das sieht richtig gut aus! Wie gerade geschlüpft. Fisch in Vogelnest. Ganz was Tolles. Die Weisen würdest du nicht einmal verblüffen damit, die wüßten es ja nicht anders. Aber daß du da nicht hineinpaßt, das kann man trotzdem sehen.“
„Ist mir alles egal. Da auf den Boden geh ich nicht mehr runter. Lach nicht so! Du machst mich ganz verrückt damit!“
Ich zockelte weiter durch diese kuriose Welt. Lange würden sie nicht mehr ausharren müssen, die Geplagten. Bestimmt hatten sie alle ihre Probleme mit ihren Testfiguren. Ich schwang mich hoch auf die klare Spitze eines Rauchkristallgewächses in der Nähe. Von dort gab es eine herrliche Rundschau hin bis zum Horizont. Die Proben da unten wurden allmählich unruhig. Schon begannen einzelne Bäume hin und her zu schweben, einander zu besuchen. Pilze rissen sich los von ihren Plätzen und spielten Fangen zwischen den anderen Pflanzen. Zwei Hirsche rannten gegeneinander an, wie unsere Pioniere es auf der Erde beobachtet hatten. Da sie aber ihre Köpfe nicht senken konnten, besonders, weil der eine in liegender Stellung verwandelt worden war, knallten sie einfach gegeneinander und fielen jedesmal wieder zu Boden. Lange würde es nicht mehr dauern, und keiner wüßte mehr, wo er Aufstellung nehmen mußte. Ich segelte wieder hinab und versuchte mit den anderen hiergebliebenen Aufpassern, sie in ihre alten Stellungen zurückzubekommen. Wir zerrten an den Unruhigen, setzten uns auf kleinere Gebilde drauf, um sie zum Hierbleiben zu bewegen, riefen zur Ordnung - vergeblich. Resigniert hockten wir uns auf die umliegenden Erhebungen, sahen nur sehnsüchtig in die Ferne, ob die Weisen nicht endlich kämen.
Doch, jetzt sahen wir etwas. Der ganze Horizont verdunkelte sich allmählich, kam immer näher, wie ein Heuschreckenschwarm. Vorneweg glitten in ruhiger, gesetzter Formation die Weisen, hinterdrein drängte das ganze Volk unseres Planeten und erfüllte den Raum vom Boden bis weit hinauf in die sonnendurchglänzte Höhe.
„Sie kommen!“ riefen wir voller Freude und verließen unsere Spähposten. In einem wilden Durcheinander versuchten die Erdenproben, ihre ursprüngliche Idylle wiederherzustellen. Es gelang nur unvollkommen. Der Fisch blieb in seinem Nest liegen - wegen dem besseren Überblick - die Bäume schlossen sich zu einer engen Gruppe zusammen, aber so eng, daß nichts, was sich innerhalb dieses Waldes befand, mehr herauskonnte. Verschiedene Stimmen wurden laut. Da es die Stimmen unserer eigenen Leute waren, konnte man nicht unterscheiden, um welche Wesen es sich handelte, die da ans Licht drängten. Ob Pflanzen, die auf eine Wiese gehörten oder auch Tiere, die sich ganz offen den Weisen präsentieren sollten. Vielleicht auch Menschen. Sie alle blieben vorläufig eingeklemmt in dieser dicht verzweigten Baumgruppe.
„So schnell können wir nicht mehr auseinander!“ blockten die Bäume das Wehgeschrei ab. „Bleibt erst mal wo ihr seid. Wir wollen die Weisen nicht gleich verwirren mit dem ewigen Hin-und Hergerenne.“ Wir Aufpasser taten unser Bestes, um wenigstens im Großen und Ganzen eine Ähnlichkeit mit der Erde darzustellen. Naja, für einen, der die Originale auf der Erde nicht gesehen hatte, konnte es schon angehen. Endlich verließen wir die Chaoten auf der spiegelglatten Fläche zu Füßen der Berge und wandten uns den Ankommenden zu.
Ich muß schon sagen, eigentlich ist unser Volk recht diszipliniert. Und auch höflich untereinander. Obwohl sie doch alle furchtbar neugierig sein mußten, hielten sie sich in gebührender Entfernung von den Weisen im Hintergrund, ließen sich sogar herab auf den Boden und harrten dort aus, bis ihnen erlaubt werden würde, näher zu kommen. Die Weisen aber wogten heran. Ihre Hüllen bewegten sich lose um sie her, während sie näherkamen, mit großen, neugierigen Augen verschlangen sie das Bild vor sich. Mit großer Freude begrüßten wir uns alle und nun begann das Erklären und Begutachten. Vor lauter Begeisterung rissen sich sogar ein paar Proben von ihren Plätzen los und schwirrten um die Weisen herum.
„Kannst du erraten, was ich bin?“ nuschelte gerade eine zusammengeringelte Schlange vor einem der Beschauer. „Eine Schlange! Sch-l-an-ge!! Normalerweise zwei Meter lang, aber jetzt - das ist meine Schlafposition.“
„Geh sofort zurück, dahin, wo du herkommst!“ wies ihn ein Pionier zurecht. "Alles schön der Reihe nach. Du kommst schon noch dran!“ Gehorsam schwebte die Schlange zurück unter ein Gebüsch und blieb dort liegen. Insekten umschwärmten die Gruppe der Staunenden, waren nicht zu vertreiben.
„Nein, nein, uns würdet ihr bestimmt übersehen“, meinten sie. „Dabei gibt es uns auf der Erde in solchen Massen, daß wir sogar als Plage gelten. Wir sind genausoviel wert wie eins von den großen Exemplaren. Schaut doch nur, unsere schönen Flügel! Oder unsere vielen Augen! Oder....“ Unmöglich, diese Situation! Wir mußten uns etwas einfallen lassen, um die ungeduldigen Erdenproben auf ihre Plätze zu bannen. So ging das nicht! Es konnte nicht einfach jeder herkommen und sich selbst vorstellen. Jedenfalls nicht jetzt. Wir wollten doch, daß die Weisen und unser ganzes Volk erst mal einen Gesamteindruck von dem Leben auf der Erde bekam. Also schlossen wir Aufpasser, die Pioniere und Weisen uns in einem Kreis zusammen, breiteten unsere Hüllen aus und verschwanden darunter wie in einem Konferenzraum. Da hatten wir endlich unsere Ruhe. Einer der Pioniere ergriff das Wort. Es war Vowe (Vorneweg, weil er immer gleich das Kommando übernahm).
„Also, meine Lieben, dieser Planet Erde ist so vielfältig, daß wir nur verhältnismäßig wenig Proben mitnehmen konnten. Auch wenn das da draußen jetzt ziemlich umfangreich aussieht. Ich glaube, das Beste wird sein, jeder Pionier, der mit einer Gruppe auf der Erde war, verfaßt ein Referat und stellt seine Proben gesondert vor. Und zwar mit allem Drum und Dran. Wo er sie gefunden hat, wie ihre Umgebung aussah, wie ihre Gewohnheiten waren undsoweiter. Dann fassen wir das alles zusammen und die Weisen können sich in Ruhe weiter damit befassen. Und jetzt schaut euch zusammen mit unserem Volk alles an. Die Verwandelten brennen schon darauf, sich endlich wieder bewegen zu dürfen. Auf geht’s - zur größten Ausstellung aller Zeiten!“ rief er. Damit öffnete sich der Kreis. Mit wieder schön angelegten Hüllen wandten sich nun alle den Disponaten zu. Auch der Volkshaufen mischte sich darunter, es gab überall ein Hallo und Juchu, als sich alles mit den Erdenproben mischte, fragte, witzelte, staunte. Es wurde ein großer Tag. Aber viel Arbeit stand uns noch bevor.
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Nun ist es ja nicht so, daß alle gleich lieb und nett sind bei uns, wie man vielleicht nach dem Vorhergesagten annehmen möchte. Es stimmt schon, daß wir uns alle gerne mögen und daß wir am liebsten mit vielen zusammen sind. Aber darunter gibt es auch Charaktere, die zu verstehen einem oft schwer fällt. Ja, ich habe sogar das Gefühl, etliche werden nach einer Weile ausgemerzt, wenn sie sich gar zu abartig verhalten. Man trifft sie einfach nicht mehr. Sie sind natürlich nicht gerade Verbrecher, aber sie schaden durch ihr Anderssein unserem Volk. Und so etwas wird bei uns nicht geduldet.
Ich habe da nämlich so einen Verdacht. Gleich komm ich drauf!
Die Pioniere waren mächtig stolz darauf, daß sie es waren, die erstens mal die Fahrt zur Erde hinunter angeregt hatten und zweitens die Courage besessen, sich und andere in diese vielen, vielen Daseinsformen zu verwandeln. Nun stolzierten sie vor den Weisen einher und überschlugen sich fast mit Erklärungen. Auch die zum Stillsitzen verdammten Erdenproben blieben nicht mehr stumm. Auf einmal schallendes Gelächter. Man hatte den Fisch im Vogelnest entdeckt.
Ein Weiser deutete hinauf auf ein Gebüsch und sagte: "Dies hier ist eine der Merkwürdigkeiten, die ich gerne noch näher kennenlernen würde. Welchen Sinn erfüllt diese Schale in den Zweigen mit dem glitzernden Ding obendrauf?"
Aller Augen richteten sich auf den Fisch und dann erscholl dieses riesige Gelächter. Die Pioniere, wir Aufpasser und der ganze Garten Eden wackelten nur so vor Vergnügen. Die Weisen und das übrige Volk wußten natürlich nicht, warum. Endlich erklärte einer unter Glucksen: "Das...das ist ein Fisch, der lebt im Wasser, und jetzt liegt er in einem Vogelnest. Die Vögel sind diese Tiere mit den Flügeln und Schnäbeln, die fliegen durch die Luft, was sonst kein Lebewesen kann. Außer den Insekten und den Menschen. Aber die brauchen dazu Maschinen. Die Vögel bauen sich solche Schalen, Nester heißt das bei den Menschen. Dahinein legen sie Eier und nach einiger Zeit kommen junge Vögel daraus hervor. Aber der Fisch! He, du da, wie kommst du in das Nest da oben?"
Der räkelte sich nur und antwortete gelassen: "Ist doch kein Wasser da, also kann ich hier oben ebensogut sitzen wie auf dem Boden. Beides ist ungeeignet für mich. Übrigens, schaut doch nur die Bäume an! Ist das etwa in Ordnung, wie die herumstehen? Ein paar zappeln sogar auf ihren Plätzen und hüpfen hoch. Schaut nur!"
In der Tat, der dicht stehende Wald war dabei, sich aufzulösen. Von innen drängte es heraus, einige Lebewesen schubsten die Bäume einfach zur Seite, so daß die gezwungen waren, hochzuhüpfen, um Platz zu machen. Jetzt kamen die ersten zum Vorschein. Es waren Menschen. Einer hatte einen Hammer in der Hand, ein anderer sah so aus, als würde er auf einem imaginären Stuhl sitzen, eine Hand nach vorne gebeugt, so als ob er in etwas blättern würde. Eine schöne Frau war dabei im Bikini, eine andere, weniger schöne mit einem Einkaufskorb, viele Fußgänger und auch Kinder. Ihnen nach drängte eine Flut von Tieren. Da segelte ein Eichhörnchen an der Gruppe vorbei, die beiden Hirsche rutschten vorsichtig von ihren Plätzen, den Weisen entgegen. Pferde, Rinder, Haustiere, ein ganzer Obststand, Würmer, Schmetterlinge, tausenderlei Wesen drängten heraus, dem Volk, den Weisen entgegen.
Nachdenklich waren sie alle, unsere Weisen. Und besorgt. Auch begeistert, das mußte man einfach sein beim Anblick der irdischen Mitbringsel. Aber einer war dabei, der hatte sich abgesondert von den anderen. Der bewegte sich zwischen den fremden Gebilden umher, mit brennendem Blick, grad so, als suchte er etwas. Es war Forgei (Forschergeist). Ich kannte ihn gut, denn er hatte schon einmal in meinem Leben eine entscheidende Rolle gespielt. Ja, ich möchte sagen, durch seinen Forschergeist hat er es mir sogar gegeben. Wenn auch aus Zufall, immerhin verdanke ich zum guten Teil ihm meine Existenz.
Ich hielt mich in Mutuns Nähe auf, denn der wurde immer ungeduldiger und unwirscher, umso länger er in dieser albernen schlafenden Mädchengestalt aus der Hängematte aushalten mußte. Er schrie schon wieder eine Gruppe Pioniere an, die debattierend daneben stand.
"He, ja meint ihr denn, ich liege ewig so rum? Warum kümmert sich keiner um uns? Dieses ewige Angeglotze und blöde Gefrage geht mir jetzt aber wirklich auf die Nerven. Ein paar Halbwüchsige haben sogar versucht, mich zu kitzeln, damit ich mich endlich bewege. Ihr da! Was soll das jetzt? Ich verlaß jetzt wieder die Gestalt, da, schaut her!" Erschrocken drehten sich die Pioniere um. Mutun machte tatsächlich Ernst. Das Mädchen begann gerade, transparent zu werden. Noch nicht viel, aber man bemerkte es schon. Na, da rannten die Pioniere aber!
"Nein, nicht! Mutun, bist du verrückt? Der Mensch muß sterben, wenn du da raus gehst! Aufhören, schnell, Mutun! Sei vernünftig!" Sie umkreisten ihn, redeten auf ihn ein und versuchten die Verwandlung mit einer Gegenstrahlung aufzuhalten. Doch mein Freund wurde dadurch nur noch mehr aufgestachelt. "Er ist doch schon tot!" schrie er und bemühte sich weiter ums Rauskommen.
"So i s t man tot, und ich mit! Begreift ihr denn nicht? Das ist ein unmöglicher Zustand. So kann keiner von uns weiterleben. Weg da, verschwindet!"
Die Weisen waren herzu geeilt. Jetzt begann das Gezeter auch an anderer Stelle. Immer mehr Verwandelte wurden sich ihrer unhaltbaren Lage bewußt. Vielleicht bekamen sie auch Panik, denn keiner sah momentan eine Möglichkeit, wieder heil aus ihren irdischen Formen herauszukommen. Auch Forgei gesellte sich zu uns. Finsteren Blickes betrachtete er die ganze Gesellschaft. Plötzlich sagte er ganz laut: "Ich kümmere mich um Mutun. Und ihr Pioniere verschwindet schleunigst mit euren Proben an einen stilleren Platz. Stellt euch gruppenweise zusammen. Die Weisen werden euch bestimmt bald aus eurer Lage befreien."
Es geschah. Das Volk wurde zurückgewiesen. Einer der Weisen vertröstete die Neugierigen.
"Ihr könnt euch das alles bei Vorträgen ansehen. Aber jetzt brauchen wir Zeit und Ruhe, um diese Überraschung zu verdauen. Also - alles zurück, husch, husch!" Sie gehorchten. Aber nun kam ein Donnerwetter über uns, das sich gewaschen hatte.
"Gedacht habt ihr euch wohl gar nichts dabei, diese Wesen einfach mitzunehmen, was?" fielen sie über uns her. "Die Pioniere sind sich wieder einmal recht wagemutig vorgekommen, so einfach über fremdes Leben zu verfügen. Ihr habt es euch selbst zuzuschreiben, wenn ihr noch eine ganze Weile in dieser Gestalt herumlaufen müßt. Wir brauchen erst einmal genaue Informationen darüber, welche Lebensumstände auf der Erde geherrscht haben und dann müssen wir uns Gedanken machen, wie wir diese auf unserem Planeten herstellen können."
Sämtliche Teilnehmer an dieser Expedition, die Verwandelten und die heil gebliebenen, verstrickten sich in heftige Debatten mit den Weisen. Jeder wollte wieder einmal der erste sein, der angehört wurde, dessen Umwelt erschaffen werden sollte, so daß er endlich wieder als eigenes Wesen diesem Ding entsteigen konnte. Da zeigte es sich, daß es doch einige recht brutale Geister unter uns gibt. Denn mehrere von den Proben brüllten aus Leibenskräften, sie wollten sich Mutun anschließen und nicht einen Augenblick länger in dieser Gestalt herumsitzen. Sollten sich doch die Weisen dazu hergeben, die Immergescheiten. Es herrschte ein Tohuwabohu, das ganz ungewöhnlich war für unseren stillen Kristallstern. Und die machten tatsächlich Ernst! In kurzer Zeit würden wir Zeugen eines jämmerlichen und qualvollen Sterbens werden, wenn die Erdenproben in ihre normale Gestalt zurückverwandelt waren. Da stieg Forgei in die Höhe. Er breitete seine Hülle aus, ließ sie im Licht der Sonnen funkeln und verschaffte sich mit weithin vernehmbarer Stimme Gehör.
"Schluß jetzt mit diesen Verrücktheiten! Hört ihr! Wer verwandelt werden möchte, her zu mir! Die anderen schließen sich den Weisen an. Also, Tempo, Tempo, hierhin, zu Mutun und Zuschick. Aber schnell!"
"Was hat er vor?" fragte nun doch mißtrauisch Mutun. "Er weiß doch überhaupt nichts von uns. Wie will er uns denn verwandeln? Zuschick, du bleibst bei mir, nicht wahr? Laß mich nicht allein mit ihm."
"Klar bleib ich bei dir, Mutun", tröstete ich ihn. "Schon aus Neugier. Ich möchte selber wissen, wie Forgei das anstellen will."
Inwischen hatten sich eine Menge Irdischer um uns versammelt. Die Hirsche waren darunter, Blumen, der Fisch, etliche Pflanzen, und auch ein paar Menschen. Sie waren ungeduldig und verzweifelt. Forgei legte seine Hüllen zusammen und stellte sich mitten unter uns.
"Kommt mit!" sagte er, "und keine Fragen."
Die Weisen waren viel zu beschäftigt, als daß sie sich viel um uns gekümmert hätten. Schon stieg Forgei auf und schwebte auf die fernen Berge zu. Sie schimmerten im Abendlicht unserer gelben Sonne, dahinter breitete sich das dunkle Niemandsland aus. Der ganze Schwarm von unzufriedenen Erdlingen folgte ihm. Bald befanden wir uns weit weg von der ehemals so schön gedachten Idylle. Niemand wußte, was ihn erwartete. Wir waren allein. Allein mit dem größten Forschergeist unseres Volkes. Mit einem Wahnsinnigen und Genie gleichermaßen. Welche Seite würde er uns offenbaren?"
Alle waren wir müde von den vielen Aufregungen und von dem Unheimlichen unserer Situation. Allmählich verließen uns die Kräfte. Die größeren Formen taumelten bereits auf und ab, hielten sich kaum noch über dem Boden. Kraftlos bewegten die Unverwandelten ihre Hüllen beim Flug über die endlosen schimmernden Ebenen aus purem Bergkristall.
"Forgei, laß uns rasten!" riefen ein paar. Forgei hatte ein Einsehen.
"Also gut, alles runter!, gebot er und nahm auf einer hochragenden Kristallspitze Platz. Erschöpft ließ sich das Volk fallen, lag da, wie es gerade kam, kreuz und quer und zu fast nichts mehr fähig. Wieder ließ sich Forgei vernehmen.
"Breitet eure Hüllen aus, tankt Sonnenenergie, das wird euch erfrischen! Und ihr Erdenproben, reckt eure größten Körperteile der Sonne entgegen, damit ihr wieder fit werdet. Nicht mehr lange, dann habt ihr wieder eure ursprüngliche Gestalt. Das versprech ich euch!"
Wir machten das und die Energie unserer beiden Sonnen durchrieselte und belebte uns aufs köstlichste. Bald waren wir wieder munter.
Forgei (Forschergeist) ließ seine Blicke über unsere Schar gleiten. Finster sah er immer aus, fast ein bißchen unheimlich. Obwohl ihm niemand etwas Schlechtes nachsagen konnte. Forgei hielt sich stets korrekt, hatte eben nur hin und wieder recht kuriose Ideen. Nun wandte er sich an die Hingelümmelten.
"Auf geht's, Leute, zur letzten Etappe. Los, mir nach!" Damit schwang er sich wieder in die Höhe und segelte schnurstracks dem Dunkelgebiet zu. Natürlich sausten wir ihm alle nach, bedenkenlos. Hofften wir doch, endlich erlöst zu werden. Schon mischte sich unter das helle Licht unserer beiden Sonnen Schattiges, bald darauf schwebten wir völlig in der Dunkelzone dahin. Ich war da noch nie gewesen. Es war gar nicht so schrecklich, wie es allgemein hieß. Nein, sogar schön war es da. Rauchquarzberge ragten bizarr in die Höhe, dunkle Grotten taten sich auf, es schimmerte silbern und rotglühend daraus hervor. Dann, in einem anderen Gebiet, schien die ganze Welt zerbrochen. Große Brocken unseres Siliziumsternes lagen stumpf und mit irgendwelchem Staub überzogen am Boden. Sie türmten sich auf zu seltsamen Gebilden oder bedeckten als glitzerndes Geröll weithin den Boden. Unwirtlich war es da. Jedermann sah zu, daß er schnell drüberweg kam. Aber nichts da! Forgei hielt mitten hinein zwischen zwei riesige Klötze, die sich fast zweitausend Meter hoch auftürmten. Es sah aus, als lehnten sie sich aneinander, um nicht umzukippen. Da muß ja mal ein enormes Erdbeben stattgefunden haben, daß alles so durcheinandergeschmissen herumlag. Oder vielleicht waren andere Kräfte am Werk. Jedenfalls näherten wir uns einem tiefen Spalt zwischen den beiden Gebirgstrümmern, Forgei in voller Fahrt vorneweg. Schon verschwand er mit einem kühnen Schwung hinter einer dunklen Biegung. Wir alle hinterdrein - was sollten wir auch anderes tun?
Es war nur im ersten Moment dunkel. Hinter dieser Biegung dehnte sich ein weites Tal, begrenzt von durchscheinenden Gesteinswänden. Die leuchteten schwach, als würden sie von irgendwoher angestrahlt. Zu unserem Entzücken schimmerte alles in bunten Farben. Es ging vorbei an meergrünen, diffus leuchtenden Wänden, die übergingen in malachitgrün und rostrot, wurden abgelöst von schwefelgelb getöntem Gestein, durchzogen von kirschroten Schlieren. Sah aus wie Hämatit in seiner schönsten Ausbildung. Auch der Boden sah nun glatter aus. Als hätte hier drin wer gekehrt und das ganze Geröll nach draußen geschafft. Natürlich kam das nur daher, weil von außen nichts Verunreinigendes eindringen konnte. Forgei wurde nun langsamer, wir holten ihn ein. Von einem erhöhten Platz aus gebot er uns: "Setzt euch mal. Ich muß jetzt mit euch reden." Also lagerten wir uns rings um ihn her, wo es gerade paßte. In Mulden, auf farbigen Spitzen, auf dem durchscheinenden Boden. Erwartungsvoll sahen wir hin zu ihm, unserem großen Meister und Erlöser. Wieder sah er jeden einzelnen mit seinem ernsten, durchdringenden oder auch sorgenvollen Blick an.
"Wir sind hier an einem uralten Entstehungsplatz angelangt", begann er. "In diesem Gebirge gibt es noch radioaktive Stellen. Dahin will ich euch führen. Wir werden versuchen, eure irdischen Formen in dieser Strahlung zu neuem Leben zu erwecken. - Übrigens, hier wurden früher auch unerwünschte Individuen eliminiert."
"Woher weißt du das alles?" fragte jemand.
"Ich weiß es von uralten Weisen, die ich auf meinen Streifzügen getroffen habe. Aber nun kommt. Und schön im Gänsemarsch hinter mir drein!"
Mutun stieß mich an. "Der weiß bestimmt noch viel mehr", sagte er. "Meinst du, wir könnten hier auch noch auf diese Weisen treffen? Vielleicht sind das sowas wie Eremiten, die sich aus dem normalen Leben zurückgezogen haben."
"Das müssen wir Forgei fragen", antwortete ich. "Es wird sich schon noch eine passende Gelegenheit dazu ergeben. Jetzt schaun wir erst, daß du aus dieser Mädchengestalt herauskommst." Und ab schwirrten wir.
Es wurde enger und heller und auch wärmer. Heimatliche Gefühle durchzogen uns. Entstehungsgefühle. Die meisten von uns hatten schon einmal daran teilgenommen und immer war es eine sehr erhebende und eine spannende Angelegenheit gewesen. Aber ob das klappen würde, den Erdlingen eine eigene Strahlenform zu geben, so wie das bei uns der Fall war?
Und dann gelangten wir zu einer hohen, gleißend hellen Grotte. Darin spreißelte und spritzte es nur so vor Entladungen, es war auch mächtig heiß hier drin. Für uns allerdings grad schön und aufregend. Forgei gebot uns Halt.
"So, ich werde jetzt jemanden von den Proben aussuchen, der mit mir bis zu der Stelle geht, wo das Experiment stattfinden kann. Die Nichtverwandelten nehmen im Halbkreis um uns Aufstellung und fangen mit ihrer Energie das Produkt der Kernstrahlung auf, so wie ihr es bei einer Neuentstehung macht."
Damit bewegte er sich suchend unter den Proben umher und machte schließlich vor einem Fliegenpilz halt. "Mit dir machen wir den Anfang. Komm!"
Der Kleine zögerte noch. "Und was ist, wenn's nicht klappt? Bin ich dann auch weg? Oder werde ich in ein Baby verwandelt? Du, ich möchte lieber so bleiben wie ich bin, wenn ich das nicht genau weiß!"
"Das kann ich dir natürlich nicht verbieten", sagte Forgei, "mit irgendwas müssen wir aber den Anfang machen. Ich denke, die Strahlung kann dir nichts anhaben, du bist ja daraus entstanden. Nur die Pilzform könnte verschwinden. Das wäre doch nicht so schlimm, oder?"
"Ich weiß nicht...- wenn ich nur nicht auch gleich mitverschwinde. Wie sind überhaupt die Unerwünschten hingerichtet worden, von denen du vorhin gesprochen hast? Das geht mir schon im Kopf herum, weißt du!"
"Sie wurden zu Plasma aufgelöst", gab Forgei Auskunft. "Aber soweit wird es bei dir nicht kommen. Deswegen nehmen ja alle an dieser Prozedur teil, damit sie dich auffangen können, sowie du in deiner alten Gestalt erscheinst. Wir können die Hitze durchaus regeln, das weißt du ja."
"Also gut, ich mach's. Ich opfere mich", entschloß sich der Fliegenpilz. Und tapfer marschierte er mit Forgei dem Strahlungszentrum entgegen, wir anderen mit. Die Proben blieben, wo sie waren. Forgei und der Kleine stellten sich einander gegenüber, wir im Halbkreis rund um sie herum. Forgei nickte uns zu. Es konnte losgehen. Schon wurden die beiden von der Strahlung erfaßt. Sie loderten auf und ihr Bild verschwand zitternd im Hitzefeld. Wir schickten unsere Energiequanten mitten hinein, bis wir fast leergepumpt waren vor lauter Anstrengung. Da schoß etwas daraus hervor und prallte an den aufgespannten Hüllen unseres Halbkreises ab. Forgei trat zurück, normalisierte sich wieder. Wo war der Schwammerl? Etwa auch zu Plasma aufgelöst? Er war ja so klein! Also doch! Der Schwammerl war weg. Doch was anderes bewegte sich da an den langsam zusammenfallenden Hüllen entlang. Es war kein kleines, neugeborenes Wesen von unserem Stern, nicht so, wie wir es gewohnt waren zu sehen. Es manifestierte sich allmählich zu einem formlosen Klumpen, der sich nach allen Richtungen hin ausstreckte, sich wieder zusammenzog, eine Beule in die Höhe schob, wieder als Fleck auf dem Boden lag. Wir zogen uns zurück von diesem Phänomen. Was in aller Welt ist uns da beschert worden? Einer rief:
"Hallo, Fliepi, bist du das? Sag doch was!" (Der Name 'Fliepi' war ihm als Spitzname geblieben, seit er sich in diesen Fliegenpilz verwandelt hatte.) Das Ding stöhnte, versuchte sich aufzurichten. Forgei trat vor es hin. "Weiter so, in die Höhe mit dir!" ermutigte er es. "Gleich hast du es geschafft. Siehst du? Du wirst dir schon ähnlicher. Die Hüllen werden dir auch noch wachsen. Streck dich noch ein bißchen, ja, so!"
Der Fleck hatte sich zusammengezogen und bemühte sich, in eine aufrechte Form zu kommen. Er wurde immer länger, immer dünner. "Ihr müßt mir helfen!" rief es verzweifelt daraus hervor. "Ich schaff das nicht allein. Zu wenig Energie!"
"Sieht eigentlich nicht aus wie ein Baby", flüsterte ich Mutun zu.
"Aber auch nicht so wie er vorher war. Was das bloß wird!" meinte der.
Also gut, wir halfen noch einmal mit ein paar Energieschüben nach. Das mußte aber jetzt reichen, wir waren am Ende mit unseren Reserven. Das dünne Gebilde begann auch tatsächlich zu knistern, zu wachsen, es gewann an Form und Umfang und am Ende stand ein Kerlchen in unserer Mitte, das wohl eins der unseren war, aber ganz bestimmt kein bekanntes. Stumm stand der Kreis, man konnte es sich nicht erklären. Es erfaßte uns sozusagen eine Gänsehaut. Was war da nur passiert?
"Was ist? Warum sagt denn keiner was?" kam ein fremder Impuls aus dem Körper. Also sozusagen eine fremde Stimme. Da schwebte Forgei heran. Es war ja auch sein Werk, dieses Ding da. Er breitete seine Hüllen aus. "Fliepi, komm her zu mir!" rief er. Das Ding wandte sich ihm zu. Aber es war nicht Fliepi. Wir hatten diesen Mann noch nie gesehen. Er taumelte auf Forgei zu, sank ihm geradezu entgegen. Dieser schloß seine Hüllen um ihn. So stand er bewegungslos eine ganze Weile da. Dann sah er auf das Wesen an seinem Körper hinunter und fragte es mit ganz ungewohnt sanfter Stimme: "Wie geht's dir jetzt? Fühlst du dich wieder stark genug?"
"Nein, nicht stark, gar nicht stark", klang die Stimme unter Forgeis Hüllen hervor.
"Ich bring dich hinaus in die Sonne. Es wird dir gleich besser werden", versprach Forgei. Ohne ein weiteres Wort machte er sich mit seiner Last auf, dem Ausgang entgegen. Immer noch schweigend folgten wir ihm. Die Erdenproben, die im Hintergrund gewartet hatten, wollten wissen, was denn nun gewesen sei. Aber niemand gab ihnen so richtig Antwort. "Kommt mit, dann seht ihr es selber", wurde ihnen kundgetan. Wir Geburtshelfer waren richtig geschwächt von der vielen Energieabgabe, die dieses Geschöpf gebraucht hatte. Hoffentlich waren unsere Sonnen nicht schon untergegangen, wenn wir endlich wieder in ihre Reichweite gelangten. Wir brauchten deren Strahlung dringend notwendig, um unsere Energiespeicher wieder aufzuladen.
Es wurde ein trauriger, holperiger Weg zurück, ausgeleert wie wir waren. Die Proben konnten uns auch nicht helfen so starr wie sie in ihre Körper eingebunden waren. Sonst hätten wir einander in unsere Hüllen eingeschlagen und fortgetragen. Aber so mußte jeder selber sehen, wie er die rettenden Lichtgefilde erreichte.
Forgei war schon weit voraus, längst hatten wir die schaurige Grotte hinter uns gelassen. Nur das Dunkelland mit seinem Farbenzauber lag noch weit ausgedehnt vor uns. Wir erkannten unseren gestrengen Forgei nicht wieder. Sorgsam und behütend wie eine Mutter trug er unseren Fliepi davon, drehte sich nicht ein einziges Mal nach uns um. Er hatte bereits die Sonnenlandschaft erreicht. Dort setzte er sich auf den Boden, öffnete seine Hüllen und legte seine Fracht behutsam vor sich hin. Unsere Sonnen gingen gerade auf. Ein neuer Tag zog herauf. Erste Strahlen trafen die kleine Gruppe - Mutter mit Kind könnte man sagen. Mühsam schleppten wir uns vorwärts, mußten des öfteren Pausen einlegen. Als wir endlich bei den beiden anlangten, rührte sich Forgei immer noch nicht. Gebannt betrachtete er das Männchen vor sich auf dem Boden. Dieses nahm gierig die Sonnenenergien in sich auf, wurde zusehends lebendiger. Unser Schwarm gruppierte sich schweigend, weil erschöpft um das Paar. Auch wir genossen die schnell kräftiger werdenden Sonnenstrahlen.
"Ist das nun Fliepi oder nicht?" fragte einer. Forgei gab die Frage weiter. "Bist du nun Fliepi oder nicht?" sprach er das Ding an. "Klar bin ich es", antwortete es. "Aber irgendetwas Fremdes ist in mir drin. Das ist mir ganz und gar nicht geheuer. Kannst du mir erklären, was das zu bedeuten hat, Forgei?"
Forgei überlegte. "Es könnte sein - mir kommt da ein Gedanke - nein, warte, das muß ich erst noch überdenken. Ein Moment noch!" Der sogenannte Fliepi sah ihn erwartungsvoll an. Wir konnten diese Nachdenkerei nicht stillschweigend aushalten. Also wurden immer mehr Fragen laut. "Wenn du wirklich Fliepi bist, dann erklär uns doch mal, was du gefühlt hast, als du da mit Forgei im Entstehungszentrum gestanden hast." - "Ja, oder kurz danach, so als Fleck auf dem Boden. Was war denn da mit dir?" "Nein, ich glaub nicht, daß das Fliepi ist!" rief ein anderer dazwischen. "He, du, was warst du denn vorher? Nenn uns doch ein paar Namen, die du von uns kennst!" So prasselte es auf den Ärmsten nieder. Der sah erschreckt von einem zum anderen, kam gar nicht erst zu Wort.
"Aber...Kameraden...was soll denn das!" stotterte er. "Bin ich denn wirklich nicht mehr zu erkennen? Hübschi, du, kennst du mich nicht mehr? Mutun, Zuschick, wie seh ich denn nur aus, daß ihr so zu mir seid?" Das war uns Beweis genug. Er war's, unser Fliepi! Im Nu schlug das Mißtrauen, die Abneigung in Mitleid um.
"Ach Fliepi, was ist nur mit dir geschehen. Du siehst dir nicht im mindesten mehr ähnlich. Aber keine Angst, es bleibt alles beim alten. Forgei wird's schon wieder in Ordnung bringen. Jedenfalls bist du aus dem Fliegenpilz raus und kannst dich wieder bewegen."
Forgei kehrte aus seiner Welt des Nachdenkens zurück. "Es ist so", sagte er, "daß wahrscheinlich Plasma von einem der Hingerichteten bei dem Umwandlungsprozeß in dich hineingeraten ist. Jetzt bist du zwar dem Wesen nach unser Fliepi, aber die Gestalt hast du von dem anderen. Ein interessantes Experiment."
"Sauber!" entrüstete sich dieser 'Andere'. "Da wär ich doch lieber der Fliegenpilz geblieben. Ein Hingerichteter! Und so muß ich jetzt rumlaufen. Forgei, laß dir was einfallen, das kannst du mir nicht zumuten!"
"Tut mir leid, Fliepi, was soll ich machen? Ich könnte höchstens versuchen, einen der uralten Weisen zu finden, die es in dieser Gegend noch geben muß. Vielleicht wissen die Rat. Ich nicht. Ich leider nicht!" seufzte er.
"Und wir? Du hast uns fest versprochen, uns zurückzuverwandeln, Forgei", knaatschten die Proben. "Wir haben dir geglaubt, und jetzt das. Du hast selbst keine Ahnung gehabt, wie das gehen soll, gib's zu!" Forgei mußte sich eine ganze Menge übler Dinge anhören. Seine Miene wurde zusehends finsterer. Verschlossen und undurchschaubar wie immer betrachtete er die aufgebrachte Menge um ihn her. Was sollte er auch sagen? Selbst wenn er noch eine andere Idee gehabt hätte, vor diesem aufgebrachten Pöbel hätte er sie bestimmt nicht mehr preisgegeben. Er dachte nach. Plötzlich richtete er sich auf, entschied mit fester Stimme:
"Wir kehren zurück. Macht euch fertig!" Damit entfaltete er seine Hüllen und wollte fort.
Da schrie es wütend aus der Menge: "Nein, ich geh nicht zurück. Den ganzen Weg noch einmal in dieser Gestalt - nein, nicht mit mir. Ich steig aus!" Es war die Frau im Bikini. Ein so hübsches Wesen, und dann diese wütende Stimme! Paßte überhaupt nicht zusammen. Aber oh Schreck! Auch die Hirsche legten los. "Wir auch! Es reicht!" Und sie schwebten davon, um außerhalb der Gefährten einen Platz für ihre Rückverwandlung zu suchen. Forgei drehte sich um, sah, daß es denen Ernst war. "Bleibt, wo ihr seid!" donnerte er. "Das ist ja kriminell, was ihr vorhabt!" Mit rasender Geschwindigkeit kehrte er um. Mutun in der Gestalt des schlafenden Mädchens, wurde ebenfalls wütend. Er stellte sich einfach hin, erwartete trotzig Forgei. "Spielst du jetzt auch verrückt?" fuhr ich ihn an. "Was hast du vor?"
"Wart nur, gleich wirst du's sehen, was ich vorhab! Was ich schon die ganze Zeit über vorgehabt hab! Ich hab's satt, bis hier, verstehst du!" schrie er aufgebracht. Forgei war über uns. Er wußte nicht, sollte er der Bikinfrau und den Hirschen nach oder sich erst um Mutun kümmern. Mutun sah ja so sanft aus als schlafende Maid. Man konnte auf den ersten Blick wirklich nicht erkennen, daß er zu allem entschlossen war. Also wandte Forgei sich den anderen Ausreißern zu. Das Mädchen an meiner Seite war verstummt, Mutun war verstummt. ich betrachtete ihn aufmerksam. Oh Mann, der Körper begann soeben, sich aufzulösen, wurde durchsichtig, gleich mußten Mutun und Mädchen getrennt voneinander erscheinen. "Mutun!" schrie ich, "komm zurück, hör auf, das Mädchen muß sterben!" Nein, Mutun hörte nicht auf. Im nächsten Moment stand er neben mir, zornbebend, entschlossen, niemals mehr wieder mit dieser Gestalt zu verschmelzen. Das schlafende Mädchen sank zurück, flach auf den Boden. Man konnte sehen, wie Leben in es zurückkehrte. Leben, um zu sterben. Es öffnete den Mund, bekam keine Luft, riß die Augen auf - oh, was für schöne blaue Augen! - wahnsinniges Entsetzen spiegelte sich darin. Es konnte uns ja nicht wahrnehmen, sah nur diese fremde, kahle Welt und sie ganz allein darin. Dazu die Atemnot! Gleich mußte es zu Ende sein mit diesem Leben, ein schreckliches, ein qualvolles Ende. Mit letzter Kraft richtete sich das gequälte Wesen auf, stützte sich mit einer Hand am Boden ab, griff mit der anderen ans Herz. Da sprang ich hin zu ihm. Ich schlang meine Hüllen um es, verschmolz mit ihm und stand, bzw. saß kurze Zeit danach starr und bewegungslos als schöne junge Frau mit furchterfüllten, weit aufgerissenen Augen vor Mutun.
"So", zischte ich, "fein hast du das gemacht. Hättest die Kleine kaltblütig sterben lassen!" Ich giftete mich dermaßen, daß ich einfach keine Worte mehr fand. Saß nur da und war wütend. Auch enttäuscht über meinen alten Freund. Der starrte mich nur an. Es wurde ihm erst jetzt klar, was er da angerichtet hatte. Die entsetzten Augen, die ihn von nun an immer anstarren würden, taten ein übriges. Wir sagten beide nichts mehr. Ich war zu aufgebracht und er zu erschrocken. Das Mädchen hatte sich in ihrem Todeskampf halb aufgesetzt, also saß ich bereits am Boden. Mutun gesellte sich zu mir. Sah mich immer nur an. Plötzlich schoß er in die Höhe. "Die anderen dürfen das nicht tun!" schrie er und weg war er, den beiden Hirschen nach, die Forgei bereits eingeholt hatte.
Diese ganze Szene mit der Verwandlung von Mädchen und Mutun und dann mit mir hatte nur wenige Minuten in Anspruch genommen. Die Hirsche und die Bikinifrau standen gerade Aug in Aug Forgei gegenüber und wollten sich von ihrem Entschluß nicht abbringen lassen. Mutun segelte hin und schrie ihnen schon von weitem zu: "Macht das bloß nicht! Hört ihr! Bloß nicht!" Dann setzte er hart auf dem Boden auf. "Wir müssen eine andere Lösung finden", keuchte er ganz außer Atem. Forgei und die Proben sahen ihn verwundert an. "Mutun, du bist ja wieder du selber! Wie hast du das geschafft? Wo ist das Mädchen?" Gottseidank, die Verblüffung hatte sie von ihrem Vorhaben abgehalten.
"Da hinten ist es, Zuschick hat diesen Part jetzt übernommen." Auch ich landete neben ihnen. Ich mit meinen blauen, entsetzten Augen. Als ewige Warnung vor solchem Schabernack.
"Meine Güte", staunte einer der Hirsche, "was habt ihr bloß angestellt!" Inzwischen hatte diese ganze Aufregung auch die anderen mobil gemacht. Sie waren zusammengeströmt und umgaben uns nun mit einem Schwall von Fragen und Rufen und sich Näherdrängen. Jeder, der mich in der neuen Gestalt sah, wurde still und zog sich zurück. Forgei übernahm endlich wieder das Kommando.
"Seid ihr jetzt endlich zur Vernunft gekommen?" donnerte er los. "Es ist schon schlimm genug, was mit Fliepi passiert ist. Wir müssen nicht auch noch als Mörder zurückkommen. Wir werden uns stellen und die Weisen befragen, was geschehen soll. Ich hab mein Bestes versucht, ich wollte euch ehrlich helfen. Leider ist es danebengegangen. Laßt uns umkehren." Stumm gehorchten wir. Fliepi durfte unter Forgeis Hüllen weiter vorneweg fliegen. Aber es war kein fröhliches Reisen. Die Erwartung war einer großen Enttäuschung gewichen. Ich, als nunmehr erwachtes Mädchen mit meiner Todesfurcht in den Augen bildete mit Mutun die Nachhut. Ich wollte den anderen meinen traurigen Anblick ersparen. Wir kamen uns vor wie erwischte Deserteure, die einer ungewissen Strafe entgegengingen. Ob wir Forgei jemals wieder etwas glauben konnten?
Diese Heimreise gestaltete sich durchaus nicht mehr so diszipliniert wie die Herfahrt. Da hatten wir noch alle zu Forgei aufgesehen als unserem Führer. Jetzt ruhte sich einfach aus, wer müde war, es bildeten sich kleine Gruppen, unser Zug zog sich auseinander und Forgei war den hintersten längst außer Sicht geraten. Irgendwann bemerkte er das natürlich und kehrte um. "Ihr könnt nicht einfach zurückbleiben", tadelte er sie. "Wir sind zusammen aufgebrochen, wir kehren auch gemeinsam wieder heim."
"Den Weg finden wir auch selber, Forgei. Kümmere du dich nur um deinen Fliepi. Gewaltmärsche kannst du mit wem andern machen, mit uns nicht mehr." Forgei hatte jede Macht und alles Ansehen verloren. Er versuchte es mit Vernunft.
"Wir müssen doch die Weisen suchen, die wissen vielleicht einen Ausweg. Ihr wollt doch immer noch so schnell wie möglich zurück in eure alte Gestalt, oder nicht?"
"Daß die nichts wissen, hat sich schon gezeigt. Deswegen sind wir ja mit dir gekommen. Also laß uns in Ruhe. Geh du die Weisen suchen. Kannst uns ja Bescheid sagen, wenn sich was Neues ergibt."
Forgei sagte nichts mehr. Er faßte sein Männchen unter und erhob sich zum Weiterflug. Mit diesen Leuten war nicht mehr zu reden, das erkannte er gleich.
Was soll ich sagen - irgendwann trudelten alle zu Hause ein. Jeder verzog sich in sein Heim zu seinen Lieben. Die Erdenproben hatten genug von Extravaganzen, wollten auch nicht mehr als Blickfang dienen. Nein, sie blieben zu Hause, versteckten sich vor jedermann und brüteten vor sich hin. Ich auch. Ich verkrümelte mich in eine einsame Ecke meines neuen Mineraliengartens, wollte niemanden sehen und wohl auch von niemandem gesehen werden. Meine entsetzten Augen mußten doch auf jeden niederschmetternd wirken. Mutun blieb eine Weile bei mir. Aber unser Verhältnis war getrübt. Am Ende verließ er mich. Ich war allein.
Nun, die Weisen wurden gefunden, es ward ihnen von unserem Dilemma berichtet, sie zogen sich zur Beratung zurück und eines Tages bekam ich Besuch. Mutun hatte einen der Weisen zu mir geführt. Nun stand er da, betrachtete mich eingehend. "Zuschick, so kannst du nicht weitermachen", begann er. Wir haben uns einen Vorschlag ausgedacht. Es ist zwar keine Endlösung aber was sagst du dazu, wenn sich wer anders bereit erklärt, deine jetzige Gestalt zu übernehmen?"
Ich fuhr auf - soweit mir diese sitzende Form das gestattete. "Wer sollte das wohl tun? Der müßte ja verrückt sein! Oder - gibt es tatsächlich jemanden?"
"Es gibt jemanden, ja. Einzige Bedingung: Du kommst mit und stellst dich der Versammlung. Jeder der Betroffenen muß gehört werden, das siehst du doch ein. Jede Meinung ist wichtig und jede Erfahrung. Während ihr weg wart, haben die einzelnen Pioniere bereits ihre Referate vorbereitet. Wir müssen gemeinsam bedenken, was zu tun ist, um eine Rückverwandlung möglich zu machen. Die ersten Vorträge gehen heute Abend los. Du solltest daran teilnehmen und genau erklären, unter welchen Umständen ihr dieses Mädchen vorgefunden habt. Forgei hat sich bereit erklärt, sich in es zu verwandeln."
"Forgei? Nein, niemals. Dem trau ich nicht mehr. Wer weiß, was er tatsächlich mit diesem Mädchen vorhat. Nein, nein, ich bleib hier drin, bis ihr Weisen einen Weg gefunden habt. Wenn schon, dann tausche ich mit Mutun. Der braucht jetzt aber erst eine Erholungspause. Er war so lange in dieser Figur gefangen. - Gut, ich komm mit", schloß ich ab. Mutun, mein alter Freund und Pionier! Wie war er erleichtert, als er diese Worte hörte!
So kam es, daß ich nacheinander alle Vorträge besuchte. Die Weisen suchten inzwischen nach Freiwilligen, die sich zeitweise in die Erdenproben verwandeln sollten, damit sich diese in ihrer ursprünglichen Gestalt wieder erholen konnten. Dieses irdische Dasein bedeutete ja eine ungeheure psychische Belastung. Ich aber nahm mir vor, so lange in dieser Gestalt auszuharren, bis eine endgültige Lösung gefunden war.
Ich erschien zu allen Vorträgen. Es war maßlos interessant. Wirklich. Meine Neugierde wurde geweckt. Wie verhielt es sich wirklich auf diesem schönen Planeten? Wie lebten und harmonierten all die Wesen zusammen, die wir dort gesehen hatten? Welches Bewußtsein hatten sie, welche Wünsche, welche Gefühle? Waren sie uns ähnlich? Würden wir sie jemals verstehen können? Ihre Handlungsweise nachempfinden?
Unser ganzes Volk nahm teil an den Vortragsreihen. Die Tage vergingen, ohne daß jemand unsere romantischen Sonnenauf- und untergänge beachtet hätte. Niemand hatte den Wunsch, auf Entdeckungsreisen zu gehen, neue Heimstätten einzurichten, ja, nicht einmal, Nachwuchs zu empfangen. Der ganze Kristallstern mit allen seinen Bewohnern stand im Banne des Wundersteins, der Erde. Eine ganze Menge wurde darüber herausgefunden. Jedoch alles in allem stellte sich heraus, daß es viel zu wenig war, als daß man versuchen konnte, solche Verhältnisse bei uns herzustellen. Am Ende beriefen die Weisen noch einmal alle Pioniere zu sich, und rangen um eine endgültige Lösung. Mutun hat es mir später erzählt.
"Es war klar, daß die freiwillige Verwandlung in die Erdenproben, die manche auf sich genommen hatten, nicht mehr lange andauern konnte", fing er an. "Also kamen wir zu dem einzig richtigen Entschluß, die Proben auf die Erde zurückzubringen, wo sie dann ihr irdisches Leben zu Ende bringen sollten. Kurz vor dem Ableben würden dann wir, die Pioniere, wieder erscheinen und ihnen helfen, sich in ihre ursprüngliche Gestalt zurückzuverwandeln. Wir wissen ja nicht genau, ob das von selber geschieht, sobald ein Mensch mit einem der unseren in sich stirbt. Jedenfalls kämen wir auf diese Weise unmittelbar an die Quelle des Wissensgebietes, das uns so wichtig ist. Wir wären wieder alle zusammen in unserer ganz normalen Gestalt und wüßten aus erster Hand, wie es um die Menschen und ihre Welt bestellt ist. Wäre das nicht eine tolle Sache? Eine Errungenschaft, die uns in der ganzen Galaxis noch keiner nachgemacht hat. Vielleicht sogar noch darüber hinaus."
Ich konnte seine Begeisterung nicht so ganz mittragen. "Na, na, nun mach mal halblang. Was weißt du schon von unserer Galaxis oder sogar über dein 'darüber hinaus'!", dämpfte ich ihn. "Außerdem, habt ihr auch daran gedacht, daß wir als irdische Wesen euren Beistand brauchen könnten? Wenn ich mir vorstelle, daß ich so ganz allein als Mensch auf der Erde aufwachen soll - nein, ich weiß nicht! Ich glaub, das wär mir zu unheimlich."
"Aber du hast doch gar keine Ahnung davon, daß du mal was anderes warst! Und kurz bevor du stirbst, komm ich ja und hol dich zurück. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben!" wollte mich Mutun trösten.
"Na, dann mach du doch wieder das 'Mädchen", schlug ich ihm vor. "Du bist ja schließlich der Pionier, euch kommt sowas zu, nicht uns ganz normalen Leuten. Du warst es ja auch, der zuerst in dieses Mädchen geschlüpft ist."
Mutun sah mich entgeistert an. Es kam ihm wohl zu Bewußtsein, wie recht ich hatte.
"Nein, das ist nicht dein Ernst, Zuschick. Du hast dich doch ganz gut eingelebt, so wie du bist. Du wirst doch jetzt keinen Rückzieher machen! Wenn du unbedingt willst, bleib ich auch bei dir. Die ganze Zeit über. Würde dich das beruhigen?"
"Würde schon, aber weiß ich denn, ob du auch wirklich da bist? Ich hab doch als Mensch meine Erinnerung an alles verloren, was vorher war. Außerdem könnte ich dich gar nicht sehen, selbst wenn ich mich an irgendwas erinnerte. Es ist und bleibt eine gewagte Sache."
"Und sowas ist dir ja völlig fremd!" spöttelte mein großer Pionier. "Hast ja noch nie was Aufregendes mitgemacht. Wirst auch immer schön brav hier sitzen bleiben, oder?"
Da hatte er mich. "Feigling!" sagte ich verächtlich. "Nur weil du dich nicht mehr traust was zu riskieren, muß ein andrer herhalten. Aber klar doch, ich bin dabei! Wollte nur mal sehen, was wirklich mit dir los ist, so ist das. Nicht allzuviel, das muß ich schon sagen. Nicht soviel, wie ich mir das von dir vorgestellt hab."
Na gut, Mutun mußte das einstecken. Er war auch ziemlich belämmert. Trotzdem fand er es besser, daß ich diesen Part übernahm. Er war schließlich ein Pionier und hatte die Verantwortung zu übernehmen und die Regie. Aber er sagte nicht mehr viel darauf. Nur:
"Na, dann sehen wir uns demnächst bei der Endbesprechung", und weg war er.
Mittlerweile hatten unsere Weisen herausgefunden, wo genau sich unser blauer Planet befand. Blieb nur noch die Frage nach einem Transportmittel. Wir konnten nicht erwarten, daß uns wieder mal ein Komet mitnehmen und plangemäß dort absetzen würde. Denn diese Dinger erscheinen nur ganz zufällig, was eben jedesmal dieses große 'Hallo' hervorgerufen hatte.
Die Endbesprechung wurde angesetzt. Aber diesmal durften nur die unmittelbar Betroffenen daran teilnehmen. Das Volk mußte sich fernhalten. Also kamen wir alle, die Erdenproben, die Weisen und die Pioniere, in unserer Versammlungs-Grotte zusammen. Diese Grotte wurde vor langer Zeit in einen riesigen glasklaren Bergkristallblock geschmolzen. Er stammte aus der Frühzeit unseres Planeten, der wie so viele Himmelskörper erst mal aus heißer Materie bestand. Als der Erstarrungsprozeß einsetzte, blieben vielerorts hochgequollene Blasen aus der Schmelze liegen und bildeten so eine kuriose Hügellandschaft. Das einfallende Licht unserer Versammlungsgrotte wurde durch Prismen in seine Spektralfarben zerlegt, sodaß er in den herrlichsten Farben schimmerte und jeden in feierliche Stimmung versetzte, der ihn betrat. Da also nahmen wir Platz, die Weisen in ehrwürdiger Gruppierung vor uns, die Pioniere blieben jeder bei seinem Schützling in irdischer Gestalt.
Zur Einführung wurde uns eine Sternkarte vorgeführt, in der auch die Erde als ganz entferntes Pünktchen zu sehen war. Es folgten weitere Erklärungen.
"Die Erde ist etwa achtzehn Lichtjahre von uns entfernt", bekamen wir zu wissen. "Wenn es uns gelingt, euch wieder dahin zurückzubringen, wird auf alle Fälle eine derart große Zeitspanne vergangen sein, daß sich dort eine ganze Menge geändert haben kann. Die Reise von der Erde zu uns hat zumindest schon dreißig Lichtjahre gedauert, wenn nicht sogar länger, denn ihr hattet den Kurs nicht von Anfang an vor Augen. Die Rückfahrt dauert auch wieder so lange, also insgesamt etwa sechzig Erdenjahre. Der Aufenthalt hier auf unserem Planeten beträgt, in irdischen Jahren gerechnet, ebenfalls mehrere Jahre. Es werden also wenigstens hundert Jahre vergangen sein, wenn ihr dort ankommt. Dabei sind Zwischenfälle nicht miteingerechnet. Also bedeutet es auch für die Wesen von der Erde ein gewaltiges Experiment, in ihre Heimat zurückversetzt zu werden. Darüber müßt ihr euch alle im klaren sein. Wer das lieber nicht mitmachen möchte, kann auch hierbleiben. Es steht euch frei, ob ihr euch wieder in Kristallsternbewohner zurückverwandeln wollt oder in der irdischen Form hier weiterexistieren. Das betrifft allerdings nur die niederen Lebewesen wie Pflanzen, höchstens noch Insekten. Sowie ihr die Erdenformen verlaßt, müssen diese sterben, das ist euch ja bekannt. Ihr könnt es euch noch überlegen und dann nach Hause zurückkehren. Die anderen aber machen sich jetzt bitte bereit zum Flug ins Dunkelland. Wir müssen versuchen, einen der uralten Weisen aufzuspüren, denn in punkto Rücktransport sind wir ratlos."
Etliche Fragen wurden laut. "Warum wissen sowas nur die uralten Weisen und ihr nicht?" Und "Wieso eigentlich verstecken die sich so, daß man sie erst suchen muß? Ich denke, wir sind e i n Volk, da gehörten die doch zu uns."
Die Weisen waren uns wohl einige Antworten schuldig. Etliche breiteten beschwichtigend ihre Hüllen aus und legten sie wieder zusammen, denn allmählich begann sich eine Aufregung unser zu bemächtigen.
Der älteste von ihnen begann schließlich.
"Es gibt da etwas, was den meisten von euch nicht bekannt ist. Das ist eine Sache, die nur die uralten Weisen in der Hand haben. Deswegen leben sie im Dunkelland, denn befänden sie sich unter uns, sie würden wohl des öfteren angefochten werden und dabei brauchen sie absolute Ruhe, um sich auf ihre schweren Aufgaben zu konzentrieren. Wir sind nämlich alle samt und sonders unvollkommene Seelen. Von Zeit zu Zeit wird eine abberufen in einen Materienkörper, um da das Besondere zu entwickeln, das in allen Lebewesen drin ist. Wenn diese Talente zu Lebzeiten unbenutzt blieben oder zu wenig Ausdruck fanden, muß die Seele nach dem Tod des Körpers in einem anderen physischen Körper nach Vervollkommnung suchen. Inzwischen werden sie in unseren Entstehungsorten gespeichert. Als Zwischenstadium dürfen sie als Babies unseres Sterns erscheinen, wenn sich zwei Leute von uns Nachwuchs wünschen. Nachdem sie hier weitere Erfahrungen gewonnen haben, werden sie abberufen. Diese Abberufungen sind für die Kristallsternbewohner das gleiche wie für die Menschen der Tod. Denn diese Abberufung bedeutet Abschied von uns auf immer. Sie werden in einem neuen Körper wiedergeboren, aber wo und in welcher Form, das wissen sie nicht. Das ist Sache der uralten Weisen. Wir müssen ihnen vertrauen. Erst wenn eine Seele vollkommen ist, wird sie wieder in das große Meer der Harmonie eingebettet, aus dem alles Leben gekommen ist." Eine Pause entstand, in welcher der Sprecher wie die Zuhörer erst mal verschnaufen mußten.
"Das heißt wohl, daß wir niemals sterben?" rief jemand dazwischen.
"Ja, das heißt es wohl - gewissermaßen", wurde ihm die Antwort.
"Und der uralte Weise, überhaupt ihr Weisen, die Wissenschaftler unter uns? Bleibt ihr ewig hier auf dem Kristallstern oder trifft's euch auch?" frug ein anderer.
"Natürlich trifft's uns auch, ganz klar. Auch wir müssen uns weiterentwickeln. In puncto neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder psychische oder was auch immer. Das kann man nicht voraussagen."
"Wißt ihr denn, wann es mit irgendjemandem von uns soweit ist? Kann man sich auf dieses Ereignis vorbereiten?"
"Nein, leider wissen wir das genauso wenig wie ihr. Es geschieht einfach. Wann der Einzelne abberufen wird, bestimmt eine andere Macht. Es ist wie ein Naturgesetz.
Übrigens wurden nicht alle in andere Körper versetzt. Etliche ungute Geister unter uns wurden auch hingerichtet, wie ihr selbst erfahren habt. Sie dauern als Plasma im Dunkelland fort. Ein unglücklicher Zeuge dieses Verfahrens ist unser armer Fliepi. Aber auch ihm wird geholfen werden, sobald er seine jetzige Gestalt mit einer irdischen tauschen kann. Aus dieser kann er wieder als er selbst hervortreten. Wenn es auf der Erde geschieht, merkt die irdische Lebensform gar nichts davon. Sie kann ganz normal weiterleben. Hier allerdings müßte sie elendiglich zugrunde gehen, sobald sie von einem der unseren verlassen wird. Aber da sag ich euch ja nichts Neues."
"Na, dann gehen wir doch die Uralten suchen!" Mutun rief das, sprang auf und im Nu war alles Feuer und Flamme. Die Weisen waren jeder anderen Antwort enthoben, sie setzten sich ohne weitere Erklärungen an unsere Spitze und ab ging’s, dem Dunkelland entgegen.
Wieder wurde es eine lange Reise, doch diesmal waren wir voller Hoffnung. Von einem uralten Weisen würden wir sicher Ratschläge mit Hand und Fuß bekommen. Nicht so unbestimmte Zusicherungen, wie sie von Forgei gekommen waren.
Was soll ich sagen - wir brauchten gar nicht zu suchen, wir wurden bereits erwartet! Als wir uns nämlich dem Gebirge im Dunkelland näherten, kam uns ein schattenähnliches Gebilde entgegengeflogen. Es war einer der Gesuchten und er hatte uns schon von weitem kommen gesehen.
"Laßt euch hier nieder und stört die Stille des Dunkellandes nicht. Ich weiß, warum ihr gekommen seid, es war vorauszusehen nach dem, was passiert ist", verblüffte er uns. "Ich bin nur etwas verwundert, daß ihr Weisen nicht selbst daraufgekommen seid, wie ihr euch gezielt von hier fortbewegen könnt." Verlegen knautschten die Getadelten an ihren Hüllen herum, daß es knisterte. "Es ist doch das einfachste von der Welt!" fuhr der Alte fort. "Bedient euch doch des Lichts! Reist mit den Photonen. Es ist ein Leichtes, den richtigen Strahl zu treffen. Ihr könnt euch auch von einer Sonne zur anderen tragen lassen, bis ihr das Ziel erreicht habt. Es gibt der Möglichkeiten genug."
Na, gar so leicht mag das nicht gewesen sein, denn die Weisen und die Pioniere verschwanden mit dem Uralten und kamen erst nach geraumer Weile wieder. Aber dann zogen wir schnellstens davon, denn die Weisen wollten uns am nächsten Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen auf die Reise schicken.
So, nun sind wir also glücklich auf der Erde gelandet. Wir sitzen da in der Sonne vor einem riesigen Gebäude ganz aus Glas, rundherum dichte Wälder, wohindurch breite Wege führen. Wir haben uns wieder in Gruppen aufgeteilt, so wie damals, als wir zum ersten Mal auf die Erde hinabgeschwebt sind. Mutun ist wieder unser Pionier und er meinte, genau hier wäre es gewesen, wo wir damals das Mädchen in der Hängematte entdeckt hatten. Jetzt sehe ich ein, daß es wichtig war, uns Mutun unbelastet zu erhalten. In der Gestalt des Mädchens, in das er sich damals verwandelt hatte, wäre er zu unbeweglich gewesen. Diese Rolle habe nun ich, Zuschick, übernommen. Eigentlich war das auch wieder ein Zufall, so wie es mir zukommt. Mein Name bewahrheitet sich immer wieder: 'Zufall des Schicksals', also kurz 'Zuschick.
"Jetzt ist es an der Zeit, daß wir uns trennen", sagte Mutun, denn unsere Gruppe bestand auch noch aus ein paar Bäumen und Waldtieren. "Ich gehe mit Zuschick in das Gebäude, damit uns endlich Menschen finden. Ihr Bäume und Tiere könnt euch gleich hier geeignete Plätze aussuchen, wo ihr wieder aus euren Figuren herauskönnt. Diese Lebewesen haben jetzt wieder ihre gewohnte Umgebung und kommen wohl zurecht. Nun denn, adjö und kommt gut wieder nach Hause!"
Unsere Gebüsch- und Baumkameraden fanden es ganz gut, gleich an Ort und Stelle einzuwurzeln. Die Tiere, aus denen sich unsere Leute wieder zurückgezogen hatten, begannen gerade, im Wald zu verschwinden. Wir beide aber, Mutun und ich, drangen in den Glaspalast ein und suchten nach einer passenden Gelegenheit, damit ich in einen richtigen Menschen verwandelt werden konnte.
In unserer natürlichen Erscheinungsform, so wie wir auf dem Kristallplaneten lebten, waren wir für die Menschen unsichtbar. Ich schwebte in der Gestalt des Mädchens mit den weit aufgerissenen Augen neben Mutun einher - natürlich ebenfalls unsichtbar, denn ich hatte ja nur diese Gestalt angenommen, das Mädchen bestand nicht aus Fleisch und Blut, sondern das war ja ich, geboren aus einem atomaren Strahlungseffekt und mit Fähigkeiten ausgestattet, die den Menschen fremd sind. Zum Beispiel eben diese Möglichkeit, mit jedem Wesen zu verschmelzen, dessen Form anzunehmen und trotzdem ich selbst zu sein. Wie gesagt, anders hätten wir die Erdenproben gar nicht durch den Weltenraum auf unseren Stern transportieren können. Organischen Körpern ist so etwas nicht möglich.
Wir durcheilten lange Korridore, erfreuten uns an so manchen Pflanzen, die dort aufgestellt waren und durchstöberten auch etliche Räume. Aber nirgends fanden wir eine Gelegenheit, um mich richtig zu postieren. Ich mußte mich irgendwohin setzen können, wo man mich im Laufe des Tages finden konnte. Es ging nicht an, daß ich mich in irgendeinem Büro auf einem Besuchersofa niederließ und dort allmählich sichtbar wurde. Mein Auffinden würde ohnehin eine riesengroße Überraschung sein. Mein Woher und Warum und so.
Diese Herumsucherei war doch recht ermüdend. Wir bemerkten natürlich, daß die Menschen anders aussahen und auch anders gekleidet waren, als seinerzeit. Aber das war jetzt nebensächlich. Ich war mir schon selbst lästig in dieser komischen Figur. Ich wollte mich endlich normal bewegen können und sei es als Mensch. Das Unheimliche daran empfand ich schon gar nicht mehr.
Irgendwann gelangten wir in ein Zimmer, das stand voller merkwürdiger Geräte. Sah aus, als würde hier allerhand ausprobiert werden. Glasschränke mit diversen Instrumenten gab es da, Regale voller Schalen, Ampullen und Kästen mit allerhand Kleinzeug drin. In geschlossenen Kästen surrte und schwirrte es - kurz und gut, anscheinend handelte es sich um ein Labor. Und hier befand sich auch ein wunderbares schwarzes Sofa, wie extra für unsere Zwecke hingestellt. Kein Mensch weit und breit. Ich ließ mich darauf nieder. Mutun betrachtete mich und meinte dann: "Du siehst richtig echt aus. Als wärst du gerade in einer fremden Welt aufgewacht, deswegen deine Wahnsinnsaugen. Die werden sich wundern, wenn sie dich finden. Wollen wir mit der Umwandlung beginnen?"
"Wart noch ein bißchen", bat ich ihn. "Wenigstens so lange, bis wir jemanden kommen hören, der mich finden könnte. Der Abschied fällt mir schon ein bißchen schwer, Mutun."
Mut und Unternehmungsgeist heißt das ja. Beides hatte er wohl, mein Freund. Wie war ich froh, ihn jetzt bei mir zu haben. Ihm konnte ich mich gerne anvertrauen, wenn es jetzt gleich hieß, Abschied von allem Gewohnten zu nehmen. Er würde mich sicher geleiten und meine Verwandlung in einen Menschen überwachen.
"Wirst du bei mir bleiben, wenn ich ein Mensch bin?" fragte ich ihn.
"Ich werde bei dir bleiben, so lange du mich nötig hast", meinte er. "Und ich werde bei dir sein, wenn dieser Körper stirbt. Du kannst dich drauf verlassen, Zuschick."
"Ich weiß, trotzdem ist es ein komisches Gefühl. Ein sehr komisches!"
Mutun horchte auf. "Du, ich glaub, es wird Zeit für uns. Irgendwer ist im Anmarsch. Mach's gut, mein Kleiner, bis bald!"
Es mußte sein, ich begann mich auf meinen Rückzug aus diesem Mädchenkörper zu konzentrieren. Er wurde bereits transparent. Die Tür ging auf - oh weia! Und dann wußte ich nichts mehr von mir.
Mutun hatte exakt im richtigen Moment eingegriffen und meinen vollständigen Austritt aus dem menschlichen Körper gestoppt. Jetzt war ich ein Mensch, mein Bewußtsein als anderes Wesen vollkommen ausgeschaltet - ich war ein Mädchen, saß da einsam und verlassen auf diesem Sofa und hatte vor Entsetzen weit aufgerissene Augen.
Roland traute seinen Augen nicht. Er kam gerade von einer Besprechung wollte die dort erarbeiteten Erkenntnisse in einem Computerprotokoll festhalten. Doch da saß ein recht exotisch gekleidetes Mädchen auf seinem Sofa und starrte ihn furchtsam an. Wie kam es hierher? Wie sah es überhaupt aus? Noch nie hatte er einen solchen Aufzug gesehen, nicht einmal im Urlaub und da war er wahrhaftig weit genug in der Welt herumgekommen. Das war doch ..-. nein, das ging ja wohl nicht an! Wie hatte dieses Geschöpf überhaupt Einlaß in die heilgen Hallen des Forschungsinstituts gefunden? Sieht übrigens phantastisch gut aus. Hat ja auch nicht viel an. Ein T-Shirt und kurze Hosen, nackte Füße, das Gesicht halb verdeckt von braunseidenen Löckchen. 'Das glaubt mir kein Mensch', denkt Roland, 'die meinen glatt, ich spinne, wenn ich das erzähle. Nein, das will ich nicht allein gesehen haben. Nur unter Zeugen!' Er schließt leise die Türe, sperrt ab und geht zurück in den Konferenzraum. Nur sein Vorgesetzter ist noch da, die anderen haben sich bereits verlaufen.
"Ach, Herr Liebrecht, sagen Sie, haben Sie vielleicht zufällig den Chip für mein Labor wo liegen gesehen? Ich kann nicht rein."
Herr Prof. Liebrecht, der Leiter der Abteilung Genforschung, ein Zweig des Fraunhofer Instituts, sieht suchend umher. "Nö, hab ich nicht. Vielleicht haben Sie ihn in irgendeiner Jacken- oder Hosentasche verkramt!"
Roland wühlt sichtlich nervös an sich herum. "Nein, auch nicht. Aber ich muß dringend rein - könnten Sie mir nicht mit Ihrem Universalchip aufschließen? Ich find meinen schon wieder, aber jetzt müßte ich wirklich mal schnell mein Protokoll aufsetzen, sonst vergeß ich noch was."
"Passiert Ihnen das öfter, Roland? Könnte peinlich werden in Ihrer Position."
"Es ist das erste Mal und kommt bestimmt nicht so schnell wieder vor. Ist mir selber unangenehm."
Herr Liebrecht ist aufgestanden, hat bereits den Chip in der Hand.
"Na, dann mal los", sagt er und die beiden setzen sich in Bewegung.
Roland hält sich in achtungsvollem Abstand hinter seinem Chef, als der die Tür aufschließt, sich kurz zu ihm umdreht und mit einer Handbewegung zum Eintreten auffordert. Roland zögert. "Vielen Dank, Herr Liebrecht", sagt er, tritt ein und bleibt etwas hinter dem Älteren stehen. Entgeistert wie beim ersten Mal schaut er auf die jetzt liegende Gestalt auf seinem Sofa. Ich hatte es nämlich vorgezogen, meine Beweglichkeit als Mensch zu nutzen und endlich Schluß mit diesem entsetzten Geschaue zu machen. Ich lieg jetzt da und bin scheint's wirklich eingeschlafen. Jetzt sieht es auch sein Chef.
"Was ist denn das?" ruft er verwundert. "Wen haben Sie sich denn da eingefangen? Ist sie etwa die Chipdiebin?"
Roland läßt ihn als ersten vorgehen und sich das Wunder betrachten.
"Keine Ahnung, wie die da reinkommt!" sagt er und hat nun Gottseidank einen Zeugen für diese Erscheinung. "Das ist ja äußerst seltsam!" beäugt der Professor das Mädchen. "Haben Sie jemals jemanden gesehen, der so gekleidet wäre? Ein bißchen aufreizend für diese Tageszeit, nicht? Holen Sie die anderen! Die ganze Crew. Rasch, bevor sie aufwacht. Ich bleib inzwischen hier und paß auf!" befiehlt er dem jungen Mann.
Er zieht sich einen Hocker heran und setzt sich ganz dicht vor die Schlafende. Betrachtet sie eingehend von oben bis unten. Da, jetzt rührt sie sich. Hat sich aber nur eine Hand quer über den Bauch gelegt. Fasziniert berührt Prof. Liebrecht ihr Haar, gleitet mit dem Finger über ihren nackten Arm - wie kühl und glatt sich das anfühlt! Das Mädchen zuckt mit den Lidern, hat wohl was gespürt. Jetzt macht es die Augen auf. Große, blaue, schimmernde Augen. Und das bin ich! Zuschick, 'Zufall des Schicksals'! Entgeistert fällt mein Blick auf den Mann neben mir.
"Wer sind Sie? Wo bin ich? Aber, aber....!" Ich bin total verstört, sehe mich um, setze mich auf und starre Liebrecht an. Man muß sich das mal vorstellen - nicht nur, daß ich noch nie ein Mensch gewesen bin, nein, ich befinde mich hier in einer völlig fremden Umgebung, anscheinend sogar in einer anderen Zeit. Mein Inneres ist ein einziger Aufruhr, besteht nur noch aus Angst, Fremdheit, Leere. Aber der Mann neben meinem Sofa macht einen netten Eindruck. Er wird es mir schon noch erklären. Jetzt spricht er zu mir. Die Sprache kommt mir bekannt vor, ich verstehe sie auch, aber etwas daran ist anders. Freilich, wenn ich in einer Zeit in der Zukunft aufgewacht bin, dann hat sich auch die Sprache ein bißchen verändert. Doch jetzt momentan ist das keine Überlegung für mich, ich fühle nur diese entsetzliche Fremdheit und ein Verlorensein in mir.
"Sie sind in einem Genforschungslabor und mein Name ist Liebrecht, Abteilungsleiter einer Forschungsgruppe", sagt er, und weiter: "Und wer sind Sie? Wie sind Sie hier hereingekommen? Das Ganze ist schon recht merkwürdig, nicht?"
"Ich? Ich, ich - ich heiße ... - ich weiß es nicht!" rufe ich den Tränen nahe aus. Nicht nur, daß ich halbbekleidet in einer fremden Umgebung herumsitze, nun ist auch noch das Gedächtnis weg!
"Ich weiß auch nicht, wie ich hierherkomme! Ich weiß gar nichts mehr!" schreie ich verzweifelt. Prof. Liebrecht tätschelt meine Hand. "Nun, nun, beruhigen Sie sich doch. Sowas kommt öfter vor. Sie haben Glück, daß Sie hier bei uns gelandet sind, wir haben die richtigen Fachkräfte, um Ihrem Erinnerungsvermögen wieder auf die Sprünge zu helfen. Im Moment glaube ich aber, Sie würden sich in unserer Kantine am wohlsten fühlen. Sicher haben Sie Hunger. Essen Sie erst mal was, dann sehen wir weiter."
Ich glaube, ich hab jetzt wieder die gleichen erschrockenen Blauaugen wie auf dem Kristallstern, als dieses Mädchen in dieser fremden, kalten Welt ohne Atemluft aufgewacht war. Hier bekam es zwar Luft, aber alles andere war genauso beklemmend.
Inzwischen hatte sich auf leisen Sohlen die ganze Mannschaft der Abteilung vor der Türe angesammelt. Sie sahen wohl, daß ihr Erscheinen das arme Ding nur noch mehr erschreckt hätte. Bei Liebrechts letzten Worten löste sich ein schlanker junger Mann aus der Gruppe, schritt lächelnd auf die beiden zu und meinte: "Darf ich Sie ablösen, Herr Prof. Liebrecht? Ich bringe die junge Dame erst mal in die Kantine und kümmere mich dann um alles andere."
Es war Ingbert Salmann, Spezialist auf dem Gebiet der Gehirnforschung und mit natürlichen psychologischen Instinkten ausgerüstet. Prof. Liebrecht erhob sich. "Ja, tun Sie das, Ingbert." Und leise, damit ihr Mädchenwunder nichts hören konnte - "Und kümmern Sie sich um ein anständiges Outfit, ja? Danach, das heißt, wenn die Kleine dazu in der Lage ist, treffen wir uns alle im Konferenzraum." Ingbert nickte. Verängstigt verfolgte ich jede Bewegung, jedes Mienenspiel der beiden Herren, wußte ich doch nicht, was man mit mir vorhatte. Und wie in aller Welt kam ich denn nun wirklich hierher? Wer war ich? Wo war mein zu Hause? Oh Gott, nichts, aber rein gar nichts davon fand sich mehr in meiner Erinnerung. Es war zum Heulen. Dies allerdings versuchte ich tapfer zu unterdrücken. Der junge Mann stand vor mir. "Ingbert Salmann", stellte er sich vor. "Erlauben Sie, daß ich Sie in die Kantine entführe? Dann sehen wir weiter." Ich stand also auf, nahm den mir dargebotenen Arm und fühlte mich fürs erste gleich etwas geborgener. Ich hatte tatsächlich Hunger. Wahnsinnigen Hunger sogar. Mit einem gläsernen Aufzug fuhren wir ein paar Stockwerke tiefer und betraten kurz darauf einen großen Saal mit gemütlichen Sitzgruppen und herrlichen Düften. Ingbert erwies sich als ritterlicher Gastgeber und ließ seinem "Engelchen, das vom Himmel gefallen ist", wie er es bei sich nannte, soviel Leckeres servieren, wie es nur vertragen konnte.
"So, geht's wieder?" fragte er nach einer guten Stunde Schwelgen. "Ja, danke", lächelte ich zurück. "Aber erinnern kann ich mich immer noch an nichts, tut mir leid. Nicht mal an meinen Namen."
"Dann erfinden wir halt einen. Wie möchten Sie denn heißen?"
"Hm, Ute vielleicht. Fällt mir grade so ein."
"Na prima, dann haben wir ja schon einen Anfang. Ihre Kleidung läßt darauf schließen, daß Sie sich irgendwo in Urlaub befunden haben. Oder zumindest waren Sie beim Entspannen. Oder würden Sie das als Arbeitskleidung betrachten?"
"War wohl eher was Entspannsames, ja, aber wo?" Ich sah an mir herunter. Es war mir peinlich, so unkorrekt in dieser Umgebung gekleidet zu sein.
"Immerhin sprechen wir die gleiche Sprache, nämlich Deutsch und außerdem niederbayrisch. Sie müssen also hier aus dieser Gegend sein. Sagt Ihnen das was?"
Ute, also ich, machte wieder ihre unglücklichen Augen. "Nein, überhaupt nichts. Furchtbar!"
Ingbert versuchte mich zu trösten. "Betrachten Sie's als neuen Anfang. Ist doch auch ganz interessant, oder? Geradeso, als wären Sie soeben erst geboren worden, nur daß Sie das Säuglingsalter übersprungen haben. Da machen wir was draus!" schloß er ermutigend ab.
"Könnten Sie mir vielleicht neue Kleider verschaffen?" wandte sich Ute zaghaft an ihn.
"Natürlich, das wird unser nächstes Ziel sein. Jetzt gehen wir erst zu den Kollegen, die sind schon ganz gespannt, Sie kennenzulernen. Es sind recht nette Kolleginnen darunter, die werden Sie im Nu herausstaffiert haben, nur keine Sorge."
Der große Konferenzsaal, den wir nun betraten, schien keine Wände zu haben. Alles aus Glas und Spiegeln. Man hatte fast den Eindruck, es ginge von hier aus geradewegs hinaus in den dichten grünen Wald, der sich rund um das Gebäude ausbreitete, soweit man nur sehen konnte. Der Saal war dicht gedrängt voller Menschen. Das Mädchenwunder hatte sich herumgesprochen, jeder Mitarbeiter, der sich nur freimachen konnte, war hier erschienen. Mir war es immer peinlicher, in dieser Freizeitkleidung vor all den elegant gekleideten Menschen erscheinen zu müssen. Zwar trugen die Leute andere Kleidung, andere Stoffe, als ich es gewohnt war - aha, meine Erinnerung war immerhin soweit intakt, daß mir dies auffallen konnte. Dennoch bemerkte ich die Eleganz, die dieser Mode innewohnte. Ingbert ließ sich neben mir auf einer weichen Couch nieder, in der wir förmlich versanken. Ich fühlte mich hier nicht mehr so sehr den neugierigen Blicken preisgegeben, was natürlich nur Einbildung war, denn jeder der Anwesenden sog sich förmlich an mir fest mit den Augen.
Ingbert machte offenbar bewußt auf unbefangen und gemütlich, denn er blieb einfach neben mir sitzen, betrachtete sich eine Weile die Runde vor uns und stellte mich schließlich mit einer Geste vor. "Das ist Ute, unser Besuch aus einer anderen Welt", sagte er scherzhaft. Oh, er wußte nicht, wie recht er hatte!
"Wir haben uns vorläufig auf diesen Namen geeinigt, denn die junge Dame hat keinerlei Erinnerung mehr, wer sie ist und woher sie kommt. Nun meine Frage: Hat irgendjemand von Ihnen sie in der letzten Zeit auf dem Betriebsgelände gesehen? Oder innerhalb des Instituts? Jeder noch so kleine Hinweis ist wichtig. Wir brauchen Anhaltspunkte, damit wir herausfinden können, was es mit Ute auf sich hat."
Er legte einen Arm auf die Couch hinter meiner Schulter, als wollte er mich beschützen. Es war mir ein bißchen unangenehm, vielleicht kam das daher, weil er ein Mann war und ich ein weibliches Wesen. Auf der Erde gibt es da erhebliche Unterschiede. Die beiden Arten passen nicht zueinander, obwohl einer nicht ohne den anderen auskommen kann. Viele leben sogar zusammen, da kommt es doch sicher dauernd zu Reibereien. Aber ich greife vor, das alles habe ich erst später erfahren. Momentan fühle ich mich nur sehr verschüchtert und verloren, alles ist so fremd, ich traue dieser kollektiven Freundlichkeit nicht, die mir entgegengebracht wird.
Nachdem sie alle eine Zeitlang angestrengt nachgedacht hatten, meldete sich jemand zu Wort. Ich konnte nicht feststellen, zu welcher der beiden Arten er gehörte. Das Wesen trug lange Beinkleider und ein weites Oberteil, am Saum und am Kragen bestickt, fast wie eine Schrift. Es hatte keine Haare auf dem Kopf, dafür aber sehr ausgeprägte buschige Augenbrauen, die sich wie ein dicker Strich fast über die ganze Stirn oberhalb der großen, schönen Augen hinzogen. Auch der Mund war groß und weit geschwungen, kirschrot geschminkt, im Ton gut zu den Brauen passend, die nur etwas dunkler waren. Die Ohren lagen so flach an, daß man sie von vorne fast gar nicht sah. Dieser Mensch sagte jetzt mit einer klaren, sonoren Stimme: "Das Einzige, was mir aufgefallen ist, sind die neu angepflanzten Büsche und Bäume neben der Zufahrt. Die waren gestern noch nicht da. Aber das ist Sache der Gärtner. Nur - es ist mir eben aufgefallen." Jetzt kam Bewegung in die Menge. "Ja, das stimmt", meinte ein anderer, "das muß in der Mittagspause geschehen sein, denn vorher war nichts da, das weiß ich ganz genau. Ich bin zu Fuß hochgekommen und erinnere mich, daß es sehr heiß war und dann die lange, öde Einfahrt. Jetzt aber ist da alles vollgepflanzt und schön schattig." Sie drehten sich um und guckten alle zum Fenster raus. Allgemeines erstauntes Gemurmel.
Jemand stellte fest: "Nein, das kann nicht sein. Die Bäume sind viel zu groß, die kann man nicht einfach umpflanzen, das Gebüsch auch nicht. Außerdem hätte es auffallen müssen, wenn eine Fuhre mit den Hölzern heraufgekommen wäre. Viele halten sich in der Mittagspause draußen auf, das hätte man gesehen."
"Also haben wir ein weiteres Wunder", stellte Ingbert lakonisch fest. Er deutete mit einem ausgestreckten Finger auf einen orangefarbenen Knopf an der Wand gegenüber, der daraufhin grellgrün wurde und Ingbert sprach einfach drauflos. "Nur eine kleine Frage, Herr Lößmann. Sagen Sie, haben Sie heute die Zufahrt neu angepflanzt?" Dann hörte ich eine Stimme, aber die schien einfach so aus dem Raum zu kommen, von überallher, die sagte: "Nein, wie kommen Sie da drauf? Ist auch gar nicht vorgesehen. Die Zufahrt soll frei und übersichtlich bleiben, Anordnung von oben."
"Ja, das ist allgemein bekannt. Aber irgendwer muß doch diese Neupflanzung angeordnet haben."
"Mir ist jedenfalls nichts bekannt. Muß mir das gleich mal ansehen gehen. Ich rufe zurück, in Ordnung?"
"Gut, danke."
Ingbert wandte sich an die Anwesenden. "Ihr habt das alle gehört. Warten wir ab, bis Lößmann rückruft." Dann zu mir: "Ute, könnte das mit Ihrem Erscheinen in Zusammenhang stehen? Denken Sie nach!"
Ich war ganz perplex. "Wieso ich?" fragte ich. "Ich weiß doch nicht mal, wie ich selber hierher gekommen bin, wie soll ich eine Ahnung von Ihrer Gärtnerarbeit haben!"
"Hätte ja sein können. Lassen wir das erst mal auf sich beruhen. Ute, würden Sie erlauben, daß Ihnen die Kollegen jetzt Fragen stellen?"
Ich fühlte mich unbehaglich da vor aller Augen. "Lieber wäre es mir, ich hätte erst was Ordentliches anzuziehen. Könnten Sie das nicht arrangieren?"
"Aber ja, entschuldigen Sie bitte, natürlich tun wir das." Und sich an die Mitarbeiter wendend: "Wer von Ihnen möchte das übernehmen? Vielleicht könnte man auch gleich die Unterbringung klären."
Eine Frauenstimme löste sich aus dem Gemurmel. "Ich mach das. Gleich heut Nachmittag. Ich muß sowieso in die Stadt, da kann ich Ute gerne mitnehmen. Und wohnen kann sie einstweilen auch bei mir." Eine junge Frau mit angenehmem Äußeren kam auf unser Sofa zugeschritten. Sie hatte im Gegensatz zu dem anderen ihre Augenbrauen dünn zurechtrasiert oder gezupft, ihre schwarzen Haare waren links und rechts des Kopfes zu einem dicken kurzen Zopf geflochten und fluteten nach etwa 10 cm aufgelöst über ihre Schultern. Es sah ähnlich aus, als trüge sie ein glänzendes schwarzes Fell. Ihre Augen waren stahlblau, umrahmt von unnatürlich langen schwarzen Wimpern, die an den Enden rot eingefärbt waren. Im übrigen war sie sehr körperbetont gewandet. Ihr schwarzglänzendes Shirt ließ den gewölbten Busenansatz sehen, darüber trug sie etwas wie ein langärmliges Spinnennetz mit Punkten drin, als hätten sich Insekten darin verfangen. Auch sie trug lange Beinkleider, blausilbern schimmernd, umspielt von diesem Netzgewebe. Es sah sehr geheimnisvoll aus. Sie kam auf mich zu und ich fühlte mich sofort zu ihr hingezogen, obwohl sie ein so fremdartiges Aussehen hatte. In ihren Augen lag etwas, das ich als barmherzige Neugier bezeichnen würde. "Ich heiße Edda", stellte sie sich vor. Ein merkwürdiger Duft ging von ihr aus. Ich lächelte sie an, muß wohl auch ein bißchen geschnuppert haben, denn Edda betrachtete mich amüsiert und machte mich gleich mit einer weiteren Eigentümlichkeit der Leute hier bekannt. "Das ist eine Nelkenart. Jede Abteilung hier hat seine eigene Geruchsmarke. Ich gehöre in die Abteilung Pflanzengene. Ist es sehr aufdringlich für Sie?"
"Aber nein, gar nicht", antwortete ich wahrheitsgemäß. "Es ist nur, alles ist so neu für mich. Wie in einem Traum. Vielleicht wach ich auch gleich auf und dann..." Erschrocken hielt ich die Hand vor den Mund, denn wirklich, was dann? In welche Wirklichkeit würde ich denn aufwachen? "Ja, was dann, Ute? Sagen Sie's ruhig, wo würden Sie denn aufwachen?" nahm Edda sogleich den Faden auf. Ich war so erschlagen von der Tatsache, daß ich es einfach nicht wußte, daß ich zu heulen anfing. Wenn man nirgends und nirgends einen Weg sieht, wie man wieder zu sich nach Hause finden könnte, nicht einmal zu sich selber zurückfinden, das ist schon schrecklich! Es ist trostlos, dafür gibt es überhaupt gar keinen Ausdruck, wie das ist. „Ich weiß es doch nicht!“ schluchzte ich. „Ich weiß doch überhaupt nichts mehr!“ Ingbert betrachtete mich teilnahmsvoll. Oder war es berufliches Interesse? Aber Edda, die Tolle, setzte sich einfach zu mir aufs Sofa, nahm mich in die Arme und redete begütigend auf mich ein. Schon ihre Stimme hatte so was Beruhigendes, Vertrauenerweckendes.
„Na komm, Ute, ist ja gut. Wir zwei verschwinden jetzt ganz einfach von hier. Du musst erst mal zur Ruhe kommen. So geht das nicht.“
Damit stand sie auf, ich mit ihr, wobei ich versuchte, mein verheultes und verzerrtes Gesicht zu verbergen. Immer noch schüttelten mich einzelne Schluchzer, ich konnte nichts dafür. Ich war total hilflos. Edda führte mich hinaus, hinter uns nur Schweigen. Dann glitten wir in einem Aufzug hinunter, ziemlich weit. In einem lichtdurchfluteten, riesigen Raum stiegen wir aus. Hier stapelten sich Fahrzeuge aller Art. Es war ganz seltsam. Am Boden standen breite, aerodynamisch geformte und sehr niedrige Gebilde. Sie erinnerten mich entfernt an Sportwagen. Darüber parkten schwebend andere, leichter gebaute Fahrzeuge. Ich sah allerdings keine Räder, was mir aber erst später klar wurde. Im Moment war ich nur froh, Edda ganz dicht an meiner Seite zu wissen. Nun passierte etwas Komisches. Edda sah in eine bestimmte Richtung und plötzlich löste sich eines der leichteren Fahrzeuge aus der fünften Reihe über uns und kam auf uns zugeschwebt. Es senkte sich so exakt vor unsere Füße, als hätte es ein eigenes Gefühl dafür. Nun zog sich das leicht gewölbte Kuppeldach zurück, zugleich verschwand eine Seitenfläche irgendwohin, Edda stieg ein und bedeutete mir ein Gleiches. Bei so vielen Wundern vergaß ich natürlich meinen Schmerz und nahm neben ihr Platz. Das Dach und die Wagenseite oder Fahrzeugseite, muß ich sagen, denn eigentlich kam es ja nicht angerollt, sondern geschwebt, schloß sich wieder. Was meine Beschützerin nun machte, um uns in Bewegung zu setzen weiß ich nicht. Jedenfalls glitten wir eine schräg nach oben führende Bahn hinauf und befanden uns im Nu draußen, mitten im Wald. Da hindurch führte eine breite Schneise. Die fuhren wir aber nicht entlang, sondern wir erhoben uns einige Meter und schwebten dann mitten durch die schönen, hohen Bäume. Edda sah mich lächelnd an.
„Na, geht’s besser jetzt?“ fragte sie. „Ja – ja!“ sagte ich, „das ist ja phantastisch! Also soviel weiß ich bestimmt: Sowas hat es bei uns nicht gegeben. Ich meine, in der Zeit, aus der ich komme. Das muß viel, viel früher gewesen sein. Übrigens, diese breiten Wagen, die unten in der Garage stehen, sie sehen fast so ähnlich aus, wie bei uns Prototypen auf Autoausstellungen. Wahrscheinlich sind es keine Wagen, sondern auch Flugzeuge. Oder wie nennt man denn diese Fahrzeuge jetzt?“ Edda sah amüsiert geradeaus. „Das sind Airsets. Autos gibt es nur noch in Museen. Aber es ist ein nützlicher Hinweis, um herauszubekommen, woher du stammst. Wir gehen später einmal die Museumsspeicher durch. Dann erinnerst du dich bestimmt an noch viel mehr.“
„Museumsspeicher? Was ist das denn!?“ wunderte ich mich.
„Na, auf dem Computer eben. Wenn du dich wieder fit fühlst, klicken wir die einzelnen Programme auf. Mal sehen, ob dir das weiterhilft.“
„Gute Idee, Edda. Und wohin führst du mich jetzt?“
„Wir fahren zu mir nach Hause. Da bleiben wir, bis du dich akklimatisiert hast. Ich glaube, du musst erst mal unsere Welt ganz von vorn kennenlernen. Und ich die deine.“
„Danke“, sagte ich. „Jetzt gehen wir in die Vogelperspektive“, kündigte Edda an. „Dann kannst du dich besser orientieren.“ Damit zog sie unser Airset höher, bis wir von oben die ganze Gegend überblicken konnten. „Sieh dich mal um, da hinten kannst du noch unser Institut erkennen“, forderte sie mich auf. In der Tat, ganz weit hinten ragte etwas Glitzerndes aus dem Grün der Baumwipfel hervor. Das war der Glaspalast, von dem wir aufgebrochen waren.
„Und das da vorne, diese grauen Kuppeln, das ist unser Dorf. Da bin ich zu Hause“, machte mich Edda aufmerksam.
Angestrengt beäugte ich die Waldfläche vor uns, konnte aber nichts Besonderes erkennen. „Ich seh’ nichts, Edda. Wo sollen denn da Kuppeln sein?“ Sie lachte. „Gut getarnt, nicht wahr? Sie absorbieren das Licht und sind tatsächlich schwer zu entdecken. Dort in der Senke ist es. Schau nur genau hin.“
Ja, jetzt, wo wir näherkamen, bemerkte auch ich, dass sich inmitten des weiten Waldgebietes eine wellige oder hügelige Landschaft auftat. Kurz darauf zogen wir eine Schleife darüber und unser Fahrzeug senkte seine Spitze schräg nach unten, bog in eine Straße zwischen all den putzigen Kuppelhäuschen mit viel Grün drumherum ein und schwebte zielsicher in einen kleinen Hangar, der sich beim Näherkommen öffnete. Genau wie bei uns ein Garagentor, das auch mit Fernbedienung gesteuert wurde. Aber dann war alles anders. Wir waren in einem ganz gewöhnlichen Raum gelandet, allerdings ausgestattet mit glänzend poliertem Boden und Wänden aus einem mir nicht bekannten Material. Nachdem wir ausgestiegen waren, fuhr Edda mit der Hand einmal über ihr Airset, so, als wollte sie es streicheln. Plötzlich stand ein treuherziges Pelztierchen neben uns, im Anklang an einen Hund, aber ebenso verschieden davon wie seinerzeit ein Wolf von einem unserer Haustiere. Edda machte wieder eine sanfte Handbewegung, da legte sich der Hund auf seine Vorderpfoten, als hätte sie gesagt: Platz! Der Hund oder was es eben war, hatte allerdings die Größe unseres Fahrzeuges beibehalten. Und nun wandten wir uns einer der Wände zu – aber oh Wunder, statt der Wand schritten wir durch eine blühende und duftende Orangenhecke und betraten einen kreisrunden Saal, der zur Hälfte aus einem Fenster bestand. Man hatte eine wunderbare Aussicht auf eine tiefer gelegene Flusslandschaft mit kleinen Dörfchen an seinem Ufer und fernen Bergen. Das Innere war ausgestattet mit gemütlichen Sitzecken, einem wunderschönen gläsernen Tisch, der je nach Lichteinfall mit Ornamenten in phantasievoller Vielfalt geschmückt war. Die Wirkung war etwa wie bei uns seinerzeit die Holographie. Ansonsten sah er glatt und durchsichtig aus. Blumen und grüne, exotische Pflanzen teilten das Ganze in harmonische Ecken ein, in deren jeder man es sich sofort gemütlich machen wollte. Ich war so fasziniert von allem, dass ich wie zur Salzsäule erstarrt im Vorraum stehenblieb. Meine Beschützerin amüsierte sich köstlich. „Na, Ute, gibt es wieder etwas Neues für dich zu bestaunen?“ wandte sie sich lächelnd zu mir zurück.
„Es ist so schön bei dir, Edda, es ist einfach umwerfend.“
„Sollte ich annehmen, in deinem Umfeld war es ganz anders? Erzähl doch, wie hat es denn bei dir ausgesehen?“
„Bei mir – daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber die Häuser, die sahen anders aus. Alles andere, schöne Landschaften, tiefe Wälder, das alles war wohl genauso. Nur, wie es bei mir zu Hause ausgesehen hat, das weiß ich nicht mehr. Es ist, als hätte mich jemand verzaubert und in eine andere Welt gebracht. Die Sprache, die ist seltsamerweise fast gleich geblieben. Wie ist das übrigens mit der Sprache. Gibt es immer noch so viele verschiedene? Ich weiß, dass ich in der Schule Fremdsprachen lernen musste. Englisch und Französisch. Komisch, an solche Sachen kann ich mich erinnern. Nur, wer ich bin und woher ich komme, das ist wie weggeblasen.“
„Das kriegen wir schon noch hin!“ tröstete sie mich. „Jetzt hast du immerhin schon festgestellt, dass es bei dir andere Fahrzeuge und andere Häuser gegeben hat. Das ist doch ein guter Anfang, nicht?“
„Findest du? Ich fühl mich so leer und isoliert. Am liebsten würde ich einschlafen und nicht mehr aufwachen.“
„Na, na, gerade jetzt, wo es interessant wird. Und zwar für uns beide. Stell dir einfach vor, wir sind Forscher und betreten vollkommenes Neuland. Denn genau in dieser Situation sind wir gerade.“
In dem Moment passierte schon wieder etwas, was mich fast umgehauen hätte. Das ganze wunderschöne Zimmer mit Aussicht auf Gegend verschwand mit einemal, stattdessen befanden wir uns in einem eher kahlen, halbkreisförmigen Raum, der auch wieder aus diesem seltsamen grauen, irisierenden Material bestand, wie der Hangar und der Tisch. Ich konnte kein Fenster entdecken, obwohl es so hell war, als schiene die Sonne herein. Nur die Pflanzen die waren geblieben und somit auch die gemütlichen Ecken. Allerdings bestand die Einrichtung nun aus glatten, irgendwie auch schönen Möbeln. Aus einer halbrunden Schreibtischecke, wobei in die Tischplatte diverse Monitoren und Tasten eingelassen waren, einem körperangepassten Sessel und einem sofaähnlichen Möbelstück, das richtig zum drauf Rumlümmeln in einer Ecke stand, sofern man bei einem halbkreisförmigen Zimmer von Ecke sprechen kann. Davor ein Kristalltischchen mit einem kleinen Kästchen drauf. Vielleicht auch wieder eine Fernbedienung. Und dann gab es da noch ein Regal oder eine Vitrine, die beinhaltete schön geformte Gläser und Tafelgeschirr. Ich hatte so was noch nie gesehen, deswegen hätte ich auch momentan nicht beschreiben können, welchem Stil das nahekam. Das einzige, was ich vielleicht unbewusst wahrnahm, war, dass Holz vollkommen fehlte. Und das bei diesem Waldreichtum! Jedenfalls war ich ganz perplex und wieder zur Salzsäule erstarrt. Es gab aber gleich noch eins drauf, denn die grau spiegelnde Wand öffnete sich an einer Stelle abrupt und ein Mann trat mit einem energischen Schritt ins Zimmer. Noch ehe er uns richtig gesehen hatte, begann er loszupoltern.
„Was soll denn das, wer hat denn diesen Hokuspokus eingeschaltet! Fällt denn niemandem in diesem Haus auf, dass hier auch gearbeitet wird?“
Edda lächelte nur zynisch und meinte: „Das ist unser Poltergeist, er heißt Siegfried und erscheint von Zeit zu Zeit, um die Leute zu erschrecken.“
Nun erst nahm er mich richtig wahr. „Wer ist denn das?“ fragte er ehrlich verwundert.
„Das ist Ute. Übrigens wußte ich nicht, dass du da bist, sonst hätte ich nicht unsere schöne Landschaft aktiviert. Hoffentlich hat es deinen Computern nicht geschadet“.
„Es hat gerade angefangen zu schaden“, entgegnete Siegfried vorwurfsvoll. "Ich hab das Ding sofort ausgeschaltet. Ich konnte vor Flimmern nichts mehr auf dem Bildschirm erkennen.“
Und dann versöhnlicher: „Tut mir leid, ich konnte ja nicht wissen, dass Besuch da ist.“
„Und was für Besuch! Wir haben das Mädchen heute in Rolands Klause gefunden. Sie weiß aber nicht, wie sie da hingekommen ist. Ute weiß nichtmal mehr, wer sie ist und woher sie kommt. Nur soviel haben wir bisher festgestellt, dass sie aus einer anderen Zeit stammen muß.“
„Is nicht wahr!“ entfuhr es Siegfried. Wieder betrachtete er das Mädchen eingehend. Schließlich wandte sich Ute hilfesuchend an ihre Beschützerin. „Du hattest mir doch was Ordentliches zum Anziehen versprochen. Könnten wir vielleicht jetzt…?“
„Ja, natürlich, du Ärmste. Komm, das bringen wir gleich in Ordnung! – Bis später, Siegfried!“
Damit zog sie Ute mitten hinein in die spiegelnde Wand, die eben noch ein fernes Gebirge dargestellt hatte. Von einer Türe war nichts zu bemerken. Ute konnte nun doch nicht alles schlucken, was ihr da an Neuigkeiten geboten wurde. „Was geht denn in diesem Hause vor, Edda? Erst sind wir in einem Freisitz mit wunderbarer Aussicht, dann ist es wieder ein ganz normaler Raum, der allerdings keine Türen hat. Leute kommen aus den Wänden und ver-schwinden darin, so wie wir jetzt… Bestehen die Wände aus einem riesigen Bildschirm, auf den man Bilder projektieren kann oder wie funktioniert denn das alles?“
„Na ja, so ähnlich, könnte man sagen“, gab Edda bereitwillig Auskunft. „Man holt sich über Satelliten ein beliebiges Motiv aus der Natur und integriert es in eine der Hauswände. Ich habe den Sender auf gut Glück hereingeholt und es war diese hübsche Landschaft. Natürlich gibt das Störungen bei laufenden Monitoren. Ich wußte ja nicht, dass noch jemand im Haus ist. Hab ich nur für dich eingeschaltet, damit du dich ein bißchen wohler fühlst in unserer neuen Welt. Auch das Airset draußen ist kein wirklicher Wauwau. Nur ein imaginäres Bild davon. Es ist ins Material eingearbeitet und lässt sich beliebig aktivieren. Du sollst nicht glauben, dass du in einer Welt voller Zauberei gelandet bist. Es ist alles ganz natürlich und erklärbar.“
„So ist das also. Und deswegen konnte dein Mann nicht weiterarbeiten.“
„Das ist nicht ‚mein’ Mann. Er gehört niemandem. Höchstens sich selber. Ich weiß aus Romanen, dass man früher einmal einander angehörte auf Gedeih und Verderb. Und das bis an sein Lebensende. Du – ich bin schrecklich neugierig auf dich!“
Sie waren in einem neuen Raum angelangt. Licht flutete von oben herab, sonnenhelle Wände vermittelten einem sofort ein angenehmes Gefühl. Es duftete zart nach Orangenblüten und überall standen so eine Art Kleiderständer herum, die Eddas Maße hatten. Darüber waren Kleidungsstücke gestreift, so dass man auf den ersten Blick sehen konnte, wie so ein Gewand am Körper aussah. Erstaunt sah sich das fremde Mädchen um. Wieder ergötzte sich die Gastgeberin an der Überraschung, die sich ihrem Gast bot. „Du kannst gerne alles anprobieren“, schlug sie vor. „Oder soll ich dir helfen?“
„Oh ja, bitte. Fürs erste ist das zuviel für mich, glaub ich. Nur, am liebsten hätte ich jetzt gern ein schönes, langes Kleid Ich bin so lange in diesen Shorts herumgelaufen, dass es mir allmählich unerträglich wird, immer so angestarrt zu werden.“
„Das glaub ich dir gerne, Ute. Schau mal, wie wär es mit dem?“ Damit reichte sie Ute ein rotes Sommerkleid mit schmalen Trägern und freizügigem Ausschnitt. Es stand ihr ausgezeichnet, reichte bis fast an die Knöchel und gab ihr endlich das Gefühl, wieder richtig angezogen zu sein. Ute betrachtete sich wohlgefällig in einer der Spiegelwände.
„Sieht gleich ganz anders aus, phantastisch! Vielen Dank auch.“
„Und Schuhe lassen wir dir morgen anpassen. Vielleicht kannst du inzwischen welche von mir tragen.“ Und wieder stand das Mädchen aus der Vergangenheit vor einer verwirrenden Vielzahl von Schuhwundern. Auch jetzt mußte Edda eingreifen. Mit sicherer Hand wählte sie ein Paar aus, was Ute dankbar annahm.
„Was heißt anpassen? Solche Umstände brauchst du dir doch nicht zu machen, Edda. Gehen wir einfach welche kaufen, das geht schneller.“
„Nein, nein, ist schon in Ordnung so. Schuhläden gibt es nur für gebrauchte Schuhe. Sonst geht man zu einem Spezialisten, der orthopädisch ausgebildet ist und lässt sich seine Schuhe genau nach Maß anfertigen. Man will doch gesunde Füße behalten, nicht wahr!“
„Komisch“, wunderte sich Ute, „bei uns war das ganz anders. Da ging man zum Orthopäden nur, wenn man irgendeinen Schaden an den Füßen hatte, sodaß man normale Schuhe nicht tragen konnte. Und was man dann bekam, war nicht gerade modisch. Nur noch gesund.“
„Siehst du, die Menschheit hat doch Fortschritte gemacht. Heutzutage ist das viel besser geregelt.“
„Und wie lange muß ich dann auf meine Schuhe warten?“
„Bis übermorgen müssen wir uns schon gedulden. Meinst du, so lange hältst du es in meinen Schuhen aus?“
„Aber ja, natürlich! Wenn du sie nicht brauchst. Sie sind wunderbar bequem.“
„Na gut, dann wollen wir mal zurück zu Siegfried. Ich glaube, wir sind ihm eine Erklärung schuldig. Hoffentlich hab ich ihm nicht zu sehr in seine Arbeit gepfuscht. Er sitzt an einer sehr aufwendigen Rechnerei für sein neues Projekt. Täte mir leid.“
Als sie in den runden Salon zurückkamen, war er leer. Siegfried war zu seinen Computern zurückgekehrt. „Das haben wir gleich“, sagte Edda und setzte sich an den monitorbeladenen Schreibtisch. Sie tippte eine Taste an, Siegfrieds Kopf erschien auf der Bildfläche.
„Wir sind jetzt soweit. Kannst du noch mal rüberkommen?“
„Seid mir nicht böse, aber ich kann jetzt gerade nicht weg. Obwohl ich sehr neugierig bin. Wie wär’s beim Essen?“
„Gut, bis dann also.“
Ute hatte sich inzwischen auf die einladende Couch gesetzt. Eddas Haar schimmerte in dem von irgendwoher kommenden Licht blauschwarz, ihre rot eingefärbten Wimpernenden stachen auffallend ab, Ute hatte aufgehört sich zu wundern. Eigentlich war sie nur noch müde. Die vielen Fragen, das Ungewohnte dieser neuen Welt, ihre eigene Unsicherheit und das Gefühl, hier nur als interessanter Eindringling zu gelten, machten sie mutlos.
Edda drehte sich lächelnd um. „Du hast es gehört, Ute. Man hat im Moment keine Zeit für uns. Nun gut, kümmern wir uns ums Essen. Du wirst bestimmt auch Hunger haben. Ich hab jedenfalls welchen.“ Ute nickte ergeben. „Bleib einfach sitzen“, sagte Edda, „es dauert nicht lange.“
Ute zog ihre Schuhe aus und legte sich probehalber zurück. Ein herrliches Gefühl! Ob sie es sich erlauben konnte, ganz kurz die Augen zuzumachen? War ja niemand da, der es sehen konnte. Nein, nicht schlafen, sagte sie sich vor. Wie unhöflich von ihr, wenn Edda oder gar Siegfried zurückgekommen wäre und sie schlafend vorgefunden hätte. Wo sich jeder soviel Mühe um sie gab. Nein, nicht schlafen! Der zarte Orangenduft umgab sie wieder, ein angenehm frischer Lufthauch durchzog den Raum, ihr Körper entspannte sich – und weg war sie. Ihr Geist, ihr Empfinden fanden zurück über 200 Jahre Vergangenheit, wohliger Frieden umgab sie, Düfte begleiteten sie in den Schlaf – ihr Körper verband das Ruhegefühl mit derselben Empfindung seinerzeit in der Hängematte, als sie unter Apfelbäumen in einem duftenden Garten eingeschlafen war.
Edda brachte es nicht über sich, das Mädchen zu stören. Sie rief nur Siegfried herbei und zu zweit betrachteten sie das anmutige Bild des auf die Couch hingegossenen Mädchens in ihrem langen roten Kleid, friedlich schlummernd und unschuldig wie ein Engel.
„Kann man nichts machen“, meinte Siegfried schließlich. „Du kannst mir ja beim Essen alles erzählen.“ Sie entfernten sich leise.
Nun hatte Edda aber auch noch anderes zu tun, als Kindermädchen zu spielen. Sie musste zurück ins Institut. Siegfried erbot sich, auf die Kleine aufzupassen und notfalls seine Rechnerei sein zu lassen. Als Edda gegangen war, legte er eine leichte Decke über die Schlafende und ging wieder an seine Arbeit. Um sicher zu sein, Utes Aufwachen nicht zu verpassen, schaltete er den Bildschirm ein, der ihm das Wohnzimmer zeigte. So war vorläufig für alle bestens gesorgt.
Ute erwachte erst Stunden später. Ihr Geist war klar, nichts trübte mehr ihr Erinnerungsvermögen. Doch wo war sie? Dieses runde Zimmer - es kam ihr bekannt vor. Und dann fiel ihr alles wieder ein. Ein unsagbar beklemmendes Gefühl bemächtigte sich ihrer. „Nein!“ keuchte sie, „nein, das ist nicht möglich. Da muß doch jemand sein, den ich fragen kann.“ Sie stand auf. „Hallo!“ rief sie. „Ist da jemand? Hallo!!!“ Die Stille war bedrückend. Nur raus hier, raus an die frische Luft! Der luxuriöse Raum erschien ihr gleichfalls wie ein virtuelles Bild, wie so viele, die sie bisher erlebt hatte. Aber wie kam man hier raus? Sie geriet in Panik, begann zu schreien, schrill und hysterisch. Auf einmal stand Siegfried vor ihr. Wieder erschien es Ute wie Zauberei. Wie um alles in der Welt war er hereingekommen? Starr, barfuß und mit offenem Mund stand sie mitten im Zimmer.
„Ute, um Gottes Willen, was ist denn passiert?“ Sie starrte ihn nur an. „Erinnerst du dich nicht mehr? Ich bin Siegfried. Edda musste wieder zurück ins Institut.“
„Natürlich erinnere ich mich“, sagte Ute barsch. "Und nennen Sie mich nicht Ute. Ich heiße Jutta, Jutta Andreß, wenn Sie es genau wissen wollen. Und jetzt möchte ich hier raus. Lassen Sie mich bitte gehen!“
„Dann wissen Sie also wieder, wer Sie sind“, ging Siegfried sofort auf Utes förmliche Anrede ein. „Ich werde gleich Edda verständigen. Nur einen Augenblick!“
„Nein, lassen Sie mich raus, auf der Stelle!“ barschte sie ihn weiter an. Siegfried war verdattert. „Wie Sie wollen, Sie sind hier nicht eingesperrt. Bitte!“ Er zeigte mit der ausgestreckten Hand in eine Richtung, wo sich tatsächlich die Wand beiseite schob und den Blick auf einen schattigen Gartenweg freigab. Hohes Gebüsch und blühendes Gewächs wölbte sich darüber, Sonnenkringel spielten auf dem Boden. Jutta lief hinaus. Im Nu war sie hinter der Wegbiegung verschwunden, und fand sich ja doch gleich wieder an einer Wand. Wohin sie auch sah, nirgends ein Ausweg, nirgends eine Tür, die sich öffnen ließ. Gut, sie waren durch die Luft gekommen, aber trotzdem. Wo ein Pfad ist, muß auch eine Tür nach draußen sein. Jutta kroch durchs Gebüsch, es erwies sich als undurchdringlich. Völlig entmutigt setzte sie sich hin, wo sie war, barg ihren Kopf in den Armen. Wäre sie doch nur tot, dann hätte sie wenigstens einen sicheren Platz, wo sie hingehörte. Sie glaubte keine Seele mehr zu spüren, nichts mehr, was einen zu einem lebenden Wesen macht. Sie war nur noch eine Hülle, angetan mit einem roten Kleid, ohne Geist, ohne Willen, ohne Empfindung außer derjenigen der vollkommenen Fremdheit und Verlorenheit.
Siegfried hatte natürlich sofort Edda verständigt und sich dann auf die Suche nach Ute, bzw. Jutta gemacht. Er fand sie auch, getraute sich aber nicht, sich ihr bemerkbar zu machen. Ungeduldig wartete er auf seine Gefährtin. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie mit ihrem Airset landete. Diesmal fand keine Verwandlung in einen Hund statt. Siegfried kam ihr entgegen. „Sie sitzt da hinten am Gartenzaun. Was machen wir bloß mit ihr? Sie ist völlig durcheinander, nicht ansprechbar.“
„Laß nur, Siegfried, ich mach das schon!“ beruhigte ihn Edda. Dann ging sie leise auf Jutta zu, blieb einige Schritte von ihr entfernt stehen. Das Mädchen erkannte sie sofort an ihrem Geruch, blickte aber nicht auf.
„Du heißt also Jutta“, begann Edda sanft. Nichts, keine Reaktion. „Jutta, wir müssen uns damit auseinandersetzen, es hilft alles nichts“, fuhr sie fort. „Außerdem musst du etwas essen. Komm wieder herein!“ Jutta sah sie mit leerem Gesicht an, stand auf. Siegfried beobachtete vom Haus aus die Szene. ‚Sie wäre eine gute Dompteurin geworden’, dachte er, ‚ihr genügen ein paar Worte und jeder tut, was sie will. Ich ja auch!“ seufzte er.
Jutta fand sich wieder an einem gedeckten Tisch, Siegfried holte aus einem Wandfach verschiedene Speisen und stellte sie in die Mitte. Dann saßen sie drum herum, Edda ermunterte sie zuzugreifen und Jutta stellte immerhin fest: „Anscheinend hat sich wenigstens beim Essen nicht allzu viel verändert. Nur das Dessert kommt mir verdächtig vor. Kenn ich nicht.“
„Dann lern es halt kennen“, lächelte Edda ihr zu. Die wohlschmeckende Mahlzeit tat Wunder. Danach saßen sie wieder im Wohnzimmer um einen kleinen Couchtisch herum und Jutta gab gerne preis, was sie über sich wußte.
„Wir haben in der Nähe von Pfaffenhofen gewohnt, in Bayern, wisst ihr. Gibt es Bayern noch?“
„Wir leben da“, mischte sich Siegfried ein. „Pfaffenhofen ist auch nicht weit von hier. Aber ich glaube, du würdest es nicht wiedererkennen. Darf ich wieder ‚du’ zu dir sagen?“
„Natürlich, wenn das so üblich ist bei euch“, gab Jutta zu. „Wir hatten ein kleines Einfamilienhaus mit einem Obstgarten. Ich war auf dem Internat und bin in den Ferien zu meinen Eltern nach Hause gefahren. Unseren Garten hab ich oft vermisst. Es gab da eine Hängematte, in der bin ich oft eingeschlafen…“ erzählte Jutta verträumt.
„Sieht aus, als wärst du gerade aus deiner Hängematte gekommen, so wie du gekleidet warst“, meinte Edda. „Wie alt warst du denn damals und was wolltest du einmal werden?“
„Ich war fast siebzehn“, erinnerte sich Jutta, „und ich wollte Designerin in der Textilbranche werden. Ich hatte schon einen Ferienjob in Aussicht. Ich hab mich wohl zu Hause gefühlt, bei meinen Eltern, in unserem stillen Garten. Ob es den noch gibt?“
„Das werden wir schnellstens herausfinden“, versprach Edda. Allerdings darfst du nicht wieder einfach verschwinden, wir brauchen doch einander, nicht?“
„Wann? Wann, Edda, wollen wir das tun? Mit deinem Airset wäre es doch eine Kleinigkeit, einmal eine Runde über meine alte Heimat zu drehen.“
„Das wäre es, wenn du ein ganz normaler Besuch wärst. Aber so streitet man sich darum, der erste zu sein, der deine Vergangenheit aufklärt. Könntest du mir noch bis morgen Zeit geben?“
„Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Ihr habt es doch in der Hand, was mit mir geschieht!“ sagte Jutta vorwurfsvoll. Siegfried warf Edda einen bedeutungsvollen Blick zu. ‚Laß es nicht zuviel werden’ hieß das wohl.
„Nicht ganz, Jutta, du bist nach wie vor ein freier Mensch und kannst selbst entscheiden.“ „Ich weiß nur nicht, was“, erwiderte diese erbittert.
Ein Glockenspiel ertönte und in der Wand erschien das Gesicht von Prof. Liebrecht.
„Wir warten auf Sie, Edda. Sie haben doch nicht etwa Ihr Versprechen vergessen?“
Edda antwortete etwas verlegen: „Tut mir leid, Professor, wir hatten hier noch etwas Persönliches zu klären. In 15 Minuten bin ich bei Ihnen.“ „Gut, bis dann also“, sagte das Gesicht und der Bildschirm erlosch. Kurz darauf war Siegfried mit dem Mädchen wieder allein.
Wie jedes Mal, wenn Edda sie verließ, war es Jutta, als überzöge sich ihr Inneres mit einer Gänsehaut. Und Siegfried, der Mathematiker, wußte sich nicht zu helfen. Lauernd saß er am Tisch und beobachtete gespannt jedes Mienenspiel, das sich auf Juttas Zügen abzeichnete. Zurück in seine Bude konnte er nun nicht gut. Die Kleine allein lassen kam nicht mehr infrage. Alles andere stand ihm nicht zu. Zu jeder Aktivität das Mädchen betreffend hätte es zumindest einer Rückfrage im Institut, wo es gefunden worden war, bedurft. Trotzdem, so konnte es nicht bleiben. Siegfried, schon von den Nibelungen her ein Held, beschloß, sich über alle Hemmnisse hinwegzusetzen und auf eigene Faust zu handeln.
„Wollen wir beide einen Ausflug über das Land machen?“ schlug er vor. "Du darfst aber nichts verraten, sonst komm ich in des Teufels Küche.“
„Das würdest du tun?“ freute sich Jutta. „Aber ja, natürlich, alles ist besser, als so eingesperrt herumzusitzen. Gehen wir gleich?“
Selbstverständlich gingen sie gleich. Siegfrieds Airset wartete in dessen kleinem Hangar und war – Gottseidank – nicht verwandelt. Ungeduldig nahm Jutta Platz und Siegfried startete, wenn auch mit schlechtem Gewissen.
Das Airset stieg hoch über das kleine Kuppeldorf, drehte eine weite Schleife über das Waldgebiet und flog dann Richtung Ammersee. Auch ihn hätte Jutta nicht wiedererkannt. Eingebettet in tiefe Wälder lag er da wie ein Juwel, von Industrie und Zersiedelung wie in ihrer Zeit war nichts zu sehen. Sie überflogen die Berge, vergeblich suchte das Mädchen aus der Vergangenheit nach den vertrauten Dörfern und Städten.
„Kommt dir denn gar nichts bekannt vor?“ fragte Siegfried. „Zumindest auf dem Land kann sich doch nicht soviel verändert haben.“
Jutta war ganz rot vor Angespanntheit und Aufregung. „Wo ist denn München? Wo ist Pfaffenhofen, wo sind denn all die vielen Siedlungen hingekommen? Es sieht ja aus, als hätte da nie etwas gestanden.“
„Wir hätten dich früher darauf vorbereiten sollen“, gab Siegfried zu. „Aber wir wollten dir nicht jede Illusion nehmen. Vielleicht hättest du doch das eine oder andere wiedererkannt.“
„Was ist geschehen? Wo sind die Menschen hingekommen? Hat es eine Naturkatastrophe gegeben, ein Erdbeben oder sonst was? Es ist unheimlich, Siegfried!“
„Nein, keine Katastrophe in dem Sinn. Man ist einsichtiger geworden. Wenn ich nur wüsste, aus welcher Zeit du stammst! Dann könnte ich dir viel gezielter erzählen, wie sich alles entwickelt hat. An welche Geschehnisse soll ich anbinden? Erzähl doch mal, wie haben deine Städte ausgesehen, wonach hat man sich im großen und ganzen gerichtet?“
„Unsere Städte waren groß, weit ins Land hineingebaut, es gab viel Industrie, viel Luftverschmutzung, das weiß ich noch. Das war ein echtes Problem bei uns. Aber so recht wußte man nicht, wie man das in den Griff bekommen sollte. Die Menschen wurden ja immer mehr, die Bedürfnisse immer größer, also brauchte man viel Industrie.“
„Industrie gibt’s bei uns auch. Ohne geht’s ja nicht. Aber das spielt sich alles unter der Erde ab.“
„Das muß ja trostlos sein. Unter der Erde! Wie in einem Bergwerk. Die armen Menschen, die da arbeiten müssen!“
„Aber nein, was denkst du denn!“ rief Siegfried aus. „Da unten arbeiten natürlich nur Roboter. Doch keine Menschen!“
„Ja, dann ist es eine ganz gute Idee“, gab Jutta zu. „Ich kann mir bloß nicht vorstellen, wie das zugehen soll. Man sieht ja gar keinen Rauch und keine Abgase, wie sie doch typisch sind für Industriegebiete, auch wenn sie unter der Erde liegen.“
„Das liegt wohl daran, dass wir heute ganz andere Energiequellen haben als ihr seinerzeit. Siehst du, für mich ist es zum Beispiel eine fürchterliche Vorstellung zu denken, dass diese riesigen Industrieanlagen über der Erde gelegen hatten. Das muß doch die ganze Landschaft verschandelt haben. Ganz abgesehen von dem Lärm und den Abfallprodukten. Es müssen damals schreckliche Zustände geherrscht haben, wenn sich alles an der Oberfläche abgespielt hat.“
„Es waren auch schreckliche Zustände“, gab Jutta zu. „In manchen Städten gab es Tage, da konnte man draußen nicht mehr atmen wegen dem Smog aus den Fabriken und es durften nur die Leute Auto fahren, die es unbedingt mußten. Ärzte und so. Die Fenster mussten geschlossen bleiben, die Leute bekamen häufig Atemwegsbeschwerden – es gab schon oft Probleme.“
„Das ist Gottseidank vorbei!“ sagte Siegfried. „Heute wissen wir, dass wir Wälder und Wiesen brauchen, um unsere Atmosphäre zu erhalten. Wir brauchen sauberes Wasser für Mensch und Tier. Dieser Wahnsinn mit dem ständigen Wachstum der Menschheit und des Konsums hat schon lange ein Ende. Es war eine verrückte Einstellung damals.“
„Ja, allerdings. Andrerseits war dieser hohe Konsum nötig, um Arbeitsplätze zu schaffen. Ach, man könnte sich stundenlang über das alles unterhalten.“
„Das tun wir sicher noch oft. Schau mal, da unten, da siehst du Dörfer. Und Viehweiden. Das ist dir sicher alles bekannt.“
„Schon, nur kommt es mir vor, als gäbe es viel weniger Häuser. Und das viele Grün!“
„Ja, allerdings, das könnte schon sein, dass es sich geändert hat. Es gibt wirklich viel weniger Menschen als früher. Deswegen sind auch viele Häuser unbewohnt geblieben. Da kam man auf die Idee, sie eben wieder abzureißen und dafür Weide- und Ackerland zu schaffen oder auch Wälder.“
„Aha“, staunte Jutta nur. "Aber wo ist Pfaffenhofen, wo ist München? Wir sind doch da in der Gegend, oder nicht?“
„Doch, sind wir. Wir sind sogar fast von Pfaffenhofen aufgebrochen. Es hat mich gewundert, dass du das nicht gemerkt hast.“
„Keine Spur. So große Städte können doch nicht einfach verschwinden oder unter die Erde verlagert werden. Kann ich mir nicht vorstellen.“
„Natürlich nicht. Es liegt vielleicht daran, dass man heute anders baut, die Siedlungen sind völlig in die Landschaft integriert. Die Baustoffe sind auch nicht mehr so grell und auffallend wie früher. Aber es gibt viele alte Stadtkerne, sogar mit Kirchen, allerdings zwischen Bäumen versteckt. Wenn ich mehr Zeit hätte, gingen wir mal runter und ich würde dir alles aus der Nähe zeigen.“
„Aber München – da müssen wir unbedingt noch hin. Geht das?“
„Aber nur ganz kurz.“
Das Airset legte einen Zahn zu und sie flitzten nur so dahin. Die Landschaft kam Jutta ganz fremd vor. Überall wogte der Wald, die Autobahnen waren kaum befahren, Airsets blitzten in der Sonne und von ferne glänzte und schimmerte es von wahren Kristallbauten, hochgezogen aus Glas und diesem grau schimmernden Material, das sie nicht kannte. Siegfried zog sein Airset höher, um den Berufsverkehr nicht zu behindern. Es waren verschiedene Höhen festgelegt für die unterschiedlichen Arten der Flugziele. Die unterste Region war dem Stadt- und Berufsverkehr vorbehalten. Auch die Straßen am Boden wurden benutzt. In 300m Höhe flogen die Fernfahrer von auswärts, in 500 m Ausflügler, zu denen sie jetzt gehörten und noch weiter oben zogen die großen Jets und Verkehrsflugzeuge ihre Bahnen. Hielt man sich daran, kam man ohne Stockung vorwärts. Besser, als seinerzeit, wo jedermann die gleiche Autobahn für eine bestimmte Richtung benutzen musste und immer wieder Staus verursacht wurden.
Jutta war beeindruckt. „Endlich keine Abgase mehr“, freute sie sich. „Und es gibt wirklich keine Industriegebäude mehr an der Oberfläche? Und die unendlichen Gewerbegebiete? Sind die auch unter der Erde?“
„Ach Jutta, ich seh schon, da gibt’s noch viel zu erklären. Nein, nicht alle. Gewerbegebiete in dem Sinn braucht man nicht mehr. Die Lager sind unter der Erde und ansehen kann man sich die Produkte am Bildschirm. Auch kaufen. Die Ware wird einem dann zugestellt. Jedenfalls siehst du, dass es München noch gibt. Und sogar noch viele alte Gebäude. Sie sind denkmalgeschützt und würden dich sicher sehr an deine Heimat erinnern.“
„Ach, da möchte ich so gern einmal hin.“
„Das glaub ich dir“, räumte Siegfried ein, „aber jetzt müssen wir ganz schnell wieder zurück, sonst kriegen wir Schwierigkeiten.“
Damit drehte er eine scharfe Kurve und segelte zurück zu seinem Kuppeldorf. Jetzt, wo sie die Zusammenhänge so einigermaßen kannte, war Jutta nicht mehr ganz so traurig. Es gefiel ihr sogar und ihre Neugier war erwacht. Sie musste Edda unbedingt dazu bringen, mit ihr dahin zu fliegen, wo einst ihr Elternhaus gestanden hatte. Vielleicht gab es auch alte Aufzeichnungen, was mit ihren Leuten geschehen war. Womöglich lebte ein Nachfahre ihrer Familie noch! Eine aufregende Vorstellung.
Als sie in Siegfrieds kleinen Hangar einschwebten, sahen sie Eddas Airset im Hof stehen. Siegfried ließ sich zwar nichts anmerken, aber in seinem Gesicht stand ein einziges „Oh je!“ Edda saß an ihrem Computertisch. Jutta hätte sie fast nicht erkannt. Heute trug sie ihr Haar seitlich hochgesteckt zu einem kunstvollen Kringel. Es sah richtig festlich aus und passte auch zu dem engsitzenden tiefblauen Gewand, das sie diesmal ohne Schleierüberwurf trug. Brauen, Wimpern und Fingernägel schimmerten in derselben Farbe, ihre Lippen waren dunkelrot geschminkt, auch fast mit einem Hauch ins Bläuliche. Sie sah sehr ernst aus.
„Hallo, Edda, bist du schon lange da?“ begrüßte sie Siegfried. Jutta sagte gar nichts.
„Lange genug, um euer Verschwinden zu bemerken“; antwortete sie kühl. „War keine sehr gute Idee von dir, Siegfried. Ich hatte den Auftrag, mich mit dem Kultusminister zu treffen und sollte unser Findelkind mitbringen. Man will Jutta auch höhernorts kennenlernen, gerade jetzt, wo sie ihre Identität wieder erlangt hat.“
„Es ist doch noch nicht zu spät, oder? Und Jutta ist jederzeit startklar.“ Er sah zu ihr hin. Jutta machte ein betretenes Gesicht. Sie nickte. Jedoch Eddas ernste Miene heiterte sich nicht auf. „Ich muß mal mit dir sprechen“, sagte sie zu Siegfried. „Du entschuldigst uns einen Moment, Jutta!“ Schon wieder waren sie durch die Wand verschwunden, ohne dass sie bemerkt hätte, wie das funktionierte. Sie setzte sich auf die Couch zwischen den Grünpflanzen und wartete. Diese Welt behagte ihr ganz und gar nicht. Nicht einmal zu wissen, wie man Türen öffnet oder Fenster, ja, sie war sich nicht einmal sicher, dass diese gläsernen Flächen Fenster waren oder wieder nur Bildschirme. Sie vermisste die Sonne, die Vögel, das Draußen.
Edda aber fiel ziemlich unwirsch über ihren Partner her.
„Eine nette Kleine, Siegfried, was? Sie muß dich ja mächtig beeindruckt haben, dass du sogar deine Computer in Stich gelassen hast. Tu so was nie wieder! Verstehst du? Nie wieder.“
Es klang bedrohlich. „Was ist nur in dich gefahren, Edda!“ gab er vorwurfsvoll zurück. "Du glaubst doch nicht etwa, dass da was wäre! Was sollte ich denn machen? Sie wollte so gerne ihre alte Heimat sehen, da sind wir eben kurz gestartet. Ich konnte doch nicht gut die ganze Zeit über dasitzen und blöd dreinschaun. Außerdem hat sie mir leidgetan. Versetz dich doch einmal in ihre Lage!“
Edda schnitt ihm das Wort ab. „Jedenfalls kann sie nicht weiter hier wohnen. Im Institut gab es eine Riesendiskussion. Man will, dass sie dort zur Verfügung steht. Meine Einwände wurden kurzerhand unter den Tisch gekehrt mit dem Hinweis, man wisse noch nicht, ob sie als Staatsbürgerin gelten kann oder als archäologisches Fundstück, grob ausgedrückt. Prof. Liebrecht beharrt natürlich auf der letzteren Version. Man hat mich gebeten, Jutta zunächst mal dem Kultusminister vorzustellen und dessen Meinung abzuwarten. Du wirst also auf sie verzichten müssen.“
Eddas Schärfe verletzte den Mann. „Verzichten? Wer hat sie uns denn ins Haus geschleppt? Ich kann gut und gern auf weitere Mitbewohner verzichten. Was hättest du denn gemacht, wenn ich nicht für dich eingesprungen wäre?“
„Eingesprungen nennst du deine Eigenmächtigkeiten! Über deine Position in diesem Haus müssen wir sowieso einmal reden. Aber genug jetzt. Ich muß los. Und Jutta kommt mit!“
Plötzlich stand sie wieder vor ihrem Schützling, liebenswürdig lächelnd wie immer.
“Na? Wie fühlst du dich in der neuen Welt?“ fragte sie unverbindlich. „Hat dich Siegfried ein bißchen aufgeklärt? Er lässt sich übrigens entschuldigen. Einer seiner Computer ist abgestürzt während er weg war. Aber wir müssen ohnehin gleich los. Wir dinieren mit dem Kultusminister. Wir müssen dich vorher noch dementsprechend einkleiden.“
Aber anstatt in die Kleiderkammer führte Edda das verduzte Mädchen hinaus zu ihrem Airset. Sie hatte es so eilig, dass Jutta nicht einmal dazukam, irgendwelche Fragen zu stellen. Edda schien auch so konzentriert und abwesend, dass sie beschloß, erst einmal abzuwarten. Diesmal kamen sie nicht einmal am Institut vorbei. Sie flogen in eine völlig andere Richtung und dann kam ein Gebäude in Sicht, bei dem Juttas Herz direkt einen Freudenhupfer machte. Es sah aus wie ein uraltes Schloß oder Stift, richtig mit rotem Ziegeldach und dicken Mauern. Das Airset segelte hinab, glitt eine breite Zufahrt entlang, direkt auf das altertümliche reich verzierte Portal zu. Das öffnete sich von selbst und gleich darauf parkten sie in einem wunderschönen Schlosshof. Der ehemalige Rosengarten diente nun als Parkplatz für moderne Airsets, die ganz sachte darin landeten und keinerlei Beschädigung verursachten. „Was ist das denn? Sind wir in meine Zeit zurückgekehrt – oder was?“ entfuhr es Jutta.
„Das wirst du gleich sehen“, tat ihre Begleiterin geheimnisvoll. Dann eilte sie mit ihr die breite Freitreppe hinauf, die altehrwürdige Eingangstür schwenkte nach innen und dann standen sie in einem feudalen Vestibül, dessen Einrichtung an die Pracht vergangener Jahrhunderte erinnerte. Empfangen wurden sie durch ein plötzlich aufflammendes Bild dem Eingang direkt gegenüber. Ein glatzköpfiger Herr mit Spitzbart und Talar lächelte ihnen entgegen. Enttäuscht musste Jutta einsehen, dass sie sich sehr wohl noch in einer Zeit der Zukunft befanden. „Herzlich willkommen, die Damen“, sagte der Spitzbart. „Bitte legitimieren Sie sich.“ Edda tippte mit der Hand leicht an ihre Stirne und wies die Handfläche kurz dem Bild mit dem Herrn entgegen. „Danke“, sagte dieser, „ich bin gleich bei Ihnen..
Und nun kam er persönlich aus dem Hintergrund geschritten. Eine beeindruckend hohe Persönlichkeit, die trotz seines lächelnden Charmes Bedrückung in Jutta auslöste. „Sie sind ja bereits angemeldet, wir wollen keine Zeit verlieren. Folgen Sie mir bitte in den Fundus.“
Jutta machte große Augen. „In den Fundus? Das klingt ja nach Theater! Ich dachte, wir wollten zum Kultusminister!“
„Danach, meine Kleine. Zuerst müssen wir dich richtig rausstaffieren. Meine Recherchen haben ergeben, dass du etwa vor zwei- bis dreihundert Jahren hier gelebt hast und dementsprechend soll deine Kleidung ausfallen. Damit wir dem Herrn Minister gleich ein richtiges Bild von der Bedeutung deines Erscheinens in unserer Welt geben können.“
„Dann sind wir hier in einem Museum?“ wollte Jutta wissen.
„Zumindest ist es eines unserer ältesten Gebäude mit Relikten aus verschiedenen Jahrhunderten. Du darfst dir selbst raussuchen, was du passend für deine Zeit hältst.“
„Dann werde ich wohl auch als so eine Art Relikt vorgeführt“, bemerkte Jutta.
„Oh, als viel mehr. Du lebst ja und kannst in Fleisch und Blut Auskunft geben über deine Zeit. Ist doch klar, dass du für uns von unschätzbarem Wert bist. Aber nun müssen wir sehen, dass wir fertig werden. Wir können den Herrn Minister nicht warten lassen.“
Jutta war sprachlos von der Vielfalt an Kleidungsstücken aus allen möglichen Zeitaltern. Der Herr im Talar, der diesen Fundus verwaltete, wies sie gleich in die richtig Abteilung und Jutta wühlte selig in Kleidungsstücken ihrer Zeit, von denen sie in ihrem wirklichen Leben nur hätte träumen können. Doch obwohl sie einen guten Geschmack zeigte und bezaubernd in einem eleganten Abendkleid ausgesehen hätte, steckte man sie schließlich in ein Münchner Dirndl. Sie musste sich damit abfinden.
„Aber jodeln muß ich nicht, oder?“
„Jodeln? Wie geht das denn?“ wollte Edda sofort wissen. „Das ist so eine Art singen, aber ich kann das gar nicht. War nur ein Scherz.“
„Wäre aber ganz nett, wenn Du uns was vorjodeln könntest. Es ist ja so vieles in Vergessenheit geraten, was früheres Brauchtum angeht.“
Der Kultusminister erwies sich als äußerst liebenswerter, einfühlsamer älterer Herr. Behutsam versuchte er, dieses Interview nicht als Befragung, sondern eher als ein Wiedersehen mit einem lange vermißten Gast zu gestalten. Am Jodeln kam Jutta zwar vorbei, dennoch wühlte sie die Erinnerung an das tägliche Leben in den Jahren um die Zweitausenderwende auf. Sie war rechtschaffen müde, als sie in der zweiten Nachthälfte endlich nach Hause gebracht wurde. Was heißt ‚zu Hause’! Edda hatte nicht vor, sie auch nur eine Stunde länger als nötig in ihrer privaten Umgebung zu lassen. Siegfrieds Ausflug während ihrer Abwesenheit kam ihr denn doch zu bedenklich vor. Auch wenn sie in einer aufgeklärten und höchst freizügigen Welt lebten, diese Urinstinkte ließen sich nicht unterdrücken. Höchstens überlagern. Edda hatte sich bereits entschlossen, ihren Schützling wieder der Obhut des Instituts zu übergeben.
Für heute wurde Jutta in einem Zimmer mit Blick auf den Garten einquartiert. Der Raum war nach anthroposophischen Gesichtspunkten angelegt und die richten sich nach der Natur. Es gab stumpfe und spitze Winkel, unterbrochen von einer Rundung, völlig verglast, es war wohl so etwas wie eine Verandatür. Der Mensch verlangt im Unbewussten nach diesen natürlichen Umständen und fühlt sich viel wohler in der Unsymmetrie, als in einer mathematisch wohlgeordneten Umgebung. Sie schlief wie ein Murmeltier und als sie erwachte, wurde sie von Edda bereits empfangen. Sie nahmen wieder zu dritt das Frühstück ein, wobei Siegfrieds Verhalten ihr gegenüber sichtlich distanzierter war. Auch zwischen ihm und Edda herrschte eine kühle Freundlichkeit. Jutta hielt sich zurück, wußte sie doch nicht, welche Umgangsformen man heute pflegte. Der versprochene Gang zum Orthopäden fiel aus, dafür wurde sie wieder zurück ins wissenschaftliche Institut gebracht. Auf ihre Frage vertröstete sie Edda nur mit einem knappen ‚später, später’. Wieder landete die Fremde in dem Raum, in dem sie mit Ingbert auf einer Couch gesessen hatte, umringt von einem dichten Kreis dort Beschäftigter. Auch diesmal drängte die Belegschaft herein. Viele versuchten, ein paar freundliche Worte an sie zu richten, dann erschien Prof. Liebrecht und alles verstummte. Jutta saß wie ein Ausstellungsstück da in ihrem roten Kleid mit den hübschen Schuhen an den Füßen, ihr braunes Haar wallte in offenen Wellen über Hals und Schultern, ihre blauen Augen suchten nach einem bekannten Gesicht, nach Ingbert. Er war nicht da.
Prof. Liebrecht führte das Wort. „Liebe Jutta“, begann er, „wir kennen Sie aus Eddas Schilderungen bereits ganz gut, wir wissen, dass Sie aus der Zeit zwischen 1980 bis 2050 stammen, irgendwo dazwischen und bitten Sie nun, uns möglichst genau die Lebensumstände zu schildern, in denen Sie aufgewachsen sind. Wir möchten es auch in Ihrem eigenen Interesse wissen, weil es uns immer noch ein Rätsel ist, wie Sie hierher gelangen konnten. Vielleicht gibt uns Ihre Erzählung irgendeinen nützlichen Hinweis darauf. Also bitte!“
Jutta wurde es immer klarer, dass sie hier als archäologisches Fundstück behandelt wurde und nicht als Mensch. Wahrscheinlich folgte noch eine genaue Analyse ihres Körpers und ihrer Psyche und sie hatte keine Möglichkeit, irgendetwas dagegen zu tun. Jeder, der mit ihr in Berührung kam, würde nur das eine Interesse haben, sich mit der weltweit größten Attraktion brüsten zu können. Ein Mensch aus vergangenen Jahrhunderten passte nicht hierher. Damit würde niemand etwas anfangen können. Wieder wünschte sie sich, sie hätte nie gelebt. Aber halt, die hatten ja alle keine Ahnung! Sie konnte genauso gut flunkern und denen das Blaue vom Himmel herunter weis machen, sie würden alles schlucken. Was wünschte sie sich am meisten? Auf alle Fälle mal raus aus diesen Gebäuden, mochten es nun Glaspaläste sein oder kuschelige Kuppelhäuschen, sie wollte hinaus in die Natur, die Sonnenwärme spüren, den Wind, den Duft der Wälder. Also erzählte sie das Notwendigste über ihre eigene Biographie. Am Ende sagte sie: „So, das wäre meine Geschichte. Aber auf eines muß ich Sie aufmerksam machen, wenn Sie mich am Leben erhalten wollen, egal zu welchem Zweck, dann müssen Sie mir die Gelegenheit geben, mich in der freien Natur zu bewegen. Ich halte das nicht mehr länger aus.“ Sie stand auf, hochrot im Gesicht vor Aufregung und Angst. Angst davor, immer wieder weitergereicht zu werden, von einer Instanz zur anderen, immer wieder ihre Geschichte erzählen zu müssen.
"Gut", sagte Prof. Liebrecht, "das sehe ich ein. Wie wäre es mit einer Pause drunten im Park? Edda wird Sie hinunterbegleiten. Bleiben Sie ruhig so lange, wie es Ihnen gefällt."
Er verständigte sich mit Edda mit einem Blick, sie verließen den Saal und glitten mit dem gläsernen Aufzug hinab ins grüne Paradies. Jutta war sehr in sich gekehrt und Edda beobachtete sie still. Der Park war wundervoll angelegt. Schon nach wenigen Metern konnte man vergessen, daß man sich auf wissenschaftlichem Gelände befand. Stille Waldwege und schmale Pfade hinein in die Wildnis luden ein zu Entdeckungsreisen. Verträumte, moosüberwucherte Waldlichtungen verströmten Ruhe und Geborgenheit, Felsen ragten auf, Düfte und Wärme umspielte den gehetzten Körper. Jutta war überwältigt. Sie drehte sich zu Edda um, die ihr schweigend folgte. "Kann ich nicht ein bißchen allein bleiben, Edda? Ich brauch das so dringend. Bitte!"
"Ja, natürlich, alles, was du willst", ging Edda darauf ein. "Hier, nimm dies kleine Gerät. Damit kannst du mich mit Knopfdruck erreichen."
"Ist das sowas wie ein Handy?" fragte Jutta.
"Ein Handy? Ach so, ja, in etwa. Damit finden wir dich auch wieder, wenn du dich verlaufen hast. Dann geh ich jetzt. Meinst du, du kommst klar allein?"
"Bestimmt. Ich möchte mich einfach nur hinsetzen, nichts mehr denken, nichts mehr reden müssen - nur allein sein."
"Also gut, dann bis später!" Sie trennten sich.
Gedankenverloren setzte Jutta ihren Weg fort. Zumindest die Bäume, die Erde, die Blumen, das alles war wie früher. Auch die Vögel in den Bäumen zwitscherten wie eh und je. Es war tröstlich. Sie setzte einfach einen Fuß vor den anderen, genoß nur die neue Freiheit, die Sonnenwärme, die heilende Hand der Natur. Unversehens stand sie an einem See. Sie zog ihre Schuhe aus, schürzte das schöne rote Kleid und watete am Ufer entlang. Ach, tat das gut! Jutta lächelte. Die Müdigkeit wich, warum nicht ganz und gar eintauchen in dieses klare, grün schimmernde Wasser? Sie lief ans Ufer, streifte sämtliche Kleider ab und watete genüßlich immer tiefer hinein in das köstliche Naß, bis sie den Halt unter den Füßen verlor und anfing zu schwimmen. Ein lange nicht mehr empfundenes Glücksgefühl überkam sie. Sie schwamm weit hinaus in den See, entdeckte eine kleine Insel und hielt darauf zu. Gerade richtig zum Ausruhen, bevor sie ans Zurückschwimmen denken mußte. Sie erklomm einen ins Wasser hinausragenden Felsvorsprung und legte sich dort auf den Bauch. Müde vom Schwimmen und den Aufregungen des Tages war sie bald eingeschlafen.
Was sie nicht wußte - Mutun war bei ihr. Er hatte es ihr versprochen, bevor sie ein Mensch wurde. Er wollte bei ihr bleiben, so lange sie ihn brauchte. Und Jutta brauchte ihn. Sie hatte bloß die Erinnerung an ihren alten Freund verloren. Mutun betrachtete das schlafende nackte Mädchen. Er fand es lieblich und rührend. Und schön. Er hatte miterlebt, wie dem Menschenmädchen Jutta zugesetzt wurde, hatte ihre Verzweiflung und Verlorenheit mitangesehen. Mutun wollte ihrem Leben einen neuen Sinn geben. Was sollte sie denn sonst auf dieser Erde machen? So weit entfernt von ihrer eigenen Zeit konnte sie dem Kristallplaneten keine großen Erkenntnisse liefern, so wie es vorgesehen war für die Freiwilligen, die sich zur Erforschung der Lebewesen hier gemeldet hatten.
Mutun sandte seine Energiewellen aus, um aus dem Mädchen Jutta seinen Freund Zuschick herauszulösen. Schon wurde es transparent, wurde unsichtbar und Zuschick gewann an Bewußtsein. Es war der Zustand der Transparenz, die beiden Wesen, dem des Mädchens und dem von Zuschick, erlaubte, ein schemenhaftes Bewußtsein ihrer beiden Welten zu erlangen. Wie im Traum schlug Zuschick die Augen auf und erkannte den Pionier neben sich.
"Wurde aber auch Zeit!" begrüßte ihn Mutun. "Ich warte schon eine ganze Weile hier neben dir, bis du aufwachst. Geht's dir jetzt besser?"
"Mutun!" rief Zuschick aus, "Gottseidank, du hast mich nicht vergessen! Ist der Spuk jetzt vorbei? Kehren wir jetzt heim?"
"Aber nicht doch, Zuschick. Es hat doch eben erst angefangen. Wir wollen doch herausfinden, was die Menschen so tun, was sie fühlen, denken, wie sie handeln. Du mußt schon noch eine Weile mitspielen. Aber wir wollen die Sache nicht ganz dem Zufall überlassen. Ich hab da einen Plan. Ich werde dir Ingbert schicken, du verliebst dich in ihn und ihr heiratet. Dann kriegst du Kinder - zumindest eines jedenfalls - ziehst es groß und erlebst so von der Pike auf das gesamte Menschsein. Wenn du es bis zum Schluß durcherlebt hast, komm ich dich wieder holen. Sie leben nicht so lang, die Menschen, keine Angst. Es wird bald vorbei sein mit deinem Lebenslauf hier. Dann hol ich dich wieder ab und wir fliegen nach Hause."
"Ach, ich möchte nicht mehr. Willst nicht du für mich einspringen?"
"Ich könnte mich nicht auf dich verlassen, Zuschick, das weißt du doch. Du mit deinen ewigen Zufällen! Am Ende müßte ich als Mensch sterben, nur weil dir wieder einer deiner Zufälle in die Quere gekommen ist und du mich nicht rechtzeitig aus dem Menschenkörper herausgebeamt hast. Mach nur weiter, ich bin ja bei dir. Es wird dir auch gefallen, da bin ich mir sicher. Du wirst ganz tolle Dinge erleben. Da beneide ich dich fast. Jetzt verwandle ich dich wieder zurück, der Tag geht zur Neige. Wir dürfen es nicht übertreiben. Viel Spaß, Zuschick, adjö!"
Wieder wurde das nackte Mädchen auf dem Felsen transparent und lag dann in Fleisch und Blut da. Frierend jetzt, da die Sonne im Sinken war. Es graute ihr, sich wieder ins kühle Wasser zu stürzen und ans andere Ufer zu schwimmen. Hunger hatte sie auch. Und keine Erinnerung mehr an das soeben Erlebte.
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Edda war ins Institut zurückgekehrt und hatte dort gleich einen Rüffel einstecken müssen. "Wo ist denn Jutta?" empfing sie Prof. Liebrecht. "Im Wald", entgegnete sie. "Die Kleine hatte ein großes Bedürfnis nach Einsamkeit, was ich verstehen kann. Aber keine Sorge, ich habe ihr mein Sensor-Flippchen mitgegeben. Da kann sie uns ganz bestimmt nicht verlorengehen."
"Nein, wie leichtsinnig Sie mit diesem wertvollen ...hmhm...Fund, nein, also mit dem Mädchen umgehen! Das ist beinah nicht zu verantworten. Es könnte ihm durchaus etwas zustoßen, es ist absolut unverantwortlich!"
"Hören Sie, Professor, unser Mädchen ist mit der Natur mehr vertraut, als irgendjemand hier. Gönnen Sie ihm doch das bißchen Freiheit. Außerdem habe ich dringende Arbeiten zu erledigen. Es ist reine Zeitverschwendung, mich an Juttas Fersen zu heften wie ein Spürhund."
"Und ich habe Sie Ihnen anvertraut. Sie allein sind mir verantwortlich für die Unversehrtheit dieses Lebens."
"Dann vertrauen Sie sie doch jemandem anders an. Auf mich wartet eine Menge Arbeit, um zu realisieren, welche Umstände bei Juttas Versetzung in unsere Zeit geherrscht haben. Sie hat mir bisher so viele Anhaltspunkte gegeben, daß ich hoffe, gut voranzukommen. Also lassen Sie auch mir ein wenig mehr Raum und Freiheit, um diese Arbeit voranzutreiben! Es ist ohnehin mysteriös genug, wie sie hierher kam. Das könnte auch ein böses Omen sein, glauben Sie nicht?"
"Dann gehen Sie an Ihre Arbeit!" fuhr Prof. Liebrecht sie ungehalten an. "Ab sofort wird sich Ingbert um Jutta kümmern."
'Na bestens', dachte sich Edda. 'Da hab ich sie ja los, die Kleine. Ob Siegfried ihr sehr nachtrauern wird?'
Ingbert Salmann, der Psychiater aus dem Gehirnforschungslabor, zeigte sich sehr erfreut über diese neue Aufgabe. Er lud sich auf der Stelle Eddas bisherige Informationen über das Mädchen rüber auf seinen Computer, brütete eine Weile darüber und betätigte dann sein Sensor-Flippchen.
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Jutta saß mit angezogenen Knien am Rande ihres Felsens und sah frierend ins Wasser. Sie schauderte bei dem Gedanken, jetzt gleich da hinein zu müssen. Die weite Fläche des Sees erschreckte sie plötzlich. Was, wenn sie beim Schwimmen einen Krampf bekam? Auf keinen Fall konnte sie auf Hilfe hoffen, selbst wenn sie Eddas Gerät zur Hand gehabt und sich gemeldet hätte. 'Nein, los jetzt, Mädchen, hinein ins Wasser!' sagte sie sich und stieg hinab ins Gras. Da tönte plötzlich durch die abendliche Waldesstille ein Signalton zu ihr herüber. Eddas Flippchen. Jutta stürzte sich ins Wasser, das kalt an ihr hochspritzte. Sie begann zu kraulen. Immer noch schwang der Signalton übers Wasser. Man suchte nach ihr, sie war nicht mehr allein. Nur schnell ans andere Ufer!
Die Sonne war bereits untergegangen, der Wald verströmte noch die gespeicherte Tageswärme. Nur das Wasser erschien ihr elend frisch, ihre Kräfte begannen nachzulassen. Sie legte sich auf den Rücken, um ein bißchen auszuruhen. Doch schon nach wenigen Sekunden schwamm sie mit kräftigen Tempi weiter. Das Ufer wollte und wollte nicht näherrücken.
Ingbert begann sich Sorgen zu machen. Warum meldete sie sich nicht? Vielleicht kam sie mit dem Gerät nicht klar. Oder hatte sie es verloren? War sie gestürzt und hatte sich verletzt? Lag sie gar ohnmächtig irgendwo herum? Es war nicht mehr das 'Relikt' aus einer anderen Zeit, um das er fürchtete. Es war das Mädchen selbst, der Mensch aus Fleisch und Blut und Geist, das ihn bewegte. Er schaltete das Infrarotsuchgerät ein, ließ es systematisch den Wald durchkämmen. Es dauerte eine Weile, ehe das Ding Juttas ausgekühlten Körper aufspürte. Mitten im See, noch weit entfernt vom Ufer. Der Gehirnspezialist klinkte sich in Prof. Liebrechts Büro. "Ich hab sie gefunden, sie ist im See. Ich fliege sofort dorthin, behalten Sie uns im Auge, damit Sie eingreifen können, wenn was nicht klappt."
Liebrecht holte sich das Infrarotbild herüber und verfolgte gebannt die bereits langsamer werdenden Bewegungen des Mädchens. "Ich schicke sofort einen Hilfstrupp hinaus!" antwortete er.
"Nein, lassen Sie das bitte. Ich möchte dem Mädchen nicht schon wieder den Eindruck geben, als würde man es einfangen. Wie ein ausgerissenes Tier aus dem Zoo. Bis gleich!" Und weg war er.
Schon wenige Minuten danach kreiste er mit seinem Airset über dem frierenden Körper im Wasser. Er ging tiefer, ließ die Schwimmansätze hinausgleiten. Nach einem kurzen Manöver hielt das Gefährt neben der Nackten. Jetzt erst spürte Jutta so richtig, wie sehr ihre Kräfte im Schwinden waren. Ingbert faßte sie unter und zog die Erschöpfte ins Innere. Ihre Lippen waren blau vor Kälte, den ebenmäßigen Körper überzog eine Gänsehaut, sie schlotterte. Wortlos legte ihr Ingbert eine Wärmedecke über, strich ihr das Haar aus dem Gesicht.
"Na, du Ausreißerin, geht's jetzt wieder?" fragte er scherzhaft. Sie nickte. "Meine Kleider, könnten wir sie noch holen? Und Eddas Sensor Flippchen."
"Aber klar, das werden wir gleich haben." Mit Hilfe der Nachtsichtkamera fand Ingbert bald das Gesuchte. Jutta zog sich an und kroch dann wieder unter die Decke. Ingbert Salmann ließ sein Airset über die Bäume gleiten und dann flogen sie durch die anbrechende Nacht dem lichtergesprenktelten Glaspalast des Instituts entgegen.
"Wo ist denn Edda?" fragte die Gerettete schließlich. "Sie arbeitet. Ich glaube, es ist besser, wir lassen sie jetzt in Ruhe. Hättest du was dagegen, wenn ich mich ab jetzt um dich kümmere?" Die lieblosen Einzelheiten dieser Wendung wollte er ihr nicht sagen.
Jutta schüttelte den Kopf. "Edda hat sowieso keine Zeit für mich. Und dann mit Siegfried..." "Was ist mit ihm? Ist er dir zu nahe getreten?" wurde Ingbert plötzlich hellhörig.
"Nein, nein, Siegfried ist der netteste Mensch von der Welt. Ich glaube, Edda hat da was falsch verstanden. Außerdem hat auch er keine Zeit. Ich stör überall bloß."
Ingbert machte sich so seine Gedanken bei diesen Worten. "Du störst nicht", sagte er bloß, "ganz im Gegenteil."
Er lieferte Jutta nicht im Institut ab, meldete von unterwegs nur kurz die glückliche Rettung des Mädchens und schlug dann eine andere Richtung ein. Weg vom glitzernden Glaspalast, hinaus in die violette Dunkelheit, über die unendlichen Wälder.
"Wohin entführen Sie mich denn?" fragte Jutta.
"Ich nehme Sie mit zu mir", sagte er wieder förmlich. "Die kriegen Sie nicht mehr zu Gesicht, ehe wir nicht eine anständige Bürgerin unserer Gesellschaft aus Ihnen gemacht haben."
"Und was heißt das jetzt genau?" wollte sie wissen.
"Daß Sie Ihr eigenes, ungestörtes zu Hause bekommen, Ihre eigenen Kleider und alles, was dazugehört. Und daß man Sie vor allem in Ruhe läßt, bis Sie sich hier eingewöhnt haben. Das Bisherige muß ja der reine Horror für Sie gewesen sein."
"Ja", sagte sie bloß. Das erschöpfte Mädchen fühlte sich plötzlich verstanden und geborgen in dem kleinen, engen Raum des Gefährts, den Mann an ihrer Seite, zu dem sie sich hingezogen fühlte, wie zu einem Vater. Er bedeutete für sie in dem Augenblick den Lichtblick, den Strohhalm, an den sie sich klammerte in einer unverständlichen Welt.
Bald blinkte es aus der dunklen Masse des Waldes zu ihnen herauf. Sie waren bei Ingberts Siedlung angelangt. Wieder landeten sie in einem Vorhof mit Garage für das Airset. Sie stiegen aus. Gespannt beobachtete Jutta das Fahrzeug, ob es sich nicht auch in einen Hund oder eine Schildkröte oder sonst was Ulkiges verwandelte. Aber nichts dergleichen geschah.
"Ist was?" fragte Salmann. "Nein, nein", versicherte Jutta. Dann wurde das kleine Fahrzeug in die Garage geschickt. Jutta folgte dem Mann durch einen kleinen Laubengang zum Haus, die Decke fest um sich gewickelt. Bewegungssensoren sorgten für Licht, wohin sie auch traten. Auch hier lag der bungalowähnliche Kuppelbau inmitten eines kleinen Gärtchens. Die Pflanzen verströmten ihre vielfältigen Düfte, gleich würde sich eine imaginäre Türe öffnen und dann .... würde es wieder irgendwelche Verwandlungen geben wie bei Edda?
Warmes Licht empfing die Ankömmlinge. Jutta sah sich in einer Behausung bar jeden überflüssigen Schmucks. Eine gemütliche Couchlandschaft lud zum Sitzen ein, ein einfacher Glastisch mit Arbeitsunterlagen stand davor. An den Wänden Vitrinen mit Geschirr, besonders schönen Präparaten aus Ingberts Arbeitswelt und einigen herrlichen Mineralien in leuchtenden Farben. Auch Pflanzen da und dort, ihr Beet im Boden eingelassen.
"Nehmen Sie bitte einen Augenblick Platz, ich hole Ihnen nur schnell was Warmes zum Anziehen", forderte sie Ingbert auf. Jutta kuschelte sich in einen Sessel. Am liebsten hätte sie sich gar nicht mehr von der schönen Wärmedecke getrennt. Es war ihr immer noch fröstelich zumute. Salmann kam mit einer Art Bademantel zurück. "Im Moment das Einzige, was ich Ihnen anbieten kann." Natürlich war er viel zu groß. Gemeinsam krempelten sie die Ärmel hoch, banden den Gürtel fest um ihre schlanke Gestalt, Ingbert hatte noch dicke Socken mitgebracht und so ausstaffiert saß sie endlich wieder in ihrem Sessel und sah sich neugierig um. Da sich nichts weiter veränderte, es auch nur nach frischer Luft roch und nicht nach exotischen Düften, wandte sie sich nun ihrem Gastgeber zu.
"Und bleibt das jetzt alles so?" fragte sie vorsichtshalber.
"Warum? Ach so, natürlich nicht. Ich hol uns gleich was zu essen, wenn Sie das meinen."
"Das hab ich nicht gemeint. Bei Edda hat sich dauernd alles verwandelt. Ich wußte nie, schau ich jetzt wirklich aus einem Fenster in eine Landschaft hinaus oder ist das nur eine Bildprojektion, wie sie mir erklärte. Und überall gingen irgendwelche Türen auf oder Fenster, wovon ich zuerst gar nichts gesehen hatte. Auch das Airset ist plötzlich zu einem Hund geworden. Ist das hier bei Ihnen nicht so?"
Ingbert mußte lachen. "Da hat Edda sich wohl ein bißchen zuviel Mühe gegeben. Ich weiß, daß sie diese Art zu leben liebt. Sehr zum Leidwesen von Siegfried, der sich sehr gestört fühlt dadurch. Aber sie liebt die Abwechslung und braucht das wohl auch manchmal zur Entspannung. Hat sie Ihnen das alles gleich vorgeführt?"
"Ja, einiges wohl. Sie hat es gut gemeint. Sie wollte, daß ich mich ein bißchen heimischer fühle bei ihr. Ich war aber hinterher völlig durcheinander. Wenn man nicht weiß, was wirklich ist und was nur vorgegaukelt!"
"Na, hier ist jedenfalls alles echt. Ich mag diesen Schnickschnack nicht. Ich brauche mehr die klaren Linien, alles andere würde mich stören. Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Bin nur schnell in der Küche."
Jutta gefiel es hier sogar besser, als bei Edda, obwohl die Einrichtung eher nüchtern war. Man konnte sicher sein, daß alles so blieb, wie sie es jetzt sah. Und das mit den Türen und Fenstern würde ihr Herr Salmann schon noch erklären.
Dieser kam wirklich nach wenigen Minuten zurück, vorneweg steuerte ein Dinerwagen auf die Eßecke zu, vollbeladen mit allen möglichen Speisen und Getränken, die Jutta auch diesmal nur zum Teil kannte. Die beiden ließen es sich schmecken, ohne viele Worte zu machen. Er sah sie nur ab und zu belustigt an. Die Kleine gefiel ihm immer besser. Der Schmelz der Jugend lag noch über ihr. Trotz ihrer Müdigkeit nach den Aufregungen des Tages gelang es Ingbert, sie ab und zu zum Lachen zu bringen. Oder zum Lächeln. Vielleicht lag es daran, daß das Mädchen zu seiner natürlichen Unbekümmertheit zurückfand.
Und hübsch war es, das Wesen aus einer anderen Welt. Welch ein Glück, daß Liebrecht ihm offiziell den Auftrag gegeben hatte, es unter seine Fittiche zu nehmen. Welch ein Glück!
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Jutta fühlte sich ausgesprochen wohl im Hause des Wissenschaftlers. Er machte sie mit den Erfindungen der letzten 200 Jahre vertraut, die ja das gegenwärtige Leben vereinfachten. Schnell gewöhnte sie sich daran, nur mit Hilfe ihrer Gedanken Funktionen auszulösen, mit dem ausstrecken Finger ihrer Hand das Airset herbeizurufen, die Geräte des täglichen Lebens zu gebrauchen. Man wusch nicht mehr mit Waschpulver, sondern übergab Schmutziges dem Laser-Reinigungsgerät. Lebensmittel wurden nicht mehr selbst eingekauft, man bestellte sie elektronisch, worauf sich die artgerechten Behälter unterirdisch in Bewegung setzten, sozusagen beim Großhändler gefüllt, zurückgesandt und in dem dafür vorgesehenen Raum abgestellt wurden. Alles und jedes war aufs Beste geordnet und organisiert. Nichts hatte mehr irgendeine verwirrende oder beängstigende Bedeutung für sie. Ingbert bedachte sie mit so viel liebevoller Umsicht, daß ihr alle Scheu genommen wurde. Er hatte sie in einem Nebentrakt untergebracht, den er sonst für Gäste oder auch als Besprechungsräume benutzte. Er überließ die schöne Fremde völlig sich selbst, drängte sich nie auf, obwohl er Tag und Nacht an sie denken mußte. Natürlich behielt er Jutta insgeheim im Auge, aber davon merkte sie nichts. Wenn er nach Hause kam, kündigte ihn eine fröhliche Klingelmusik an, der gleich seine eigene folgte. "Hallo, da bin ich wieder! Alles in Ordnung bei Ihnen?"
"Hallo, Ingbert!" rief Jutta zurück, einfach so in den Raum hinaus. Der Ton kam schon irgendwie in die richtigen Ohren, auch wenn ihr die Technik dazu unbekannt war. "Ich hab schon auf Sie gewartet. Es gibt da ein Problem...."! Deren gab es tatsächlich die Menge. Denn nicht bei allem und jedem genügte es, die Hand auszustrecken oder sich gedanklich damit abzugeben oder auf eine Taste zu drücken. Salmann freute sich jedesmal, wenn sie seiner bedurfte.
"Ich komm gleich rüber, Jutta, einen Augenblick noch!"
Da war zum Beispiel das Obst und Gemüse im Vorratsraum. Jutta hatte sich davon holen und die Schalen frisch füllen wollen. Aber jedesmal, wenn sie nach einer bestimmten Frucht gelangt hatte, ertönte ein Summen und sie getraute sich nicht, sie an sich zu nehmen. Einmal sogar lief sie verwirrt zu den Regalen, weil eine ganze Tonleiter von Summtönen zu ihr in den Wohnbereich drang. Das kam von einem Vorratsbehälter, in dem fast alle Früchte faul geworden waren. Aber sie wußte nicht, wie das abzustellen war und ob nicht irgend etwas Schreckliches passierte, wenn sie die Früchte einfach nahm und wegwarf. Sie konnte es kaum erwarten, bis der Hausherr eintraf. Ingbert besah sich die tönenden Behälter und klärte sie dann auf.
"Sehen Sie, die Birnen hier sind noch nicht reif genug, daher der Summton, wenn man sie entfernen will. Es macht aber nichts, wenn man sich trotzdem eine holt. Sehen Sie, so." Und er griff sich ein Stück aus dem summenden Korb. Auch den Behälter mit den faulen Früchten nahm er einfach heraus und leerte ihn aus. Er wurde kurz gereinigt und zurückgestellt. Das Summen hatte aufgehört, sowie der Korb von seiner Stelle genommen war.
"Es ist nur ein Hinweis, daß etwas nicht in Ordnung ist. Sie brauchen sich nicht davor zu fürchten", klärte er sie auf.
Nach vier Wochen hatte sie sich so ziemlich eingelebt und benutzte die Vorzüge der Technik wie eine alteingesessene Bürgerin. Nur wunderte sie sich, daß sie so gar niemanden zu sehen bekam. Ingberts Haus stand doch mitten in einer Siedlung, sie hatte die vielen Kuppelhäuschen von seinem Airset aus gesehen. Anscheinend kümmerte sich hier kein Mensch um den anderen. Häufig bemerkte sie wohl die verschiedenartigen Flugkörper, die in ihrer Nähe starteten und landeten, bekam aber nie ein menschliches Wesen zu Gesicht. Einmal lag sie am Nachmittag draußen im Garten, als ein Airset mit Glubschaugen und niedlichem Schnäuzchen über sie hinwegflog. 'Auch so ein Typ wie Edda' dachte sie sich und winkte fröhlich hinauf. Das Ding flog zur Antwort eine Kurve und trällerte dann davon. Am nächsten Tag lag eine weiße Rose in ihrem Garten. Leider bekam Jutta diesen kleinen Gruß nie zu Gesicht. Der elektronische Gärtner saugte sie gewissenhaft auf und zerschnipselte sie zu feinen Spänen.
Auch dieser 'Gärtner' erschreckte das Mädchen zuerst sehr. Er pflegte immer gegen Abend zu erscheinen. Es handelte sich hierbei um eine Art Rasenmäher mit Multifunktionen. Gewissenhaft stöberte er unter dem Gebüsch herum nach abgefallenem Laub und Unkraut, beseitigte beides und kroch dann über den Rasen. War er zu hoch, begannen sofort seine Schneidewerkzeuge zu arbeiten. War der Auffangbeutel weit genug aufgeschwollen. bewegte sich das Ding auf den Kompostplatz hinter einer Hecke zu und entleerte ihn. Waren diese Arbeiten erledigt, fuhr er Sensoren aus, mit denen er verblühte Blumen oder abgestorbene Äste ausfindig machte, sie abschnitt und gleich alles verhäckselte.
Wie gesagt, dieser Supergärtner erschien eines Abends, als sich gerade Jutta selbst um all das kümmern wollte. Es war ihr von zu Hause her eine vertraute Tätigkeit. Sie erschrak fast zu Tode, als plötzlich hinter einer Hecke hervor dieser Roboter erschien und sich ihr wie selbstverständlich anschloß. Da er sich völlig neutral verhielt, nur eben genau das tat, was auch sie selbst vorhatte, erledigten sie zu zweit die Gartenarbeit, wobei Jutta des öfteren herzhaft lachen mußte über diese Gesellschaft.
Über all diese Erlebnisse unterhielt sie sich dann mit Dr. Salmann, der sich mehr als amüsierte über dieses vorsintflutliche Geschöpf, das doch so reizend und mit nichts und niemandem aus seiner Umgebung zu vergleichen war.
"Warum kommen eigentlich nie Nachbarn zu uns?" wollte Jutta eines Tages wissen.
"Warum sollten sie?" war seine Gegenfrage. "Jeder hat seine Aufgabe und die Zeit ist für alle sehr genau eingeteilt. Und ehrlich gesagt, ich selbst wüßte auch nicht, was ich nun grade bei meinem Nachbarn sollte. Es käme mir sehr komisch vor, plötzlich vor seiner Tür zu stehen."
"Ja, kennt ihr euch denn gar nicht?" staunte Jutta.
"Natürlich kennen wir uns. Hier kennt jeder jeden. Aber eine solche Indiskretion, irgendjemanden persönlich zu belästigen, würde wohl nie jemand begehen. Sie können völlig sicher sein vor Belästigungen."
"Das ist aber traurig!"
"Traurig? Na, da staun ich aber. Möchten Sie denn gerne belästigt werden? Ich möchte Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber in welcher Art von Gesellschaft haben Sie denn gelebt, daß Sie sich Derartiges wünschen?"
"Das ist doch keine Belästigung, wenn sich Nachbarn gegenseitig besuchen. Wir hatten zu Hause alle ein sehr gutes Verhältnis untereinander. Und dann die Straßenfeste! Oder die Kirchweihen, gibt es denn gar nichts mehr dergleichen?"
"Verhältnisse? Untereinander? Liebe Jutta, wie darf ich das verstehen?! So im ersten Moment hört sich das ja an wie ....hm (räusper, räusper), also, recht freizügig, wenn ich das mal so ausdrücken darf."
Jutta sah den Gelehrten betroffen an. Röte stieg in ihr Gesicht. Ihre blauen Augen bekamen einen dunklen Glanz. Leise sagte sie: "Hat das Wort 'Verhältnis' für Sie denn nur die eine Bedeutung? Ist man heute schon so weit vom Menschsein entfernt? Oh Gott, wo bin ich nur gelandet! Und warum nur, warum denn nur!"
Jetzt war es an Ingbert, betroffen zu sein. "Ja, das frag ich mich auch immerzu. Und nicht nur ich. Ach, tut mir leid, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin. Erklären Sie mir doch, was Sie unter diesem 'Menschsein' verstehen und wie das in Ihrer Zeit gehandhabt wurde."
"Wären Sie ein normaler Mensch, würde ich Ihnen wahrscheinlich jetzt eine... (verpassen - hatte sie sagen wollen. Vielleicht hätte sie auch diesen Ausdruck erst erklären müssen!) - eine ganz andere Erklärung geben", vollendete die Arme ihren Satz. "Aber da Sie ja nun mal so weit weg sind von all den netten Gepflogenheiten einer menschlichen Gemeinschaft, will ich es Ihnen erklären. Ein gutes Verhältnis haben, bedeutet einfach nur, daß man sich gut versteht, daß man am anderen Anteil nimmt, daß man Freud und Leid miteinander teilt und sich hilft, wo es not tut. Und daß man gerne zusammen feiert. Das ist es, was unser damaliges Menschsein ausgemacht hat und was ich hier sehr vermisse. Und nun bin ich müde, ich geh schlafen. Gute Nacht."
Da hatte sie dem Hochgelehrten, mit der menschlichen Psyche so Vertrauten doch einiges hingefahren, an dem er zu kauen hatte. Salmann hätte noch dringend wissen mögen, warum er in Juttas Augen kein normaler Mensch war. Und wie sie sich das vorstellte, mit wildfremden Leuten Freud und Leid zu teilen. Wo man sich doch höchstens übers Internet verständigte oder kennenlernte. Und sich jederzeit ausklinkte, wenn es zu persönlich wurde. Also, diese Zeit damals - wie gut, daß sie vorbei war. Das mußten ja mitunter höchst dramatische Zustände gewesen sein. Freud und Leid! Alle miteinander. Heute war man mehr denn je geistig miteinander verbunden. Man tauschte sich aus über interessante Neuheiten, bildete Interessengemeinschaften, die sich aber im Nu wieder auflösten. Keiner war an irgendjemanden anderen gebunden oder auch nur daran interessiert, ihn näher kennenzulernen. Lediglich sein Geist zählte. Seine geistige Produktivität. Freud und Leid - höchst persönliche Belange. Die zu berühren war man nicht bereit und hätte es auch als sehr indiskret empfunden. Soviel er wußte, war das noch nie allzusehr anders gewesen seit Beginn der Zivilisation. Jeder hatte immer nur zuerst an sich gedacht. Es sei denn, in sexueller Hinsicht. In diesem Fall war man von jeher bereit gewesen, dem anderen ein tieferes Interesse entgegenzubringen. Hatte sich die Menschheit in den letzten Jahrhunderten wirklich so sehr verändert, war man sich wirklich so fremd geworden? Ach was, wird wohl auch eine Portion Mißverständnis dabei gewesen sein, als das Mädchen sich so ausdrückte. Vielleicht hat sie sich auch geschämt, ihre Neigung zuzugeben. Ja, wahrscheinlich sogar. Ingbert lächelte. Brauchte sie gar nicht. Solche Neigungen kämen den seinen sehr nahe. Leider durfte er sich nicht so geben, wie er gerne gewollt hätte. Denn Jutta bedeutete nach wie vor ein Wesen, an dem man wissenschaftliches Interesse hatte und das er zu behüten verpflichtet war. Deswegen seine Distanziertheit. Sie sollte und mußte sich ganz frei fühlen, um möglichst viel aus ihrer damaligen Welt zu erfahren. Sie sollte unbelastet bleiben von allem Ansinnen der Welt da draußen.
Natürlich hatten die Nachbarn Kontakt mit ihr aufnehmen wollen! Über das Internet und andere Kommunikationsmittel. Seine Speicherplätze waren voll von Anfragen und witzigen Bemerkungen. Allerdings sah er sich daraufhin gezwungen, all diese Anfragen brüsk und insgesamt zurückzuweisen unter Hinweis auf die besondere Sicherheitsstufe, unter der die plötzlich Aufgetauchte stand und auch gleich auf die Strafen, die einem Zuwiderhandeln folgten. Wie gut, daß Jutta sich mit der heute üblichen Technik nicht auskannte. Die wäre imstande gewesen und hätte sich mit allen angefreundet und verbrüdert. Nicht auszudenken, diese Situation! Ingbert hütete sich, sie in dieses letzte Geheimnis einzuweihen. Wie gut, daß er das instinktiv von Anfang an gefühlt hatte. Jedenfalls hatte er jetzt Ruhe. Jeder Neugierige bekam per E-Mail automatisch diese Antwort und Warnung, worauf bald Stille einkehrte auf den Monitoren. Von dem Airset mit den Glubschaugen und der weißen Rose wußte er nichts.
So blieb Jutta weiterhin allein und die Gedanken kamen und wichen nicht mehr von ihrer Seite. Warum vermied man es seit ihrem Ausflug mit Siegfried, ihre Heimat ausfindig zu machen? Eine diesbezügliche Frage hatte Ingbert kurz abgetan und mit den anderen Mitgliedern des Instituts kam sie nicht zusammen. Sich einfach an Prof. Liebrecht oder an Edda zu wenden, getraute sie sich nicht. Bloß nicht mehr auffallen! Auch mit Siegfried mochte sie nicht mehr in Verbindung treten. Zu deutlich war ihr Eddas Verstimmung in Erinnerung, als sie damals auf die Exkursion mit Siegfrieds Airset gekommen war. Jutta drängte es außerdem zu irgendeiner sinnvollen Beschäftigung. Als der Wissenschaftler eines Nachmittags sein Airset im Hof aufsetzte, erwartete ihn eine nervös und freudlos dreinblickende Jutta. Als sie ihn dann mit ihrer Unzufriedenheit konfrontierte, war es keine Überraschung für ihn.
"Ich hab mir das schon lange gedacht", sagte er, in dem er einen Arm um ihre Schulter legte und mit ihr ins Haus ging. "Aber ich wollte Ihnen Zeit genug lassen, um sich im klaren zu werden über Ihre Wünsche. Schön, daß Sie jetzt soweit sind."
Jutta entwand sich ungeduldig seiner väterlichen Geste. "Und dann dieses ewige "Sie"! schleuderte sie ihm entgegen. "Ich möchte ab sofort damit Schluß machen, damit du es nur weißt! Und sollte ich dir damit zu nahe treten, so ist mir das schnurzegal. Ich kann so nicht mehr weiterleben. Es ist, als wäre für mich die ganze Welt ausgestorben, nicht ein einziger Mensch, der mich liebt, zu dem ich du sagen kann und mich unterhalten kann wie mit meinesgleichen. Immer diese ewigen Belehrungen und dieses ewige Verständnis! Mich kotzt das alles an, weißt du das!" Mit hochrotem Kopf stand sie vor ihm, starrte ihn wütend an. Tatsächlich wußte Ingbert im Augenblick nicht, wie er reagieren sollte. Er konnte diesen Ausbruch ja verstehen, hatte ihn erwartet. Aber ihn real zu erleben, war dann doch noch was anderes, als theoretisch darüber zu brüten.
"Gut", sagte er, "dann gehen wir jetzt aus. Zieh dich um!"
"Und wohin denn, bitte schön? Alles ist totenstill rundherum, nirgends kann ich auch nur das kleinste bißchen Leben entdecken. Keine jungen Leute, nur du und ich." Und höhnisch fügte sie hinzu: "Bin ja gespannt, wie das läuft. Und überhaupt, was soll ich denn anziehen? Jeans, was Elegantes, was Sportliches oder was?"
Er kratzte sich am Kopf. "Tja, was möchtest du denn gerne?"
"Da - schon wieder", fauchte sie ihn an. "Was i c h gerne möchte? Das gibt's ja gar nicht bei euch, was ich gerne möchte. Mach doch du einen Vorschlag, du!"
"Also, ich habe Hunger. Wir könnten Essen gehen. Was meinst du?"
"Sowas Banales! Mehr hast du nicht auf Lager? Na gut, dann sag ich dir was, etwas, was du dir bestimmt nicht vorstellen kannst mit deiner Gescheitheit. Was es vielleicht gar nicht mehr gibt bei euch. Ich möchte reiten!! Ganz weit und schnell und ich möchte nie, nie mehr hierher zurückkommen, das möchte ich!"
"Klar, du möchtest reiten. Mal sehen. Stimmt, da hast du mich in Verlegenheit gebracht. Wo könnten wir reiten gehen? Ich schau gleich mal im Computer nach. Aber trotzdem, ich hab gräßlichen Hunger, muß unbedingt vor allem anderen was essen. Und was trinken. Solange mußt du dich noch gedulden." Damit drehte er sich um und verschwand im Haus. Jutta war perplex. Das hatte sie nicht erwartet. Was hatte sie überhaupt erwartet? Daß er zornig war über ihre Unverschämtheit? Oder so von oben herab wie Gottvater bei seinen Sündern? Ja, irgendwie schon. Nur nicht, daß er sofort und ohne Umschweife das "Sie" fallengelassen hatte und daß ihr Betragen ihn scheint's nicht verletzt hatte, das verblüffte sie. Sie folgte ihm ins Haus.
"Ingbert! Tut mir leid, daß ich so ausgeflippt bin. Aber den ganzen Tag allein! "Du hast nicht zufällig was zum Essen hergerichtet?" fragte er statt jeder Tirade. "Ich fall gleich um."
Natürlich, das hatte sie, wie schon oft. "Schaffst du's noch bis zu mir rüber?" fragte sie. Kurz darauf saßen sie sich am hübsch gedeckten Tisch und bei Gulasch mit Semmelklößen gegenüber.
"Schmeckt irgendwie anders", bemerkte er. Jutta nickte. "Ich hab's mal selbst gekocht. Dieses ewige Versorgtwerden auf Knopfdruck ist mir schon lange auf den Nerv gegangen. Ein bißchen ungewohnt für dich dieses Essen, nicht?"
"Schon, aber viel besser, als die üblichen Gerichte. Du, da hab ich eine Idee. Hättest du Lust, für eine kleine Gesellschaft zu kochen? Ich helf dir auch dabei. Wir machen uns einen Jux und laden ein paar Leute ein zu einem antiken Abendessen wie vor 200 Jahren. Na?"
"Ich weiß nicht, Ingbert, ob ich mir das zutrauen kann. Ich bin's doch nicht gewohnt. Aber wenn du mir hilfst! Wär eine nette Idee!" Und schon waren sie in eine höchst lebhafte Debatte über die nötigen Einzelheiten vertieft.
Für Ingbert war dieser Vorschlag auch von anderer Seite sehr vorteilhaft. Es wurde immer schwieriger, den Gast aus einer anderen Welt der Menschheit so lange vorzuenthalten. Vor allem der Presse. Ach, und auch Prof. Liebrecht und den anderen Kollegen, die ja alle sehr gespannt auf Einzelheiten waren. Edda hatte inzwischen lückenlos herausgefunden, was seit Juttas Verschwinden auf der Erde alles passiert war, wo sie gewohnt hatte und was aus ihrem Elternhaus geworden war. Sie bestand jedoch darauf, diese Neuigkeiten nur im Kreise illustrer Gäste und möglichst viel Presse herauszugeben. Sie versprach sich einen enormen Karrieresprung davon, diese Gelegenheit wollte sie unbedingt nützen. Ihre Ergebnisse hatte sie auf einem unbekannten Datenträger gespeichert und weigerte sich standhaft, irgendjemandem Einblick zu gewähren. Es halfen keine Drohungen und auch keine Vorhaltungen, daß sie als Mitglied dieses Instituts verpflichtet war, jede ihrer Arbeiten einsehen zu lassen. Sie ließ es einfach darauf ankommen. Edda wußte, daß man im Ernstfall nicht auf sie würde verzichten können. Mit Ingbert war sie über Kreuz, weil er ihr verweigert hatte, Jutta in ihrem neuen Domizil zu besuchen und weiter auszufragen. Auch er konnte stur sein. Es ist stark anzunehmen, daß da noch ein anderer Aspekt mit im Spiel war, als der, das fremde Kind vor schädlichen Einflüssen zu bewahren.
Jedenfalls erschien ihm seine Idee mit der Abendgesellschaft wie ein Geschenk des Himmels - oder was immer man sich in dieser Zeit dafür gedacht hatte. Da konnte er ganz ungezwungen jedem zu seinem Recht verhelfen, am meisten sich selber, da er der Initiator war. Dr. Ingbert Salmann war begeistert von seiner Idee und von sich selbst.
Aber nun mußte man dem schönen Kind zu seinem Reiterausflug verhelfen. Zusammen hockten sie dann lange Zeit vor dem Bildschirm und suchten nach einem Reitstall. Sie fanden nichts. Man ritt nicht mehr.
"Komisch, das war bei uns ganz groß in Mode. Vor allem die Mädchen und Frauen sind geritten. Die Jungs schon weniger. Eigentlich so gut wie gar nicht." Und nach einer Weile: "Wenn man allerdings bedenkt, daß schon in meiner Zeit die Frauen bemüht waren, es den Männern gleichzutun, ich meine die Emanzipation, dann wundert es mich nicht, daß sie es auch beim Reiten geschafft haben. Sie haben sich die Freude daran wahrscheinlich wegemanzipiert. Na prima!"
"Wir könnten in ein Reservat gehen", meinte Ingbert als letzte Rettung. Oder in ein Museum mit Reitervorführungen. Vielleicht ließen sie dich auch mal!"
"Ach Quatsch", fegte Jutta das alles hinweg. "Meinst du, ich bin ein unvernünftiges Kind, das unbedingt darauf besteht, etwas haben zu wollen, was es nicht mehr gibt? Wir müßten uns schon selbst ein Pferd züchten."
Ingbert sah sie erstaunt an. "Du, das wär d i e Idee! Und eine phantastische Aufgabe für dich." Schon wieder hatten sie ein aufregendes Thema.
Ich glaube, für heute abend müssen wir die beiden verlassen. Den Ideenreichtum und die Gedankensprünge der beiden nachzuvollziehen wäre wohl eine zu langwierige Angelegenheit in diesem Rahmen.
Als Dr. Ingbert Salmann am nächsten Morgen an seiner Arbeitsstätte erschien, dauerte es nicht lange und Herr Liebrecht steckte kurz den Kopf zur Tür rein.
Wie beiläufig fragte er: "Na, wie geht's der Kleinen?"
"Sie betrachtet mich nicht als normalen Menschen."
"So? Wie das denn? Was haben Sie denn Absurdes angestellt?"
"Gar nichts. Weil ich keine Verhältnisse habe."
"Haben Sie nicht? Den Eindruck hatte ich eigentlich nie."
"Natürlich, aber sie meint mit den Nachbarn."
Prof. Liebrecht brach in schallendes Gelächter aus. "Sie Ärmster! Da haben Sie aber allerhand nachzuholen, wenn Sie es der Kleinen recht machen wollen. Soll ich Ihnen einen Sonderurlaub dazu geben? Im übrigen hätte ich das niemals von ihr gedacht. Sie ist doch gar nicht der Typ dazu. Sie macht einen eher unerfahrenen Eindruck, wie ein Kind."
"Nein, nein, ganz so ist es nicht!" Und Dr. Ingbert Salmann, der Gehirnspezialist mit psychologischen Anwandlungen, begann, es seinem Chef genau auseinander zusetzen. Der wurde auch wieder ernst.
"Dann erhalten Sie nur das Image weiter aufrecht, das sie momentan von Ihnen hat. Keine Verhältnisse und so. Keine Lusthäuser, nichts. Und bewahren Sie mir die Kleine ja so wie sie ist. Nicht, daß Sie was mit ihr anfangen. Sie ist sozusagen Allgemeingut. Eine Einmaligkeit von unschätzbarem Wert. Lange können wir sie sowieso nicht mehr heraushalten aus dem Rummel. Die Welt will wissen, womit wir es da zu tun haben."
"Edda weiß es ja schon", unterbrach Salmann den Professor.
"Genau. Und die will ihr Wissen so bald wie möglich an den Mann bringen. Also finden Sie eine Gelegenheit dazu. Sie wird allmählich aufsässig. Unerträglich ist das. Ganz und gar unerträglich. Außerdem steckt sie die ganze Mannschaft mit ihrem Spleen an. Das Mädchen geistert jedem hier im Kopf herum und keiner kann es mehr erwarten, es wiederzusehen und seine Studien mit ihm treiben zu können."
"Genau das möchte ich verhindern", erwiderte Salmann ernst. "Niemand wird seine 'Studien mit ihr betreiben', dafür ist mir das Mädchen zu schade. Ihr wißt ja gar nicht, was für ein Schatz das ist! Ein wirklicher Schatz. Vielleicht, weil sie ein richtiger Mensch ist und wir sind eben keine wirklichen Menschen mehr. Vielleicht macht es das tatsächlich aus. Obwohl ich noch nicht so richtig dahintergekommen bin, wie sie das meint. Nicht emotional, wissen Sie."
"Nun übertreiben Sie mal nicht, Ingbert", schalt Prof. Liebrecht. "Selbstverständlich wird solch ein Fund ausgewertet bis ins Letzte. Und es werden Studien betrieben, ausgedehnte sogar. Und alle in unserem Institut. Dafür werde wiederum i c h sorgen. Wir haben das Erstlingsrecht, das kann uns niemand streitig machen. Was meinen Sie, wie attraktiv dieses Forschungscenter hier wird! Kommen Sie wieder auf den Boden, Mann! Machen Sie einen Termin für ein Treffen. Und das bald!"
"Den hab ich schon!" verblüffte der Zurechtgewiesene.
"Na also, wußt' ich's doch, daß man sich auf Sie verlassen kann, Salmann!" frohlockte der Professor.
Ingbert lächelte. "So, nun machen Sie sich aber auf was ganz Ungewöhnliches gefaßt, Chef. Jutta und ich geben uns die Ehre, Sie und 10, 12 der wichtigsten Leute bei uns zum Essen einzuladen. In dreiWochen etwa. Studien auf Gegenseitigkeit würde ich das nennen. Das Mädchen ist nämlich auf uns genauso gespannt, wie wir auf sie. Bisher haben nur wir sie ausgefragt. Nun soll sie das auch bei uns dürfen."
"Damit bin ich einverstanden. Aber trotzdem - bis dahin keine persönlichen Beziehungen, nichts dergleichen, verstanden? Das Mädchen muß uns im Original erhalten bleiben, innen wie außen."
"Selbstverständlich. Ich brächte es gar nicht fertig, etwas anderes mit ihr vorzuhaben."
"Ich hab auch gar nichts anderes von Ihnen erwartet, Ingbert", lobte der Professor.
"Da wäre allerdings noch ein Problem, Herr Liebrecht. Jutta entwickelt Wünsche. Sie möchte zum Beispiel reiten. Da ich das erst mit Ihnen besprechen wollte, hab ich es zunächst abgewiegelt. Sie fühlt sich eben recht eingeengt in ihrem goldenen Käfig."
"Na, Reiten dürfte aber kein Problem sein. Es gibt doch Reiterhöfe die Menge, mehr denn je. Wohl auch mehr, als es in ihrer Zeit gegeben hat. Wie haben sie ihr denn das ausgeredet?"
"Gar nicht. Wir haben zusammen am Computer gesessen und nach Pferden zum Reiten gesucht. Allerdings hatte ich meinem Programm eine Sperre eingegeben, sodaß wir zu keinem Ergebnis gekommen sind. Sie denkt jetzt, das gibt es nicht mehr. Hat mir sehr leid getan."
"Das war sehr umsichtig von Ihnen", sagte der Professor. "Sie dürfen Sie keinesfalls der Öffentlichkeit aussetzen. Nicht daß uns das Mädchen noch gekidnappt wird. Oder daß es einen Unfall hat. Es gibt massenhaft Gefahren."
"Ich kann sie nicht immer einsperren. Noch dazu in ihrem Alter. Siebzehn! Denken Sie nur mal, wie hart es so ein junges Mädchen ankommen muß, ganz allein zurechtzukommen. Nur mit mir altem Dackel als Gesellschafter."
"Der 'alte Dackel' ist ja nun wirklich übertrieben, Sie mit Ihren 26 Jahren! Aber es stimmt schon. Ich laß mir was einfallen!"
Auf ja, fein, nun lassen wir ihm aber Zeit zum Grübeln.
- . - . - . - . -
Nun muß zu diesen Lusthäusern noch was gesagt werden. Daß es sie schon immer gab, ist kein Geheimnis. Nur heutzutage, 200 Jahre nach Juttas Geburt, wurde das alles viel lockerer gehandhabt. Man fand heraus, daß solche Lusthäuser eine wahre Marktlücke darstellten. Also wurden sie von findigen Managern in Kaufzentren eingegliedert. Sie waren dort ebenso selbstver-ständlich wie Supermärkte. Luxuriös gestaltet, geleitet von geschultem Fachpersonal, boten sie Lustgewinn für jeden Geschmack und für jedes Alter. Jedermann hatte Zutritt, sogar Kinder und vor allem Jugendliche. Sie alle wollten doch ihre Erkenntnisse und privaten Erfahrungen vertiefen, Neues kennenlernen, über Risiken informiert werden. Die einzige Hemmschwelle bot noch der hohe Preis. Trotzdem war es eines der bestbesuchten Etablissements. Der Aufwand lohnte sich.
Schon seinerzeit, vor 200 Jahren, wurden sämtliche Tabus gebrochen, die Medien verbreiteten und glorifizierten geradezu die ausgesuchtesten Perversitäten, ohne daß irgendeine Institution einschritt, die allegemeine Moral sank bis auf den Nullpunkt. Das hatte zur Folge, daß die Impotenz um sich griff. Langeweile auch in dieser Hinsicht. Immer mehr Menschen bekamen nur noch dank ärztlicher Eingriffe Babies, sexuelle Beziehungen wurden oft nur durch künstliche Stimulans aufrechterhalten. Das alles vertiefte sich im Laufe der Zeit. Hinzu kam die Versingelung durch zuviele elektronische Bekanntschaften, d.h. hauptsächlich durchs Internet. War ja so praktisch. Man konnte jede Bekanntschaft sofort ohne Kommentar ausklicken, wenn es zu kompliziert wurde. Keine Aussprache, keine Auseinandersetzungen, keine seelischen Katastrophen mehr. In punkto Sex ließ man noch mehr Hemmungen fallen,
sodaß heute Lusthäuser jedem Gewerbegebiet mit Supermärkten, Sporthallen und anderen Vergnügungen angegliedert sind. Es sind kultivierte Stätten, mit viel Komfort und Luxus aufgezogen und mit ausgesuchtem Personal. Eine Marktlücke mit immensen Gewinnchancen. Kaum jemand, der da nicht schon mal hingegangen wäre. Auch davor sollte Jutta vorläufig bewahrt werden. Verständlich.
Doch das Verhängnis rückte näher.-
Als Salmann an diesem Abend nach Hause kam, erwartete ihn Jutta mit vor Aufregung roten Bäckchen. Sie hatte eine Idee gehabt und sich die den ganzen Tag lang so heftig ausgemalt, als wäre sie bereits Wirklichkeit.
"Hast du heute auch soviel Hunger, daß du vor allen Dingen was essen mußt?" frage sie fürsorglich.
"Klingt irgendwie nach Attacke", lachte er. "Hunger hab ich, aber du kannst mir ruhig vorher erzählen, was du auf dem Herzen hast."
"Also, ich hab mir gedacht, wenn wir schon die vielen Leute einladen, wäre es doch gut, wir würden auf einem richtigen Markt einkaufen gehen und uns das Schönste und Beste selbst aussuchen. Meinst du nicht? Wäre das nicht toll? Du mußt auch unbedingt mal unter Leute, du bist ja geradezu verheiratet mit deiner Firma. Na? Was meinst du?"
"Daß ich doch zuerst mächtig Hunger habe. Was gibt's denn heute Schönes?"
"Einen Semmelschmarrn mit Apfelmus. Kannst dir ja noch was anderes aus der Box holen, wenn es dir nicht schmeckt."
Das gab Aufschub. Er lobte das Essen, ließ es sich schmecken, arbeitete fieberhaft an einer Ausrede. Juttas Augen glänzten, ihre roten Bäckchen hörten nicht auf zu strahlen, der ganze Kerl war eine einzige Erwartung. "Jetzt sag schon, was hältst du denn von meinem Vorschlag? Wann fahren wir denn? Wo gibt es denn solche Märkte? Doch nicht hier im Wald, nein, das glaub ich nicht." Und, und, und....
Ingbert mußte was sagen. "Du wirst enttäuscht sein, Jutta. Da ist es auch nicht viel anders, als bei uns in der Vorratskammer. Die Supermärkte sind genauso aufgebaut. Die paar Leute, die da herumlaufen, sind ganz bestimmt nicht an Gesprächen interessiert. Sie kümmern sich nur darum, daß sie so schnell wie möglich ihre Einkäufe erledigen und wieder nach Hause kommen. So ein tolles Erlebnis wäre das auch für mich nicht. Da ist mir meine Arbeit wirklich zehnmal lieber, als so ein sinnloser Supermarktbesuch."
"Ach du bist ein Spielverderber", schalt Jutta enttäuscht. "Reiten kann ich nicht, einkaufen kann ich nicht, in die Disko darf ich nicht, in kein Kino, in kein Café, es ist wie im Gefängnis. Weißt du was? Ab heute ist die Hausmannskost wieder gestrichen. Hab keine Lust mehr, mich als Köchin zu betätigen. Als wäre ich zu nichts anderem gut. Und wenn ich mich den ganzen Tag hinsetz und die Wand anstarre. Nichts mehr mach ich, gar nichts mehr!"
Ingbert sah sein Einladung zum Essen in Gefahr. Er lenkte ein.
"Natürlich darfst du, keine Frage. Ich mach dich nur darauf aufmerksam, daß du dir zuviel erwartest von einem Einkaufsbummel. Es mag bei euch ja anders gewesen sein - mittlerweile hat man Fortschritte gemacht. Man muß sich um so alltägliche Dinge nicht mehr selber kümmern. Das weißt du doch inzwischen."
"Ja, ja! Man muß sich um überhaupt nichts mehr kümmern!" schrie sie ihm entgegen. "Man braucht sich nur noch hinzusetzen und mit dem Finger zu schnippen, schon wird einem das Leben abgenommen. Wenn man Leben möchte, dann das vom Bildschirm. Mehr verlangt ihr euch nicht mehr. Ihr braucht keine frische Luft mehr zum Atmen, ihr habt eure Klimaanlagen. Ihr braucht keinen Wind, keine Sonne, keinen Schnee, kein Gewitter - vor allem
schützt ihr euch und das bestens. Ihr wißt doch allesamt gar nicht mehr, was Leben ist! Ich will nicht mehr da sein, ich will nicht mehr!" Weg war sie. Ihr rotes Gesichtchen war geblieben, nur in ihre strahlenden Augen war ein dunkler Glanz gekommen und hatten sich mit Tränen gefüllt.
Wieder einmal fühlte sich Ingbert völlig hilflos. Zunächst einmal hatte er Tränen in den Augen einer Frau noch nie erlebt. Das allein schon brachte ihn aus der Fassung. Dann hatte er nicht erwartet, daß seine sachlichen Erklärungen eine derartige Wirkung auf dieses Geschöpf haben würde. Er wollte es ihm doch hier zu Hause so schön wie möglich machen! Sollte er ihr nachgehen und zu trösten versuchen? Aber mit was? Doch nicht damit, daß er genau das Gegenteil von dem machen würde, was er ihr gerade auszureden versucht hatte. Er fühlte sich außerstande, dem Mädchen irgendwie näher zu kommen.
Liebrecht! Jawohl Prof. Liebrecht. Er sollte helfen. Er war ja auch schuld daran, daß er die Kleine in Quarantäne halten mußte. Ingbert loggte sich bei ihm ein.
"Tut mir leid, Professor, daß ich Sie nochmal stören muß. Sie will auf einem Markt einkaufen gehen. Was soll ich nur machen? Sie heult jetzt und ist auf ihrem Zimmer, weil ich ihr gesagt hab, es würde ihr vielleicht nicht gefallen. Es ist nichts Besonderes dran."
"Das sagen S i e!" Liebrechts Stimme klang vorwurfsvoll. "Sie wissen doch, wie Frauen sind, die können sich für Sachen begeistern, die würde ein Mann nicht einmal wahrnehmen. Aber ich kann Sie nicht gehen lassen. Sie würden eine Menge Aufsehen erregen mit ihr. So wie sie aussieht! So anders, als unsere Mädchen. Im Nu hätten Sie die Presse am Hals und ich das Ministerium. Nein, unmöglich, wir müssen eine andere Form finden. Lassen Sie mich nachdenken. Ich melde mich bei Ihnen, wenn ich es hab."
Ingbert sank in einen Sessel zurück. Er war unglücklich und verwirrt. Es tat ihm unendlich leid, Jutta so enttäuscht zu haben. Wenn er doch einfach zu ihr gehen, sie in die Arme nehmen und trösten könnte. Aber er konnte es ja nicht. Womit trösten? Sie hatte ja recht, er war wirklich mit seiner Firma verheiratet, kannte kaum jemanden anders, als die Leute, mit denen er beruflich zu tun hatte. Er hatte nichts vermißt bisher. Mal ausgehen! Aber ja! Genau! Ingbert fiel schlagartig die Lösung des Problems ein. Er meldete sich sofort bei seinem Chef.
"Herr Liebrecht, ohne lange Umschweife: Wie wär's mit einem Betriebsausflug ins Kaufcenter nach München? Da hätte Jutta ihren Spaß und wir hätten sie unauffällig unter Kontrolle. Ganz nebenbei könnte sie nach Herzenslust einkaufen, wenn sie es schon so schön findet."
"Tja, wäre immerhin zu überlegen. Wir besprechen das morgen, ja? Gute Nacht, für heute."
'Gute Nacht' - für wen? Ingbert versuchte, seinem durcheinander gekommenen Innenleben mit Psychologie beizukommen, Jutta weinte sich zuerst in Schlaf und dann in Wut und Prof. Liebrecht kaute an Organisationsproblemen.
Auch diese Dinge müssen hin und wieder sein.
Am nächsten Morgen erschien Jutta gefaßt und ernst am Frühstückstisch. Ingbert machte sich in der Küche zu schaffen. Jutta rief ein fröhliches 'Guten Morgen!' in den Raum hinein und setzte sich bequem zurecht. Sie hatte nicht vor, in Gegenwart ihres Gastgebers auch nur einen Finger krumm zu machen. Nicht, bevor nicht alles geklärt war zwischen ihnen. Kurz darauf erschien der Frühstückswagen, voll beladen mit allem, was das Gemüt nur aufheitern konnte, und dahinter Ingbert mit Dackelblick und dunklen Ringen unter den Augen. Auch er versuchte es mit einer lässigen Munterkeit. "Gut geschlafen?" fragte er.
"Danke, ausgezeichnet", erwiderte das Mädchen, Trotz in der Stimme, ein Lächeln auf den Lippen. Das Frühstück nahm seinen Lauf.
"Ich bin nachher mal drüben in meinem Büro", bemerkte der Gestreßte. "Erwarte einen Anruf. Was hast du denn heute so vor?"
"Och, nichts. Ich muß nachdenken. Kümmre dich gar nicht um mich, ja?"
"Natürlich", meinte er. Kurz darauf hockte jeder wieder in seinem stillen Kämmerchen. Jutta entdeckte plötzlich eine Flut von Wünschen in sich. Kleider, Mode überhaupt, Menschen kennenlernen, Tiere aufspüren, von denen hatte sie bisher überhaupt noch nichts gesehen. Joggen wollte sie, ja, und überhaupt, wo konnte man Sport machen? Wo schwimmen? Es lief darauf hinaus, daß sie so schnell wie möglich wieder ausreißen wollte. Nur diesmal mit mehr Würde und mit einem genauen Plan. Wenn nur dieser Lästling nebenan schon verschwunden wäre!
Der meldete sich im Institut bei Herrn Liebrecht.
"Gut, daß Sie anrufen, Ingbert", empfing er ihn. "Die Sache mit dem Betriebsausflug geht in Ordnung. Wir müssen nur noch klären, wann und mit wem. Ich habe für 10 Uhr eine Besprechung anberaumt. Machen Sie für sich alles klar bis dahin."
"Eigentlich wollte ich heute nicht kommen", antwortete Dr. Salmann. "Jutta scheint mir in einem gefährlichen Stadium zu sein. Ich möchte sie nicht allein lassen, wer weiß, was sie wieder anstellt."
"Dann bringen Sie sie eben mit. Ich erwarte Sie jedenfalls um zehn. Und jetzt habe ich zu tun."
Aus, Ende. Ingbert meldete sich per Bildschirm bei Jutta. "Ich habe Neuigkeiten! Darf ich rüberkommen?"
Sie hörte es sich in Ruhe an, erwähnte nichts von ihren Wünschen, war lammfromm und kam ohne Widerspruch mit. Insgeheim aber nahm sie sich vor, von nun an nichts mehr einfach mit sich geschehen zu lassen, sondern selbst aktiv zu werden.
- . - . - . - . -
Wieder saß sie auf diesem Sofa im Besprechungszimmer, diesmal jedoch elegant gekleidet im Stil der neuen Zeit, die Haare hochgesteckt, braune Kringellöckchen fielen wie zufällig an den Schläfen herab, verdeckten zeitweilig ihren Blick. Prof. Liebrecht behandelte sie äußerst liebenswürdig, um nicht zu sagen, mit einer gewissen Ehrerbietung. Vielleicht machte das ihr neues Erscheinungsbild aus. In dem gegenwärtigen antiken Fundstück war jedenfalls nichts mehr zu erkennen von dem hilflosen, verängstigten Geschöpf in Shorts und Hemdchen, wie es damals gefunden worden war.
Dr. Salmann, ihr Beschützer, durfte wieder neben ihr Platz nehmen. Der Professor hatte sich in den Halbkreis der eingeladenen Mitarbeiter integriert. Mit übergeschlagenen Beinen saß er in der vordersten Reihe, wippte nervös mit dem Fuß und beäugte sich sein Studienobjekt.
"Nun erzählen Sie mal, Jutta - oder ist Ihnen die Anrede 'Frau Andreß' lieber?"
Jutta lächelte süß. "Jutta genügt vollkommen, Herr Professor. Und was hätten Sie denn gerne gewußt?" Sie fühlte sich zum ersten Mal sicher und sogar Herr der Lage.
"Nun, wie es Ihnen hier gefällt, wie Sie Ihre Zeit verbringen - erzählen Sie uns einfach alles, was Ihnen so einfällt."
"Auf alle Fälle staune ich, was aus unserer Welt geworden ist. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß die Menschheit sich jemals in ihrem Wachstum bremsen ließe. Und vor allem nicht, daß man heute wieder ein Auge für die Natur hat. Ich hätte mir eher vorstellen können, daß es in einigen Jahrzehnten schon keine Wälder mehr geben würde, nur noch Häuser, ein paar Wiesen vielleicht und vor allem viel Wüste. Und genau das Gegenteil ist der Fall."
Ingbert warf einen stolzen Blick auf seinen Schützling.
"Und sonst? haben Sie sich bereits zurechtgefunden mit der täglichen Technik? Sicher hat sich da vieles geändert in den letzten 200 Jahren. Und die Gesellschaftsstruktur - ist sie Ihrer Meinung nach besser geworden? Hat die Menschheit dazu gelernt oder wie sehen Sie das?"
"Eigentlich seh ich gar nichts", gab Jutta wahrheitsgemäß zur Antwort. "Ich hab bisher ja nur drei Leute näher kennengelernt. Und das sind Edda, Siegfried und Dr. Salmann. Alles andere wird ja sorgfältig von mir ferngehalten. Dafür habe ich allerdings kein Verständnis. Warum führen Sie mich nicht in Ihre Welt ein, wie einen Gast oder eben wie das, was ich bin, ein Wesen aus einer anderen Zeit? Es ist mir zu wenig, nur Kleidung, Essen und technische Spielereien die Menge zur Verfügung zu haben. Ich vermisse meine Schule, eine geistige Herausforderung, auch eine körperliche. Gibt es denn keine Sportplätze mehr? Keine Fitness-Center? Schwimmhallen? Die Reiterhöfe sind ja inzwischen abgeschafft worden, wie ich von Ingbert - Dr. Salmann - erfahren habe."
Sie hatte sich in Rage geredet, Röte überzog ihre Wangen, Feuer glänzte in ihren Augen. Ein hübsches Bild, wie insgeheim festgestellt wurde.
"Aber nein, nicht doch!" beschwichtigte Prof. Liebrecht. "Natürlich gibt es das alles noch. Wir wollten Ihnen genügend Zeit lassen, sich einzugewöhnen. All das sollen und müssen Sie kennenlernen, gar keine Frage, natürlich. Fürs erste haben wir uns gedacht, wir machen einen Betriebsausflug nach München. Unsere Crew freut sich schon riesig darauf. Und das haben wir Ihnen zu verdanken. Denn auf so etwas wäre niemand gekommen. Hier hat jeder nur seine Arbeit im Sinn, wissen Sie."
Die sich freuenden Leute nickten beifällig und machten ein paar Bemerkungen.
"Einen Betriebsausflug? Ja prima!" rief Jutta aus. "Da bin ich ja in bester Gesellschaft." ... und wieder umringt und umzingelt von Aufpassern, hätte sie am liebsten hinzugefügt. Doch sie beherrschte sich.
"Wie wär's am Wochenende?" fragte Liebrecht und sah in die Runde. Nur proforma, denn natürlich war das längst beschlossene Sache.
"Gerne, jederzeit", sagte das Mädchen.
"Gut, dann bleibt's dabei. Möchten Sie vielleicht einen Rundgang durch unser Institut machen? Es gibt sehr viele interessante Abteilungen hier. Dr. Salmann könnte Sie begleiten."
"Oh ja, danke", sagte Jutta höflich und man begann sich aufzulösen.
Edda war die ganze Zeit über sehr ernst und verschlossen auf ihrem Sitz gesessen. Jetzt ging sie auf Prof. Liebrecht zu.
"Warum haben Sie nichts von dieser Party gesagt? Sie wissen doch, daß ich bei dieser Gelegenheit einen Vortrag halten wollte. Und der hätte Jutta bestimmt sehr interessiert."
"Das kommt schon noch. Wir wollen nichts überstürzen. Sie haben ja gehört, daß sie raus will aus ihrem 'Gefängnis', so wie sie das sieht. Lassen wir ihr Zeit. Überlegen wir uns lieber, wie wir diesen Ausflug gestalten wollen. Kommen Sie, Edda, Ihr Organisationstalent ist jetzt gefragt." Und die beiden verschwanden diskutierend.
Dr. Ingbert Salmann, der Gehirnspezialist, durchglitt mit einer etwas distanzierten Jutta inzwischen die diversen Räume des Glaspalastes. Längst schon war man dazu übergegangen, Gleitkabinen auch in die Quere zu installieren, nicht nur Aufzüge rauf und runter. Denn der umfangreiche Gebäudekomplex erforderte eine schnellere Fortbewegungsart als die per pedes. So lernte die Fremde neue Räume und Menschen, Forschungsziele und -methoden - und überall den kühlen Geist der Wissenschaft kennen. Selbstverständlich herrschte auch hier eine gewisse Vertrautheit, die jedoch einem Fremden auf den ersten Blick verborgen blieb. Nach eineinhalb Stunden äußerte die Überforderte den Wunsch, die Cafeteria aufzusuchen, was ihren Begleiter leicht überraschte.
"Interessiert es dich nicht mehr? Du wolltest doch so gerne mehr über unsere Zeit wissen. Hier findest du die beste Art, sie kennenzulernen."
"Das hab ich ja nun, vielen Dank auch. Eure Cafeteria gehört aber auch dazu. Die darfst du mir gerne noch einmal in allen Einzelheiten vorführen."
Ingbert tat ihr den Gefallen. Und in der Tat, auch er verspürte Lust, bei einem zweiten Frühstück die bisherigen Eindrücke zu vertiefen. Bei einer Riesentasse Capuccino, Gebäck und Obst ließ Jutta ihre Reserviertheit fallen. "Toll habt ihr es hier", bemerkte sie und biß herzhaft in ein Wurstbrötchen. Vor ihr breiteten sich noch viele Köstlichkeiten aus, von denen sie keine auszulassen gedachte. Salmann machte es Vergnügen, seine alte Jutta allmählich wieder zum Vorschein kommen zu sehen. Unbekümmert, strahlender Laune - und mit gutem Appetit. Ja, auch das gefiel ihm an ihr. Im Gegensatz zu allen anderen Menschen, mit denen er zu tun hatte, tat sie sich keinerlei Zwang an bei ihren Wünschen. Sie aß nicht beherrscht, in Gedanken schon wieder bei irgendwelchen beruflichen Problemen, oft nur mal eben von dem und jenem kostend. Nein, sie langte zu, die Kleine, ließ es sich ungeniert schmecken und freute sich über jede Neuigkeit. Nachdem diese Art der Lebenslust eine Weile angedauert hatte, fragte Ingbert mal nach - "und was hat dir jetzt am besten gefallen? Ich meine, was hat dich am meisten beeindruckt?"
Vergnügt langte Jutta nach einem Schokoladentörtchen und meinte: "Na hier natürlich, hier gefällt es mir am besten. Schau doch nur, was da alles herumsteht, ich glaub, in Monaten werd ich nicht fertig damit, alles durchzuprobieren. Das beeindruckt mich schon!"
"So materiell bist du eingestellt?" Eine leichte Enttäuschung konnte er nicht verbergen..
"Nun ja, nicht ganz. Aber weißt du, von all dem, was du mir gezeigt hast, versteh ich ja nichts und hab das meiste auch schon wieder vergessen. Außer den vielen blitzenden Geräten, den ganzen gläsernen Käfig hier mit seinen seltsamen Menschen - wenn ich nicht aufpasse, krieg ich noch Komplexe, weil ich so gar nicht dazugehöre und keinen Schimmer von irgendwas hab. Dabei bin ich gar nicht so. Ich hab sehr wohl Interesse an der Technik, soweit sie meinen vorgehabten Beruf betraf. Und am Zeichnen und Gestalten. Ich war so schön mittendrin in allem und bin gut vorwärtsgekommen, bis dann das passierte." Wieder bekam ihr Gesicht diesen traurigen, verstörten Ausdruck, den Ingbert zur allzugut kannte.
"Und du kannst dich auch jetzt nicht daran erinnern, wie das geschehen ist? Was zuletzt war?" "Nur, daß ich meine Eltern besucht hab. Und an unseren schönen großen Garten kann ich mich erinnern. Aber warum? Da war etwas, Ingbert. Irgendetwas war im Garten, etwas Schönes, deswegen kommt er mir immer wieder in den Sinn."
Nachdenklich sah sie der Brainologe an. War da der Schlüssel zu ihrer Zeitreise verborgen? Aber wo und wie? Sie aß gerne und viel. Also - "Hat es in diesem Garten irgendetwas gegeben, was du besonders gerne mochtest? Einen Obstbaum vielleicht oder Blumen?"
Auf einmal fuhr das Mädchen auf. Ihr ganzes Gesicht leuchtete, als es rief: "Aber ja doch, klar, jetzt weiß ich's wieder! Ingbert - du glaubst es nicht, es war nichts zum Essen! Es war die Hängematte! Ja, genau, da war eine Hängematte und in der hab ich immer geschlafen, wenn ich zu Hause war und schönes Wetter. Himmel, die Hängematte! Kannst du damit etwas anfangen?"
"Nein, leider nicht. Aber festhalten wollen wir's. Immerhin ein Mosaiksteinchen in diesem Puzzle. Er holte sein Handy hervor - sagen wir mal 'Handy' dazu, denn sowas Ähnliches war es tatsächlich. Grade, als er das neueste Geständnis einspeichern wollte, hielt er inne. "Augenblick mal, Liebrecht hat mir eine Nachricht rübergeschickt." Er las aufmerksam. Dann schmunzelte er. "Es betrifft unseren Betriebsausflug. Liebrecht hat sich mit Edda was ganz Besonderes für dich ausgedacht. Verrat ich dir aber nicht. Wie weit bist du mit dem Durchprobieren?"
"Ach, noch lange nicht fertig." Jutta ließ ihre Augen bedauernd über die Fülle der Herrlichkeiten gleiten, die sie heute alle nicht mehr verkraften konnte.
"Wir kommen doch wieder, hm?
"Sooft du willst. Ich denke, wir sollten uns jetzt von Dr. Liebrecht verabschieden und nach Hause zurückfahren."
So geschah es. Ingberts Chef hatte auch gar nichts dagegen, daß sein Mitarbeiter heute nicht mehr an seinem Arbeitsplatz erscheinen wollte. Er hatte Wichtiges vorzubereiten.
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In Salmanns Kuppeldomizil angekommen, ließ Jutta sich sofort aufs Sofa fallen und hielt einen wohlverdienten Verdauungsschlaf. Ingbert aber verschwand in seinem Arbeitszimmer, meldete sich sofort bei Dr. Liebrecht.
"So, jetzt können wir in Ruhe über alles reden. Die Kleine schläft wie ein Murmeltier. Wie soll das alles laufen mit unserem Ausflug?" Es wurde eine längere Auseinandersetzung.
"Edda hat mich rumgekriegt, nun doch nicht nach München zu fahren. Sagen wir mal, sie hat mich überzeugt. Es ist nämlich wirklich phantastisch, was sie alles über Juttas früheres Leben herausgefunden hat. Sie will mit ihrem Vortrag nicht so lange warten, bis wir zu eurer bayrischen Party kommen. Sie, also wir machen unseren Betriebsausflug gleich nach Pfaffenhofen, ihrem Heimatort. Dort gibt es für unseren Gast am meisten zu sehen und wir erhoffen uns eine Menge neuer Anhaltspunkte, um auch noch den Rest des Geheimnisses zu lüften. Nur müssen wir höllisch aufpassen, daß uns das Mädchen nicht abhanden kommt. Denn gewisse Freiheiten müssen wir ihm schon lassen. Nicht daß sie sich wieder so unter Beobachtung und beengt fühlt, wie bisher. Sie muß sich völlig frei bewegen dürfen, nur dann können wir vielleicht etwas entdecken, was uns weiterhilft. Was, das kann ich mir allerdings auch nicht vorstellen."
"Das ist ein guter Gedanke von Edda. Pfaffenhofen, da fällt mir auch noch etwas ein....!"
Und Dr. Salmann erörterte mit wachsender Begeisterung, was alles an diesem Tage geschehen sollte. Er wußte nicht, daß er damit einleitete, was Mutun bereits für seines Freundes Leben unter den Menschen vorgesehen hatte. Es war ja Zuschick, der sich in Juttas Körper verbarg. Doch sie wußte es nicht mehr.
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Das Wochenende kam heran. Dr. Salmann fand seinen Schützling in argen Nöten. "Was zieht man denn bloß an bei so einem Ausflug? Diese ewigen glatten Anzüge, die ihr bei jeder Gelegenheit anhabt, gefallen mir nicht. Gar nicht! Sieht schon toll aus und paßt auch zu euch, aber ich hätte lieber was Beschwingtes, Leichtes. Was meinst du, Ingbert, ob wir Edda mal besuchen sollten? Vielleicht hat sie was Passendes für mich in ihrem Kleiderschrank."
"Wir können ja bei ihr anfragen, wart, ich mach das gleich!"
Und schon leuchtete der Bildschirm auf. Man fand Edda kramend in ihrem Arbeitszimmer. Sie wendete ihr Gesicht dem Monitor zu. "Hallo, ihr zwei! Gibt's Probleme?"
Jutta drängte Ingbert zur Seite. "Hallo, Edda! Ja, gewaltige! Sag mal, was ziehst du denn an morgen? Ich hab überhaupt nichts Richtiges da."
Edda schmunzelte. "Komm doch einfach rüber, dann knobeln wir zu zweit was aus."
Jutta warf Salmann einen fragenden Blick zu. Der nickte. "Meinst du gleich?"
"Ja, am besten gleich, Jutta. Viel Zeit haben wir ja nicht mehr."
Ingbert zeigte viel Verständnis. Die beiden zogen sofort los. "Ich bin ja so aufgeregt!" gestand sie ihm im Airset. "Zum ersten Mal so richtig unter Leuten, und ich... - du, ich möchte doch so richtig gut aussehn!" "Das wirst du bestimmt", versicherte er ihr.
Nicht nur Jutta hatte Herzklopfen und rote Bäckchen, als sie endlich in Eddas Garten landeten. Auch Edda hatte Mühe, sich eine gewisse Aufregung nicht anmerken zu lassen. Der Tag der großen Ereignisse war endlich heran-gekommen, Jutta war sozusagen i h r Geschöpf, von Kopf bis Fuß, sie wußte so gut Bescheid über sie, als wäre sie ihre Schwester. Und für das nötige oufit wollte sie schon noch sorgen.
"Du kannst uns die nächsten zwei Stunden gerne alleine lassen, Ingbert. Willst du nicht kurz bei Prof. Liebrecht vorbeischauen?" forderte sie ihn auf.
So, den hätten sie los und ab ging's in die Kleiderkammer. Die bedeutete für Jutta sowieso schon das Paradies. Nun wühlten sie beide darin herum, zogen an, verwarfen wieder, zogen aus - die Kleidungsstücke stapelten sich allmählich in dem lichten Raum. Es war nicht nur, daß sie für den Betriebsausflug was Schönes gesucht hätten, nein. Die beiden Frauen hatten ganz einfach Spaß daran, in Mode zu machen, eine die andere zu bewundern oder zu kritisieren. Sie lachten viel und herzhaft. Das alte gute Verhältnis war wieder hergestellt. Wo Siegfried sich inzwischen herumtrieb - keine fragte danach. Wohnte er überhaupt noch da oder hatte sich Edda wieder ihre Freiheit verschafft? Na, jedenfalls vergingen die zwei Stunden bis zu Ingberts Wiederkehr wie im Flug. Aber dann hatten sie auch, was sie sich wünschten. Beide. Edda mußte zugeben, ohne das junge Mädchen hätte sie sich wohl nicht in die verführerische Kleidung gehüllt, die sie nun mit Jutta zusammen für morgen ausgewählt hatte. Auch ihrer Frisur gestattete sie eine Auflockerung. Die würden Augen machen morgen, nicht nur wegen ihrer Enthüllungen aus Juttas Vorleben!
So fanden sie sich also Samstag morgen alle ein zum Start nach Pfaffenhofen, fast zwanzig Fahrzeuge parkten vor dem Institutsgelände, bereit zum Abflug. Prof. Liebrecht stieg auf mit seinem Freizeit-Airset, zählte von oben die Häupter seiner Lieben bzw. deren Fahrzeugdächer und gab das Zeichen zum Aufbruch. Sie surrten los. Es war noch früh, höchstens neun Uhr. Der Wald war gerade erwacht, die Sonne durchflutete die herrliche Landschaft, ließ die Fahrzeuge glitzern und die Stimmung steigen. Bewaldete Hügel soweit das Auge reichte, hin und wieder ein Kuppeldörfchen, zwischendurch auch ein spitzer Kirchturm, auf den Jutta jedesmal begeistert hinwies. "Tja, so ganz weg von deiner Zeit sind wir nicht. Da wirst du noch einiges Bekannte zu sehen bekommen. Steht zum Teil unter Denkmalschutz", klärte Ingbert auf.
Der Wald lichtete sich, eine weitläufige Stadt mit glitzernden Glaspalästen in den verschiedensten Formen kam in Sicht, durchsetzt von Kirchtürmen und alten Bauten aus vergangenen Jahrhunderten. Vororte aus lauter kleinen Kuppelhäuschen verliehen dem Ganzen den Anschein einer Maulwurfidylle gigantischen Ausmaßes. An der Peripherie entdeckte Jutta riesige Gewerbegebiete mit unendlichen Parkplätzen.
"Was ist das denn?" fragte sie staunend.
"Das ist dein Heimatort, Pfaffenhofen. Erkennst du was wieder?"
"Jaa!" rief sie, "da, das Rathaus, die Kirchen und dort drüben - Ingbert, geh doch runter!"
"Wir treffen uns dort auf dem Parkplatz. Liebrecht steuert schon drauf zu, siehst du?"
So war es. Aber anstatt sich um den Leiter der Expedition, Herrn Prof. Liebrecht zu scharen, strömte alles sofort auf das fremde Mädchen und auf Edda zu. Die beiden in ihrer extravaganten und sexbetonten Aufmachung zogen männliche wie weibliche Kollegen magisch an. Eddas bläulich schimmerndes schwarzes Haar fiel in schmeichelnden Wellen über ihre Schultern. Auch Jutta trug ihre braune Haarflut offen und beide waren geschmückt mit leichten Sommerhüten - durchaus unüblich in dieser streng technisch ausgerichteten Welt. Ihre figurbetonten Gewänder nahmen die Blicke gefangen. Edda in smaragdgrün, Jutta orange-geblümt. Prof. Liebrecht bahnte sich einen Weg durch die Menge. "So, bevor wir uns ins Shopping-Vergnügen stürzen, sollte Edda unseren Gast und auch uns über alles Wissenswerte aufklären. Lange genug hat sie daran gearbeitet. Am besten, wir setzen uns alle dort drüben ins Café."
Die beiden Damen waren nicht mehr zu trennen und bis sie das Lokal erreichten, hatte sich ihnen eine Menschenmenge angeschlossen, die nicht wußte, was von all dem halten sei. Das sollte auch so bleiben. Sollten sie sich ruhig die Köpfe darüber zerbrechen, ob es sich nun um ein neues Starlet handelte oder sonst etwas in der Richtung. Sehr zu Eddas Mißvergnügen. Die hätte zu Ihrem Vortrag am liebsten die Presse eingeladen und ein Lokalereignis daraus gemacht. Nur mit Mühe hatte Prof. Liebrecht ihr das ausreden können. Denn so lange sie selbst nichts Genaues über das Mädchen wußten, sollte auch die Öffentlichkeit nichts davon erfahren. Dieses Geschöpf sollte Eigentum und Geheimnis des Instituts bleiben, so lange das irgend ging. Deswegen begab sich die ganze Mannschaft auch in einen abhörsicheren Nebenraum, der sie zugleich vor neugierigen Blicken schützte.
Als alle Platz genommen und jeder eine kleine Erfrischung vor sich stehen hatte, ersuchte Edda um Aufmerksamkeit.
"Nun werden wir das Geheimnis um Jutta lüften", begann sie und lächelte dem Mädchen zu. "Dank deiner Mithilfe habe ich so ziemlich alles über deine Vergangenheit herausgefunden. Du hast mir dein Geburtsdatum genannt, das war der 18. Mai 1990. Stimmt's?" Jutta nickte.
Edda fuhr fort. "Das war noch vor dem großen Wasserkrieg und vor der weltweiten Epidemie, die sehr dazu beigetragen hat, die Menschheit zu reduzieren. Damals war Pfaffenhofen ein eher unbedeutender Ort, der sich um Tourismus bemühte und deswegen ebenso zum Umweltzerstörer geworden ist wie jede andere Stadt, ja, wie jeder Ort, der die Menschen gerade wegen ihrer Naturschönheiten angezogen hat. Man sollte meinen, eben dieser Hang, sich zur Erholung in die freie Natur zu begeben, hätte die Menschen dazu angeregt, diese auch zu erhalten und zu schützen. Genau das Gegenteil war der Fall. Die Städte wuchsen ins Riesenhafte, Wälder wurden zerstört, Gewässer verunreinigt, dafür aber künstliche Sportstätten und Bäder erbaut. Durch die Globalisierung wurden Einkaufsmöglichkeiten erschlossen, die die Errichtung von weiteren Gebäuden und Industrieanlagen nötig machten. Das Wachstum der Bevölkerung nahm unermeßliche Formen an, die Rohstoffe wurden knapp und die Technisierung erforderte einen nicht mehr zu deckenden Energiebedarf. Hinzu kam die damals beginnende Erderwärmung und die Wasserknappheit. Zwar versuchte man, gemeinsam dagegen vorzugehen, doch konnte sich kein Land auf der ganzen Erde dazu entschließen, wirklich effektive Maßnahmen zu ergreifen. Diese Fragen wurden zu deiner Zeit, Jutta, aufgeworfen."
"Ja, das stimmt", sagte diese. "Ich hab mich damals nicht viel darum gekümmert, aber in den Nachrichten kamen wohl immer Meldungen darüber. Gleichzeitig auch über all die Kriege, die überall stattfanden und das interessierte mich viel mehr. "
"Das war erst der Anfang. Die wirklich großen Kriege fanden fast 100 Jahre später statt. Soviel zu deiner persönlichen Information. Die anderen sind mit diesen Ereignissen von ihrem Geschichtsunterricht in der Schule her vertraut. Aber nun zu dem, was dich am meisten interessieren wird: Deine Familie." Jutta hing wie gebannt an den Lippen der Erzählerin.
"Du weißt, was mit ihnen geschehen ist?" fragte sie aufgeregt.
"Ich denke schon. Soviel ich herausgefunden hab, stand dein Elternhaus in einem kleinen Vortort von Pfaffenhofen. Den gibt es so nicht mehr. Deine Eltern haben sehr unter deinem Verschwinden gelitten. Es wurden umfangreiche Nachforschungen angestellt, ein Verbrechen war nicht ausgeschlossen. Das zog sich über mehrere Jahre hin. Deine Eltern haben den Abschluß dieser Bemühungen nicht mehr erlebt. Anscheinend durch psychische Belastung haben sie sich Krankheiten zugezogen. Dein Vater starb an einem Herzversagen und deine Mutter bekam eine nicht näher bekannte Allergie und verstarb drei Jahre später durch einen Zusammenbruch des Immunsystems. Tut mir leid, Jutta, daß ich das sagen muß. Ich seh aber ein, daß du ein Recht darauf hast, es zu erfahren."
"Und was ist aus meinem Bruder geworden, aus meinem Onkel? Der war doch bei der ESA in Oberpfaffenhofen beschäftigt. Weißt du das auch, Edda?"
"Dein Bruder ist weggezogen. Er war Biologe und seine Spur führt in den Osten, möglicherweise in die frühere Ukraine. Dort entwickelten sich zu dieser Zeit gerade Möglichkeiten, sich in der Sparte zu profilieren. Dein Onkel hatte drei Kinder, zwei Jungs und ein Mädchen. Einer seiner Söhne, Albert Andreß, hat sich ebenfalls bei der ESA einen Namen gemacht durch eine außergewöhnliche Methode der Materialforschung. Die Spuren der anderen beiden Kinder verlieren sich. Albert hat nicht geheiratet, war aber liiert mit einem Mädchen aus der Verwaltung. Die beiden hatten einen Sohn, aber da hört es dann auf. Mehr konnte ich nicht herauskriegen. Vielleicht sitzen Nachfahren von ihm immer noch irgendwo im Bereich der ESA, möglicherweise sogar in unserem Institut. Das bleibt interessant, Jutta!
Aber weiter. Es gab also im Laufe der folgenden Jahrzehnte erhebliche Spannungen zwischen Ost und West, den noch wasserreichen Ländern und den von der voranschreitenden Verwüstung bedrohten. Auslöser für die nun folgenden Kriege war der Energiebedarf. Nicht nur, daß die ölführenden Länder ihre Lieferungen in die übrige Welt drosselten und so eine weltweite Verstimmung hervorriefen, es gab auch zunehmend Beschränkungen im Verbrauch fossiler Brennstoffe. Jedenfalls brachen Kriege aus, die nicht mehr zu stoppen waren. Die Vernichtung von Menschen war flächendeckend und ging in hunderte von Millionen. Große Teile der Erde waren anschließend verseucht durch atomare Waffen, in anderen Erdteilen vertrockneten ganze Landstriche und das alles bei zunehmender Erhitzung der Erdatmosphäre. Krankheiten brachen aus, es war nicht mehr möglich, Gegenmittel in genügender Menge herzustellen. Kurz und gut, die Verhältnisse hatten sich derart zugespitzt, daß man endlich beschloß, die Kriege zu beenden und ein Weltkonzept für den zukünftigen Fortbestand der Menschen und der Natur auszuarbeiten. Inzwischen entwickelten sich immer heftigere Naturkatastrophen, worunter wir auch heute noch zu leiden haben. Stürme mit über 300 km/h waren keine Seltenheit mehr, Windhosen von nie gekannten Ausmaßen löschten in weiten Gebieten jedes Leben aus und im Gefolge kamen die Zunamis mit immer größerer Wucht und Häufigkeit. Das war die Rettung, denn sonst hätte man sich wohl nie darüber geeinigt, daß es so nicht weitergehen konnte. Zerstörte Städte wurden nicht mehr aufgebaut, sondern Wälder an deren Stelle gepflanzt. Die himmelhohen Wolkenkratzer verschwanden, dafür entschloß man sich zu niedrigeren, runden Gebäuden, die nicht mehr von Wind und Erdbeben angegriffen werden konnten. Die Industrie verschwand nach und nach unter der Erde. Fossile Brennstoffe wurden vermieden und durch neue Energiequellen ersetzt.
Die Herrschaft des Geldes diente endlich vernünftigen Zwecken. Die wirklichen Herrscher der Weltwirtschaft wurden die Mafia-Bosse. Sie beendeten die globale Zunahme der Gewalt, die kleinen Bandenkriege in den Städten ebenso wie die großen zwischen den Mächtigen der Erde. Wenn sie sich für eine Sache einsetzten, so hatte das Gewicht und wurde rücksichtslos durchgesetzt. Den Mafiosi haben wir es heute zu verdanken, daß wieder Ordnung herrscht und niemand mehr wagt, gegen die bestehenden Gesetze zu verstoßen. Das gilt für die Umweltverschmutzung ebenso wie für den Konsum von Suchtmitteln. Versuch nie, auch nur ein Bonbonpapierchen auf der Straße wegzuwerfen, die Konsequenzen sind recht unangenehm!" wandte sie sich lächelnd an Jutta. Die nickte nur ungeduldig. Sie wollte noch mehr erfahren. Die ganze Mannschaft saß still und hörte zu. All das war zwar bekannt, doch hörte es sich ganz gut an, wenn jemand einem das wieder ins Gedächtnis rief. Edda sprach auch hauptsächlich mit Jutta, die hingerissen lauschte. Der Vortrag ging weiter.
"Zugleich gewannen die Forschungszentren auf jedem Gebiet die größte Wichtigkeit. Dem haben wir es zu verdanken, daß wir heute in einer heilen Umwelt leben können, mit einer Industrie und Technik, die uns gegen die Attacken der Natur schützt. Denn, wie du, liebe Jutta auch schon bemerkt hast, ist die Erderwärmung keineswegs zum Stillstand gekommen. Aber sie geht heute nur noch sehr, sehr langsam vor sich. Wir haben dazugelernt und verstehen uns inzwischen mit unserem Planeten ganz gut. - Das war's. Und jetzt können wir uns ins Vergnügen stürzen", endete sie.
Damit löste Edda allgemeine Aufbruchstimmung aus. Jutta hakte sich bei ihr ein. "Bleiben wir zusammen, Edda? Ich glaube, du kannst mir am besten alles zeigen, was es so gibt in diesem neuen Pfaffenhofen." Das war sehr nach Eddas Geschmack. Nicht nur, daß sie das fröhliche junge Geschöpf an ihrer Seite gern mochte, die Kleine blieb nach wie vor für sie ein Forschungsobjekt, an dem sie noch viel zu lernen erhoffte. Auch Prof. Liebrechts Interessen gingen in diese Richtung. Im übrigen hatte die ganze ausgesuchte Mannschaft das zum Ziel. Jedermann war bemüht, das Mädchen für sich zu gewinnen, um es doch irgendwann einmal für seine eigenen Untersuchungen gefügig zu machen. So war es umschwärmt und wurde von allen Seiten begackert. Edda bemerkte sehr wohl, daß sie höllisch aufpassen mußte, damit ihr die Kleine nicht für irgendein unsinniges Spektakel abspenstig gemacht wurde. Es trat genau das ein, was Prof. Liebrecht verhindern wollte. Man ließ Jutta nicht einen Augenblick lang in Ruhe. Ihr anfänglich fröhliches Gelächter über allerhand Scherze oder Anzüglichkeiten verstummte allmählich. Auf Ingberts Stirne erschienen die ersten Sorgenfalten. Er hielt sich immer in Juttas Nähe auf, bereit, sie zu beschützen, falls dies notwendig sein sollte. Ihm zur Seite Siegfried, der kein Auge von Edda wandte. Er war sehr angetan von ihrem neuen Aufzug. Sie wirkte weiblicher, als sie in Wirklichkeit war. Diesen Zug spielte sie normalerweise nur so lange aus, bis sie erreicht hatte, was sie wollte. Danach griff wieder die eiserne Vernunft.
Jutta hatte das Ganze satt. "Ich denke, wir wollten einkaufen gehen", wandte sie sich an ihren Beschützer. "Und jetzt hat jeder einen anderen Vorschlag für mich, wie wir den Tag hier totschlagen könnten. Sag mal, wollen wir uns nicht absetzen, Ingbert?"
"Nein, das geht leider nicht. Das ist offiziell ein Betriebsausflug, da müssen wir schon zusammenbleiben. Aber komm, du sollst jetzt deinen Einkaufsbummel haben!" Damit nahm er die Kleine am Arm, wandte sich seinen Kollegen zu und gab bekannt: "Jutta und ich gehen jetzt einkaufen für unsere Party. Und zwar allein. Ihr macht mir das Mädchen ja ganz kopfscheu. Wir treffen uns um ein Uhr zum Mittagessen im Center-Restaurant."
"Ich komm natürlich mit", konstatierte Liebrecht. "Und ich auch", gab Edda zu verstehen. Siegfried trat an Eddas Seite. Ganz klar - er auch.
"Nein, meine Lieben, diesmal nicht. Schließlich bin ich allein verantwortlich für das Kind. Und ich merke, daß Jutta allmählich alles zuviel wird. Ich möchte ihr heute endlich den Wunsch erfüllen, so richtig schön einkaufen zu gehen. Bitte habt Verständnis dafür. Wir können uns später dann zusammensetzen."
"Ist wohl das Beste", sagte Prof. Liebrecht. "Kommen Sie, wir sehen uns inzwischen im Technikstudio um. Das ist für uns alle interessant."
Ingbert und Jutta steuerten bereits auf die breite Front des Kaufcenters zu. Ingbert zog sie vorbei an so vielen bemerkenswerten Geschäften. Mode, Juwelen, Bistros, fremdartige Haushaltsartikel, Kleinroboter für den Allgemeingebrauch - überall hätte Jutta stehenbleiben und Fragen stellen wollen. Aber Ingbert blieb zielbewußt. Schließlich landeten sie in einer großen, kühlen Halle. Lebensmittel jeder Art waren hier aufgebaut. Fleischwaren, Obst, Gemüse, Gebäck, Getränke - ein appetitlicher und leckerer Anblick. Jutta sah sich befremdet um. "Ist ja kein Mensch zu sehen! Wir sind doch in einem Großmarkt, oder?" fragte sie unsicher.
"Natürlich sind wir das", bestätigte Ingbert. "Ich hab dir ja gesagt, daß sich niemand mehr die Mühe macht, persönlich hier einzukaufen. Man kann das viel bequemer von zu Hause aus tun. Aber nun laß dich nicht stören. Nur muß ich dich darauf aufmerksam machen...", aber da kam schon Juttas erschreckter Ausruf "Ingbert, was ist das? Das ist ja alles gar nicht echt!"
"Das wollte ich dir gerade erklären!" kam er hinterhergelaufen. "All diese Dinge sind hier nur dreidimensional dargestellt, in Wirklichkeit lagern sie an einem anderen Ort. Du kannst aber jeden Artikel, den du siehst, mittels Finger drauflegen auswählen und er wird in deinen Einkaufskorb befördert, der sich auch in dieser anderen Halle befindet. Zuerst allerdings muß man sich dort am Eingang einloggen, sonst funktioniert das Ganze nicht. Siehst du, so!" Salmann ging auf eine breite Glassäule zu, auf der allerdings groß und nicht übersehbar auf diesen Umstand hingewiesen wurde. Ein Druck des Mittelfingers in eine dafür vorgesehene Mulde genügte. Dann machte er seiner Begleiterin vor, wie es funktionierte. Er ging auf einen Obststand zu, tippte auf die Stücke, die er haben wollte, worauf diese verschwanden. "Jetzt werden sie in unseren Einkaufswagen befördert", erklärte er. Jutta begann, an diesem System Gefallen zu finden. Auch sie tippte auf alles, was ihr begehrenswert erschien. Die Dinge verschwanden vom Bildschirm. "Das ist ja phantastisch!" rief sie aus. "Und zugleich diebstahlsicher", sagte Ingbert.
"Nur schade, daß man nichts wirklich anfassen kann", bedauerte Jutta. "Ich hätte so gerne gewußt, ob das Obst reif ist, das Gemüse frisch und auch das Fleisch - vielleicht sieht es hier auf dem Monitor nur so aus und später erleben wir eine böse Überraschung."
"Nein, das ist ausgeschlossen. Alles ist genauso frisch, wie man es hier sehen kann. In jeder Abteilung sind Sensoren angebracht, wie bei uns im Vorratskeller. Die stellen sofort schadhafte Stellen fest und sortieren die Stücke aus. Du kannst dich ganz darauf verlassen, daß du nur beste Ware bekommst. Auch das Gebäck ist frisch. Etwas anderes gelangt gar nicht erst in den Einkaufswagen."
"Und wo können wir uns ansehen, was wir alles eingekauft haben? Ich meine, wo kommt unser Einkaufswagen zum Vorschein? Und wie bekommen wir alles in unser Airset? Meinst du nicht, ich hab ein bißchen übertrieben? Vielleicht haben wir gar nicht soviel Platz!"
Ingbert lachte. "Mach dir keine Sorgen. Der ganze Segen ist bereits unterwegs zu unserem Bungalow. Dort wird schön brav einsortiert und bis wir nach Hause kommen, sind unsere Regale voll und das Wagerl wieder verschwunden."
Jutta war beeindruckt. Aber auch ein bißchen enttäuscht. "Es mag ja ein ganz großer Fortschritt sein, aber es ist gar kein Vergnügen mehr. Keine Menschenseele mehr zu sehen, nur tote Monitore, auch wenn sie sehr schön und echt aussehen mit all den angebotenen Waren. Es macht doch mehr Spaß, wenn man unter lauter Menschen ist. Ist einfach lebendiger."
"Tja, das mag ein Nachteil sein", gab Ingbert zu. "Ich glaube nur, den empfindet heute niemand mehr. Zweckmäßigkeit ist alles. Zeitverschwendung ist verpönt. Und von Hand selbst einkaufen wäre Zeitverschwendung. Ich hab dich ja darauf aufmerksam gemacht. Naja, jetzt hast du's kennengelernt. Es gibt aber auch schöne Dinge zu sehen. Komm, ich zeig dir eins", und dann strebten sie endlich dem vollen Tageslicht zu. Jutta fühlte sich gleich belebter, als sie in die Sonne hinaustraten. Neugierig sah sie sich um. So viele Eindrücke stürzten auf sie ein - wo anfangen mit Entdecken? Sie seufzte. "Ich glaub, jetzt könnt ich einen schönen Eiskaffee vertragen. Ob's da drüben unter diesen schattigen Bäumen mit dem hübschen Pavillon sowas gibt?"
"Geh'n wir nachsehen!" schmunzelte Ingbert und nahm sie an der Hand. Als sie dann saßen und Ingbert seine Bestellung - wieder mittels Tastendruck auf das Gewünschte - aufgegeben hatten, bemerkte sie erst, daß auch sie neugierig bestaunt wurde. Etliche herumsitzende Gäste sahen merkwürdig aus. Schon mal ihre Frisuren oder die glattgeschorenen, bizarren, Kopfformen befremdeten das Mädchen. Bei vielen bemerkte sie Wülste oder Hautausstülpungen über den Augenbrauen, hinter den Ohren, auf dem Kopf. "Was haben die denn alle für eine Krankheit, Ingbert?" flüsterte sie leise. "Das ist keine Krankheit, das sind Sensoren, Antennen, integrierte Mikrochips. Damit wird man befähigt, sich über weite Entfernungen miteinander zu unterhalten. So wie bei euch das Telefon. Nur viel ausgereifter. Andere haben ein integriertes Navigationssystem oder Schnittstellen im Gehirn, womit sie ihre Intelligenz mit Computer-Geschwindigkeit steigern können. Es gibt Unmengen von Anwendungsgebieten mit dieser viva-Technik. Ich hab ein ganzes Regal voll Informationen darüber zu Hause stehen. Da kannst du selber nachlesen, was es alles gibt. Vielleicht ist auch für dich was Passendes dabei."
Jutta sah ihn an, wie man etwa einen Verrückten ansieht. Es war unfaßbar für sie. "Hast du etwa auch so ein Ding in dir? Vielleicht eins für Telepathie oder so?"
"Natürlich hab ich das. Und nicht nur eins. Einen Gedächtnisspeicher zum Beispiel. Ich könnte mir ein Leben ohne gar nicht mehr vorstellen. Ich könnte nicht einmal meinen Beruf ausüben, wenn ich dieses Hilfsmittel nicht in mir hätte. Meine eigene Intelligenz würde bei weitem nicht ausreichen."
"Und was noch? Kannst du auch Gedanken lesen oder dich plötzlich verschwinden lassen? Bist du überhaupt noch ein Mensch?" Jutta fühlte sich immer verunsicherter.
"Ich kann vieles - wenn ich die entsprechende Sparte aktiviere. Aber es würde zu weit führen, dir jetzt alles zu erklären. Ein Mensch bin ich noch, da kann ich dich beruhigen. Mit der Zeit wird unsere Art zu leben auch für dich ganz normal sein. Man gewöhnt sich schnell daran, glaube mir." Jutta war verstummt. Ungläubig sah sie ihn an. Mußte sie von völlig anderen Vorstellungen ausgehen? War ihre eigene Gefühlswelt vielleicht ganz und gar verschieden von diesen Wesen hier? Sie wußte nicht mehr was sie denken, wie sie sich verhalten sollte. Ihr Eiskaffee kam angerollt. Auch Ingberts Erfrischungsgetränk und Gebäck für beide. Alles hübsch angerichtet auf einem Servierwagen, der sich selbständig einen Weg zwischen den Tischen hindurch zu ihnen her bahnte. Ingbert drückte seinen Finger wieder auf ein Symbol auf dem Wägelchen, woraufhin sich dieses gehorsam entfernte. "Damit bezahlt man", klärte er auf. "Die Summe wird automatisch von meinem Konto abgebucht. So wie vorhin im Supermarkt." Jutta lachte gequält. "Ist ja fein. Ihr spart euch ja die ganze Menschheit auf diese Weise. Keine Verkäuferinnen mehr, keine Lagerarbeiter, keine Ober - habt ihr überhaupt noch menschliche Wesen in eurem Dienst?"
"Ja, mich zum Beispiel", versuchte es Ingbert scherzhaft.
"Ja, dich. Und deine Kollegen, wie ich vermute. Alle verdrahtet und verchipt. Was ist das nur für ein Leben!" Sie nippte an ihrem Kaffee. "Aber wenigstens schmeckt's bei euch!" kam es wieder in alter Munterkeit heraus. "Jetzt bräuchte ich nur noch einen Ort zum - zum Händewaschen. Ist bestimmt auch eine Sehenswürdigkeit!"
Ingbert zeigte es ihr. Es w a r eine Sehenswürdigkeit. Mit Ausblick auf ein Riesenwerbeschild auf der gegenüberliegenden Seite. Darauf wechselten lauschige Plätze in freier Natur mit heimeligen Wohnecken oder luxuriösen Salons, worinnen sich elfenhafte weibliche Geschöpfe aufhielten. Knaben in zauberhaften Gewändern umwarben die Damen und entführten hin und wieder eine. Jutta wußte sich keinen Reim darauf zu machen. War das nun Werbung für ein Reiseunternehmen oder für ein Möbelhaus mit ausgesuchten Stücken? Denn auf den wechselnden Bildern erlebte sie eine Prachtentfaltung in Wohnstilen, von der sie bisher keine Ahnung gehabt hatte. Oder gar ein Kino? Magisch angezogen ging sie nach dem "Händewaschen" einfach darauf zu. Vergessen war ihr Begleiter, der Eiskaffee, die verträumte Ecke unter den Bäumen, wo sich Ingbert um ihr langes Ausbleiben sorgte. Da der Ausgang der Waschräume auf der anderen Seite lag, konnte er nicht bemerken, wie Jutta über den weiten Platz schritt, unter dem Werbebildschirm verschwand. Plötzlich befand sie sich in einem Saal aus Glas, Kristall und Plüsch, überall glitzerte und schimmerte es, von einer Art Bar erhob sich eine wunderschöne Frau, die auf Jutta zukam.
"Guten Tag, meine Schöne", wurde sie begrüßt. "Bist du zum ersten Mal hier? Gefällt es dir?" Jutta konnte nur nicken. "Dann komm, ich führe dich ein", fuhr die Dame mit einer sanften, einschmeichelnden Stimme fort. Jutta folgte stumm und staunend. Zuerst ging es in einen kleinen, kuschelig eingerichteten Raum und sie durfte in einem gemütlichen Sitzmöbel Platz nehmen. Ein Glas Sekt wurde ihr gereicht. Es schmeckte köstlich, erfrischte und benebelte sie zugleich. "Prost, meine Kleine!" sagte die Dame und stieß mit ihr an. "Magst du noch ein Glas?" Jutta fühlte sich seltsam angeregt und unternehmungslustig. "Gerne", dankte sie und prostete der Dame zu. "Fühlst du dich gut so?" erkundigte sich diese. "Ja, bestens. Wo bin ich denn hier überhaupt?" "In unserem Verwöhncenter bist du", klärte sie die Dame auf. "Und nun kommt das Beste. Wir gehen jetzt hinter diesen Vorhang und dann zeige ich dir alle unsere Verwöhnvorschläge. Du brauchst nur zu sagen, was du gerne möchtest, es wird geschehen."
Ein bißchen benommen ließ sich Jutta hinter einen glänzenden, roten Vorhang führen, sie durfte wieder Platz nehmen. 'Verwöhncenter' - irgendwie erwartete sie jetzt eine großartige Wellneß-Landschaft. Mit vielen neuartigen Überraschungen. Die sollte sie allerdings haben.
Das Licht erlosch zu einem matten Schimmer und vor ihr entfalteten sich Bilder an der Wand. Ein ganzflächiger Bildschirm zeigte dreidmensional zunächst einen orientalisch eingerichteten Saal, worinnen sich dunkelhäutige Schönheiten auf Kissen räkelten oder anmutige Schleiertänze vollführten. Andere naschten ab und zu von Obst oder Süßigkeiten.
"Das sind unsere Haremsdamen", erklärte die Empfangsdame. "Sie besitzen ein besonderes Zartgefühl, um unsere Gäste zu unterhalten. Sehen sie nicht hübsch aus in ihren prachtvollen Gewändern?"
"Oh ja, sehr!" antwortete Jutta, völlig hingerissen. Das Bild wechselte. Es zeigte nun ausgelassene Reiterspiele, an denen sogar Knaben ab etwa zwölf Jahren teilnahmen und Männer jeden Alters. Es waren ausgesucht schöne Menschen und ebenfalls in die kleidsame asiatische Mode gewandet. Es folgten Großaufnahmen der einzelnen Teilnehmer, wie sie lachend auf ihren Pferden saßen und auf dem freien Feld dahinjagten. Erinnerungen stiegen in dem jungen Mädchen auf. "Heißt das, hier könnte man auch reiten?" fragte sie erwartungsvoll.
"Nein, das gerade nicht", meinte die Dame belustigt. "Die Herren sind zum Aussuchen da. Welcher der Jungs würde dir denn am besten gefallen?"
"Zum Aussuchen? In einem Verwöhncenter? Eine männliche Begleitung durchs Vergnügen also?"
"Ja, genau. Genau das", lächelte die Dame. "Ich heiße übrigens Magdalena. Bevor wir fortfahren, würde ich auch gerne deinen Namen wissen."
"Mein Name ist Jutta Andreß."
"Sagst du mir auch, woher du kommst?" wollte Magdalena wissen.
"Sie werden sich wundern - ich stamme von Pfaffenhofen. Aber fragen Sie lieber nicht weiter. Das wird ein bißchen kompliziert."
"Du kannst gerne 'du' zu mir sagen. Hier drinnen verzichten wir auf Förmlichkeiten. Ist doch viel netter, nicht? Wenn du dich nicht weiter ausweisen willst, auch gut. Wen findest du also am sympathischsten?"
"Den Jungen da mit der roten Schärpe um die Hüften. Ich glaube, der würde mir am ehesten entsprechen."
"Gut, dann sollst du jetzt mehr von unserem Verwöhncenter erfahren."
Nun zeigte der Bildschirm zunächst hübsche Bilder von einer Blumenwiese mit Ziegen drauf. Die grasten friedlich, begleitet von zarter Musik. Plötzlich fing ein Bock an zu blöken und besprang eine Ziege. Jutta lachte über die komischen Bemühungen des Tieres. Da tauchte am Horizont eine Gestalt auf, wurde schnell größer. Es war der Junge mit der roten Schärpe, den sich Jutta ausgesucht hatte. Als er das Liebespaar im Vordergrund sah, kam er mit raschen Schritten angerannt, packte den Bock bei den Hörnern und versuchte ihn wegzuziehen. Eine kleine Rauferei entstand, doch der Junge blieb Sieger. Die Musik war währenddessen heftiger geworden, schwenkte nun aber wieder auf lieblichere Töne ein. Und dann - Jutta bekam große Augen - begann der Jüngling doch tatsächlich mit der Ziege zu schmusen.
"Drollig, euer Etablissement!" wunderte sie sich. "Ein Verwöhncenter sogar für Tiere."
Magdalena sah sie forschend von der Seite an. "Gefällt es dir? Macht es dich an?"
"Naja, 'anmachen' ist nicht ganz der richtige Ausdruck. Ich weiß nur nicht was das soll."
"Warte nur, gleich weißt du's", sagte die Schöne.
Der Bildschirm erlosch, der Vorhang wurde zur Seite geschoben und herein trat - der hübsche Jüngling, der mit Ziegen schmuste.
"Hallo, Jutta!" begrüßte er sie lächelnd. "Darf ich mich zu dir setzen?"
"Bitte!" wies Jutta auf den Platz neben sich. Magdalena war ganz unauffällig verschwunden. Der Junge versank neben ihr im Polster und sah sie unverwandt lächelnd an. Ganz tief und bedeutungsvoll. Jutta wurde das zu albern.
"Und was wird das jetzt?" fragte sie. "Das kommt ganz auf dich an"; antwortete er. "Der kleine Film hat dir doch gefallen, nicht? Ich heiße übrigens Peter."
"Ach, der Ziegenpeter!" lachte Jutta auf. "Dann weiß ich Bescheid. Ich soll wohl die Heidi spielen. Wird das ein Film mit uns beiden?"
Um ehrlich zu sein, Peter hatte keine Ahnung von diesem alten Schinken "Heidi", dem kleinen Mädchen von der Alm und Ziegenpeter, ihren Freund. Aber er reagierte ganz richtig.
"Das könnte einer werden. Wollen wir?"
"Na gut, dann wollen wir halt!" stimmte das Mädchen in die spaßige Szene mit ein. Peter rückte näher ran, legte einen Arm um ihre Schulter und begann sie zu liebkosen. Überrascht wehrte sie ab. "So haben wir aber nicht gewettet, mein Guter. Bleib du bei deinen Ziegen, du Ziegenpeter."
"Ach so, du willst bloß zusehen!" vermeinte der Junge zu erraten. Er ließ sie los, griff nach einem Kästchen und ließ den Film weiter ablaufen. Mit Scham und Widerwillen sah sie nun, wie Peters Liebkosungen mit der Ziege immer eindeutiger wurden. Jutta schlug ihm das Kästchen aus der Hand. Sie schrie laut auf. "Was soll das denn! Was fällt dir denn ein, du Scheusal. So eine Unverschämtheit! Ich will raus hier. Was zeigst du mir denn da?" Im Nu verlöschte der Bildschirm. Peter saß ganz verdattert da, er verstand die Welt nicht mehr. Wie hergezaubert und grade im rechten Moment erschien die Empfangsdame wieder. Sie lächelte verständnisvoll. "Aber nicht doch! Hat Peter sich danebenbenommen? Entschuldige, war mein Fehler. Ich hätte dabeibleiben sollen!"
"Der hat mich offenbar mit seinen Ziegen verwechselt!" rief sie empört und folgte der Dame hinaus. Die öffnete eine andere Türe. Wieder ein kleiner Salon in grün und gold, mit verspieltem Dekor und einladenden Sitzecken. Die Verstörte versank abermals in einem weichen Etwas, die Dame drückte ihr eine winzige Tastatur in die Hand, Wände schoben sich um ihre Sitzgelegenheit und ihr wurde erklärt: "So, hier kannst du dich erholen, ich laß dich jetzt allein, bis du dir klar über deine Wünsche bist." Sie legte Jutta ein kleines Kästchen in den Schoß. "Laß dir unser Haus in aller Ruhe vorführen. Du mußt nur hier unten auf diesen grünen Knopf drücken, und dann einfach immer weiter, bis du was Passendes gefunden hast. Wenn du soweit bist, drückst du hier auf den Kristall, siehst du?" Der befand sich am oberen Ende des Kästchens. "Dann komm ich und hol dich ab. Und jetzt viel Vergnügen!" Sie lächelte lieb und verschwand. Das Getränk, das wie Sekt geschmeckt hatte, wirkte immer noch. Jutta nahm alles von der lustigen Seite, ja, sie wollte ausprobieren, was diese Stadt zu bieten hatte. Alles wollte sie erfahren. Auch ohne irgendeinen Begleiter. Nun grade! Endlich mal allein auf Entdeckungstour! Sie drückte die grüne Taste.
Und dann erlebte sie die erschütterndste Stunde ihres Lebens. Denn bei jedem Tastendruck erschienen auf der Bildschirmwand lebensgroße Szenen von Schäferstündchen verschiedenster Art. Mit Ton und allen Geräuschen. Zur Einführung ein kleines Mädchen, das den Hausbildchirm einschaltete und rief: 'Mami, Mami, komm doch mal!' - dann verstummte es und verfolgte gespannt, was sich nun vor ihren Augen abspielte. Mami und Papi befanden sich im Schlafzimmer und Mami begann gerade, sich unter Papis begehrlichen Blicken auszuziehen. Papi lag nackt auf dem breiten Bett und das Kind beobachtete mit Staunen, was sich an seinem Körper vollzog. Da, jetzt streckte er die Hand aus und deutete auf etwas an der Wand. Der Bildschirm verlosch. Leider. Nächste Szene. Liebespaare im Grünen, unter Laternen, in Betten und in allen möglichen Situationen. Jutta drückte automatisch und wie verrückt diese entsetzliche grüne Taste. Die Bilder rasten an ihr vorbei, immer irrerere, verderbtere, perversere Szenen flitzen vorbei - ihr wurde hundeelend. Schließlich warf sie das Ding in eine Ecke. Nur leider hatte sie vergessen, wie man diesen Spuk abstellen konnte und so verlöschte diese verdammte Sündenwand nicht. Jutta hielt sich die Augen zu, aber sie hörte die Schreie, Seufzer und andere Geräusche. Den Kristallknopf drücken! Aber wo war das Kästchen? In dem Dämmerlicht hier drin konnte sie es nicht finden. Panik erfaßte sie. Sie begann zu schreien, hämmerte gegen diese gräßliche, unaufhörlich Bilder hervorzaubernde Wand, suchte nach einem Ausgang. Diese furchtbaren modernen Türen! Schon bei Edda wußte sie nie, wo sich eine auftat oder wie man überhaupt eine ausfindig machte. Sie schrie und schrie, kauerte sich am Fußboden zusammen, hielt sich die Ohren zu und brüllte so laut sie konnte, um die Stimmen des Bildschirms zu übertönen. Ganz plötzlich traten die Wände zurück, besagte Dame erschien, bestürzt über diese ungewöhnliche Reaktion der Besucherin.
"Was ist denn passiert, warum schreist du denn so?" wollte sie wissen.
"Ich will raus hier! Auf der Stelle. Wo geht's hier raus? Gehen Sie weg, weg! Ich will raus, weg!" schrie sie hysterisch. Sie stieß die verdutzte Empfangsdame zur Seite, rannte blindlings los, stürzte Korridore entlang, rannte durch sich plötzlich öffnende Türen - nirgends ein Ausgang, nirgends ein Sonnenstrahl, ein Fenster, etwas, was ihr das Draußen signalisiert hätte. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, die für sie häßlichen Bilder ließen sie nicht los, noch nie in ihrem Leben war sie mit Derartigem konfrontiert worden. Bisher war alles licht und schön gewesen, durch keine abartigen Begierden verunreinigt. Was hatte diese Frau gesagt? Sie sollte sich was Passendes raussuchen, diese Elende würde sie dann hinführen zu diesem 'Passenden'! Oh Gott, von welchen Scheusalen war sie nur umgeben! Wo sollte Ingbert sie suchen? Dieser Moloch von Gebäude hatte sie ja spurlos verschlungen. Niemand wußte von ihrem Verbleib. Ihr ekelte vor diesem Haus, vor diesen Zimmern, vor dieser lächelnden Frau. Ihr schwindelte. Plötzlich sackte sie zusammen und blieb bewußtlos liegen.
Ingbert machte sich inzwischen ernsthafte Sorgen um seine Ausreißerin. Er gestand ihr ja eine gewisse Zeit zu, um sich mit den neuen Eindrücken vertraut zu machen, die sie sicherlich auch im Waschraum gewann. Als sie nach einer viertel Stunde immer noch nicht auftauchte, ging er denn doch lieber nachschauen. An den Glas- und Spiegelpavillons, die die sanitären Einrichtungen enthielten, angekommen, fielen ihm sofort die riesigen bunt schillernden Werbefilme auf dem Gebäude gegenüber auf. Das mußte ja seine Jutta direkt angezogen haben. Er lief hinüber, fuhr die charmante Empfangsdame in der Rezeption an:
"Ist hier vor einiger Zeit ein junges Mädchen hereingekommen? Wo ist es?"
"Tut mir leid, mein Herr, das weiß ich nicht. Meine Kollegin ist gerade unterwegs. Vielleicht hat sie sich darum gekümmert. Nehmen Sie doch bitte einen Augenblick Platz, ich lasse sie suchen." Sie drückte auf den grünen Saphir ihres Halsschmuckes, worauf alle Angestellten im Haus ein diskretes Signal empfingen, das sie aufforderte sich zu melden. Doch Dr. Salmann hatte nicht den Nerv, um weiteres abzuwarten. Jutta in dieser Umgebung! Er wußte aus Erfahrung, womit sie hier konfrontiert werden würde, wenn er sie nicht auf der Stelle fand.
"Nicht nötig!" sagte er hastig und stürmte los. Allzuweit konnte sie noch nicht sein. Ingbert durchkämmte die Räumlichkeiten, fegte Vorhänge zur Seite, schrie ungeduldig "Jutta! Wo bist du? Jutta!" Keine Seele antwortete, es war auch niemand zu sehen. Er raste weiter. Und dann sah er sie. Am Ende eines Korridors ein Menschenauflauf, der Arzt über etwas gebeugt - Ingbert wußte sofort: er hatte sie gefunden.
Durch das markerschütternde Geschrei war der ganze Verwöhnpalast aktiviert worden. Überall öffneten sich Türen, verstörte Paare und Gruppen kamen heraus, sahen ein buntes Etwas mit wehenden Haaren davonjagen, das schrie, als wäre es grade noch der Folterkammer entronnen. Und dann Stille. Magdalena kam angerannt. Unschwer konnte sie den akustischen Signalen ihrer Kundin folgen. Ganz plötzlich stand sie vor der Dahingesunkenen. Das Mädchen sah zum Erschrecken blaß aus, völlig blutleer. Die Schöne konnte sich keinen Reim darauf machen. Auf alle Fälle erst den Betriebsarzt rufen. Nervös zuckten ihre Finger über die Glieder ihres Armbandes. Eines davon war die Verbindung zum Arzt.
So etwas war ihr noch nie passiert. Es konnte ernste Folgen für sie haben. War sie nicht liebenswürdig genug gewesen? Wo lag ihr Fehler? War es überhaupt ihrer? Man würde ihr auf alle Fälle grobes Versagen anhängen.
Der Arzt kam. Während er sich um das bleiche Geschöpf kümmerte, stellte er der Dame Fragen. "Wie ist denn das gekommen? War sie es, die derart geschrieen hat? Ich hab es bis in meine Praxis hinüber gehört."
"Eine Irre, es muß eine Irre sein!" stammelte die glitzernde Magdalena. "Eine Psychopathin. Daß sowas überhaupt frei herumläuft - es ist unfaßbar. Kam ganz normal und vernünftig herein, vielleicht ein bißchen schüchtern, aber naja, das kommt vor. Ich will sie ganz behutsam vertraut machen mit unseren Vorzügen hier - Peter kam mir zu Hilfe - aber plötzlich ist sie ausgerastet. Ganz und gar unfaßbar!" Sie betupfte mit einem Tüchelchen ihr Gesicht, das erhitzt und fleckig war vor Aufregung.
"Das wird sich alles klären. Wir bringen sie erst mal zu mir rüber. Wer ist das überhaupt? Hat sie sich ausgewiesen?"
"Jutta Andreß heißt sie. Offenbar hier aus der Gegend. Genaueres wollte sie mir nicht sagen. Offiziell ausweisen konnte sie sich nicht. Kam nur herein und sah sich um. Stellte sich an, als hätte sie noch nie etwas von unseren Einrichtungen gehört. Naja, das wollte ich später mit ihr klären. Zuallererst sollte sie sich doch wohlfühlen bei uns, nicht wahr?"
Inzwischen hatte sich eine beträchtliche Besucherzahl um das Schauspiel geschart. Juttas zweifellos sehr attraktive Aufmachung erregte Aufsehen - und Neugier. Ein ungewöhnlicher Gast.
Ingbert zügelte seine Aufregung. Am liebsten wäre er losgerannt, hätte die Ohnmächtige an sich gerissen, fort von all diesen Menschen. So aber ging er gemessenen Schrittes, wenn auch eilig, auf die Gruppe zu, man machte ihm sofort Platz. Der neben dem Mädchen knieende Arzt erhob sich. Ohne ein Wort nahm der Genealoge Jutta auf die Arme, sah sich um.
"Wo kann ich sie hinlegen?" fragte er.
"Ich lasse sie gleich in meine Praxis bringen", schaltete sich der Arzt ein. "Ich möchte genau wissen, wie das passiert ist. Warum wird ein kerngesundes junges Mädchen plötzlich ohnmächtig. Warum hat sie so geschrien?"
"Lassen Sie's gut sein, Doc", sagte Ingbert. "Das Mädchen gehört zu mir. Wir werden gleich verschwunden sein. Zuerst aber - wo ist hier ein Bett, verdammt noch mal?" Eine Türe öffnete sich, er trug die Bewußtlose zu der breiten Liegerstatt hinein, bettete sie vorsichtig darauf, strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Der Arzt kam hinterher, die Menge versuchte gleichfalls, noch mehr von dem Schauspiel zu erhaschen. Er schloß die Türe hinter sich. "So geht das aber nicht", fing er an. "Was hier drin passiert, liegt in meinem Verantwortungsbereich. Sie hat sich nicht einmal ausgewiesen. Tut mir leid, ich kann Sie nicht einfach gehen lassen."
Ingbert stand auf. "Entschuldigen Sie, Doc, Salmann mein Name. Von der DLR (Deutsche Luft- und Raumfahrt). Die junge Dame ist mein Gast und zum ersten Mal in der Stadt. Sie wollte sich wohl mal umsehen und ist dabei hier herein geraten. Sie heißt Jutta Andreß. Überlassen Sie mir das ruhig. Ich weiß schon Bescheid. Die Ohnmacht wird gleich vorbei sein."
"Dann kommen Sie zunächst in mein Büro. Es muß alles seine Ordnung haben!" forderte der Arzt auf.
"Nichts werd ich, zum Donnerwetter!" wetterte Ingbert los. "Lassen Sie uns endlich allein! Gönnen Sie ihr wenigstens ein paar Minuten, um wieder zu sich zu kommen. Bitte verlassen Sie jetzt das Zimmer!" Er öffnete die Tür, stand abweisend daneben. In dem Moment schlug Jutta die Augen auf. Das erste, was sie wahrnahm, waren wieder nur Wände, schwere Düfte - in ihrem Gesicht begann sich bereits Panik abzuzeichnen. Als Ingbert das bemerkte, ließ er den Doktor stehen und eilte zu ihr. Er nahm sie in die Arme, streichelte sie beruhigend, drückte sie an sich. "Na endlich, meine Kleine", flüsterte er, "da bist du ja wieder. Geht's besser? Kannst du gehen?"
"Ingbert! Gott sei Dank! Ich glaube, wir sind hier in einem Bordell. Es war schauderhaft. Klar kann ich gehen." Sie richtete sich auf. "Bloß schnell weg hier!" Er nahm sie an der Hand, wischte an dem Arzt vorbei, "schönen Tag noch!" rief er und eilte mit ihr davon. Man sah ihnen nach und niemand war damit einverstanden, daß diese Episode so schnell erledigt sein sollte.
Als sie wieder draußen im hellen Tageslicht waren, wollte Juttas Retter wissen: "Wie bist du nur auf die Idee gekommen, einfach da rein zu gehen? Und ich warte und warte! Das war nicht grade die feine Art!"
"Ach Ingbert, es tut mir so leid. Wirklich. Ich hab diese Werbespots an der Wand gesehen und dachte, es wäre sowas wie ein Kino oder eine Wellnessanlage. Da wollte ich schnell mal reinschauen, ehe ich zu dir zurückging. Es hätte auch gar nicht lang gedauert. Nur haben sie mich dann eben aufgehalten, mir Sekt angeboten und daraufhin bin ich ein bißchen high geworden. Ich war ja so doof, hab nicht gemerkt, was wirklich lief. Du hast ja keine Ahnung, mit was man da verwöhnt wird in diesem 'Verwöhncenter'. - Oder doch?" Sie schielte ihn zweifelnd an.
"Was glaubst d u denn, natürlich weiß ich das. Lauf nie mehr einfach weg. Du siehst ja, was dabei herauskommt."
Sie antwortete nicht gleich. Nach einiger Überlegung hielt sie es aber doch für besser, endlich reinen Tisch zu machen und zu fordern, was sie sich vorgenommen hatte.
"Gerade das kann ich dir nicht versprechen. Ich habe es so satt, immer unter Aufsicht zu sein. Ihr habt ein richtiges Gefängnis um mich herum gebaut. Ich halte das nicht mehr aus. Ich will frei sein, verstehst du, frei! Und ich habe mir fest vorgenommen, nicht mehr nach eurer Pfeife zu tanzen. Ich werde ausbrechen, so bald und so oft ich kann. Immer wieder. So."
Ingbert war nicht überrascht. Er konnte es gut nachfühlen. Doch auch ihm waren die Hände gebunden.
"Ich weiß, es ist nicht leicht für dich. Es wäre aber besser, du tätest es nicht. Du würdest immer und schneller, als du glaubst, aufgespürt werden und man würde dich noch sicherer verwahren, als bei mir. Du kannst hier nicht alleine existieren. Bitte mach es nicht. Man würde dich woanders unterbringen, ausbruchsicher sozusagen. Laß uns Frieden machen, ja?"
"Ich werd' mir's überlegen. Es muß einen Weg geben. So bin ich einfach kein Mensch mehr. Ich brauche eine Aufgabe, meine Selbstständigkeit, verstehst du?"
"Natürlich", sagte er nachdenklich. Es gab eine Lösung, wahrscheinlich die einzige. Aber nicht jetzt. Nein, später, viel später vielleicht. Einstweilen ließen sie dieses Thema ruhen.
Sie waren an ihrem Tischchen im Schatten dieser weit ausladenden Bäume angekommen. Das Eis war zerschmolzen, die Getränke schal. Ingbert bestellte Neues.
Bis das Gewünschte kam, waren Juttas Gedanken zu dem soeben Erlebten zurückgekehrt.
Ingbert - Dr. Salmann, Wissenschaftler, sogar eine Koryphäe auf seinem Gebiet - er kannte dieses Haus, dieses Verwöhncenter, und nur zu gut, wie er selbst sagte. Es ließ ihr keine Ruhe.
"Du bist wohl schon öfter da drin gewesen?" hakte sie nach.
"Natürlich, wie jeder, wenn er in die Pubertät kommt. Was denn sonst!"
"Na dann Prost Mahlzeit! Was denn sonst!! Da warst du doch fast noch ein Kind. Ist das so üblich bei euch? Sobald sich die ersten Triebe melden, rennt ihr gleich ins Bordell?"
"Das ist kein Bordell. Es ist ein Lusthaus, und ein sehr renommiertes dazu. Das ist ein großer Unterschied. Man wird auf die rechte Bahn geführt, wenn du so willst. Keiner wird alleingelassen mit seinen neu erwachten Bedürfnissen. Ist doch ganz normal."
"So? Solche Bedürfnisse habt ihr heute? Da werdet ihr dazu angehalten, eure Eltern zu beobachten und mit Tieren zu flirten? Nein, du, da ist mir meine Zeit schon lieber. Da hat man sich ineinander verliebt und alles andere ergab sich von selbst. - Du Scheusal!" würgte sie plötzlich hervor. "Das nennst du normal! Wie bist du denn eingeführt worden? Hat dich Heidi unter ihre Fittiche genommen, nachdem sie dir zuerst ihre Ziegenherde vorgeführt hat oder was? Wem wurdest du denn 'zugeführt', wie man das dort nennt?"
Ingbert sah ein, daß er das aufgeregte Ding nur zu beruhigen vermochte, wenn er klar und deutlich mit ihr über alles sprach. Aber wie? Sie ertrug so vieles nicht, was ganz natürlich war heutzutage. Als er nicht gleich antwortete, fuhr sie ihn spöttisch an:
"War es eine Haremsdame, die dich mit ihrem Schleiertanz verführt hat? Wie war das denn? Sag schon!"
"Es war ein Junge", gestand er. "Etwa gleich alt wie ich."
"Aha, der Ziegenpeter!" entfuhr es Jutta. Ingbert sah sie verständnislos an.
"Keine Ahnung, wovon du sprichst. Aber es war ein Junge. Wir beschäftigten uns eine Weile miteinander und danach wußte ich, daß es das nicht war."
"Warum ein Junge?"
"Weil ich viel zu schüchtern war, um mit einem Mädchen intim zu werden."
"Aha!" Jutta glaubte nun zu wissen, warum er gar so zurückhaltend war. Warum er sie nur und absolut als seinen Gast behandelte, korrekt bis zum aus der Haut fahren. Schwul war er scheint's nicht, Gott sei Dank. Aber wahrhaftig, er konnte sie gern haben mit seinem Getue! So ein alberner Kerl! Von ihr würde er nie erfahren, daß sie sich in ihn verliebt hatte. Wahrscheinlich jedenfalls. Vielleicht mangels anderer Bekanntschaften. War das Liebe? Vielleicht ein zu großes Wort für Herzklopfen in seiner Nähe. So wie grade eben, als er sie drüben in diesem Lusthaus im Arm gehalten und zu ihr 'Kleines' gesagt hatte.
Sie widmete sich nachdenklich den Erfrischungen auf dem Tisch und das wie immer mit großem Genuß.
"Ist das Thema jetzt abgeschlossen?" fragte Salmann endlich.
"Ja, ja", meinte sie beiläufig. "Es reicht. Mir liegt sowas jedenfalls nicht."
Jutta widmete sich intensiv ihrem Eisbecher, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt, als dieses geschmückte Ungetüm, dem sie zu nun zu Leibe ging. Ingbert lehnte sich zurück.
"Ich hatte eigentlich vor, dir was wirklich Hübsches zu zeigen. Aber jetzt ist es zu spät dazu. Wir müssen zurück zu den anderen. Um eins treffen wir uns im Restaurant."
"Dann zeig es mir und laß die anderen allein essen", forderte Jutta ihn auf.
"Das geht nicht. Das Ganze läuft immerhin unter Betriebsausflug und alles ausschließlich wegen dir. Wir müssen uns schon wieder mal sehen lassen."
"Na, dann gehen wir", beschloß Jutta. "Aber behalt es im Hinterkopf, was ich gesagt hab. Ich werde es immer und immer wieder versuchen. Ihr wollt ein Versuchskaninchen aus mir machen. Meinst du, das hab ich nicht gemerkt?"
"Dann merk dir auch, was i c h zu dir gesagt hab. Daß man dich finden wird und dann wirst du ganz offiziell zum Versuchskaninchen gemacht. Dann habe ich keinen Einfluß mehr darauf."
Sie erhoben sich. Trotzig schritt das Relikt aus einem anderen Jahrhundert neben ihm her. Sie tat ihm leid. Nein, nicht nur das. Der Wissenschaftler wußte, er würde sie verlieren, wenn es ihr auch nur einmal noch gelänge, sich ohne sein Wissen von ihm zu entfernen. Das durfte nicht passieren. Niemals. Ein Leben ohne dieses Mädchen - er konnte es sich nicht mehr vorstellen. Die Kleine sah sich schon wieder interessiert um. Ob sie bereits an einen neuen Fluchtversuch dachte? Sich die Gelegenheit aussuchte, um zu entwischen?
"Ich glaub, wir steigen in unser Airset. Es ist zu heiß, um zu laufen. Komm, Jutta!" schlug er vor. Sie ging mit. Ohne Widerrede. Auf dem Parkplatz vor dem Lokal setzte er auf. Auch an diese Restaurants mußte sie sich erst gewöhnen. Perfekt technisiert, kein persönliches Wort mehr an irgendwelche Kellner. Die Speisen wurden per Tastendruck bestellt und in kürzester Zeit an den Tisch gerollt. Im Augenblick hatte die Ausreißerin keine Lust mehr, sich über irgendwas zu wundern. Gelangweilt schritt sie neben ihm her. Die anderen waren schon versammelt. Sie wurden mit 'Hallo' begrüßt. Die heitere Runde verlieh dem großen Speisesaal etwas Leben. Zwar saßen noch andere Gäste an den Tischchen, jedoch die Atmosphäre blieb kühl und distanziert. Als nähme man das Essen nur notgedrungen ein und nicht zur Freude. Na klar, warum auch! "Wo wart ihr denn so lange?" wollte Prof. Liebrecht wissen. "Das muß ja ein Riesen-Einkaufsbummel gewesen sein." "Stimmt"; pflichtete Ingbert bei. "Jutta hat heute eine Menge Neues erlebt. Sowas dauert."
Liebrecht warf den beiden einen sorgenvollen Blick zu. "Alles gut verdaut?" wandte er sich an sie. "Wir haben heute nämlich noch mehr mit Ihnen vor."
Jutta nickte. "Ingbert hat mir schon gesagt, daß er mir noch was Hübsches zeigen will. Bin schon gespannt darauf."
"Ich dachte an die Fahrzeugausstellung in Ingolstadt", erklärte dieser. "Wenn alle einverstanden sind..."
"Fahrzeugausstellung?" maulte Jutta enttäuscht. "Eigentlich hab ich für heut genug von Technik." Dr. Salmann lachte. "Keine Angst, das hat mit Technik erst in zweiter Linie zu tun. Es ist Phantasie pur, laß dich überraschen. Es wird dir bestimmt gefallen."
Sie lehnte sich zurück. "Da bin ich mir nicht so sicher", resignierte sie. Man gab sich ja alle Mühe, sie durfte nicht so undankbar erscheinen.
Da die ganze Gesellschaft begeistert zustimmte, brach man kurz danach auf. Jeder steuerte auf sein Airset bzw. Airsetchen zu, denn die meisten waren kleine, wendige Zweisitzer, dann ordneten sich die Flugdinger zu einem geordneten Schwarm und zogen wie die Wildgänse hinter dem führenden Prof. Liebrecht her. Wieder staunte Jutta über die herrliche grüne Gegend unter ihr. Nicht viel erinnerte mehr an die von Straßen zerstückelte Landschaft von ehedem. Die Verkehrsstraßen waren in die Lüfte verlegt worden. In exakt festgelegten Höhen zogen viele andere Flugobjekte dahin. Es war faszinierend.
Immer wieder schimmerten Siedlungen dieser Kuppelbauten zu ihnen herauf, auch Städte mit hochragenden Türmen und Gebäuden von phantasievoller Gestaltung blitzten in der Ferne auf. Als wären sie alle aus Glas und Metall. So ähnlich war es wohl auch. Jutta war noch gar nicht fertig mit Staunen und Gucken, da wies sie Ingbert schon auf ihr gemeinsames Ziel hin. „Siehst du, dort drüben ist schon Ingolstadt. In 10 Minuten sind wir da.“
„Kein Feuer mehr aus den Ölraffinerien, klar, das gibt es wohl schon lange nicht mehr“, bemerkte sie. „Das war eines der Hauptmerkmale von Ingolstadt, weißt du.“
„Nein, allerdings. Solche Energiequellen sind durch effektivere Methoden ersetzt worden. Sonst wäre unser Planet schon längst unbewohnbar. Darüber können wir uns gerne ein anderes Mal den Kopf zerbrechen. Jetzt kommt’s nämlich – die große Überraschung!“ Damit ließ er sein Fahrzeug tiefer gleiten und setzte auf einem gigantischen Parkplatz auf. Die ganze Gruppe mit ihm. Schon aus der Luft konnte das Mädchen eine Ansammlung von seltsamen Flugobjekten sehen, die sich auf einem weiten Gelände versammelt hatten. Immer noch weitere kamen angesegelt und reihten sich ein.
„Ingbert, das soll eine Fahrzeugausstellung sein? Kommt mir eher vor wie ein Jurassiapark.“
„Das ist ja die Überraschung. So etwas hat es bei euch bestimmt noch nicht gegeben. Jetzt komm!“
Ein Flugshuttle brachte die Besucher auf das Ausstellungsgelände. Dort standen firmenmäßig in Gruppen zusammengefasst die neuesten Modelle der kuriosesten Fortbewegungsmittel. Von ulkigen Käferchen, die die Farbe wechseln konnten bis zu Riesensauriern mit brüllenden Motoren. Flugscheiben, Segelschlangen, Silberpfeile, aber auch seriöse Vielsitzer im Oldie-look, alles war hier vertreten. Der Phantasie schien keine Grenzen gesetzt zu sein. Natürlich wurden auch verkehrsübliche Flugobjekte ausgestellt. Sowas wie Prof. Liebrecht flog und auch die meisten anderen Mitarbeiter. Dies interessierte die anderen vielleicht noch mehr, als die verspielten Komikfahrzeuge. Doch Juttas Entzücken kannte keine Grenzen. Sie amüsierte sich köstlich. Man hatte Verständnis, konnte sich die interessanten Angebote auch noch später im Internet ansehen.
„D i e Überraschung ist dir gelungen, Ingbert“, freute sie sich. „Ich glaub, der ganze Tag reicht da nicht mehr aus, um sich alles anzusehen.“
Nicht nur Ingbert strahlte, hatte nur Augen für das Mädchen, das seltsame Fundstück aus vergangenen Jahrhunderten. Jeder überbot sich darin, ihm immer phantastischere Neuigkeiten zu zeigen.
Es ergab sich wie von selbst, daß Edda und Jutta zusammen wandelten. Die beiden boten aber auch einen ergötzlichen Anblick. Eddas schlanke Figur wurde durch ihr smaragdgrünes Gewand besonders betont. Unter dem geschwungenen Sonnenhut flossen ihre blauschwarzen Haare bis weit über die Schultern herab, zierliche Riemensandalen mit gleichfalls smaragdgrün glitzernden Steinchen besetzt saßen an den Füßen, lenkten den Blick auf makellos geformte Beine, die ein Hauch von Kleid umwehte. An ihrer Seite das junge Mädchen im orangfarbenen Kleid, das unternehmungslustig dahinlief, die braungoldene Mähne umrahmte das jugendliche Antlitz, das ebenfalls von einem weit ausladenden Strohhut mit Blümchen drauf beschattet wurde.
Allmählich hatte sich der ganze Pulk aufgelöst, einzeln oder in Grüppchen gingen die Leute ihren eigenen Interessen nach, besahen sich da mal ein neues Modell, ließen sich dort ausgefallene Antriebstechniken erklären - es gab ja so unendlich vieles, was auf dieser Ausstellung zu besichtigen war.
Jutta fiel in einer baumumstandenen, schattigen Ecke eine riesige Höhle oder Grotte auf.
"Du, was ist denn das da vorne?" fragte sie ihre Begleiterin. "Ein Hangar oder sowas Ähnliches?"
"Gehen wir einfach nachschauen!" schlug Edda vor. Schon konnten sie entziffern, was in großen Leuchtbuchstaben über den Platz funkelte. "Saurierfutter" stand da zu lesen.
"Na, da bin ich aber mal gespannt!" sagte Edda. "Ob das Energiespeicher sind für diese ulkigen Saurier-Flugobjekte?" Die Grotte strömte eine angenehme Kühle aus. Schon das allein lud ein zum Nähertreten. Gleich hinter dem Eingang standen aufrecht auf den kräftigen Hinterbeinen kleine, echsenartige Geschöpfe, etwa einen Meter zwanzig hoch, mit langem, kräftigem Schwanz und schmalen Köpfen. Ihnen mußten die Besucher Zahlchips über die Brust ziehen und durften sich dafür aus einem Gelege auf dem Boden ein Echsenei nehmen. Im Hintergrund war zu lesen "Saltoposuchus - Trias ca. 200 Mill. Jahre".
Es ging tiefer hinein in die geräumige, düstere Höhle, sie schien tatsächlich aus dem Fels gehauen oder zumindest sehr naturnah nachgebaut zu sein. Man gelangte in eine Urlandschaft aus Felsen und urzeitlichen Bäumen. Koniferen wie Tannen, Zypressen und Eiben, Farnen, Schachtelhalm- und Ginkgo-gewächse versetzten einen zurück in eine Urwelt, wie sie etwa vor 200 und 250 Millionen Jahren bestanden haben mochte. Die Felsen waren bevölkert mit Flugsauriern, bzw. phantastisch nachgebauten Flugzeugen, die mit ein bis zwei Mann Besatzung auch tatsächlich geflogen werden konnten. Allerdings beanspruchten sie mit acht Metern Flügelspannweite viel Raum für ihre Flugkünste. An einer Felsenwand war zu lesen "Flugsaurier Pteranodon - Oberkreide, vor 136 Mill. Jahren. Hier hatten sich Modellbastler ein Stelldichein gegeben, wie bei uns etwa die Modellflugzeugbauer. Malerisch in die Felsenlandschaft integriert fanden sich Sitzecken mit tischartigen Gebilden, in deren Mitte wieder eine Schale mit Echseneiern stand. Von Zeit zu Zeit ertönte ein schauderhaftes Geschrei, das von zahllosen Jungvögeln auf den Klippen ausging. Dann erschien ein ausgewachsenes Tier und ließ kleine Fische und andere Meerstiere auf die Brut hinabfallen. Gierig wurde alles verschlungen, danach herrschte wieder für einige Zeit Ruhe. Wie sich auch gleich herausstellte, handelte es sich bei der Fütterung der Jungvögel um eine virtuelle Darstellung, was man auf den ersten Blick aber wirklich nicht erkennen konnte.
Anderswo tappten drachenähnliche Urzeitwesen durchs Gestrüpp, und weit, weit hinten dröhnten dumpf und drohend nie gehörte Tierlaute hervor. Viele Besucher gab es hier, besonders Kinder. Das Lustige bei der ganzen Sache war, daß all diese schrecklichen Tiere aus einer längst versunkenden Welt auf Zurufe reagierten und den begeisterten Kindern aus der Hand fraßen. Dazu nahmen die sich immer mal ein paar Echseneier aus den herumstehenden Gelegen und lockten damit die größten Ungetüme herbei. Eine wahre Mutprobe, wenn man beobachtete, wie diese Fleischkolosse mit endlosen Hälsen und schweren Schwänzen angetrottet kamen und dann wie Klein-Hündchen die Eier aus den Händen der Kinder entgegennahmen. Belustigt, trotzdem ab und zu mit einem Hauch von Gänsehaut drangen die beiden Damen weiter vor. Nachdem sie einen dichten Wald durchquert hatten, standen sie plötzlich vor einem weiten, türkis- und dunkelblau schimmernden See. Oder war es das Meer? Darin badeten und tauchten andere Kolosse herum, rupften Wasserpflanzen aus dem Meeresboden und gebärdeten sich völlig urtümlich. Hierbei handelte es sich um Brachiosaurus brancai - Jura bis Unterkreide, etwa vor 150 Mill. Jahren. Anmutig bewegten sie ihre schlanken Hälse und beförderten allerhand Eßbares aus dem Gewässer. Hin und wieder war es so klar, daß man den plumpen, massigen Körper darin stehen sehen konnte. Auch sie streckten bereitwillig den schmalen Kopf zum Ufer und fingen geschickt die ihnen zugeworfenen Eier auf.
"Das ist jetzt aber nicht echt", zweifelte Jutta an dem Dargebotenen. "Da steckt doch bestimmt wieder irgendeine raffinierte Technik dahinter und alles ist nur virtuell, nicht?"
"Keine Ahnung!" meinte auch Edda. "Probieren wir es doch aus!" Vorsichtig beugten sie sich über das Ufer, streckten die Hände ins Wasser, plätscherten ein bißchen drin herum. Auf einmal tauchte so ein schmaler Saurierkopf vor ihnen auf, ein immer länger werdender Hals schob ihn höher und höher, das zähnebewehrte Maul öffnete sich - Jutta bekam einen solchen Schreck, daß sie beinah ins Wasser gefallen wäre. Doch Edda strich dem Tier über den Kopf, kraulte es unter dem Unterkiefer. "Faß doch mal an, Jutta, das ist ganz weich. Und wie zutraulich der ist. Hast du nicht ein paar Eier zur Hand?" Die Erschrockene griff sich schnell welche, warf und Brachiosaurus fing sie geschickt auf. "Wie machen die das bloß? Das ist ja unglaublich!" staunte sie. "Tja, knoff-hoff eben", gab Edda zur Antwort. Weiter ging es durch diese phantastische Welt, allmählich wieder dem Ausgang zu.
Doch was hatte es nun mit dem Saurierfutter auf sich? Das mit den Eiern konnte doch nicht alles gewesen sein. Die beiden setzten sich in eine der Felsennischen. Erst mal geschah gar nichts. Doch nach wenigen Sekunden erglühten die Echseneier in der Schale vor ihnen in einem fahlgrünen Licht. Es waren ziemlich große Eier. Zugleich mit dem Licht waren sie durchsichtig geworden und das Innere ließ diverse Menüs erkennen. Sie griffen zu. Was nun? Da ertönte ein kreischender Schrei, ein Flugsaurier stieß herab, riß ihnen die Eier aus der Hand und flog davon. Nun waren sie beide ehrlich erschrocken. Verblüfft sahen sie dem Riesenvogel nach. Sogleich öffnete sich die Tischplatte und aus der Tiefe empor schoben sich zwei große Teller in Blattform, bestückt mit "Saurierfutter". Auf dem einen türmte sich eine Portion gegrillter Fischchen, ein gekochtes und garniertes Riesenei, Tomaten, Salathäppchen und Oliven, dazu Weißbrot, auf dem anderen befand sich eine Terrine mit Fischsuppe, Weißbrot, und ein Häufchen Krabben mit Tunke. "Also, also - sowas"... japsten sie, für den Augenblick ganz einfach sprachlos. Dann langten sie zu, ließen es sich schmecken, hatten bereits Raum und Zeit vergessen bei all diesen überraschenden und vielfältigen Eindrücken. Erst ein sanfter Musikton von Eddas Handy brachte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. "Wo in aller Welt seid ihr denn?" hörten sie Prof. Liebrechts Stimme. "Wir warten schon seit einer viertel Stunde bei den Fahrzeugen auf euch!"
"Ach, entschuldigen Sie, Professor! Wir werden grade von Sauriern mit Futter versorgt. Da habt ihr was verpaßt! Aber wir kommen gleich. Ich hol mein Air-set und bin im Nu bei euch. Tschüß, bis gleich!" Damit stellte Edda ein Rädchen an ihrem Armband ein, drückte auf einen glänzenden Knopf und erhob sich: "Komm, gleich ist mein Airset da", sagte sie und steuerte dem Ausgang zu. Tatsächlich kam das bunte Ding herangesegelt, parkte vor ihren Füßen, die beiden stiegen ein und los ging's über den kunterbunten Platz hinweg, hinaus zum Treffpunkt der Kollegen. Als sie so eng nebeneinander saßen, fiel Jutta etwas auf.
"Was ist eigentlich mit Siegfried? Man kriegt ihn ja gar nicht mehr zu Gesicht!" "Ist mir zu langweilig geworden. Ich hab ihm gesagt, er soll ausziehen. Nächste Woche muß ich für eine Weile nach Afrika, da hol ich mir 'nen neuen Lover. Ich brauch allmählich Abwechslung. Soll ich dir auch einen mitbringen?"
"Waaas? Sag mal, ist das jetzt dein Ernst? Und Siegfried - kannst du den einfach so ablegen, so mir nichts, dir nichts? Ich glaub, das versteh ich alles nicht."
Edda sah sie kurz von der Seite an. "Naja, kannst du auch nicht in deiner Eremitage da draußen mit Ingbert. Er hat dich wahrscheinlich noch längst nicht mit allen Gepflogenheiten hier bekanntgemacht. Ich glaube, da muß ich dich wieder unter meine Fittiche nehmen. Wie fühlst du dich überhaupt so ganz allein mit diesem Mann?"
Jutta schluckte. "Ganz gut, danke. Ein bißchen einschichtig vielleicht. Aber das heut war ja ein ganz guter Anfang. Er will mir jetzt mehr zeigen und so."
"Und als Lover? Kommst du noch klar mit ihm? Oder soll ich dir doch einen neuen mitbringen? Die Schwarzen sind Klasse, ganz anders als ein Europäer. So zwischendurch....!"
"Nein danke, erst mal nicht. Das ist mir alles noch zu neu. Außerdem, was würde Ingbert davon halten." Sich sowas auch nur vorzustellen - Jutta mußte lachen. "Wo sollte ich denn diesen neuen Lover unterbringen? Müßte Ingbert auch dafür sorgen?" Sie konnte sich nicht helfen, Jutta kicherte und gluckste und fand das alles ziemlich komisch.
"Natürlich müßte er das", entgegnete Edda trocken. "Das würde er auch tun. Nur mußt du es ihm rechtzeitig sagen. Viel Zeit ist nicht mehr."
Jutta wurde wieder ernst. Todernst. "Nein, Edda. Das ist etwas, mit dem spielt man nicht. Eine solche Haltung kann ich mir nicht vorstellen. Es wäre gemein von mir, undankbar. Oder ist es doch nur ein Witz von dir?"
"Aber ganz und gar nicht!" ereiferte sich Edda. "Es wäre ganz normal in deinem Alter. Oder - hast du noch gar keinen Lover gehabt? Ach Quatsch, was red ich denn da, natürlich hast du, entschuldige." Jutta verstummte. Dieses Thema weiter mit einer Frau zu erörtern, für die Liebe offenbar ein Fremdwort war, die sexuelle Beziehungen und höchstens noch eine geistige Verwandtschaft für Liebe hielt oder was auch immer, das war ihr unmöglich. Mit einem Mal war ihre so sehr bewunderte Edda zu einer Fremden für sie geworden. Kalt, undurchschaubar, unsauber.
Sie waren am Parkplatz angelangt, glitten hinab zu den anderen. Sie erkannte Ingberts sorgenvolles Gesicht. Ihr Herz schlug einen Zacken schneller. Nur nichts anmerken lassen. Hat alles nichts zu bedeuten, wie Edda soeben ausgeplaudert hat. Selbst wenn auch er ..., so wie sie, wenn sie ihn nur ansah! Nein, bestimmt nicht. Für ihn war sie genauso ein Studienobjekt wie für alle anderen. Mit Abwechslungscharakter. Mit einem bitteren Gefühl stieg sie aus, wurde mit Hallo in Empfang genommen, mit Fragen und Gelächter überhäuft. Naja, Edda antwortete für sie beide. Ingbert war neben die Verstummte getreten.
"War ein schöner Tag für dich, was? Aber anstrengend."
"Ja", lächelte sie. Endlich trennte man sich, jeder bestieg sein Fahrzeug, mit Schwung ging es hinauf in die Lüfte. Wie ein Schwarm wildgewordener Vögel sausten sie über die Wälder hinweg, ließen Ortschaften und Städte hinter sich, grüßten mit Blinkzeichen, wenn sich einer von ihnen verabschiedete und in anderer Richtung heimwärts schwenkte.
Die ganze Zeit über redete Jutta kein Wort. Saß bloß da, Knie angezogen, Arme darüber verschränkt, darauf bedacht, nur ja auch nicht im geringsten mit ihrem Hausherrn in Berührung zu kommen. Die ganze Situation war ihr peinlich. Wieder fühlte sie sich eingesperrt, einsam, unglücklich. Sie hatte nicht mal mehr den Wunsch, auszureißen. Wohin denn auch? Und in dieser Welt? Nein, lieber einsam sein und vergehen, da draußen in dem Kuppelhäuschen, mit diesem fürsorglichen Mann, der alles von ihr fernhielt, was sie verletzen konnte, alles Wissenswerte, Interessante, auch alles Schöne? Das heute nur unter Zwang? Wenn sie ihm mit Weglaufen drohte? Sie wurde nicht schlau aus ihm und wollte es auch nicht mehr. Der Mond zog schon herauf, als sie über dunkle Baumwipfel einschwenkten in ihr kleines Anwesen. Auch Ingbert war schweigsam. Irgendwie schien alles kaputt zwischen ihnen. Das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt hatte. Was war geschehen? Im Wohnzimmer angelangt, brach er nun doch das Schweigen.
"Na, plaudern wir noch bißchen? Ihr wart ja lange fort, du und Edda. Was habt ihr denn getrieben die ganze Zeit?"
"Ach, eine Menge. Erzähl ich dir morgen. Gut Nacht." Damit wollte sie in ihr Zimmer verschwinden. Ingbert legte die Hand auf ihre Schulter, hielt sie mit leichtem Druck zurück. "Jutta, da ist doch was. Komm, erzähl schon, was hat's gegeben?"
"Ja, es ist was, es ist eine ganze Menge, womit ich nicht klar komm. Wo lebt ihr nur? Wie könnt ihr so leben? Ingbert, laß mich, ich möchte jetzt allein sein. Und danke für den schönen Tag!"
"Es war kein schöner Tag für dich, wenn er so endet." Er ließ sie los, trat vor sie hin.
"Du, ich mach mir Sorgen, wenn du so bist. Willst du mir nichts erzählen?"
"Nein, heut nicht. Oder doch, vielleicht doch. Edda will mir einen neuen Lover aus Afrika mitbringen. Könntest du das arrangieren?"
"Das hat sie gesagt? Tatsächlich? Einen Lover? Einen neuen Lover? Und was ist mit dem alten?"
"Es gibt keinen alten, es hat überhaupt noch nie einen gegeben. Also bitte, kannst du das arrangieren? Edda meinte, das würdest du."
"Dieses Biest! Was hat sie nur mit dir angestellt! Komm, meine Kleine, das müssen wir auf der Stelle klarstellen." Er legte einen Arm um sie und wollte sie zum Sofa führen, wollte endlich wissen, was da vorgefallen war und auch endlich Klarheit zwischen sich und diesem Mädchen schaffen. Doch Jutta fuhr ihn an. "Nenn mich nicht 'Kleine'! Und deine bin ich schon gar nicht. Ich bin niemandes Kleine, das merk dir mal." Nun war es aber vorbei mit ihrer Fassung und hundemüde war sie auch und überhaupt. Sie wollte allein sein, allein, allein allein. Für immer und ewig. Nichts mehr verstehen müssen, nichts mehr fühlen müssen, keine Enttäuschung, keine Freude, keine Einsamkeit - eigentlich wollte sie am liebsten tot sein.
Er ließ sie los, sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. Der Mund ein schmaler Strich. "Dann - gute Nacht", sagte er kurz. Die Verstörte drehte sich um, wortlos lief sie auf die Wand zu, in der die Türe sein mußte. Sie streckte die Hand aus - das Ding mußte sich auf diese Bewegung hin öffnen, tat es aber nicht. Schnell half Ingbert nach, eine kurze Geste, die Wand verschwand, das Mädchen auch.
Ingbert warf sich in einen Sessel. Er kochte vor Empörung. Er konnte sich gut vorstellen, was Edda in ihrer leichten, jedoch sehr wohl bedachten Art da angestellt hatte. Sie hatte es ihm sehr verübelt, daß dieses Mädchen in seine Obhut gegeben worden war - ihr entrissen. Obwohl sie selbst es war, die es in ihrer Eifersucht so schnell wie möglich aus dem Haus haben wollte. Wie es schien, war Siegfried endgültig in Ungnade gefallen. Er hätte ihr gehörig den Kopf waschen und dann von selbst verschwinden sollen. Das wäre die einzig richtige Behandlung für dieses Weib gewesen. Und jetzt hatte sie ihn, Ingbert, im Visier. Konnte es nicht verwinden, daß Jutta schon so lange unter seiner Obhut weilte. Die Anspielung auf einen Lover, das war sehr gezielt gehandelt, wenn es auch aussah, als wäre es nur so nebenher gesagt. Sowas konnte Edda, die Giftpfeile saßen, sie würde einen Grund finden, ihm seinen Schützling zu entreißen. Todsicher. Er rechnete damit, daß es in ihrer Abwesenheit geschehen würde. Bestimmt hatte sie schon irgendetwas in die Wege geleitet, daß Prof. Liebrecht nicht anders konnte, als sich dem Gesetz zu fügen. Und das hieß: Dieses kostbare Geschenk aus einer Zeitreise unter wissenschaftliche Aufsicht zu stellen. Möglicherweise hatte sie bereits angedeutet, daß Jutta bei ihm unter Depressionen litt. Ein guter Grund für eine Verlegung ins Institut. Es gab nur eine Möglichkeit, sie vor weiteren Zugriffen zu schützen. Jutta mußte mit ihm liiert sein, nur dann war sie frei und niemand hatte mehr das Recht, sie gegen ihren Willen zu etwas zu zwingen. Edda würde platzen vor Ärger. Vielleicht brauchte sie dann zwei Lover. Einen schwarzen und einen gelben. Kein Problem, ihr rannten alle nach.
Der Brainologe ging schlafen.
- . - . - . - . -
Es wurde eine herbe, prägnante Aussprache. Da Jutta sich derart zurückhaltend verhielt, ja, mitunter sogar verletzend, verlangte Salmann in kurzen, knappen Worten nur zu wissen, was genau Edda gesagt hatte und teilte ihr dann seine Überlegungen mit. Jutta wurde immer verschlossener. "Und wie geht so etwas bei euch vor sich?" fragte sie am Ende nur.
"Völlig unkompliziert und schmerzlos", versicherte ihr Zukünftiger. "Wir können das sogar per Internet erledigen. Wir brauchen dazu nur unsere biologischen Merkmale, Fingerabdruck, Blutgruppe, biometrische Kennzeichen und alle persönlichen Daten, dazu eine Willenserklärung, daß zwischen den genannten Personen eine gesetzliche Bindung hergestellt werden soll und schon ist die ganze Sache erledigt. Das wird gespeichert, wir bekommen eine Bestätigung und basta."
"Na fein. Damit gehör ich dir, auf Gedeih und Verderb. Glaubst du, das ist soviel besser, als Eddas Vorschlag? Sie wollte mich wieder zu sich nehmen und endlich mit eurer Welt bekannt machen."
Ingbert wurde wütend. "So, jetzt reicht's aber! Du kennst die Fakten, überleg es dir. Ich hab nämlich auch noch was anderes zu tun, als meine Zeit auf diese Weise zu vertrödeln. Ich muß ins Institut. Du kannst mitkommen, wenn du willst. Oder auch dableiben und dich in deinen Jammer vergraben." Er wartete einen Moment. "Und? Antwort!"
Jutta kämpfte ihren Trotz nieder, lächelte ihn sogar an. "Ich komm mit. Fünf Minuten, okay?"
Er nickte.
Im Institut lieferte er den Plagegeist bei Prof. Liebrecht ab. Mochte der anstellen, was er wollte, er mußte den Kopf freibekommen für seinen Beruf. So ging das nicht weiter.
Jutta, mit tief dekolletiertem luftigem Sommerkleidchen, lief strahlend auf den Wissenschaftler zu. "Guten Morgen, Herr Prof. Liebrecht! Ist es nicht schön, daß ich Sie gleich heute besuchen darf? Nach diesem herrlichen gestrigen Tag. Ich möchte mich auch noch ganz herzlich dafür bedanken. Sie haben sich alle soviel Mühe gegeben."
"Oh ja, ja", beeilte sich der Professor zuzustimmen. Er drückte ihr beide dargebotenen Hände und wußte im übrigen nicht, was weiter anfangen mit diesem Überraschungsbesuch. Ingbert hatte sich mit einem freundlichen Kopfnicken verabschiedet.
"Er hat Ihnen also gefallen, unser kleiner Betriebsausflug. Wird wohl eine Menge Neues für Sie gewesen sein. Haben Sie schon gefrühstückt? Ja? Macht nichts, gehen wir trotzdem in die Kantine, da plaudert's sich besser. Mal sehen, was ich heute für Sie tun kann."
Es dauerte nicht lange, da saßen sie sich mit einer peinlichen Gesprächspause gegenüber und keiner wußte so recht, wie es weitergehen sollte.
"Haben Sie Lust, sich irgendetwas besonders anzusehen?" fragte Liebrecht endlich. Das Mädchen überlegte. "Hab ich ja schon, danke. Ich versteh ja von dem allen nichts, hat also keinen Sinn, Ihre Mitarbeiter von ihrer Arbeit aufzuhalten. Allerdings, wenn es möglich wäre - ich möchte Sie schon gerne um was bitten."
"Nur zu, um was geht's denn?"
"Ich möchte so gerne mehr von der Computertechnik verstehen. Könnte mich da nicht jemand ein bißchen einweisen? Ich komm mir ja vor, wie ein...wie ein Vorschulkind, das noch von nichts eine Ahnung hat." Der Professor atmete sichtlich auf. Die Frage, wie er den Tag mit diesem hübschen Anhängsel verbringen sollte, war gelöst.
"Aber natürlich. Ich freue mich, daß Sie solches Interesse daran haben. Sehr vernünftig!"
So lernte Jutta nicht nur, mit der neuesten Computertechnik umzugehen, sondern auch noch einen jungen Mann kennen, der sie einführte. Auch das konnte noch ganz nützlich werden.
Die paar Stunden an der Seite von Bert, dem jungen Mann - er war höchstens zwanzig Jahre alt - zeigten der Lernbegierigen, daß sie ohne richtige Schulung am Computer wohl nicht in der Lage sein würde, irgendeinen Schritt alleine auszuführen. Statt einer alphabetischen Tastatur gab es ein Pult mit verschiedenen Symbolen, das man nur selten mit der Hand berührte. Alles wurde mit Hilfe der Gedanken gesteuert. Die Vielzahl der Programme war verwirrend und selbstverständlich vollkommen fremd für das Verständnis eines Menschen aus dem 21. Jahrhundert. Vor allem aber, Jutta sah das ein, brauchte man einen im Gehirn integrierten Sensor oder zumindest eine Schnittstelle, um dieses gigantische Gedankengut beherrschen zu können. So sehr sie sich auch bemühte zu verstehen, der ganze Vortrag vermochte ihr höchstens einen vagen Überblick über die Möglichkeiten einer Computerarbeit zu verschaffen. Für Bert verlorene Zeit. Aber bitte, wenn es der Chef so wollte...! Nach drei Stunden Konzentration irrten ihre Gedanken immer wieder ab und verloren sich in dieser verheißungsvollen Kantine. Doch Berts Erklärungseifer ließ keinerlei Seelenverwandtschaft in dieser Hinsicht erkennen. Hatten die denn nie Hunger? Oder lebten sie von Pillen, um von derartigen Bedürfnissen nicht in ihrer Arbeit gestört zu werden?
Sie lehnte sich zurück. "Aussichtslos mit mir, wie?" lenkte sie ab.
Bert lächelte. "Das würd' ich nicht so sagen. Du müßtest halt ganz von vorne anfangen. Wenn du wirklich Lust hast, dich mit sowas abzugeben."
"Lust oder nicht, ich glaub, so lange ich nicht einmal in der Lage bin, mit einem Computer umzugehen, bin ich so hilflos wie ein Tier, nicht mal wie ein Kind. Für die ist das bestimmt von klein auf eine Selbstverständlichkeit."
"Ja, natürlich, das stimmt schon. Nur, es würde sehr, sehr lange dauern, bis du das so einigermaßen beherrschst. Ich weiß nicht, bist du nicht für ganz was andres da?"
"So? Meinst du? Und für was bitte schön?"
"Entschuldige mal, das müßtest du doch wohl am besten wissen. Unsereins erfährt ja nicht viel. Nur, daß du die größte Kuriosität des Jahrhunderts bist. Jeder hier macht sich so seine Gedanken darüber. Ich dachte, du hast bestimmt schon einen ganzen Jahresterminkalender ausgebucht mit dem ganzen Kram, den man aus dir herausholen will."
"Hätte ich wohl, wenn Dr. Salmann das nicht abgeblockt hätte. Wahrscheinlich kommt das noch."
"Da kannst du Gift drauf nehmen. Die lassen sich nicht beirren. Ist ja auch phantastisch, daß du hier gelandet bist. Sag mal ehrlich, warst du auf einer Zeitreise und hast dich verspekuliert oder was? Und wohin wolltest du ursprünglich?"
Die Kuriosität des Jahrhunderts lachte hell auf. "Das meint man wohl von mir? Ja, vielleicht war ich das und weiß es bloß nicht mehr. Kann sein, ich wollte tatsächlich euch kennenlernen und da bin ich jetzt."
Bert riß die Augen auf, war ganz Ohr. Ob er da etwas erfuhr, was noch niemand vor ihm herausbekommen hatte? Jutta sah ihm an, wie es in ihm fieberte. Na gut, er sollte seinen Spaß haben und sie auch. Sie war es, die den erlösenden Vorschlag machte.
"Sag mal, Bert, hast du denn keinen Hunger? Also ich sterbe gleich. Wollen wir nicht in die Kantine gehen? Oder darfst du das nicht?"
"Gute Idee, ich sag bloß Prof. Liebrecht Bescheid."
Er wandte sich einfach dem Computer zu, ein Licht auf dem Pult mit den Symbolen leuchtete auch und Bert unterhielt sich kurz mit seinem Chef. Ohne daß er irgendetwas berührt hätte. Das wollte sie auch können, einfach faszinierend. Bert stand auf, ließ ihr galant den Vortritt. Sie entschwanden, zart umfächelt von einem Duft nach Nelken und Orangenblüten.
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Die Kantine wirkte wie immer höchst anregend auf das junge Mädchen. Da waren ja noch so viele unprobierte Kleinigkeiten, die sie alle kennenlernen wollte. Sie wollte überhaupt alles kennenlernen, was sie umgab und darüber hinaus diese ganze neue faszinierende Welt.
Jutta wanderte von einem Buffet zum andern und lud sich den Teller voll.
"Sag mal, ist das nicht ein bißchen viel auf einmal?" wunderte sich der junge Mann.
"Nein, überhaupt nicht. Das ist doch erst der Anfang!" antwortete sie und reichte ihm die Platte. "Könntest du das inzwischen zu unserem Platz bringen, Bert? Und vielleicht ein paar Shakes dazu, ganz egal, was. Und Kaffee. Ich bin gleich durch." Immer noch hatte sie alle Hände voll zu tun, sie füllte Schüsselchen und Teller mit Cremes, Salaten, mit Süßem und Pikantem, mit Früchten, Törtchen und Gebäck. Strahlend brachte sie einen Teil ihrer Beute an Berts Tisch. "Du, ich glaub, den Rest stellen wir da daneben ab. Hilfst du mir tragen?" Endlich saßen sie inmitten all der leckeren Häppchen, Bert hatte wunschgemäß eine Reihe von Shakes und ein Kännchen mit Kaffee in Reih und Glied gestellt. Staunend und zweifelnd saß er der Tapferen gegenüber. "Meinst du, es reicht?" witzelte er. Begeistert übersah sie die beiden bunt beladenen Tische. "Ich denke, ja - vorerst. Und jetzt geht's los!"
Die Sonne sprühte glitzernde Sternchen über ihre goldbraune Mähne, ihre Augen funkelten, sie hatte rote Bäckchen vor lauter Vorfreude auf diesen kolossalen Frühstücksspaß. Graziös und gezielt nahm sie von den aufgebauten Köstlichkeiten, genoß in kleinen Schlückchen die Getränke, war rundherum guter Laune. Der junge Mann war diese Schlemmerei am Arbeitsplatz nicht gewohnt. Er hielt aber brav mit, sie amüsierten sich köstlich.
"Wo wohnst du denn eigentlich, Bert?" wollte Jutta zwischendurch wissen.
"Du wirst dich wundern, ganz in deiner Nähe. Ich hab dich schon oft im Garten gesehen, wenn ich mit meinem Airset bei euch vorbeifliege. Du bist mir immer so traurig vorgekommen. Deswegen hab ich dir auch die weiße Rose damals hinuntergeworfen. Damit du weißt, da ist noch jemand, nicht nur dieser Dr. Salmann."
"Eine weiße Rose? Hab ich nicht bemerkt. Aber danke nachträglich. War lieb von dir."
Er sah sie nachdenklich an. "Fühlst du dich denn wohl so allein den ganzen Tag? Und immer nur mit diesem Mann zusammen. Ich glaub, mir wär das zu einsam."
"Na, er tut sein Bestes, 'dieser Mann'! Salmann ist immer zuvorkommend und aufmerksam und jetzt hat er mir sogar einen ganz tollen Vorschlag gemacht."
"Und das wäre?" fragte Bert. Jutta sah ihn schelmisch an. "Er ist ein ganz Schlauer, weißt du. Vielleicht mach ich's auch gar nicht. Vielleicht brauch ich ja auch einen Hauslehrer und einen, der auf mich aufpaßt, wenn er nicht da ist. Vielleicht wärst sogar du der Richtige."
Der junge Mann wußte wirklich nicht, was er davon halten sollte. Während Jutta schon wieder losprustete vor lauter Vergnügen über ihren Einfall, sah er sie ernst und verständnislos an. "Da gäb’ es aber schon einiges zu klären vorher", warf er ein. So mir nichts dir nichts zum Hauslehrer abkommandiert zu werden, behagte ihm gar nicht. "Was ist das denn für ein Vorschlag? Wie ich den Kollegen kenne, hat er bestimmt Hand und Fuß."
"Ja, das hat er wirklich." Sie war mit einem Mal ernst geworden. "Ich soll ihn nämlich heiraten." Bert war platt. Er setzte die Tasse ab, von der er gerade trinken wollte, lehnte sich zurück. "Heiraten!" sagte er entgeistert. "Was soll das denn!? Gibt es doch schon lang nicht mehr. Da steckt doch mehr dahinter!"
"Natürlich, reine Barmherzigkeit, sonst nichts. Und natürlich, daß er allein über mich bestimmen kann. Er will mich der Wissenschaft entreißen. So ist das!"
"Aha", machte der Junge. Aber was für ein 'Aha!' Als wäre er einem Schwerverbrecher auf die Spur gekommen. "Und du möchtest das gar nicht, oder?"
"Weiß ich eben nicht. Er sagt, das wäre die einzige Möglichkeit, mich freizubekommen. So wie das jetzt läuft, gehöre ich sozusagen dem Institut. Wie Strandgut. Es gehört dem, der es zuerst gefunden hat."
"Ja, das stimmt", gab Bert zu. "Wär es dir denn wirklich so unangenehm, uns über deine Zeit aufzuklären? Es ist doch interessant für uns alle, auch für dich. Dabei würdest du auch wieder eine Menge über uns erfahren. Überhaupt könntest du eine Menge Wünsche äußern und alle würden dir erfüllt werden. Das ist doch eine riesige Chance für dich. Überhaupt, was möchtest du denn gern? Was würdest du dir denn wünschen?"
"Zuerst einmal Freiheit. Und ich möchte ganz normal behandelt werden, nicht wie ein Ausstellungsstück in einem Glaskasten. Ich möchte zum Beispiel, daß wir beide mal ausgehen könnten. Du zeigst mir, wie man sich heutzutage amüsiert und dann tun wir das bis zum Umfallen. Ohne Zeugen, ohne Kontrolle. - Zum Beispiel!" bekräftigte sie noch.
"Ausgehen ja, aber nicht ohne Kontrolle, ganz bestimmt nicht. Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Was meinst du wohl, warum Salmann nicht mit dir ausgeht? Eben deswegen wahrscheinlich. Es wäre eine Lüge, wenn er dir vormachte, alles wäre völlig zwanglos. Jede Bewegung von euch würde beobachtet und protokolliert werden. Er hat schon recht, wenn ihr beide liiert wärt, könnte er sich das verbitten. Und wenn er doch etwas in der Hinsicht bemerken würde, könnte er die Justiz einschalten. Du mußt dir tatsächlich gut überlegen, was du tun willst. Beide Versionen haben was für sich."
"Na gut, ich werd' mir eine Wunschliste zusammenstellen und dann schau'n wir mal, bei wem ich die besten Chancen habe."
Einen Augenblick noch sah sie der junge Mann zweifelnd an. "Und das ist wirklich das Einzige, worauf du Wert legst? Wer dir am ehesten deine Wünsche erfüllen kann?"
"Natürlich, was sonst!" empörte sich Jutta. "Wenn ich schon mal da bin und mein ganzes bisheriges Leben verschwunden ist, einfach verschwunden! Entweder ich find einen neuen Anfang oder - oder es ist wie der Tod." Für einen kurzen Moment las ihr Gegenüber Verzweiflung in ihrem Gesicht. Doch gleich darauf fiel ihr Blick auf den überfüllten Nebentisch und ihre Miene hellte sich auf. "Lang mir das dort doch mal rüber Bert, bitte. Nein, das daneben mit dem roten Käppchen obendrauf!"
Die Laune war gerettet, der Vormittag überstanden, Berts vertrauliche Stunden mit diesem Kuriosum gezählt. Irgendwie war er auch froh darüber. Er beneidete Salmann nicht.
. * . * . * . * . * .
Dr. Ingbert Salmann saß an seinem Arbeitsplatz und stierte seine bisherigen Aufzeichnungen an. Sein Computer lieferte exakte Angaben über die Wege der Gehirnströme bei verschiedenen Experimenten. Seine Forschungsarbeit lief darauf hinaus, festzustellen, inwieweit sich diese Ströme bei unterschiedlichen Lebewesen glichen. Er wollte einen Weg finden, diese Ströme zu sammeln und ihrer Bahn nach dem Tod des Gehirns nachspüren. Dazu mußten sie kurz vor dem Eintritt des Todes noch einmal enorm angeregt werden, um eine gut meßbare Spur zu legen. Und dann - wohin führten sie, wurden sie zerlegt, die Gehirnströme, wurden sie in einer anderen Dimension gespeichert und wiederverwertet? Erloschen sie mit dem letzten Atemzug? Es gab Fragen über Fragen.
Es war ihm an diesem Vormittag unmöglich, sich zu konzentrieren. Ob Jutta die ganze Zeit über mit diesem jungen Spund zusammen war? Liebrecht hatte ihn informiert, daß sie sich das Computerwesen erklären lassen wollte. Sicher, sie war wißbegierig, sehr sogar. Aber sie lachte auch gern. Und mit diesem Blondschopf so Seite an Seite vor den Geräten - was tat sich da? Lachten sie schon wieder? Naja, sie würde ihm ja heute abend haarklein erzählen, was sie alles Neues gelernt hatte. Das tat sie immer. Wollen die tatsächlich noch stundenlang, bis zum Feierabend, vorm Bildschirm sitzen? Auch hier: Fragen über Fragen. Salmann stand auf. "Muß kurz mal nach Hause, hab mein Speichermaterial vergessen", entschuldigte er sich bei seinen Kollegen. Und dann ab zu Prof. Liebrecht. Auch da der gleiche Vorwand.
"Und würden Sie bitte Jutta fragen, ob sie mitkommen möchte? Kann ja sein, daß es ihr allmählich zuviel wird hier."
Die beiden jungen Leute erschienen, Bert wurde für heute abkommandiert, Jutta nach ihren Wünschen gefragt - und tatsächlich, sie hatte den Wunsch, nach Hause mitzukommen und auch da zu bleiben. Als sie beide wieder dicht nebeneinander im Airset saßen, fühlte Jutta schon wieder dieses kribbelnde Gefühl. Sie sah zum Fenster hinaus. Weg von ihm. Er mit ernstem Gesicht geradeaus. "Was willst du denn den ganzen Nachmittag machen zu Haus?" fragte er. "Ich dachte, du lechzt nur so nach Menschen. Oder hat dir dein Computerfachmann die Laune verdorben?"
"Laß doch den Quatsch. Auf sowas kriegst du überhaupt keine Antwort." Und nach ein paar Sekunden: "Außerdem ist Bert ganz anders, der könnte einem gar nicht die Laune verderben. Ein netter Kerl!"
"Das freut mich."
Dann war nichts mehr. Jutta sah weiterhin rechts raus die Gegend an und Salmann steuerte konzentriert, mit einer Querfalte auf der Stirn, sein Fahrzeug heim. Als sie das kühle Vorhaus betraten, meinte er noch: "Hast du dir meinen Vorschlag schon durch den Kopf gehen lassen?"
"Unter anderem. Ich brauch den Nachmittag, um das genauer auszuarbeiten. Bert hat mich da auf einen Gedanken gebracht."
"Was hat der denn damit zu tun!" fuhr Salmann auf. "Na, ich muß los. Bis heut abend dann!" Damit verschwand er in seinen Arbeitsräumen und kurz darauf hörte Jutta das Surren des aufsteigenden Fluggerätes. Er war weg.
Als erstes schrieb sie einmal auf, was alles sie hier vermißte, was sie sich wünschte - oh, das war gar nicht so einfach! Sie wollte sich viel und immer mehr wünschen. So viel, daß die gar nicht mehr mitkämen mit Erfüllen all dieser Wünsche. Sie hätte am liebsten alle zur Verzweiflung gebracht. Doch nun stellte sich heraus, daß es jämmerlich wenig war, was sie sich wirklich und von Herzen wünschte.
Als erstes und Innigstes natürlich ihr Elternhaus und alle ihre Verwandten und Freunde und ihre alte Heimat. Gut, das ging nicht mehr und grübeln hatte keinen Sinn. Aber ein Pferd, das wünschte sie sich. Oder sollte sie sich gleich ein ganzes Gestüt wünschen? Das wär was! Aber nein, eigentlich mochte sie sich nicht nur mit Tieren beschäftigen. Da war doch ihr Beruf, Designerin hatte sie studiert. Ihr Talent zu zeichnen und zu entwerfen. Ihre Freude am Nähen, am Gestalten, am Aussuchen von Materialien. Die Zusammenarbeit in der Gruppe, ihre Ausstellungen, Wettbewerbe, all das vermißte sie plötzlich wieder schmerzlich. Kann man sich denn sowas zurückwünschen? Nein, nicht wirklich. Am Ende stand auf der Wunschliste nur: Pferd, reiten, Designerausbildung. Ach ja, eigene Wohnung, das mußte auch noch sein. Aber mehr fiel ihr nicht ein. Alles andere, die Nähe von anderen Menschen, von jungen Leuten in ihrem Alter, Lachen, Ausgelassensein, Bummeln gehen, baden, in der Sonne liegen - das konnte man in einer Wunschliste nicht gut unterbringen. Sie hätte es noch zusammenfassen können in 'Leben', doch das war nichts Definitives. Das Gefühl von Trauer und Verlorenheit bemächtigte sich des Mädchens. Es lähmte sie, löschte fast alle Gedanken aus. Plötzlich todmüde streckte es sich auf dem Sofa aus, sah blicklos zum Fenster hinaus. Der Zettel mit den paar Wünschen drauf war auf den Boden gefallen.
Kurz vor Sonnenuntergang setzte das Airset im Garten auf. Gereizt betrat Salmann sein Heim. Dieses Ärgernis im Haus, wo war es denn nur? Kein Empfang, nur Stille. Na, soll sie. Er hatte keine Lust, schon wieder den Anfang zu machen. Sie wußte, was auf sie zukam und wenn sie irgend etwas ändern wollte, lag es an ihr, sich zu äußern. Mürrisch versorgte er sich mit einer kleinen Mahlzeit und zog sich in sein Reich zurück. Das heißt, zu seinen Computern und Monitoren, zu seinen Fragen und Ungereimtheiten. So verging der Abend. Ingbert ließ das Licht verlöschen, saß bewegungslos im Dunkeln. Das heißt, ganz dunkel war es gar nicht, der Vollmond war aufgegangen und durchleuchtete silbern das ganze Haus. Auf einmal durchzuckte es ihn heiß: War diese Verrückte am Ende wieder ausgebüchst? Er versuchte, ihr Zimmer ins Bild zu bekommen, eine übliche Kommunikation zwischen ihnen. Die Bildfläche blieb schwarz. Alarmiert sprang er auf. Im Nu hatte er Juttas Zimmer erreicht. Es war nicht abgeschlossen, er trat ein. Noch ehe er die Lampen aktivieren konnte, sah er sie. Da lag sie im Mondlicht hingegossen, wie völlig erschöpft. Sie schlief, einen herben Zug um den Mund. Was mochte in der Kleinen vorgegangen sein, daß nicht einmal der Schlaf dieses Zeichen der Trauer verwischen konnte? Nein, er durfte sie nicht mehr so lange alleine lassen. Er bückte sich, um sie zu wecken, ihr zu sagen, er sei wieder da, er wollte sie zurückholen in die Wirklichkeit, mit ihr reden, ihre trüben Gedanken verscheuchen. Da fiel sein Blick auf einen Zettel am Boden. Da stand auch was drauf. Im Mondlicht konnte Ingbert die wenigen Worte erkennen. Da Stand 'Pferd', 'reiten', 'Designerausbildung' und 'eigene Wohnung'. Und dazu hatte sie den ganzen Nachmittag gebraucht? Nachdenklich setzte er sich auf einen Sessel und betrachtete die Schläferin.
'Eine eigene Wohnung'! Das war es, was ihn am meisten beschäftigte. Sie hatte ihn satt, alles hier. Er konnte sich eines bitteren Gefühls nicht erwehren. Hatte er doch alles für sie getan! Und ihr jetzt sogar einen Heiratsantrag gemacht. Das Einzige, was ihr dazu einfällt ist, eine eigene Wohnung zu besitzen. Also stand die Antwort auf seinen Vorschlag schon fest. Sie wollte weg von ihm. Soll sie doch! Wär endlich wieder Ruhe im Haus!
Ruhe, ja, tödliche Ruhe. Er konnte es wohl nicht verhindern. Ingbert stand auf. 'Ich sag' nichts mehr', nahm er sich vor. 'Soll sie doch von selber kommen mit ihren albernen Wünschen. Sollen sie doch mit ihr machen, was sie wollen.' Er hatte sie gewarnt. Beunruhigt und verstört versuchte er zu schlafen.
- . - . - . - . -
Am Morgen erlebte er eine weitere Überraschung. Jutta kam strahlender Laune an den Frühstückstisch, den sie bereits gedeckt vorfand. Frisch und munter und wie es schien auch ausgeschlafen. Sehr im Gegensatz zu ihrem Gastgeber. Tiefe Ringe unter den Augen, Sorgenfalten auf der Stirn, schlapp und abgespannt, schenkte er ihnen beiden Kaffee ein, reichte Brötchen rüber, stellte Müsli und Obst in ihre Reichweite. Lustlos nippte er an seiner Tasse.
"Hast du die ganze Nacht durchgearbeitet? Du siehst ja fürchterlich aus!" erkundigte sich Jutta teilnahmsvoll. "Ich hab dich gar nicht heimkommen hören!"
"Schon möglich", krächzte er. "Muß auch gleich wieder weg. Du kommst doch allein zurecht! Oder brauchst du was? Soll ich was besorgen?"
"Danke, nicht nötig. Aber ein bißchen Zeit mußt du dir schon noch nehmen. Wir wollten doch über deinen Vorschlag reden, oder?" Juttas Stimme klang ein klein wenig spöttisch.
"Ja oder nein ist schnell gesagt", antwortete er gereizt.
"Allerdings, viel zu schnell. Und da du es gar so eilig hast, wieder wegzukommen, heißt es 'nein'. Was du noch wissen solltest: Ich werde mich selbstständig machen, ich will dir nicht länger auf der Tasche liegen. Außerdem hätte ich noch eine Bitte an dich. Hoffentlich die letzte hier. Wir haben so groß getönt, daß wir deine Kollegen zu einem gemütlichen Abend einladen wollten. Würdest du das bitte arrangieren? Ich kann ja schlecht selbst einen Tag bestimmen, das mußt du tun. Ich mach dann alles weitere."
Ingbert stand auf. "In Ordnung. Ich sag dir Bescheid." Dann ging er, Jutta blieb allein am Frühstückstisch zurück. "Na, der wird sich wundern!" dachte sie grimmig, verließ das Zimmer und traf ihre Vorbereitungen.
Immer noch zerstreut und mißmutig traf Dr. Salmann an seinem Arbeitsplatz ein. Selbständig wollte sie sich machen! Ihm nicht mehr auf der Tasche liegen. Das kränkte. Am Ende hätte er ihr doch zuhören sollen. Ob auch hier dieser Bert dahintersteckte? Hinter diesen Flausen mit dem Selbständigmachen? Das konnte doch eigentlich nur von ihm stammen. Wie und wo hätte Jutta denn von sich aus die Möglichkeit dazu gehabt? Klar, dazu paßte auch der Wunsch nach einer eigenen Wohnung. Mit ihm zusammen - natürlich! Wo hatte er nur seinen Kopf gehabt? Was wollte der mit dem jungen Ding anstellen? Mit ihr Geld verdienen? Und dazu eine eigene Wohnung! Na, den Lümmel wollte er sich vorknöpfen! Der sollte seines Lebens nicht mehr froh werden. Nutzt die Unerfahrenheit der Kleinen aus. Hätte er ihm nie zugetraut. Dr. Salmann ließ sich zu einer Unterredung bei Prof. Liebrecht melden.
Nur mit Mühe verdrängte der Wissenschaftler jeden Gedanken an diesen Jungen Bert. Obwohl er am liebsten seinen Chef in seine Vermutungen eingeweiht hätte. Nein, Ingbert brachte die Sprache auf besagte Party, die wegen des Betriebsausfluges verschoben worden war.
Prof. Liebrecht runzelte die Stirne. "Das ist allerdings das letzte Zugeständnis, das ich Ihrem Schützling machen kann, Salmann. Sie wissen so gut wie ich, daß bis jetzt nicht einwandfrei geklärt ist, wie die junge Dame in unser Institut gelangen konnte. Es könnte sich auch um eine Agentin handeln, um Spionage, und da hätte sie ein recht ergiebiges Gebiet vorgefunden, wenn wir sie nicht rechtzeitig unter die Obhut unserer Mitarbeiter gestellt hätten. Sie macht zwar einen sehr unschuldigen Eindruck, aber das kann täuschen."
Dr. Salmann machte während dieser Vorhaltungen des öfteren den Mund auf und wieder zu, er hätte zu gerne ein paar Worte mit eingeflochten. Doch es ging noch weiter und Salmann wußte, wohinaus Prof. Liebrecht wollte.
"Es wird höchste Zeit, daß wir alles tun, um dieses kleine Geheimnis zu lüften. Bringen Sie dem Mädchen bei, daß es sich nach dieser Fete zu unserer Verfügung halten muß. Wir müssen auf alle Fälle nachprüfen, ob es sich bei ihrer Aussage, aus einem früheren Jahrhundert zu stammen, um Tatsachen handelt. Reichlich phantastisch, finden Sie nicht auch? Wir müssen nicht unbedingt glauben, was uns da erzählt wurde."
Endlich kam Salmann zu Wort. "Sie würden es glauben, wenn Sie Jutta Andreß Tag und Nacht um sich hätten, so wie ich. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß sie die Wahrheit sagt. Aber natürlich, sie muß sich den notwendigen Untersuchungen fügen. Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Ich möchte nur verhindern, daß sie als reines Objekt behandelt wird und das ist hier leicht möglich. Wenn sie erst einmal in die Hände unserer Wissenschaftler gefallen ist, kann es leicht zu menschenunwürdigen Eingriffen kommen. Ich weiß, wovon ich spreche!"
"Na, na, Sie übertreiben. Die Zeiten der Käfighaltung für unsere Versuchstiere sind längst vorbei." Liebrecht lachte über diesen Scherz, Salmann nicht.
"Im Ernstfall hat sie keinen Schutz", bemerkte er noch und kam dann wieder auf seine Einladung zurück.
- . - . - . - . -
Juttas Vorbereitungen bestanden darin, daß sie sofort einen Menüplan aufsetzte, der es in sich hatte. Zuerst Weißwurst mit Brezel, versteht sich. Dann eine Leberknödelsuppe, gefolgt von Schäufele mit Kraut und Brot. Als Abschluß Kompott. Und natürlich Bier in Mengen. Und Schnäpse. Alles sollte so sein, wie sie es von früheren Festen her gewohnt war. Mal sehen, ob die von heute sich nicht doch nach den alten Zeiten zurücksehnen würden. Und sie selbst brauchte ein Dirndl, ein richtig edles Trachtendirndl. Da konnte nur Edda helfen. Ach, es gab noch so viel zu tun. Und Köche brauchte sie auch. Unmöglich, das alles für die vielen Leute selbst zuzubereiten. Vielleicht auch ein, zwei Leute zur Bedienung. Ihr schwirrte der Kopf.
Als der Hausherr am späten Nachmittag nach Hause kam, sah er sein Unikum mit hochrotem Kopf durch das Haus flattern.
"Ingbert, wo setzen wir nur all die Leute hin?" empfing sie ihn.
"Nur mal langsam", sagte er. "Das sind Nebensächlichkeiten. Im Garten ist Platz genug, kann auch überdacht werden bei Bedarf. Viel wichtiger sind da gewisse Umstände, über die müssen wir uns ausführlich unterhalten. Jetzt essen wir erst mal eine Kleinigkeit."
Jutta empfand das zwar als reine Zeitverschwendung, wo doch noch an so vieles zu denken war, aber sie fügte sich.
"Ich hab schon einen Plan gemacht, jetzt mußt du das alles bloß noch managen. Schau mal."
Damit schob sie ihm zwei vollgeschriebene Blätter rüber und sah ihn erwartungsvoll an.
Er legte sie beiseite. "Das kommt später. Jetzt klären wir zunächst, was das alles zu bedeuten hat, was du mir heute morgen erzählt hast. Du möchtest also selbstständig werden und eine eigene Wohnung haben, richtig?"
"Ja, natürlich. Es kann doch nicht ewig so weitergehen mit uns."
"Das wird es auch nicht. Prof. Liebrecht hat mir heute klipp und klar gesagt, daß es nach dieser Party vorbei ist mit der Schonzeit. Dann wollen sie herausfinden, was es mit dir auf sich hat. Und zwar gründlich."
"Hab ich gar nichts dagegen. Nur sollen sie dafür zahlen. Ich stell mich nicht umsonst zur Verfügung. Für jede einzelne Untersuchung sollen sie ordentlich blechen. Und für eine eigene Wohnung sollen sie auch sorgen. Das bin ich ihnen wohl wert, denke ich. Außerdem möchte ich einen Computerkurs und eine Ausbildung als Designerin machen. Das gibt es bestimmt heute noch genauso. Dazu brauche ich eine eigene Wohnung, denn wer weiß, wo diese Ausbildung stattfinden soll."
"Lobenswerte Wünsche", lächelte Ingbert. "Es wird bloß nicht so gehen, wie du dir das einbildest. Du wirst inzwischen nämlich als Agentin gehandelt. Dein unschuldiges Auftreten glaubt dir kein Mensch mehr. Liebrecht will herausfinden, wie du in unser Institut gelangt bist und dazu wirst du durch alle Fachgebiete geschleust, die du dir nur denken kannst. Auch durch meine Abteilung. Diese Party ist dein letztes Auftreten in Freiheit. Dann ist Schluß mit lustig."
Entsetzt sah sie ihn an. "Das gibt es doch gar nicht, das dürfen die nicht mit mir tun. Ich bin immer noch ein freier Mensch und deutsche Staatsbürgerin."
"Die dürfen alles. Bis sich herausstellt, daß du die Wahrheit gesagt hast. Und das kann Jahre dauern. Muß nicht, aber kann. Übrigens alles unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Die Sache ist zu brisant. Mach dir darüber keine Illusionen."
"Und du hast das alles gewußt! Natürlich hast du das gewußt. Und behandelst mich so!"
"Wie behandle ich dich denn?"
"Na, so, als ob ich in völliger Freiheit leben würde. Bis auf die Grenzen, die mir die Unkenntnis eurer Welt eben noch auferlegt. Aber sonst - du wußtest genau, daß das alles nicht stimmt." Äußerst erzürnt funkelte sie den Ärmsten an. Er bewahrte die Ruhe.
"Deswegen mein Heiratsantrag", sagte er nüchtern.
Jutta geriet noch mehr außer sich. "Ein schöner Heiratsantrag das! Wußtest du schon, daß sowas mit Liebe zu tun hat? Ach nein, bestimmt nicht. Heirat per Internet! Liebe ist da ausgeschlossen. Das Wort sollte ich am besten gar nicht mehr erwähnen. Tu ich auch nicht mehr!"
Wütend verschränkte sie die Arme, saß ihm herausfordernd gegenüber.
Salmann lehnte sich zurück. Geduldig wartete er auf das Ende dieser Tirade.
"Tja, so ist das eben. Eine Ehe wäre immerhin eine Möglichkeit. Du kannst natürlich auch versuchen, dich zu verkaufen. Vielleicht gehen sie drauf ein. Vielleicht auch nicht. Vielleicht wartet auch schon längst einer drauf, mit dir das große Geschäft zu machen."
Er schwieg einen Augenblick lang still, sah das verstörte Ding ernst an.
"Übrigens - dieses Wort - eine Zeitlang dachte ich, es stünde ganz groß zwischen uns. Dachte ich. Naja."
"Wie meinst du das? Liebe? Zwischen uns? Sowas kennst du doch gar nicht. Ein vollendeter Gentleman wie du bist."
"Und du? Kennst du es denn?"
"Ich...klar, ich kenn das..." - das Mädchen kam ins Stottern, kannte sie es wirklich? Vorher? Vor Ingbert? Dann gab sie leise zu: "Nein, eigentlich nicht. Nicht vor dir. Ich meine, nicht selbst. Aber du warst doch der einzige Mensch, der sich wirklich um mich gekümmert hat! Da hab ich halt geglaubt, da hab ich plötzlich gefühlt ... - ach Ingbert, ich dachte wirklich, ich dachte, das tätest du noch aus einem anderen Grund, als aus wissenschaftlichem Interesse. Es tut mir leid. Es tut mir so leid!" Hilflos sah sie ihn an. Wieder fühlte sie sich allein und verlassen, von ihrem eigenen Gefühl betrogen und das alles in einer völlig fremden Welt.
"Schade", antwortete er bloß. "Schade, daß es dir leid tut. Jedenfalls steht mein Vorschlag, wird immer stehen. Du kannst jederzeit darauf zurückkommen." Er stand auf.
"Ich vermute nämlich auch, daß es nicht bloß wissenschaftliches Interesse ist. Ich glaube, - also ich weiß es nicht genau, ich hab das noch nie so mitgemacht - aber ich glaube, so müßte es sein, dieses Wort." Damit drehte er sich endgültig um, die Türe öffnete sich.
"Ingbert!" kam es da verzweifelt aus Juttas Richtung. "Lauf doch nicht fort! Wie kannst du nur jetzt weggehen! Das kannst du doch nicht! Ich - ich... - was soll ich denn nur machen!"
Er drehte sich um. Da stand sie, die Hände auf dem Frühstückstisch aufgestützt, sah sie ihm nach, wieder einmal mit diesem kindlich hilflosen Gesicht, das ihn immer schon so gerührt hatte. Mühsam hinuntergewürgte Tränen begannen soeben, sich von ihren Wimpern zu lösen. Mit zwei Schritten war er bei ihr, nahm sie in die Arme. "Du mußt ja nicht, Jutta", tröstete er, "du mußt mich ja nicht heiraten. Mit Liebrecht läßt sich bestimmt noch reden. Kann ja sein, daß die ganz schnell von deiner Version überzeugt sind. Wir werden kämpfen, wir zwei. Ich laß dich nicht allein."
So nah an Ingberts Brust, seine tröstende Stimme, seine beruhigenden Hände, alles das, was sie sich schon so lange gewünscht hatte - sie brach in ein hemmungsloses Schluchzen aus. Es schüttelte sie beide nur so. Und er war selig. Er hielt sie ganz einfach fest, küßte immer wieder ihr Haar und flüsterte dazu irgendwelches Zeug, jedenfalls schien es die Erschütterte zu beruhigen. Alsdann führte er sie nach nebenan, setzte sich mit ihr aufs Sofa und ließ sie immer noch nicht los. Es war ein ganz selbstverständlicher Zustand, auch Jutta machte keine Anstalten, auch nur einen Zentimeter Zwischenraum zwischen sich und dieser Männerbrust zu gestatten. Schließlich verebbte das tränenreiche Beben. Sie blieben einfach so sitzen, eng aneinander gekuschelt, Seligkeit pur. Na endlich.
"Jutta?" beugte er sich zu ihr runter.
"Ja?"
"Wir machen's kürzer, das Ganze, hm? Ich meine die Party. Ist alles viel zu viel Aufwand für das, was die mit dir vorhaben. Was meinst du?"
"Glaub ich jetzt auch. Weißwurstessen genügt. Und dann kommt die Überraschung."
"Welche Überraschung?"
"Wirst schon sehen. Laß mich nur machen."
Die Party kam. Die Eingeladenen erschienen bereits früh um zehn, da sich die Gastgeber tatsächlich nur fürs Weißwurstessen entschieden hatten und das findet bekanntlich vormittags statt. Jutta glänzte in einem wunderschönen Trachtendirndl, genauso wie sie es sich gewünscht hatte. Mit Edda ließ sich wirklich reden bei solchen Gelegenheiten.
Sie hatten alle im Garten Platz genommen, zwei Tische waren gedeckt mit weißblau karierten Papiertischtüchern, bestückt mit Bierkrügen und Schnapsgläsern, auch für Blumenschmuck hatte Jutta gesorgt. Alles möglichst urtümlich, ohne großen Schnickschnack. Sogar eine Folklore-Band hatte Ingbert aufgetrieben, die noch mit alter Blasmusik vertraut war. Es war richtig zünftig. Jutta war begeistert, sie freute sich richtig auf die Gäste. Wenn auch mit einem leicht wehmütigen Gefühl im Hintergrund, weil sie ja nun wußte, daß jeder der Kommenden ganz was anderes von ihr erwartete.
Die beiden Gastgeber empfingen die Kollegen an der Haustür. Die junge Hausfrau meisterte ihre Rolle mit bewundernswerter Unbefangenheit. Ihre fröhliche Herzlichkeit, die sie jedem einzelnen entgegenbrachte, gewann ihr sämtliche Sympathien.
Die Leute wurden plaziert, bewirtet, mit Würsten, Bier und guter Laune vollgestopft. Die Blasmusik im Hintergrund tat ihr Bestes und als man sich so allmählich gesättigt nach hinten lehnte, griff das bayrische Dirndl nach einer Kuhglocke und verschaffte sich so Aufmerksamkeit. Die Musik blies einen Tusch und Jutta verkündete:
"So, meine Herrschaften, damits so richtig zünftig wird - wer getraut sich einen boarischen Zwiefachen zu tanzen? Wer's nicht kann, ich bring's ihm schon bei!"
Aufmunternd und erwartungsvoll sah sie in die Runde. Da - plötzlich flog eine weiße Rose über die Hecke, ihr nach kam ein junger Mann gehopst. Bert.
"I trau mi, Dirndl!" rief er. Im Nu hatte er das überraschte Mädchen um die Hüften gepackt und legte mit ihm los. Obwohl die Musik noch gar nicht eingesetzt hatte. Das tat sie dann aber gleich. Ingbert war kein Spielverderber, auch wenn es in ihm kochte. Die beiden legten einen Zwiefachen hin und einen Landler und einen Dreher und sie hätten wohl noch so weiter getanzt, wäre Salmann nicht eingeschritten. "So, jetzt langt's", überschrie er die Musik, griff sich Jutta und drehte noch ein paar Runden mit ihr. Sie strahlte, er schwitzte - die Musik machte eine Pause.
"Jetzt habt's g'sehn, wie's geht, wer will weitermachen?" rief er in die Runde. Sie kamen nicht so recht in Gang. Jutta ging auf Prof. Liebrecht zu, raffte ihr Gewand und machte einen leichten Knicks vor ihm. "Wie wär's mit uns beiden, Professor? Darf ich bitten?" Der lachte, ließ sich mitziehen und dann folgte eine Bärenpolka, die sich gewaschen hatte. Er war doch an derlei Dinge nicht gewohnt! Aber es wirkte. Bald wirbelte es im ganzen Garten vor Tanzpaaren. Bert hatte sich einen Bierkrug geschnappt und sah aus dem Hintergrund zu. Niemand hatte ihn weiter eingeladen, niemand hatte ihn beachtet.
Endlich kam die ganze Sache zum Stillstand. Man begab sich wieder auf die Plätze, ließ das Bier strömen. Jutta trat ganz nah an Ingbert ran. "Das hast du fein gemacht, Ingbert. Alles. Danke!" Damit nahm sie ihn bei der Hand und baute sich vor der ganzen Gesellschaft auf. Die Kuhglocke sorgte wieder für Ruhe und Jutta verkündete:
"Und nun kommt meine Überraschung. Wir haben nämlich beschlossen zu heiraten. Und das so schnell wie möglich." Verdutzte Gesichter, im Moment überhaupt kein Beifall, auch der zukünftige Ehemann stand wie zur Salzsäule erstarrt. Nur Jutta sah strahlend zu ihm auf.
"Du darfst mich jetzt küssen", sagte sie und nahm auch seine andere Hand. Die Salzsäule zögerte noch immer. Ganz plötzlich brauste wieder ein Tusch auf. Das löste. Er packte diese kleine freche Wanze, riß sie stürmisch an sich und küßte sie herzhaft - vor allen Leuten. Wieder erklang ein Landler und die beiden drehten sich und drehten sich, nach und nach fielen auch die Gäste mit ein, der Tanz nahm kein Ende.
"Mach doch einer die Musik aus!" rief Liebrecht endlich. Er war keuchend stehengeblieben, seine Laborassistentin im Arm. Da erst fiel Salmann auf, daß diesmal nicht er Regie geführt hatte, sondern ein Unbekannter. Oder doch nicht? Er beendete das Spektakel, sah sich um. Bert war verschwunden. Auf dem Rasen lag eine weiße Rose.
- . - . - . - . -
Das Trauma 'Hochzeit' war überstanden. Das Paar hatte es in aller Stille hinter sich gebracht. Zunächst per Internet, dann zur Beglaubigung nach München und dort einen schönen Tag verbracht. Es schien ihnen übertrieben, schon wieder eine Party zu geben und damit hatten sie recht. Lediglich Edda kam zum Gratulieren und überreichte der Braut ein kurioses Geschenk. Der Bräutigam mußte sich mit einem Kuß zufriedengeben. Neugierig wickelte die junge Frau das Päckchen aus. Es war recht klein und fühlte sich weich an. Mit dem, was zum Vorschein kam, konnte sie nichts anfangen. Lauter Blätter. So ähnlich wie Efeu.
"Was ist das denn?" staunte sie. Edda lachte, nahm das Gebilde an einem Ende und hielt es hoch. Es entfaltete sich zu einer Art Wäschestück. Ein Büstenteil aus Blättern und damit lose zusammenhängend ein Slip. Ebenfalls aus Blättern. "Zieh's an!" befahl Edda.
"Ja wie denn? Wie komm ich denn da rein? Und was ist das überhaupt?"
"Das ist Gesundheitsunterwäsche", klärte sie die Spenderin auf. "Diese Art Pflanze war zu deiner Zeit noch nicht bekannt. Sie wurde erst in den letzten Jahren entwickelt. Das Ganze heißt 'Evaskostüm' und schützt dich durch seine Säfte vor allen möglichen Krankheiten. Sogar vor Sonnenbrand. Durch die Körperwärme werden die Blattzellen angeregt, gewisse heilkräftige Dämpfe zu emittieren. Zugleich regeln sie die Körpertemperatur. Es ist ein sehr angenehmes Gefühl, so ein Ding zu tragen. Los, probier's aus!"
Ingbert wurde aus dem Zimmer verbannt und Edda half der Überraschten in dieses Wäschestück. Es brachte ihre schlanke, ebenmäßige Figur wunderbar zur Geltung. Jutta sah hinreißend aus in diesem Kostüm aus Blättern, die sich wie hingestreut über den ganzen Körper verteilten. Den Busen verdeckte ein zartes Laubgeflecht, feinere Blättchen rankten sich als Träger über die Schultern. Bauch, Rücken und Hüften schmückte ein Netz von wie zufällig hingewehtem Efeulaub. Nach unten hin verdichtete es sich zu einem Bikinidreieck. Juttas braungoldene Mähne vollendete das Bild. Ingbert wurde gerufen. Er blieb wie angewurzelt mitten in der Tür stehen.
"Das ist wohl das Letzte!" brachte er schließlich heraus. Die Efeugeschmückte erschrak. Schnell griff sie nach ihrem Kleid, wollte sich damit bedecken. "Nein, laß nur, du siehst wunderschön aus. Das ist wieder mal typisch Edda. Ich wollte nur sagen, das ist wohl das Letzte, was ihr in eurem Genlabor augeknobelt habt. Einfach phantastisch, Edda. Meinen Glückwunsch, da ist euch wirklich was Tolles gelungen."
"Ja, nicht wahr? Das wird ein Schlager in der Dessousbranche. Und Jutta kann es vorführen, wenn sie Lust hat. Sie wäre das ideale Modell. Noch dazu mit ihrer Vorgeschichte."
"Da haben wir's wieder mal!" grollte Salmann. "Nichts wie Geschäfte hast du im Kopf. Geht denn nicht einmal was ohne Hintergedanken bei dir?!" Die Geschimpfte nahm's leicht. "Muß ja nicht jeder so blauäugig sein wie du. Unser Institut kann ganz gut einen kräftigen Zuschuß aus der Wirtschaft gebrauchen. Lassen wir das jetzt." Und zu der frischgebackenen Ehefrau gewandt: "Also, wenn ich dich so anseh', fänd ich's wirklich jammerschade, wenn dieser Anblick nur deinem Ingbert vorbehalten bleiben sollte. Überleg dir's mal, du wolltest doch immer selbständig sein und Geld verdienen. Als Model könntest du beides." Ingbert fuhr auf. "Nun ist aber Schluß! Laß sie in Ruhe, Edda. Darüber haben wir uns längst geeinigt. Es gibt durchaus andere Möglichkeiten."
"So? Und die wären? Zu was willst du denn deine Frau anstiften?"
"Das erfährst du noch früh genug. Wir müssen übrigens los. Machst du dich fertig, Jutta?" "Na, dann macht's gut!" verabschiedete sich Edda. In dem Moment meldete sich der Türsummer, Siegfrieds Kopf erschien auf dem Bildschirm. Hastig griff Jutta nach ihrem Gewand. Edda öffnete, empfing lächelnd den Ankömmling.
"Du hast was verpaßt, Siegfried. Aber laß dir's von den beiden da erzählen. Tschüß dann, alle miteinander." Und weg war sie.
Siegfried kam zum Gratulieren und überreichte dem Pärchen eine Riesenbonbonniere. Jutta freute sich, Ingbert lud Siegfried zu einem Gläschen Sekt ein. "Aber nur ein kleines Schlückchen euch zu Ehren", lehnte er ab. "Ich brauch einen klaren Kopf heute. Hab dann gleich eine Präsentation bei Liebrecht." Während Jutta sich um das Servieren kümmerte, stellte Ingbert fest: "Das klang ja soeben richtig nach Frost zwischen dir und Edda."
"Stimmt schon irgendwie", pflichtete er bei. "Das Intermezzo damals wegen Jutta war nur der Auslöser. Wir sind uns schon lange auf die Nerven gegangen. Wir haben reinen Tisch gemacht und uns getrennt. Obwohl - ich bewundere sie immer noch. Edda ist eine hinreißende Frau." Ingbert nickte und meinte:
"Und was sagst du zu der meinen? Ist sie nicht mindestens ebenso hinreißend?" "Und ob! Nicht mit Edda zu vergleichen. Dein Goldstück übertrifft natürlich alle. Prost da drauf!" Jutta hob ihr Glas. "Prost, ihr Übertreiber! Goldstück freut sich natürlich. Mal sehen, ob ihr in Zukunft immer noch so über mich denkt." Siegfried tat erstaunt, Ingbert winkte ab und bald darauf verabschiedete man sich und jeder ging seiner Beschäftigung nach.
Von Prof. Liebrecht hatte Jutta übrigens einen Computer geschenkt bekommen, mit allen möglichen Zusatzprogrammen und attraktivem Schnickschnack, wie ihn junge Mädchen lieben - so dachte er zumindest. Jutta war richtig ausgerastet und fiel dem älteren Herrn um den Hals. Völlig respektlos und spontan. Ein bißchen hilflos ließ er diese Dankesbezeigungen über sich ergehen, wurde sogar blaßrosa dabei und fand, dies war die Ausgabe für das Geschenk wert.
Bert hatte sich auf dem Heimmonitor bemerkbar gemacht. Als sie damals von München zurückgekommen waren, empfing sie bayrische Blasmusik mit Jodeleinlage und ein Riesenglückwunsch auf dem Bildschirm. Alle übrigen Kollegen, die Jutta inzwischen kennengelernt hatte, begnügten sich mit einer unterschriftübersäten Glückwunschkarte, die man an die Wand hängen und je nach Lichteinfall die kleinen Proträts der einzelnen Gratulanten bewundern konnte. Auch ein tolles Geschenk.
Ansonsten waren die beiden glücklich, sich nun in allen Einzelheiten ihrer Liebe widmen zu dürfen. Jutta verspürte gar kein Verlangen mehr nach Ausziehen und eigene Existenz gründen. Wer nun aber daran arbeitete, ihre Person den diversen Abteilungen des Forschungsinstituts gebührenpflichtig anzubieten, das war Ingbert. Nach einer längeren Unterredung mit seinem Chef, Prof. Liebrecht, kam man zu einer diskreteren Abmachung. Jutta würde sich alle ihre Wünsche erfüllen dürfen, für die Kosten dafür kam die Firma auf. Das war ihr auch viel lieber. Sie hätte es als etwas peinlich empfunden, ihre Mitarbeit bei der Erforschung ihres Wesens und ihrer Herkunft einfach so, cash, abgelten zu lassen. So war ihr jedermann behilflich, sich in diese neue Welt einzuleben, ihr alle technischen Errungenschaften zu zeigen, sie teilnehmen zu lassen an allem Alltäglichen, was ihr sehr half, zurechtzukommen. Vorbei war es mit der Langeweile, mit dem Unglücklichsein und dem Brüten über undurchführbare Ausreißversuche. Jeder Tag bot ihr neue Herausforderungen und mit Feuereifer stürzte sie sich auf alles. In ihren Träumen allerdings fand sie sich oft in einer anderen Welt und beim Erwachen empfand sie eine unbestimmte Sehnsucht. Nur wonach, das konnte sie nicht herausfinden. Es war nicht die Sehnsucht nach ihrem früheren Leben, es war etwas viel Weitgreifenderes. Sie konnte es sich nicht erklären und dieses Gefühl verflüchtigte sich auch jedesmal sehr schnell.
Denn bei all dem darf man nicht vergessen, daß es ja Zuschick war, der in ihr wohnte. Nur im Traum war es ihm möglich, sich hin und wieder bemerkbar zu machen. Er sehnte sich nach seiner heilen Welt auf dem Kristallstern, hatte es längst über, all diese menschlichen Erfahrungen machen zu müssen. Manchmal war es, als weinte er in Juttas Seele. Dann wachte sie auf mit einer unbestimmten Traurigkeit in sich. Doch nach wenigen Augenblicken war der Anfall vorbei und der Tag mit seinen vielen Neuigkeiten nahm sie wieder gefangen.
Übrigens hatte sich in der Welt der Kristallbewohner was getan. Viele der Leute, die sich zur Erforschung der Erdlinge in kurzlebige Existenzen verwandelt hatten, waren bereits zurückgekommen. Ihre Erfahrungen wurden nun ausgewertet. Doch brauchte man, um das Bild abzurunden, unbedingt Zwischenergebnisse derjenigen, die sich in Menschenkörpern aufhielten. Also wurden etliche von ihnen zwischenzeitlich daraus abberufen, um bei der Erstellung des Erdenbildes mitzuwirken. Mutun, als einer der hervorragendsten Pioniere, wurde auf den Kristallstern zurückbeordert. "Du kannst die Kleine wohl eine Zeitlang alleine lassen", hieß es. "Bis es soweit ist, daß du sie aus ihrem Körper erlösen sollst, dauert es ja noch." Was blieb Mutun anderes übrig? Er stellte sich den Weisen zur Verfügung, berichtete alles, was er an der Seite von Zuschick erlebt hatte und verabschiedete sich daraufhin schnellstens wieder. Nach etlichen Erdenjahren kam er zurück. Gerade rechtzeitig, um Jutta in ihrer schönsten Blüte zu erleben. Sie war inzwischen eine angesehene Persönlichkeit geworden, hatte sich als Model einen Namen gemacht und danach war sie darauf verfallen, die alte deutsche Sprache wieder einzuführen. Dazu bot sie einen Sprachkurs in Deutsch an, so wie es vor 200 Jahren gesprochen wurde. Auch der urbayrische Dialekt kam dabei nicht zu kurz. Ihre Kurse in 'Historiendeutsch' wurden zu einer exklusiven Freizeitbeschäftigung. Als Gag fanden diese Kurse auf Gestüten statt. So konnte sie nicht nur ihrem alten Hobby frönen, sie kurbelte damit auch das Geschäft mit dem Reiten an. Als Abschluß jedes Lehrganges wurde ein Ausritt mit Picknick veranstaltet. Diese Art zu lernen war eine einzige Gaudi und Jutta bekam massenhaft Zulauf.
Bis sie eines Tages, bereits nach etlichen Jahren, eine Erfahrung machte, die ihr tatsächlich fremd war. Sie fühlte sich elend. Zwar verging das immer wieder, doch allmählich mußte sie den einen oder anderen Kurs absagen. Es bedrückte sie sehr. Niedergeschlagen kam sie eines Tages nach Hause zurück. Ingbert freute sich. Schlapp und müde ließ sie sich in einen Sessel fallen. "Du, das ist nicht normal. Ich glaub, da müssen wir was unternehmen", sagte sie. Gut, sie unternahmen was und was stellte sich heraus? Jutta war schwanger.
Genau zu dem Zeitpunkt traf Mutun wieder ein.
Der Pionier war zutiefst erschrocken, das Mädchen immer wieder in einen schlechten Gesundheitszustand fallen zu sehen. Als er es verlassen hatte, war es doch noch das blühende Leben selber gewesen. War es denn schon Zeit, Zuschick aus seinem Gefängnis zu befreien? Sollte die Kleine jetzt schon sterben müssen? Er beschloß, Zuschick zu fragen. Dazu mußte er eine stille Stunde abwarten, um den Körper halb zu dematerialisieren, sodaß Zuschick zu Bewußtsein gelangen und mit ihm reden konnte. Natürlich war es nachts am besten. Wenn nur dieser verflixte Ehemann endlich mal von Juttas Seite gewichen wäre! Aber nein, er kümmerte sich fast ununterbrochen um das kranke Kind, es war zum Wahnsinnigwerden. Doch endlich erwischte er die beiden einmal in tiefem Schlaf. Jutta lag zur Seite gerollt in ihrem Bett, sodaß Mutun gut seinen Mantel aus Energie um sie breiten konnte. Vorsichtig begann er, Zuschick in seine unsichtbare Welt zurückzurufen. Das Menschenkind wurde allmählich durchsichtig, verschwand fast. Na endlich, nun hatte er Zuschick vor sich, ruhend in Juttas Körper.
"Na, wie geht's dir denn, Alter?" begrüßte er den Staunenden. Kennst mich überhaupt noch?"
Zuschick faßte sich, freute sich. "Mutun, du! Endlich! Gehen wir jetzt heim? Darf ich raus aus diesem Körper?"
"Ich weiß nicht so genau. Das Mädchen ist krank, nicht wahr? Wenn es sterben sollte...-"
"Ach i wo! Krank ist die nicht. Ein Kind bekommt sie. Ein sehr zweifelhafter Zustand, sag ich dir. Manchmal geht's ihr richtig elend. Und das Schlimme dabei ist, ich krieg's jetzt immer deutlich mit. Weißt du, wenn man so lange mit einem lebenden Körper verbunden ist wie ich, dann wächst man allmählich damit zusammen. Ich erleb jetzt alles schon ganz deutlich mit ihr. Am liebsten möchte ich raus da. Es ist nicht zum Aushalten! Ursprünglich hatten wir das nicht so geplant."
"Ich weiß, Zuschick. Das konnte auch niemand voraussehen. Schicksalsrisiko. Du mußt aber bleiben, wo du bist bis zum Ende. Wir brauchen ein vollständiges Menschenleben mit allem Drum und Dran. Bis zum Schluß. Sonst wär doch alles umsonst gewesen. Übrigens ist es phantastisch, daß ihr nun ein Baby bekommt. Das ist eine ganz neue Erfahrung für uns. Und für dich!"
"Ich bedanke mich für diese Erfahrung! Wie soll das überhaupt weitergehen mit mir? Dieses neue Leben zehrt an meinen Energien. Außerdem will ich ganz und gar nicht ein Baby auf diese Weise bekommen. Es ist ganz einfach unschön. Und es dauert so furchtbar lange."
"Was ist denn daran unschön?" wollte Mutun wissen.
"Na das Ganze halt. Es ist unheimlich, weißt du. Da lebt plötzlich was ganz Winziges mit uns und es wächst und wächst und niemand weiß, was da draus mal wird. Und wie es je aus diesem Körper herauskommen soll, das kann ich mir sowieso nicht vorstellen."
"Ich könnte mich ja schlau machen und es dir verraten. Aber ich denke, damit würde ich dir das Ursprüngliche dieser Erfahrung nehmen. Nur neue Energie werde ich dir geben. Steh mal auf." Jutta wälzte sich schlaftrunken auf den Rücken, stand auf. Auch Ingbert wurde wach. "Ist dir schon wieder schlecht?" erkundigte er sich fürsorglich und drehte sich zu ihr um. Da erstarrte er vor Schreck. Da stand seine Ehefrau im ersten Morgendämmer vor ihrem Bett - war aber durchsichtig wie ein Nebelschleier. Mutun breitete inzwischen seinen Mantel über sie und übermittelte dem geplagten Zuschick Energie. Das sah für den schweißgebadeten Zuschauer aus, als hätte sich sein Weib in einen formlosen, durchsichtigen Körper verwandelt, den ein feines Netz von funkensprühenden Adern umgab. Allmählich verfestigte sich die Gestalt, Jutta hob sich wieder deutlich von diesem Klumpen ab. Schlaftrunken wie zuvor gähnte sie, kroch zurück ins Bett und schlief weiter, als wäre nichts gewesen. Vorsichtig langte Ingbert rüber, berührte ihre Schulter, strich über ihre Haare - ja, sie war's. Er konnte sich keinen Reim auf das Gesehene machen. War wohl ein Alptraum. Verwirrt schlief er wieder ein.
- . - . - . - . -
In der Folgezeit gab sich die werdende Mutter frisch und unbeschwert. "Anscheinend hast du diese Anfälle überwunden", meinte Salmann kurz nach dieser Nacht.
"Gottseidank ja", sagte sie, "ich könnte Bäume ausreißen, so fühl ich mich."
"Bloß nicht! Wart noch ein paar Monate damit", witzelte er. Das Baby gedieh prächtig, dem Leibesumfang seiner Mutter nach zu schließen. Väterchen Ingbert sah der Geburt mit Sorgen entgegen. Meinte, er müßte seiner Jutta etwaige Ängste davor nehmen.
"Du wirst nichts davon spüren, das machen wir alles in Narkose. Freu dich einfach nur drauf."
"Na klar freu ich mich!" meinte sie. "Und von einer Narkose will ich nichts wissen. Mein Kind kommt ganz normal auf die Welt, so wie es schon immer war. Ich werd's schon aushalten."
Dann kam der große Tag. Die Wehen gingen nachts schon los. Bei jeder neuen Bewegung ging ein Freudenschauer durch Juttas Leib. Es wollte kommen! Ihr Baby konnte es kaum noch erwarten! Sie auch nicht. Bald, bald, mein Kleiner, werden wir uns kennenlernen. Oh unbeschreibliche Freude! Jetzt schon!
Ingbert war sofort nach Hause gekommen, als ihn Jutta von den immer häufiger werdenden Wehen verständigt hatte. An seinem Arm liefen sie in den Zwischenpausen im Garten herum. Sie strahlte, er hatte Sorgenfalten auf der Stirn. Er war derart besorgt um sein Weibchen, daß es diesem allmählich auf die Nerven ging. "Weißt du was? Du bringst mich jetzt am besten in die Klinik und kommst erst wieder, wenn dein Sohn da ist."
"Soll ich denn nicht bei dir bleiben, wenn der Kleine kommt?"
"Nein, nein, das erspar uns lieber. Wir machen das schon, wir beide."
Schweren Herzens verließ Salmann seine 'Familie' und wußte anschließend nichts mit sich anzufangen. Er tauchte in seiner Abteilung auf, machte ein paar nervöse Handgriffe am Computer, so daß der abstürzte und wurde schließlich von seiner Mannschaft aus dem Haus gejagt. Dann irrte er daheim umher. Überprüfte nochmals das Kinderzimmer, räumte herumliegende Gegenstände auf, die er anschließend nicht mehr fand und beschloß endlich, lieber im Wartesaal der Klinik das große Ereignis abzuwarten, als sonst irgendwo. Da saß er nun, umgeben von anderen Vätern, die sich alle bemühten, möglichst cool auszusehen. Krampfhaft versuchten sie, sich gegenseitig das Zappelstadium zu nehmen. Gefaßt saß er da, Beine übereinandergeschlagen, Hände ineinandergekrallt. "Neueinsteiger, wie?" wurde er angesprochen. Er nickte nervös. "Ja. Und Sie?" "Auch. Aber ich bin ganz gelassen. Wir sind jede Einzelheit zu Hause durchgegangen. Und dann die Schwangerschaftsübungen. Meine Frau hat keine ausgelassen. Ich war immer dabei. Es wird schon gutgehen. Tja. - Muß ja!" fügte er noch hinzu. Es war ein salopper Junge, sportlicher Typ, der da so zuversichtlich sprach. Ein Mitvierziger sah von seiner Illustrierten auf. "Das hilft doch alles nichts im Ernstfall", meinte er. "Lauter Humbug. Und das Gehechel fortwährend! Diese Atemübungen, das ist das Schrecklichste. Ich kann's nicht mehr hören. Meine Luise hat es schon zweimal mitgemacht und jedesmal kamen die Schmerzen durch. Es hilft nichts, ich sag's ja!" Ingbert hörte sich das alles schweigend an. Mit zusammengekniffenen Lippen und gespannter Miene. Ein Licht leuchtete auf - erwartungsvoll wandten alle die Köpfe - eine Stimme ertönte: "Herr Ullmann, kommen Sie bitte und herzlichen Glückwunsch zum Söhnchen." Ein Display wies noch den Weg in das entsprechende Zimmer, der Glückliche entschwand.
Inzwischen fand im Kreissaal der ewig gleiche Geburtskampf statt. Die Mutter stöhnte, lächelte und schwitzte abwechselnd. Schwestern umstanden die Tapfere, wollten sie unbedingt in Tiefschlaf versetzen. Aber nein, Jutta blieb bei ihrem Entschluß. Allmählich weitete sich der Muttermund, das Köpfchen begann sich durchzuschieben. Jutta schrie auf. "Pressen, Mädchen, pressen!" ermunterte sie der Doktor. Und Jutta tat ihr Bestes. Plötzlich verlor sie das Bewußtsein. Und die Schwestern trauten ihren Augen nicht.
Die Gebärende verschwand vor ihren Augen. Wurde immer durchsichtiger, bis man nur noch schemenhafte Umrisse sah, durchzogen von einem Feuerwerk von Fünkchen. Dann war auch davon nichts mehr zu sehen. Das Bett war leer. Die Hebamme wischte über ihre Augen, der Arzt starrte entgeistert auf das leere Bett. "Das gibt's doch nicht! Sehen Sie das auch?" "Ja - nein, nichts seh ich", die Antwort. Die Hebamme betastete das Bett. "Da ist was, das..." wollte sie grade sagen, da hörten sie die kläglichen Töne eines Neugebornen und plötzlich lagen Mutter und Kind wieder voll sichtbar da. Jutta hatte immer noch die Augen geschlossen. Die Hebamme griff sich den Säugling, reichte ihn der bereitstehenden Schwester, kümmerte sich dann um die Erschöpfte. Anschließend wurde sie vom Arzt untersucht. "Keinerlei Komplikationen, nichts gerissen, alles ganz normal, supernormal sogar." Die Schwester hielt ihm das gereinigte Kind hin. "Ebenfalls ein Superbaby, Doktor. Sehen Sie nur!" In der Tat, es war ein kräftiger, gut entwickelter Säugling, der nun von allen Seiten begutachtet wurde. Er hatte im Augenblick sogar aufgehört zu schreien. Seine Blauaugen betrachteten erstaunt den Arzt. Jutta erwachte nun ebenfalls. Sie lächelte schwach. Man legte ihr das Baby in den Arm. "Na Kleiner, alles gut überstanden?" sagte sie matt. Der hielt schon wieder die Augen geschlossen, fühlte sich anscheinend wohl und behaglich bei seiner Mama. Vorsichtig ging die Türe auf. Ingbert erschien. Er gesellte sich zu seiner Familie, war überglücklich, man kennt das ja. "Wie lief's denn? Alles normal?" wollte er schließlich wissen. "Es sieht so aus, ja", bestätigte der Arzt. "Allerdings gab es da eine seltsame Sache." Ein bedeutungsvoller Blick rüber zur Hebamme und der immer noch entgeisterten Schwester. Ingbert war auf alles gefaßt. "Sagen Sie schon! Hat sie sehr gelitten? Sie wollte ja partout keine Narkose. Was war denn?"
"Tja, wie soll ich Ihnen das sagen. Sie werden mich für verrückt erklären. Aber ich habe Zeugen. Hier, Frau Brenner hat es auch gesehen, und Schwester Ute auch." "Was denn? Was war los?!" Ingbert wurde ungeduldig. "Also, Ihre Frau ist im letzten Moment, gerade als die letzte Geburtsphase einsetzte, verschwunden. Zuerst verschwammen ihre Konturen, sie wurde immer transparenter und plötzlich war sie weg. Dann hörten wir das Kleine schreien und sie waren beide wieder da. Als wäre nichts gewesen. - Ich glaub, ich werd' verrückt!" Er griff sich an den Kopf. "Wir sollten es niemandem erzählen", wandte er sich an die Anwesenden. "Man würde uns allesamt in die Psychiatrie einweisen." Die beiden Damen nickten. Salmann blieb eine Weile schweigsam und nachdenklich. Dann rückte er damit heraus. "Da Sie das jetzt selbst erlebt haben, kann ich es Ihnen ja sagen. Ganz am Anfang, als es meiner Frau immer wieder schlecht wurde, ging es eines nachts genauso mit ihr. Ich bin aufgewacht durch irgendeine Bewegung. Da seh ich sie vor ihrem Bett stehen, sie verschwindet vor meinen Augen. Dann an ihrer Stelle ein Gewirr von Blitzen wie von einem elektronischen Netz unter Kurzschluß. Kurz drauf steht sie wieder leibhaftig da, sinkt aufs Bett und schläft weiter, als wär nichts gewesen. Ich hab es damals nicht erwähnt, auch ihr gegenüber nicht, weil ich dachte, entweder ich spinne oder ich hab das alles nur geträumt. Aber jetzt, wo Sie dasselbe erzählen, muß es wohl gestimmt haben. Ich bin auch dafür, daß wir darüber den Mund halten." So wurde das auch gehalten. Jutta aber genoß den Aufenthalt in der Klinik unter der größten, behutsamsten Aufmerksamkeit, die man sich nur vorstellen kann.
Es war natürlich klar, daß Mutun, der ja immer in Zuschicks Nähe bleiben wollte, nicht mitansehen konnte, wie sich die Gebärende quälte. Er holte sie deswegen für die Zeit des größten Elends in seine Welt, so daß sie von dem letzten, großen Schmerz nichts spürte. Auch Zuschick nicht. Der lag völlig entkräftet in diesem Menschenkörper. Brauchte dringend neue Energien. Mutun tat wieder das Seine, um alle Drei auf Vordermann zu bringen. Dann ließ er sie wieder erscheinen. Das war zwar gegen jede Abmachung, doch brauchte es ja keiner von den Weisen auf dem Kristallstern zu wissen.
Er freute sich kolossal über das neue Menschlein. Mindestens so sehr wie der Vater. Nun hatte er über Zuschick und dieses Wesen zu achten. Es machte ihm viel Spaß und Freude. Was dem weiteren Leben der Familie Salmann eine andere Wendung gab.
Jutta und Ingbert brüteten über dem Problem der Namensgebung. "Es sollte was mit Bert sein", meinte Jutta. "Daß er auch namensmäßig was von dir mitkriegt. Albert vielleicht. Oder auch Bertram." "Gefällt mir gar nicht, Jutta. Berte gibt es genug um uns herum. Das reicht. Ich würde viel eher vorschlagen, sowas Ähnliches wie dein Name. Etwas mit Ju oder so." "Wenn du meinst .... da fällt mir spontan Julian ein." Sie sah ihn fragend an. "Hm - ein bißchen altmodisch, finde ich. Aber wir könnten ihn Jan rufen. Gut, dann bleibt's dabei."
"Wann wollen wir ihn denn taufen lassen?" fragte Jutta.
"Taufen gibt's schon lange nicht mehr, tut mir leid. Nur eine Eintragung im Geburtsregister. Es gibt nur noch diese Sekten, die machen das noch. Ich hoffe doch, du willst nicht extra wegen einer Taufe einer Sekte beitreten."
"Ganz bestimmt nicht. Was sind denn das für Sekten? Ist denn vom Christentum gar nichts mehr übriggeblieben?"
"So wie früher mit Kirchen und Messen lesen und all dem Zeug nicht. Es gibt da allerdings eine Kultusgemeinde, die nennt sich 'Die ewige Wahrheit'. Deren Ideal ist die Wahrheit, die Liebe und die Freude. Ich hab mich früher auch mal dafür interessiert. Allerdings ist nicht mehr von Barmherzigkeit die Rede, so wie es in den alten Religionen gepredigt wurde. Man ist der Ansicht, Barmherzigkeit entspringt einem Leben in der Wahrheit mit viel Freude und Liebe sowieso. In der ursprünglichen Natur gibt es sie nicht. Daran hauptsächlich orientieren sich diese Leute. Wenn du willst...?"
"Ich glaub nicht, Ingbert. Das ist mir zu fremd. Und dann - eine Kultusgemeinde! Nein, dann erziehen wir unser Kind lieber selber ohne fremde Einflüsse, und auch in der Wahrheit, in der Liebe und in der Freude, nicht?"
"Klar, Jutta, dazu brauchen wir keine Sekte oder sonst was." Also waren sie sich einig und es lief auch ganz gut. Jan war ein aufgewecktes Bürschchen. Das merkte man schon nach ein paar Monaten. Die wenigen Stunden, in denen er die Augen offen halten konnte, betrachtete er voller Neugier seine Umgebung. Manchmal blieben sie starr an einem Punkt hängen. Dann lachte er laut und strampelte, als hätte ihm jemand einen Witz erzählt.
"Das ist ein richtig freundliches Kerlchen", lobten Bekannte und Verwandte. "Immer lacht er. Man hört ihn überhaupt nicht quengeln oder schreien."
"Das liegt nur daran, daß ihr nicht zur richtigen Zeit da seid. Der kann das ganz gut, das Schreien", berichtigte Jutta. Sie genoß es jedoch ebenso, daß ihr Jan ein so friedfertiges, freudestrahlendes Kind war. Hin und wieder fiel es ihr allerdings auf, daß er aufmerksam irgendeine Stelle über sich betrachtete und dann anfing zu lächeln und die Händchen auszustrecken. Wenn sie sich dann über ihn beugte, wandte er seine Aufmerksamkeit voll ihr zu, lachte und strahlte noch viel mehr. Die junge Mutter war rundherum glücklich, Väterchen Ingbert ebenfalls - man hätte nicht meinen können, daß je etwas diese Idylle trüben könnte. Als Jan heranwuchs, änderte sich das langsam. Mit drei Jahren durfte er schon allein im Garten spielen. Seine Mama guckte nur ab und zu nach ihm. Eines Tages hörte sie den Jungen quieksen und schreien vor Lachen, als hätte ihn irgendetwas höchst amüsiert. Jutta beugte sich aus dem Fenster. "Jan? Wo bist du denn, Jan? Was gibt's?" Aber das Gegluckse und Geschäkere hörte nicht auf. "Da bin ich Mama, da!" rief es endlich hinter einem Gebüsch hervor. Jutta lief hin. Die vertrauten Geräusche hielten immer noch an, nur von dem Kind war nichts zu sehen. "Jan? Wo hast du dich denn versteckt, du Schlingel? Komm doch her zu Mama!" "Da bin ich doch, Mami" rief es plötzlich fast neben ihr und tatsächlich stand der Kleine da, immer noch mit dem Ausdruck des größten Vergnügens im Gesicht.
"Was hast du denn gesehen, Jan, daß du gar so arg lachen mußtest?"
"Den Onkel da drüben hab ich gesehen. Nein, da oben, schau mal!" Er zeigte nach oben. "Ach so, Bert!" sagte Jutta beruhigt. Tatsächlich entfernte sich gerade ein kleines Airset von ihrer Siedlung. Das konnte er wohl gewesen sein.
Es ist nicht schwer zu erraten, daß es nicht Bert war, der den Kleinen so amüsiert hatte, sondern Onkel Mutun. Der hatte einen Narren an ihm gefressen, seit er bemerkte, daß ihn der Junge wahrhaftig sehen konnte. Schon als Baby war ihm das aufgefallen. Seither beschäftigte er sich mit dem Kind, sooft er glaubte, mit ihm allein zu sein. Nun, diesmal hatte er Jan unsichtbar gemacht und kurz mit sich in die Lüfte genommen.
Für Jan war diese Onkelart seither 'Onkel Bert'. Er dachte sich überhaupt nichts dabei, mit 'Onkel Bert' zu spielen. Leider blieb das auch für seinen Vater nicht unbemerkt. Wenn der seinen Sohn hin und wieder fragte, was er so getrieben oder wo er sich versteckt hätte, als er ihn rief und nicht finden konnte, sagte das Kind unschuldig: "Onkel Bert war da. Da brauch ich mich gar nicht zu verstecken, bei ihm findet mich niemand." "So?" runzelte Ingbert die Stirn und warf einen vorwurfsvollen Blick rüber zu Jutta. "Das ist mir aber neu! Wie kommt dieser Bert dazu, dich zu verstecken? Ich glaube, da muß mal ein ernstes Wort geredet werden." Und wütend verließ er das Zimmer. Jutta folgte ihm.
"Wie kommst du dazu, deinen Nachbarn so oft mit unserem Kind spielen zu lassen? Und warum ausgerechnet Verstecken? Was ist da los zu Hause, während ich nicht da bin?"
"Schrei mich nicht so an!" fuhr ihn Jutta ihrerseits an. "Ich hör das selber zum ersten Mal und bin genauso überrascht wie du. Außerdem ist es nicht mein Nachbar, deiner genauso."
"Den knöpf ich mir vor, und zwar gleich!" wütete er weiter und raste hinaus in den Garten, hinüber zu Bert. Der war leider nicht da. "Auch gut, dann klären wir das am Abend!"
So fand Bert nach seiner Rückkehr auf seinem Computer die Aufforderung vor - 'bitte gleich melden bei Salmann!" Höchst überrascht tat er es. Kaum erschien sein Bild auf dem Bildschirm legte Ingbert schon los: "Hör mal Bert, ich hab das nicht so gern, wie du dich mit meinem Sohn beschäftigst. Dieses Versteckenspielen hat ein Ende, ab sofort, verstanden?" "Was für ein Versteckenspielen? Was soll denn das? Ich seh euren Sohn doch so gut wie gar nicht!"
"Tu nicht so scheinheilig, Jan hat mir alles erzählt. Und der lügt nicht. Wie lief das überhaupt mit euch beiden, das möchte ich jetzt schon genau wissen."
"So, das verbitt mir aber jetzt. Ist ja eine Unverschämtheit, mich einfach so zu überfallen wegen irgendeiner Geschichte, die sich ein Dreijähriger zusammenreimt. So eine Frechheit!" Und bums, der Bildschirm war schwarz und leer.
Ingbert rief nach dem Kind. "Jan, du erzählst mir jetzt ganz genau, was du mit Onkel Bert gespielt hast. Und keine Ausflüchte, verstanden?"
"Sei doch nicht so streng mit ihm!" fauchte Jutta. "Das Kind weiß doch gar nicht, was es Schlimmes getan haben soll."
"Du halt den Mund, du mit deinem Bert!" Ingbert kannte sich selber nicht mehr. Noch bevor Jutta sich weiter dazu äußern konnte, sagte Jan mit ernstem Gesichtchen: "Aber Papa, das ist doch ein Geheimnis! Ich darf Onkel Bert nicht verraten. Das hab ich ihm versprochen."
"So, ein Geheimnis ist das! Klar, Jan, ein Geheimnis darf man nicht verraten. Ist schon gut, geh nur wieder spielen."
Er wandte sich zu Jutta. "Da haben wir's. Ein Geheimnis! Und der tut noch so frech! Na warte, Bürscherl, mein Kind verführst du nicht! Und du tust nichts dagegen!"
"Was fährst du mich so an? Ich hab es doch selber nicht gewußt! Was machen wir jetzt? Ihn anzeigen?"
"Wir haben keine Beweise. Aber den krieg ich schon noch, verlaß dich drauf!" Ingbert war fuchsteufelswild. Er herrschte seine Frau an: "Du läßt den Jungen keinen Augenblick mehr aus den Augen. Wenn er wieder Verstecken spielt, gehst du ihm nach. Und dann rufst du mich sofort an, hörst du? Sofort!"
Das waren Töne, die hatte sie noch nie an ihrem Ehemann kennengelernt. Er war sonst die Liebe selbst. Es klang ja, als sähe er in ihr eine Mitverschworene. Aber gut, er hatte ja recht. Sie wollte auf den Kleinen achtgeben. Dieses Zwischenspiel brachte den ersten Knacks in ihre Ehe. Da sich aber alles wieder normalisierte, Jan auch keine ungewöhnlichen Spiele mehr spielte und immer gleich zur Stelle war, wenn man ihn rief, versöhnten sie sich wieder. Monatelang war die Familie wieder glücklich wie zuvor. Wenn auch der böse Nachbar Bert ein Stachel war und blieb. Man ignorierte ihn. Zur Verwunderung der beiden Eltern zeigte auch Jan kein Zeichen des Erkennens oder auch der Freude, wenn er den Verfemten einmal sah oder wenn er mit seinem Airset über ihre Behausung hinwegflog. Als hätte er geahnt, worum es ging. Wollte er seinen 'Spielkameraden' schützen? Und in diesem Alter? Immer wieder erhob sich insgeheim die Frage: Was hatten die Beiden gespielt? Was war ein solches Geheimnis dabei, daß Jan es nicht verraten durfte? Der bemitleidenswerte Beschuldigte konnte auch nichts gegen diese Verdächtigungen tun. Er mied die Salmanns, so gut es ging. Dies wiederum schürte nur deren Mißtrauen. Es wurde ein richtig ungutes Verhältnis zu Hause. Jeder beäugte jeden, die Erwachsenen sich gegenseitig untereinander, insgeheim auch das Kind.
Bis es eines Tages, es war kurz vor Weihnachten, das man aber nicht mehr feierte, sondern nur als Datum beibehielt, zu einem seltsamen Ereignis kam. Der Kleine hatte sich erkältet und hing mit trüben Augen im Kinderzimmer herum. Rasch stieg die Temperatur. Das wäre zwar kein Problem gewesen, es gab längst Mittel, um die Infektion sofort ohne Nebenwirkungen zum Abklingen zu bringen. Man wollte jedoch noch bis zum nächsten Tag damit warten.. Der Papa brachte seinen Sohn zu Bett. "Na, war wohl ein anstrengender Tag heut, Jan?" fragte er den Müden. Der machte nur "Hm" und drehte das Köpfchen zur Seite. "Dann schlaf schön, mein Kleiner", sagte Ingbert noch und wollte sich schon erheben. Da drehte sich Jan nochmal auf den Rücken, machte die Augen auf und sagte freudestrahlend einfach so ins Zimmer hinein: "Ja, Onkel Bert, ganz bestimmt!" Daraufhin fiel er sofort in Schlaf.
Ernsten Gesichtes erschien Salmann bei Jutta. "Du, Jan hat Halluzinationen. Er spricht mit Onkel Bert! Stell dir das vor! Es ist noch nicht ausgestanden. Ich ruf gleich den Doktor herüber." Und weg war er. Jutta ging ins Kinderzimmer. Da lag der Kleine friedlich, mit roten Bäckchen in seinem Bett und schlief. Wie ein Engerl, stellte sie fest.
"Lassen wir ihn schlafen!", versuchte sie ihren Mann von dem Arzt abzubringen. "Morgen reichts auch noch. Wir können ihn jetzt nicht aufwecken und untersuchen lassen, das wäre grausam." Mit Mühe gelang es ihr. Unwirsch kam er auf seine Hauptsorge zurück.
"Das mit diesem Onkel Bert muß ein Ende haben. Kommt mir schon allmählich abnormal vor. Sag mal, Jutta, soll ich dir ein Kindermädchen besorgen, das auf ihn aufpaßt?"
"Du meinst wohl, ich vernachlässige ihn? Du siehst doch, daß ich nicht einmal mehr zu den nötigsten Hausarbeiten komme, weil ich dauernd hinter Jan her bin. Mach du das mal den ganzen Tag lang! Das ist nämlich ganz schön nervig!"
"Glaub ich dir ja. Trotzdem - irgendwie muß er immer noch Kontakt zu Bert haben. Was der nur an sich hat, daß der Kleine gar so auf ihn anspringt!"
"Das kann ich mir auch nicht erklären. Am besten wäre wohl, wir würden ihn selbst nochmal befragen. Auf eine anständige Art und Weise." Ingbert sah das wohl ein. Es grollte schon wieder in ihm bei dem Gedanken. "Mach du das lieber", meinte er daher. "Unser Verhältnis ist inzwischen zu gespannt."
Sie wurden beide der Peinlichkeit enthoben. Ein Zusammentreffen ergab sich ganz von selbst. Der böse Nachbar Bert war eines Tages vor seiner Garage mit dem Airset beschäftigt. Da rief ihn eine Kinderstimme aus dem trennenden Gebüsch an.
"Darf ich mir mal dein Airset ansehen, Berti?" Der drehte sich um, suchte die Hecke mit den Augen ab. Er entdeckte den Jungen in einem hochragenden Baum. "Siehst du's nicht gut genug von deinem Ausguck da oben?"
"Ich möchte aber näher. Darf ich rüberkommen?"
"Frag lieber erst deine Eltern. Ich glaube, das ist denen nicht ganz recht."
"Ach klar, denen ist alles recht. Wart, ich komm!" Und schon hüpfte der Kleine herab und ließ sich auf Berts Grundstück auf den Boden nieder. Mütterchen hatte natürlich gut aufgepaßt. Leise trat sie näher. Sie versteckte sich in dem Gebüsch, aus dem Ihr Söhnchen soeben in Nachbars Garten hinuntergesprungen war. Sie sah, wie Bert erschreckt einen Satz darauf zu machte, die Arme ausstreckte. Gleich darauf landete Jan wohlbehalten auf dem Boden. Fast, als wäre er gesegelt.
"Mensch, Jan!" rief Bert aus, "du kannst doch nicht aus dieser Höhe einfach runterspringen! Hast du dir auch nicht wehgetan?"
"Ach iwo, das ging ganz leicht. Onkel Bert war doch bei mir."
Bert dachte natürlich, der Junge meinte ihn. Er sagte daher: "Na, darauf war ich aber nicht gefaßt! Es hätte leicht schief gehen können. Einfach so von dem Baum herunterspringen, das kannst du doch nicht machen! Ich hätte dich nicht mal mehr auffangen können. Ein Glück, daß du so weich gefallen bist." Der Junge achtete nicht weiter darauf. Schon rannte er auf das Airset zu, fragte unterwegs nochmal "darf ich's jetzt sehen, Berti?" Bert kam hinterdrein. "Schau es dir nur an, ist aber nichts Besonderes. Deine Mami hat ein viel hübscheres."
"Hübscher schon, aber deines sieht aus wie, - wie der Mond. So flach und glatt. Das fliegt bestimmt viel schneller, als unseres."
"Kann schon sein. Ich würde dich ja gern mal mitnehmen, wenn es deine Eltern nur erlaubten. Aber die reden ja nicht mehr mit mir."
"Dann red halt du mit ihnen, Berti. Ich möchte doch so gern mal mit dir mitfliegen. Bloß wir zwei, ganz allein."
"Mal sehen, Jan. Aber jetzt gehst du lieber wieder nach Hause. Wenn deine Mami dich hier sieht, ist der Teufel los."
"Meine Mami ist nicht der Teufel. Du kannst ruhig mit ihr reden, bestimmt."
"Ja, ja, aber jetzt geh, Jan!" Und der Junge lief zurück zum Zaun, sah in die Höhe und rief: "Onkel Bert, hilfst du mir wieder rüber?" Bert sah auf. "Wart, ich komm!"
Verwundert drehte sich der Kleine um. "Nicht du, Berti. Onkel Bert macht das schon." Verduzt blieb der junge Mann stehen. "Was redest du denn da, Jan. Ich bin doch Onkel Bert." Und er setzte sich wieder in Bewegung, auf den Jungen zu. "Nein, du bist Berti", rief der. "Onkel Bert ist dort oben und er kommt mich gleich holen."
Ungläubig betrachtete der junge Mann das Kind. War es verrückt? Er sah hinauf in die Baumwipfel. Nichts zu sehen, natürlich nicht. Vorsichtig trat er näher. Nur nicht zu brüsk eingreifen in die gestörte Psyche des Jungen. "Na komm, ich heb dich hoch. So, schaffst du's?"
"Ja, aber hättest du nicht gebraucht. Onkel Bert wär’ schon gekommen. Er paßt immer auf mich auf." Damit ergriff er die nächsten Äste und kletterte über den Zaun.
Jutta wußte nicht recht, sollte sie ihr Versteck noch schnell verlassen, ehe ihr Sohn hier drüben angelangt war oder ihn einfach empfangen. Sie entschied sich für Letzteres. Der Kleine kletterte geschickt durch die Äste hinab und stand plötzlich vor seiner Mutter. Er strahlte. "Mami, hast du das gesehen? Hast du gesehen, wie ich in Bertis Airset war? Oh Mami, laß mich doch einmal mit ihm mitfliegen. Nur einmal!"
"Da reden wir nochmal drüber", lenkte Jutta erst mal ab. "Zuerst möchte ich gerne wissen, was das soll mit deinem Onkel Bert und mit Berti."
"Aber Mami, das darf ich doch nicht verraten, hat Onkel Bert gesagt. Niemals. Sonst gibt's ein Unglück."
Die Mami sah ein, daß sie ihr Kind nicht zu einem Wortbruch verführen durfte. Also wandte sie sich an ihren Nachbarn, der immer noch schweigend dastand.
"Bert, jetzt erklär es mir. So kann es doch nicht weitergehen. Was spielt ihr da für Spiele? Was darf mir mein Junge nicht verraten?" Sie sah ihn streng an.
"Warst du die ganze Zeit über da gestanden, Jutta? Dann hast du ja gehört, was wir gesprochen haben. Und daß es mir leid tut, ihn nicht einmal zu einem Rundflug mitnehmen zu dürfen. Aber gut, daß du da bist. Jetzt können wir einmal vernünftig miteinander reden. Für deinen Mann bin ich ja ein rotes Tuch, obwohl ich wirklich nicht weiß, warum."
"Warum? Das fragst du noch? Wegen diesem Geheimnis, das unser Sohn nicht verraten darf. Weil Onkel Bert es ihm verboten hat. Erklär mir das jetzt bitte. Ingbert braucht nichts davon zu erfahren. Wir leben einfach so weiter wie bisher. Es zerstört unsere Ehe, weißt du das? Willst du das?"
"Aber Jutta! Ihr spinnt ja alle miteinander. Warum sollte ich deine Ehe zerstören wollen? Bin ich dir jemals zu nahe getreten? Komm wieder auf die Erde und hört endlich auf mit euren blödsinnigen Verdächtigungen."
Aber Jutta blieb fest. Eiskalt sah sie ihn an und fragte zum letzten Mal mit schneidender Stimme: "Was macht Onkel Bert mit meinem Jungen, von dem er mir nichts erzählen darf? Warum nennt er dich einmal so und dann wieder Berti? Spielst du den Onkel Bert nur bei diesen geheimnisvollen Spielen? Bert!!"
"Ob du es glaubst oder nicht, darüber zerbrech ich mir auch den Kopf. Laß uns mal rekonstruieren, wie das jetzt grad war. Also, Jan hat mich von oben vom Baum herunter gefragt, ob er mein Airset ansehen dürfte. Dann ist er heruntergesegelt gekommen, als hätte er Flügel, er ist nicht gesprungen und nicht gefallen. Das müßtest du genauso mitbekommen haben. Und dann hat er in den Wipfel hinaufgeschaut und gesagt, Onkel Bert würde ihm schon helfen. Jetzt, wo wir drüber reden, kommt es mir auch so vor, als wären der und ich zwei verschiedene Wesen. Der Kleine hat eine ausgeprägte Phantasie, scheint mir. Das müßte dein Mann doch schon längst bemerkt haben. Warum hat er nicht mal in der Richtung nachgeforscht?"
"Jaa - du könntest recht haben, Bert. Wenn es stimmt, was du sagst, und das nehme ich jetzt einfach mal an, dann ist da eine Menge nicht in Ordnung. Ich nehm mir Jan nochmal vor. Und ich red mit Ingbert. Hoffentlich gibt es eine ganz normale Erklärung. Und bei dir muß ich mich entschuldigen. Ganz groß entschuldigen!"
"Ist schon gut Jutta. Hoffen wir, daß es nicht so ist, wie es aussieht."
Die völlig Verstörte entfernte sich, ging Jan suchen, den sie irgendwo im Garten rufen hörte. Ja, er rief schon wieder nach diesem Onkel Bert! "Onkel Bert, wo bist du denn?" schrie er in die Höhe. Jutta legte von hinten die Arme um das Kind. "Ist er nicht mehr da, dein Onkel Bert?"
"Nein, er ist verschwunden. Vielleicht ist er böse, weil ich zu Berti rüber bin und ihr wollt das doch nicht. Aber er kommt schon wieder. Heute abend kommt er bestimmt wieder zu mir."
"Was spielt ihr denn Schönes, du und Onkel Bert?" hakte sie nach.
"Verstecken spielen wir und herumfliegen, aber nur durch unseren Garten. Weiter weg darf er nicht, hat er gesagt." Und wieder ließ Jan seine Augen suchend über den Garten schweifen. "Wollen wir ihn suchen gehen?" fragte seine Mutter hoffnungsvoll.
"Aber du siehst ihn ja nicht!" kam es aus ihm. "Ihr seht ihn ja nicht einmal, wenn er bei mir am Bett ist und mir Zeichen macht, daß ich ihn nicht verraten soll."
"Weißt du was, Jan? Du zeigst ihn mir einfach, wenn er wieder da ist. Dann brauchen wir keine Geheimnisse mehr voreinander haben. Ist dir doch auch lieber, oder?"
"Aber wenn ich doch nicht darf!"
"Frag deinen Onkel Bert mal, warum du nicht darfst und ob wir nicht einfach alle miteinander in diesem Haus leben könnten. Das wäre doch schön, nicht?"
"Auch wenn ihr ihn nicht sehen könnt?"
"Na klar, auch dann. Du kannst uns ja erzählen, was er will oder wenn ihr zusammen wieder davonfliegen wollt. Ist doch alles kein Problem."
"Kein Problem!" plapperte Jan begeistert nach und schon war er fort.
Nicht nur Jutta hatte nun doch Probleme genug, auch Mutun stand vor einer Grundsatzfrage. Sie war sich im Zweifel, ob sie ihrem Gatten von diesen Geschehnissen überhaupt etwas sagen sollte oder lieber abwarten, bis ihr Jan einmal seinen Spielgefährten zeigen würde. Und Mutun sah wohl, daß dieser Zwiespalt unabsehbare Folgen haben könnte. Wenn die beiden sich trennen sollten, er wäre schuld daran gewesen. Ein solcher Eingriff in das menschliche Leben wäre nicht im Sinne der Weisen und auch nicht in seinem Sinn gewesen. Was tun? Er beschloß, sich in der nächsten Zeit nicht mehr mit seinem Liebling Jan zu beschäftigen.
Jutta berichtete Ingbert von dem seltsamen Erlebnis am Gartenzaun und die beiden beschlossen, Jan im Auge zu behalten. Auch luden sie ihren geschmähten Nachbarn zu sich ein und stellten wieder das gute alte Verhältnis zwischen sich her.
Salmanns waren wieder eine glückliche Familie. So kam es, daß mit der Zeit Gras über die Sache wuchs. Jan fand andere Interessen, die ihn ablenkten und ihn seinen unsichtbaren Spielgefährten vergessen ließen. Seine Eltern betrachteten diese Vorkommnisse als frühkindliche Phantasien.
So schien es. Doch einen Dr. Salmann, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Gentechnologie, konnten all diese merkwürdigen Erfahrungen aus den letzten paar Jahren natürlich nicht kalt lassen. Ohne daß seine Frau etwas davon wußte, forschte er in Jans Genen nach irgendwelchen Anomalien, unterzog seine Augen einer genauen Prüfung, versuchte mit allen Mitteln herauszufinden, ob sein Sohn zu Halluzinationen neigte oder ob gar etwas dran war an seinen Spielen mit einem Unsichtbaren. Doch er fand nichts. Außer, daß ihm Jans ungewöhnliche Intelligenz klar wurde. Auch Juttas zweimaliges Verschwinden von der Bildfläche gab ihm zu denken. In Mutter und Kind mußte etwas stecken, das mit Unsichtbarkeit zusammenhing. Ob sie wirklich nichts davon wußte? Oder verschwieg sie ihm etwa etwas Entscheidendes über ihre Herkunft? Je mehr er sich das seinerzeitige Ereignis wieder in Erinnerung rief, als seine schwangere Frau nachts wie unter einem Zwang aufstand, sich daraufhin zu Fünkchen auflöste und dann wieder ganz normal erschien und sich gähnend zu Bett legte, um so deutlicher fühlte er sich in seiner Vermutung bestätigt. Schließlich hatte ja nicht nur er diese Vision, wenn es denn eine war, sondern auch ihr Arzt, die Hebamme und die Schwester waren Zeuge dieser Auflösung geworden. Jawohl, Jutta hütete ein Geheimnis, er zweifelte nicht mehr daran. Er entschloß sich, mit ihr darüber zu reden.
Es ergab sich eines nachts, als sie nicht schlafen konnte, sich unruhig im Bett hin und her wälzte. Sanft berührte er ihre Schulter, fragte: "Was ist mit dir, Liebes? Hast du Albträume? Soll ich dir ein Schlafmittel bringen?" Sie drehte sich auf den Rücken, lag still.
"Nein, nein, laß nur, danke. - Hab ich dich aufgeweckt? Ich geh am besten in ein anderes Zimmer zum Schlafen." Und schon raffte sie das Bettzeug zusammen. Er hielt sie fest.
"Bleib da, das bringt ja nichts. Du bist in der letzten Zeit immer so unruhig, auch tagsüber. Was ist denn los mit dir? Ist es wegen Jan?"
Sie setzte sich auf die Bettkante, hielt immer noch ihr Bettzeug fest. "Ja, auch. Aber auch wegen dir. Du bist so komisch geworden. Ich weiß auch nicht - irgendwie..."
"Ich? Komisch? Wie komisch? Tu ich nicht alles für euch? Mir kommt's eher so vor, als wenn du... - d u hast dich verändert, Jutta, das ist es."
"Aha, ich! Ich wüßt' nicht, wie. Es stimmt einfach nicht mehr zwischen uns, Ingbert. Ich weiß auch nicht, warum. Kannst du mir das erklären? Hängt es mit deiner Arbeit zusammen?"
Nachdenklich sah er sie an. "Komm wieder rein ins Bett!" Er zog sie rüber zu sich und deckte sie fürsorglich zu. "So, und jetzt reden wir mal zusammen. Schlafen kann jetzt eh keiner mehr."
"Ich bin also komisch", sagte er. "Inwiefern?"
"Du bist eben anders. Nicht mehr so offen. Früher, da sind wir uns um den Hals gefallen, wenn du heimkamst. Und jetzt? Du tust zwar recht freundlich und ungezwungen, aber du gehst gleich Händewaschen, setzt dich zu Tisch, redest drauflos - so war das nicht früher zwischen uns. Hab ich dir was getan? Gibst du mir immer noch die Schuld an Jans Phantastereien? Das ist doch längst vorbei, das siehst du doch selber."
Jutta war todunglücklich, hielt sich ganz still in Ingberts Armen. Der sagte gar nichts, streichelte sie nur gedankenverloren. Aber dann:
"Gut Jutta, ja, da ist was. Ich muß dir jetzt was erzählen, wovon du vielleicht gar keine Ahnung hast. Vielleicht aber doch. Und wenn ja, dann mußt du mir die Wahrheit sagen. Sonst weiß ich nicht, wie's weitergehen soll mit uns Dreien."
Jutta dachte eher an ein Geständnis seinerseits und daß er sie fragten wollte, ob sie ihn trotzdem noch liebe.
"Sag's nur, und hab keine Angst. Zwischen uns wird sich nichts ändern, egal was jetzt kommt", tröstete sie daher im voraus und schmiegte sich enger an ihn.
"Es war damals, als du schwanger warst. Nachts. Du weißt ja, ich hab mir große Sorgen um dich gemacht und ich bin oft nachts wach gelegen und hab gehorcht, ob's dir auch gut geht. Besonders in der letzten Zeit, als du nicht mehr wußtest wie du dich legen solltest wegen deinem großen Bauch."
"Weißt ich schon noch", unterbrach sie ihn. "Du bist mir ganz schön auf die Nerven gegangen mit deiner ewigen Vorsicht. Ich dir wahrscheinlich auch. Und da ist das dann passiert." Salmann war verduzt. Also doch. "So, du weißt es also? Warum hast du nie mit mir darüber gesprochen? Das ist doch etwas, was uns beide betrifft. Wie konntest du nur so weiterleben, so also ob nichts gewesen wäre!"
Jutta schmunzelte. "Tja, das ist eben Liebe."
"Aber du hättest es mir doch sagen können! Ich muß das doch wissen! Nicht daß du einfach wieder verschwindest und ich hab keine Ahnung, wohin und ob du wieder kommst!"
Der Arme war ehrlich verstört.
"Wieso ich? Du bist doch derjenige gewesen! Du bist doch aus der Reihe getanzt. Dir ist es doch passiert!"
Jetzt endlich begriff Ingbert, was seine Gattin meinte. Sie dachte an einen Fehltritt, an eine Liebschaft. Er mußte herzlich lachen. Jutta setzte sich auf, nun aber ernstlich entrüstet. Doch noch bevor sie mit einer Schimpftirade loslegen konnte, legte er eine Hand auf ihren Mund und drückte sie wieder zurück in die Kissen.
"Nein, Jutta, so ist es nicht. Ganz und gar nicht. Es geht nicht um einen Seitensprung. Mit d i r ist was passiert. Und darüber wollt ich gerade mit dir reden."
"Mit mir? Nachts? Während meiner Schwangerschaft? Bin ich mondgewandelt oder was?"
"Du bist verschwunden. Du bist aufgestanden, es war, als ob da plötzlich zwei Juttas ständen, durchsichtig wie Nebel. Dann haben plötzlich Funken durch den ganzen Körper gesprüht, du bist wieder sichtbar geworden und hast dich zu Bett gelegt. Und jetzt sag mir ganz ehrlich, was mit dir wirklich los ist."
"Du spinnst!" antwortete Jutta bloß, mit voller Überzeugungskraft. "Du hast geträumt oder vielleicht hattet ihr wieder irgendwelche Experimente gemacht und das hat dich nicht losgelassen. Ingbert! Komm los davon! Laß dich nicht beeinflussen von solchen Hirngespinsten. Aber natürlich, jetzt ist mir auch klar, daß du mir irgendwie die Schuld gegeben hast wegen Jan. Ich glaub, du mußt ein bißchen ausspannen. Immer nur arbeiten, das ist zuviel für dich. Du siehst ja, was dabei herauskommt. Und wir beide, Jan und ich, wir wären auch froh, wenn wir unseren Papa mal länger bei uns haben könnten."
"Gut, das ist ein anderes Thema. Es ist aber nicht nur mir so ergangen. Ich hab ja zuerst selbst geglaubt, ich hätt’ es nur geträumt. Du bist aber noch einmal verschwunden. Diesmal unter Zeugen. Damals bei der Geburt von Jan. Der Arzt hat es mir erzählt. Es war ganz kurz vor dem Austritt des Babys. Plötzlich warst du weg und gleich drauf samt dem Kleinen wieder da. Der Arzt, die Hebamme und die diensttuende Schwester haben es miterlebt. Sie haben geglaubt, sie wären allesamt verrückt. Da hab ich ihnen auch mein Erlebnis erzählt, denn sie wollten sich schon auf ihre Zurechnungsfähigkeit hin untersuchen lassen. Daraufhin haben wir beschlossen, niemandem jemals etwas davon zu erzählen. Und jetzt bist du dran!"
"Das glaub ich nicht. Das glaub ich einfach nicht!" rief sie aus. "Das ist ja unheimlich! Du erzählst mir doch keine Märchen aus irgendwelchen Gründen?"
"Nein, natürlich nicht. Deswegen mach ich mir eben wegen Jan solche Sorgen. Auch wenn's schon lange vorbei ist mit diesem Onkel Bert. Vielleicht gibt es inzwischen etwas anderes, etwas, was er inzwischen gelernt hat, besser geheimzuhalten. Ich hab schon mit dem Gedanken gespielt, hier zu Hause zu arbeiten. Da hätte ich euch beide besser im Auge. Wir könnten auch viel mehr miteinander unternehmen, wenn ich mir die Zeit einteile. Was meinst du?"
"Jaa, mach das. Von mir aus. Du, es wird immer schlimmer. Und vielleicht wegen nichts und wieder nichts. Ingbert! Allmählich hab ich Angst!"
"Bloß nicht! Wir kriegen das schon hin. Immerhin leben wir in einer Zeit, da ist vieles möglich, was den Geistern die Tour vermasseln könnte", meinte er spaßhaft.
Sie redeten noch ein bißchen über die verschiedenen Möglichkeiten der Entmaterialisierung, der doppelten Psyche und derartiges mehr. Allmählich wurden sie müde. Eng aneinandergekuschelt schliefen sie ein.
Der neue Tag fand das Paar energiegeladen und voller guter Vorsätze, doch Mutun, der ja immer hautnah an Zuschicks Seite ausharren mußte - so hatte er es versprochen - raufte sich sozusagen die Haare. Oder was immer in seinem Zustand. Sie wollten i h m auf die Spur kommen! Und wenn ja, was dann? Wenn doch die Weisen da gewesen wären! Ohne den Rat der Weisen fühlte er sich hilflos. Er beschloß, die junge Frau und damit Zuschick in ihrem Innern eine Weile zu verlassen, um auf die Suche nach Seinesgleichen zu gehen. Er mußte sie finden. Allein fühlte er sich der ganzen Sache nicht mehr gewachsen. Vielleicht hatte einer von den anderen Pionieren ähnliche Erfahrungen gemacht. Vielleicht war man dort schon weiter mit den Erkenntnissen, die sie alle hier auf der Erde sammeln wollten. Womöglich suchte man sogar bereits nach ihm, um ihm das Neueste mitzuteilen. Oder ob sie sich alle wieder aus den Menschen zurückziehen und auf ihren Heimatplaneten zurückkehren sollten? Um neue Beschlüsse zu fassen, um den ganzen Plan aufzugeben oder was sonst noch alles.
Nein, er mußte weg. Mutun verließ seinen Schützling, Zuschick wußte ja nichts davon. Er befand sich verborgen in Juttas Körper, in deren Zellen, in ihren Nervenbahnen, überall. Er war sie und nur der Tod konnte ihn aus diesem Zustand erlösen. Nur dann wäre es Zuschick möglich gewesen, mit Mutuns Hilfe wieder heraus und zu sich selber zu kommen.
Mutun - Mut und Unternehmungsgeist - der Pionier vom Kristallstern, begab sich auf die Reise und lernte die Erde kennen.
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Zurück zu unserem verunsicherten Paar. Obwohl jetzt alles geklärt war, blieb doch ein kleiner Rest von Mißtrauen. Ingbert liebt seine Frau nach wie vor. Sie bezaubert ihn mit ihrer Frische, ihrer natürlichen Schönheit, ihrer Unbekümmertheit. Aber es kommt ihm vor, als hätte er eine Nixe geheiratet, jemanden, der jederzeit wieder verschwinden kann. Ohne daß es ihm bewußt ist, begegnet er Jutta immer mehr wie einer Fremden, wie jemandem aus einer anderen Welt. Was ja auch stimmt. Er hat seinen Arbeitsplatz nach Hause verlegt, erscheint nur noch selten im Institut, macht aber erstaunliche Fortschritte in all seinen Projekten. Vielleicht ist er durch seine häuslichen Verhältnisse hellhöriger, empfindsamer geworden gegenüber bestimmten Einflüssen. Nur eines stört ihn: Sein Sohn. Er ist ein aufgewecktes Bürschchen und so bleibt es nicht aus, daß auch er sich für Papas Arbeit interessiert. Jedenfalls für all die interessanten Apparate in seinem Raum. Anfangs freut sich Ingbert darüber, zeigt dem Jungen, was alles man damit machen kann. Doch der ist unersättlich in seinem Wissensdurst.
"Darf ich das auch mal probieren?" nervt er seinen Vater. "Ja, das darfst du. Aber geh rüber zu Mami, die hat fast genau die gleichen Geräte, da kannst du rumspielen, soviel zu willst", versucht er ihn abzuweisen.
"Aber so viele schöne Zeichen und so viele Bilder sind da nicht drauf wie bei dir. Da, das da möchte ich gerne ansehen, Papa. Darf ich?" Und er zeigt auf ein Symbol im Programm, das eine komplizierte Darstellung des Nervensystems darstellt mit vielen schematischen Erläuterungen, auch Menschen, an denen gerade Versuche durchgeführt werden.
"Nein Jan, das geht nicht. Das ist meine Arbeit, da darf niemand anderer ran als ich. Geh jetzt zu Mami, lauf! Ich muß jetzt wirklich wieder was tun."
Jan verzieht sich. Nach einiger Zeit meldet sich Jutta auf seinem Bildschirm. Ärgerlich schimpft sie ihn an. "Was hast du nur mit Jan angestellt? Er ist nicht mehr vom Computer wegzukriegen seit er bei dir drüben war. Mir ist schon eine ganze Reihe Daten über meine Schüler verlorengegangen. Ich hab das Ding ausgeschaltet. Jetzt sitzt er drüben und bockt. Hockt in der Ecke und redet kein Wort mehr mit mir."
"Könnt ihr mich denn nicht e i n m a l in Frieden lassen!" ärgert sich Ingbert. Ich kann mich ja auf nichts mehr konzentrieren! Wenn das so weitergeht, zieh ich wieder in mein Institut. Also, zeig ihn mir mal, damit ich ihm die Leviten lesen kann."
Gleich darauf hat er Jan vor Augen. Er sitzt mit angezogenen Knien, den Kopf runtergebeugt, in einer Ecke von Juttas Büro und rührt sich nicht.
"Jan!" redet ihn Ingbert scharf an. "Jetzt reicht's. Raus mit dir jetzt, laß dir was anderes einfallen, als deine Eltern zu nerven. Merkst du nicht selber, daß du noch viel zu klein bist, um mit diesen Geräten umzugehen?"
Jan hebt den Kopf, sieht seinen Vater auf dem Bildschirm ernst an. "Dann zeig es mir halt. Ich bin nicht zu klein", behauptet er.
"Gut, mach ich. Aber nicht jetzt. Wir reden heut nachmittag drüber. Einverstanden?"
"Ja, gut." Das Bild verlöscht, Jan verzieht sich.
Als sie später am Mittagstisch sitzen, kommt das Thema wieder auf. Jan bohrt und bohrt, kleckert in seinem Teller rum, etwas in ihm ist aufgewacht und läßt sich nicht mehr verdrängen. Jutta wird streng. "Jetzt wird erst mal ordentlich gegessen, und dann zeig ich dir was ganz Tolles", verspricht sie. So wird's gemacht. Jan sitzt bald darauf vor Juttas Computer und knobelt an einem Spiel herum, das für ihn eigentlich noch viel zu schwer ist. Aber er gibt nicht auf. "Leg dich hin, wenn du müde bist", sagt Jutta und überläßt ihren Sprößling sich selbst. 'Das wird schnell genug passiert sein' denkt sie noch und macht sich im Haus zu schaffen. Doch nach zwei Stunden sitzt Jan immer noch davor, hat hochrote Bäckchen, versucht gerade, selbst ein Spiel zu erfinden. Jutta ist machtlos. Es gelingt ihr nicht, den Kleinen zu irgendetwas anderem zu bewegen. Sie müssen sich was einfallen lassen.
So kommt es, daß der Dreijährige endlich bei einer Kindergruppe landet, in der er auch zu anderen Spielen angeleitet wird und wo er vor allem mit Gleichaltrigen zusammen ist. Die Eltern hoffen, ihn so wieder in kindgerechte Bahnen zu lenken. Das hätte eigentlich schon viel früher passieren sollen. Heutzutage war man bestrebt, schon die Babies möglichst früh an intelligenzsteigernde Spiele heranzuführen. Die Mütter gaben ihren Nachwuchs stundenweise in Babyhorten ab, wo sie durch geschultes Personal in ihrer Entwicklung gefördert wurden. Man war der Ansicht, dies täte auch dem späteren Sozialverhalten gut. Diese 'Vorbereitung auf das Leben' wurde von da an systematisch fortgesetzt. Jutta hatte sich dem bisher widersetzt. Sie wollte ihr Kind nach dem alten Schema ihrer Zeit aufziehen. Jan sollte die Welt von seinem Kinderzimmer aus kennenlernen, immer in der Obhut seiner Eltern. Sie waren beide intelligent genug, um ihrem Sohn schrittweise das Nötige beizubringen. Ingbert hatte dies als groben Fehler angesehen und seiner Frau auch vorgeworfen, dieses Onkel Bert-Spiel wären nur Auswüchse eines einsamen, alleingelassenen Kindes. Es hatte fürchterliche Kämpfe gegeben zwischen den beiden.
Nun, der Einstieg in den Kindergarten klappte ganz gut. Zuerst ist Jan zwar mißtrauisch und scheu, findet sich aber bald zurecht, man hört nur Gutes über ihn. Papa Ingbert kann wieder in Ruhe arbeiten und Jutta ist ein bißchen traurig. Ihr Söhnchen fehlt ihr sehr.
Bis sie und ihr Gatte eines Tages von der Leiterin des Kindergartens zu einem Gespräch eingeladen werden. Nach herzlicher Begrüßung und einleitendem Lächeln sitzen sich die Drei bald stumm gegenüber. "Warum ich Sie zu mir gebeten habe", beginnt die Dame schließlich, "ist, weil wir ein bißchen ratlos sind mit ihrem Sohn."
"Benimmt er sich nicht gut?" fragt Jutta. "Nein, nein, das ist es nicht. Ganz und gar nicht. Ihr Sohn ist das liebenswürdigste Kind, das man sich nur vorstellen kann. Es ist etwas anderes. Es ist, als hätte er sich alle anderen Kinder zu Untertanen gemacht. Ob sie ihn bewundern oder fürchten - ich kann es nicht sagen. Manche kommen mir etwas verschüchtert vor, andere sind plötzlich äußerst widerborstig, meine Mitarbeiterinnen sind völlig machtlos. Der Tagesablauf funktioniert nur, wenn Jan dabei ist. Als gäbe er geheime Befehle, wie sich die ganze Bande zu verhalten hätte. Ich kann mir nicht helfen, das Kind ist mir unheimlich."
"Das kann ich mir nicht erklären", meint Jutta. Dr. Salmann sieht nachdenklich drein. Auch ihm ist das Kind unheimlich. Und seine Gattin dazu. Vielleicht noch ein Anhaltspunkt, Juttas Geheimnis auf die Spur zu kommen? Er muß es herausfinden.
"Wo ist Jan jetzt?" fragt er schließlich. "Das weiß ich nicht. Die Kinder haben gerade Freistunde. Aber eins weiß ich. Wo es entweder totenstill ist oder wo die Hölle los ist, da ist Jan ganz bestimmt mittendrin. Warten Sie, das werden wir gleich haben."
Die Dame aktualisiert den Rundblick - auf dem wandgroßen Bildschirm erscheint ein Ausschnitt des Gartens.
"Sehen Sie? Da in der Ecke, hinter der Baumgruppe, da sind sie. Jan kann ich momentan nicht erkennen. Aber warten Sie!"
In einem entfernteren Winkel des Kindergartens befand sich ein kleines naturbelassenes Waldstück mit hohen Bäumen, Gebüsch, Hügeln und Felsen, ideal zum Versteckenspielen oder sonst was Abenteuerliches. Die Drei bemerkten zunächst nur ein paar Kinder, die im Vordergrund standen und gebannt zu besagtem Winkel hinschauten. Dann ein Gekreische. "Ich seh dich, ich seh dich! Ich seh dich doch!" klang es hinter den Bäumen hervor. Wieder Stille. Beängstigende Stille. Und das bei einer Kinderschar von etwa fünfzehn Drei- bis Fünfjährigen.
"Blenden Sie doch mal die Gruppe ein, Frau Ehrmann", bat Salmann. Es geschah. Aha, da stand ja das Söhnchen. Ihm gegenüber ein kleiner Junge und drumherum all die anderen Kinder. Jan starrte unentwegt und völlig bewegungslos den Jungen an. Jetzt sagte er etwas. Ganz leise. Die Beobachtenden verstanden es trotzdem. "Du siehst mich nicht! Keiner sieht mich." Er schien jeden Einzelnen anzusehen und jedes der vielen Kinder stand plötzlich gebannt und völlig reglos da. Wieder Jans Stimme: "Wer kann mich sehen? Sucht mich, sucht mich!" Damit war der Bann gebrochen. Alles lief durcheinander, schrie und lärmte, Jan kam ungerührt dahergeschritten, er durchquerte die quirrlige Menge, niemand beachtete ihn. Es sah wirklich aus, als suchten ihn die Kinder, aber sie liefen an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Als wäre er gar nicht da. Nach einer kurzen Weile rief er: "Da bin ich! Hallo! Hierher!" Die Kinder stutzten, schrien dann durcheinander. "Gesehen, Jan, ich hab dich gesehen!" "Ich auch, ich auch!" die anderen. Jan rannte davon. Alle hinterher. Plötzlich stand sein Vater vor ihm. Ein freudiger Schimmer glitt über Jans Gesicht. "Papi!" rief er - und verstummte gleich drauf. Denn der Papi war todernst. "Was war das grade, Jan?" fragte er streng. "Was denn, Papi? Das Versteckenspielen?"
"Ja, genau das. Warum haben dich die Kinder nicht gesehen, obwohl du direkt vor ihnen gestanden bist? Was ist das für ein neues Spiel?"
"Das ist nicht neu. Ich hab ihnen nur gesagt, sie können mich nicht sehen und dann haben sie mich nicht gesehen. Und dabei war ich doch direkt zwischendrin."
"Konnten sie dich wirklich nicht sehen oder habt ihr das nur gespielt?" Ingbert war schockiert. Vielleicht zu Unrecht. "Sie haben nur so getan, als ob sie dich nicht sehen könnten, nicht?"
"Nein, Papi, sie können mich wirklich nicht sehen, wenn ich es ihnen sage. - Mami, Mami, kommt ihr mich schon holen?" rief er plötzlich aus, denn Jutta war mit der Leiterin aus dem Gebäude getreten und der Kleine lief freudestrahlend auf sie zu. Sie lachte, bückte sich und breitete die Arme aus, um ihren anstürmenden Sohn aufzufangen.
"Na, du?" hob sie ihn hoch. "Ja, ausnahmsweise kommen wir dich heute schon holen. Sag schnell tschüß zu deinen Kameraden!" Sie setze ihn ab. Der Junge drehte sich um, rief tschüß! über die Schulter und wandte sich völlig unbefangen seinen Eltern zu. "Und was machen wir jetzt?" wollte er wissen. "Jetzt?" fragte Papi zurück. Da kam ihm ein Gedanke. "Jetzt fahren wir Drei direkt ins Institut zu meinen Kollegen und dann - jetzt kommt's! - wollen wir alle miteinander Versteckenspielen. Einverstanden?" Jutta sah ihn erstaunt an. Er nickte ihr zu. "Haben wir doch schon so lange nicht mehr gemacht, Jutta, was? Da kann uns Jan sein neues Spiel vorführen, das wird lustig!"
"Und wo wollen wir uns verstecken? Unten im Wald oder bei dir im Labor?" Jan war Feuer und Flamme.
"Na, das sehen wir noch", antwortete der Genealoge. Während sich Jutta all die kleinen Ereignisse von Jan anhörte, die ihn dort im Kindergarten bewegten, verständigte Dr. Salmann seine Mannschaft. Sie wußten ja bereits, daß Jan ein außergewöhnliches Kind sei und sie bereiteten sich darauf vor, mit ihm dieses 'du siehst mich nicht-Spiel' zu spielen.
Kurz darauf ließ sich das kleine Air-set auf eine Landeebene außerhalb der oberen Stockwerke des Instituts sinken, die Drei stiegen aus und begaben sich zu Salmanns wartender Crew. Die Leute waren freundlich zu dem Jungen, jedoch darauf bedacht, ihn nicht zu sehr in den Vordergrund zu heben. Der hatte allerdings im Nu die Versteckspielerei vergessen, als er all die vielen Apparate sah, die hier überall herumstanden. Sofort wollte er alles möglich wissen. Er nervte, ganz einwandfrei. Sein Vater fand das zunächst ganz gut. Jan sollte völlig unbefangen in dieses 'du siehst mich nicht-Spiel' verwickelt werden. Er ließ ihn mit einem Mitarbeiter allein. Die beiden betrachteten sich eingehend eine Schaltwand mit vielen Tasten und Symbolen. Jan war fasziniert. Inzwischen klärte er die Kollegen auf, was sie zu erwarten hätten und worauf sie besonders achten sollten. Dann kehrte er zu den beiden in dem Betriebsraum zurück.
"Na, jetzt ist's aber genug, Jan", rügte er, "ich denke, wir haben uns ein kleines Päuschen verdient." Und zu seinen Mitarbeitern gewandt: "Geh'n wir doch alle miteinander ein bißchen in den Park runter zur Erholung. Bei dem herrlichen Wetter!" Das kam gut an. Doch das Kind war von seinem 'Meister' nicht mehr wegzubringen. "Und was passiert, wenn wir alle Tasten auf einmal drücken?" wollte er wissen. "Dann fliegen wir in die Luft!" erwiderte der Mann lachend. Jan sah nachdenklich drein. Gleich drauf waren sie unten angelangt, strebten einer stillen Sitzgruppe abseits im Gebüsch zu. Ingbert eröffnete das Spiel.
"Das ist doch ideal zum Versteckenspielen hier, Jan, was?"
"Jaaa, prima!" jubelte er. "Ich such euch, ich such euch! Verstecken, alle verstecken!"
Damit drehte er sich um, hielt seine Händchen über die Augen und wartete geduldig. Endlich hörte er Mamis Stimme. "Du kannst kommen!" In kindlichem Eifer rannte er los und freute sich über jeden Entdeckten wie ein Schneekönig. Als alle gefunden waren, schlug Papi vor:
"So, jetzt sucht uns Andi und wir anderen verstecken uns." Wieder war die Begeisterung groß. Andi, einer der Kollegen, suchte und fand rasch alle, bis auf Jan. Suchend ließ er seine Augen umherwandern. Wo sollte er noch suchen? Da sah er den Kleinen hinter einem bemoosten dicken Baumstamm hervorlugen, wollte schon auf ihn zugehen. Doch wie gebannt blieb er stehen. Leise hörte er Jans Stimme: "Du siehst mich nicht, du kannst mich nicht sehen!" Zugleich sah er in zwei unbewegliche, tiefernste Augen. Noch während Andi zu ergründen suchte, was ihn daran so sehr fesselte, verschwand das Bild, der Junge war nicht mehr zu sehen. Andi ging um den Baum herum. Er hätte es doch bemerken müssen, wenn der Kleine fortgerannt wäre. Etwas verwirrt kam er zu den anderen zurück.
"Was ist?" empfing ihn Salmann sofort.
"Ist Jan nicht hier?" fragte der zurück. "Grad hab ich ihn noch dort drüben hinter einem Baumstamm gesehen. Plötzlich war er fort. Ihr hättet es doch sehen müssen, wohin er gelaufen ist."
"Schau noch mal nach, Andi. Oder wart, ich komm mit!" - so Salmann. Soweit kam's nicht. Ein schallendes, kreischendes Gelächter ließ sie alle herumfahren. Da stand ja der Dreikäsehoch, direkt hinter seinem Vater und konnte sich nicht fassen vor lauter Lachen.
"Ihr habt mich nicht gefunden! Ihr habt mich nicht gesehen!" schrie er. Und dabei war ich doch da, ich bin mit Andi hergelaufen. Ihr habt mich nicht gesehen!!" Er jubelte und freute sich und gab so sein Geheimnis preis. Nun ging ein Diskutieren los. Ingbert griff ein.
"Wir machen weiter. Versteckt euch mit ihm. Mal sehen, was dabei herauskommt."
Wieder fanden alle hervorragende Verstecke, die nicht so leicht zu entdecken waren. Jutta blieb an der Seite ihres Sohnes. Ingbert machte den Sucher. Mit großem Hallo fand er einen nach dem anderen. "Jetzt bist du dran, Jan! Gleich hab ich dich!" rief er in den Wald hinein. Er lief ein Stück auf eine Mulde zu, in der er eine Bewegung wahrgenommen hatte. Tatsächlich, Jutta kauerte zusam-mengeduckt darinnen, Jan an ihrer Seite. Der flüsterte was, richtete sich ein bißchen auf. "Du kannst mich nicht sehen, du kannst mich nicht sehen!" hörte sein Vater ganz leise. Zugleich starrten ihn zwei Kinderaugen an, die er irgendwie nicht mehr als die seines Sohnes erkannte. Ein tiefer Ernst lag darinnen, ein Wissen um etwas, das ihm unbekannt war. Noch während er starrte und es nicht glauben konnte, verschwand das Bild vor seinen Augen. Jutta richtete sich auf. "Dann wären wir wohl alle gefunden", rief sie, "komm. Jan!"
"Wo ist er denn?" fragte Salmann verwundert. "Grad war er doch noch bei dir."
"Bist du blind? Da ist er doch!" Damit machte sie eine Bewegung, als hielte sie das Ärmchen des Jungen hoch. In dem Moment erkannte Ingbert den Verschwundenen wieder.
"Ja, klar, da seid ihr ja alle beide!" lachte er und hob den Jungen herauf zu sich.
"Aber du hast mich nicht gesehen, Papi! Bis grade hast du mich nicht gesehen, stimmt's?"
"Ja, stimmt. Einen Augenblick lang hab ich dich nicht mehr gesehen, du Schlingel!" tat er es ab. Und ganz normal, als wäre nichts gewesen: "Eigentlich reicht's mir jetzt. Ich hab einen Bärenhunger. Haben wir was Gutes zu Hause, Jutta?"
"Natürlich, mein lieber Mann", scherzte sie. "Mami hat immer was Gutes!"
Man verabschiedete sich. Dr. Salmann versprach seinen Leuten, in Bälde wieder bei ihnen zu sein und dann würde man sich mit dem Fall beschäftigen.
Jans Talent, sich unsichtbar zu machen, blieb für alle ein heiß diskutiertes Rätsel. Nachdem Jutta erfahren hatte, daß auch sie zeitweise verschwinden konnte, wurde sie sich selbst immer unheimlicher. Ihr fröhliches Lachen verstummte nachgerade. Auch Ingbert war bedrückt. Immer noch hoffte er mit Hilfe der modernen Wissenschaft dieses Rätsel zu lösen. Das gab ihm neue Kraft und Energie. Jutta jedoch wurde immer schweigsamer.
Eine Woche nach diesem verhängnisvollen Versteckspiel mit Ingberts Kollegen rückte sie mit einem Vorschlag heraus.
"Ingbert, was hältst du davon, wenn Jan und ich eine Weile verschwinden? Ich dachte an das Gestüt, wo ich zuletzt meine Kurse abgehalten hab. Ich glaub, das würde uns allen gut tun. Ich möchte sowieso wieder mit meinen Sprachkursen anfangen. Vielleicht auch mit Reitunterricht. Irgendsowas."
"Eine gute Idee", stimmte Salmann zu. Also startete Jutta wieder einen Werbefeldzug für ihr Vorhaben, sah sich schon umringt von lachenden und neugierigen Gesichtern, das Leben schien wieder einmal von vorn anzufangen. Inzwischen ging Jan weiterhin in seinen Kindergarten. Er hatte ein neues Hobby gefunden: Computerspiele. Nicht, daß er sich nun stundenlang vor den kleinen Spielcomputern im Hort hinsetzte und nicht mehr davon wegzubringen gewesen wäre. Nein, er baute aus Naturmaterialien selbst so allerhand nach. Viele seiner Kameraden fanden das sehr lustig und machten mit. Aus Steinen, Ästen, Lehm und anderem Zeug bastelte sich jeder ein kleines Monstrum im Garten. Dann saßen sie davor und erfanden lauter tolle Sachen, was diese urigen Geräte alles können sollten.
"He! Ich hab den Mond hereinbekommen!" schrie Mäxchen, einer der Eifrigsten. "Und da ist auch schon ein Mondmännchen! Es ist ganz blau und grün und hat rote Augen. Sowas habt ihr noch nicht gesehen!" "Mensch, zeig mal!" - so ein anderer. Alle umringten den Kleinen und taten, als sähen sie das wirklich. Sie entdeckten sogar viele andere Einzelheiten auf Mäxchens Bildschirm. Der war allerdings nur aus Blech, das irgendwo herumgelegen hatte. "Und ich seh das Meer", bemerkte ganz ruhig Jan. "Und ein Ding, das ist durchsichtig wie Nebel. Es fliegt herum. Es hat einen Schleier um!"
"Wo?! Laß mal sehen! Ja, wirklich, toll. Es fliegt in die Sonne!" sagte ein kleines Mädchen, das sich neugierig neben Jan gestellt hatte und seinen Blechmonitor betrachtete. Jan sah sie erstaunt an.
"Es fliegt nicht zur Sonne", erklärte er. "Es fliegt dem Land zu. Ich glaub, du kannst es gar nicht wirklich sehen."
"Kann ich doch! Klar kann ich das, du Angeber. Aber was auf meinem Bildschirm ist, das kannst du nicht sehen!" So ging das Geplänkel hin und her.
Ein Ball kam geflogen, mitten hinein in zwei der mühsam aufgebauten Apparate. Das schöne Spiel war kaputt, die Phantasie der Kinder zerstört. Die reale Welt hatte sie wieder. Ein erbitterter Kampf entstand. Auch Jan kämpfte wie ein Berserker. Hatte man ihm doch sein liebstes Spielzeug kaputt gemacht. Es wurde eine fürchterliche Schlacht, es floß Blut und es gab Beulen und blaue Flecken, sogar Bißwunden mußten die Erzieherinnen später verarzten. Schnell wurde Jan als Urheber hingestellt, von ihm ging ja immer alles Derartige aus. Ob zu Recht oder Unrecht, man fragte nicht lang danach. Frau Ehrmann verständigte die Salmanns, daß ihr Sohn nicht mehr länger tragbar sei und das war's dann für den jungen Erfinder. Er wurde abgeholt und durfte wieder zu Hause spielen. Mit Aussicht auf den Reiterhof. Der Junge war's zufrieden.
Als sich jedoch nach etlichen Tagen noch immer niemand zu einem Sprachkurs in Altbayrisch angemeldet hatte, zog Jutta mit ihrem Sohn allein davon.
"Ich kann meine Schüler genauso gut auf dem Gestüt erwarten!" meinte sie zu ihrem Mann. "Ich freu mich schon darauf, mit Jan spazieren zu reiten. Er hält sich schon ganz gut im Sattel. Und du hast eine Weile Ruhe von uns."
So trennten sie sich, hofften, wieder ins normale Leben zurückzufinden.
Es kam tatsächlich niemand mehr zu Juttas Sprachkurs. Das hatte sich totgelaufen. Dafür erlebten sie und Jan wundervolle Tage mit ihren Pferden. Die Gastgeber waren liebenswürdig und einfach zünftig.
Inzwischen erfuhr Ingbert durch die Medien von einer neuen Sekte. Sie nannten sich 'Die Außerirdischen', gaben vor, tatsächlich mit Außerirdischen Kinder gezeugt zu haben. Mehrere Leute behaupteten, die Mitglieder dieser Sekte könnten sich sogar unsichtbar machen. Ein gefundenes Fressen für die Medien, die einzelne Aussagen natürlich ausschlachteten und bis zur Unkenntlichkeit aufbauschten.
Schon machten sich das etliche dubiose Gestalten zunutze und schoben ihre Verbrechen auf diese Unsichtbaren. Die Gerichte waren ratlos. Man konnte diese Sache nicht einfach beiseite schieben und totschweigen, so wie in früheren Zeiten das Auftauchen von Ufos. Die unerklärlichen Zwischenfälle mehrten sich. Die neuesten Nachrichten berichteten von zwei Kindern, die plötzlich aus dem Hort heraus verschwunden waren. Also kam man zu dem Schluß, daß diese Sekte eine ernste Gefahr für die Menschheit darstellte - und schon bald war von ersten Morden die Rede.
Auch Mutun erlebte mit Schrecken, daß auf die Menschen, mit denen sich seine Brüder vom Kristallstern eingelassen hatten, regelrecht Jagd gemacht wurde. Das Herz wollte ihm brechen, als er die kleinen Kinderleichen sah, die inzwischen 'erlegt' worden waren. Und die schreckliche Angst, in der die Menschen nun leben mußten. Viele wußten ja gar nicht, daß sie von einem Kristallsternler besetzt waren. Genauso wie Jutta, die Zuschick in sich trug. Ebenso war den meisten nicht aufgefallen, daß ihre Kinder unsichtbar werden konnten, weil sie mit diesen "besetzten" Menschen gezeugt worden waren. So beargwöhnte jeder jeden, stets darauf gefaßt, etwas Ungewöhnliches in seiner Familie zu entdecken.
Der Pionier beschloß, auf die Suche nach seinen Kameraden zu gehen, um eine Strategie gegen diese unvorhergesehene Entwicklung zu finden. Eines nachts, während Jutta schlief, befreite er Zuschick aus ihrem Körper. Er machte ihm klar, daß er ihn eine Weile verlassen müsse. "Bis ich wiederkomme bleibst du hier draußen und läßt die Salmanns nicht aus den Augen. Im Notfall mußt du eben eingreifen und deine Hüllen um den Gefährdeten legen, so daß ihm niemand etwas anhaben kann. Ich hoffe, daß es nicht so lange dauert, bis wir alle zusammen eine Lösung gefunden haben."
Zuschick war nur zu froh, endlich wieder er selber sein zu dürfen. Er hatte in Juttas Körper genug Erfahrungen gesammelt, um zur Erforschung der Menschen beitragen zu können.
Es graute ihm bei dem Gedanken, daß er womöglich in ihrem Körper auch ihre Ermordung erleben müßte - und das in Abwesenheit Mutuns. Wer garantierte ihm denn, daß er heil wieder herauskommen würde, falls Jutta starb? Ob er mit sterben und vergehen mußte? Zumindest Zuschick war dankbar für diese Entwicklung.
Mutun entschwebte. In mühevoller Suche rund um den Erdball spürte er schließlich viele der Seinen auf. Als Energiewolke schwebten sie um die Erde und sandten gemeinsam Impulse aus, die alle noch nicht Gefundenen erreichen mußten. Darin lag die Botschaft, für kurze Zeit ihre Schützlinge zu verlassen, um zu beraten, was zu tun sei.
Scharenweise kamen immer mehr Geistchen von der Erde angeschwebt. Es herrschte ein schreckliches Durcheinander. Es gab so viel zu erzählen - und das meiste davon paßte nicht auf das, weswegen Mutun losgezogen war. Es mußte wieder Ordnung herrschen und dazu brauchte man einen Ort, an dem man völlig ungestört von irdischen Störungen war. Sie fanden ihn auf einem Hochplateau in Chile, umgeben von buntgefärbten Gebirgsriesen, von spuckenden und geifernden Geysiren in den Ebenen. Hier wohnte niemand, kam auch niemand hin, wurde man auch nicht belästigt durch Fluglärm. Hier war nichts. Nur Stille und Natur. Hier gebot Mutun Ruhe.
Mutun bat um Wortmeldungen. Er wollte sich einen Überblick verschaffen über das, was inzwischen geschehen war. Dem, was er aus Gesprächen bei Salmanns und aus den Medien erfahren hatte, traute er nicht recht. Leider bewahrheitete es sich doch, daß auf der ganzen Welt eine Hysterie ausgebrochen war, in deren Verlauf niemand mehr sicher war.
Gemeinsam faßten sie den Entschluß: Es war höchste Zeit, daß man mit den Menschen sprach. Und zwar in aller Öffentlichkeit. Sie mußten endlich erfahren, warum die Pioniere vom Kristallstern sich bei den Menschen aufhielten. Nämlich, weil sie sie genau studieren wollten.
Da es mittlerweile viele Kinder gab, die genau wie Jan die geisterhaften Wesen sehen und mit ihnen sprechen konnten, sollten diese Kinder ihre Eltern aufklären. Vielleicht konnte man auf diese Weise sogar eine Zusammenarbeit mit den Erdbewohnern erreichen. Vielleicht sogar würde einer vom anderen lernen, war eine freundschaftliche Beziehung der beiden Welten möglich.
Den ersten Versuch wollte Mutun mit seiner Familie machen. Wie würden Salmanns darauf reagieren?
Als Ingbert von diesem mysteriösen Verschwinden der beiden Kinder erfuhr, war er sehr beunruhigt. Sofort beorderte er Weib und Kind zurück. Besprach sich mit Jutta, wollte die beiden nicht mehr aus den Augen lassen.
Jutta hatte Bedenken. Erst mal wegen ihrer Freiheit und dann:
"Wir müssen bloß aufpassen, daß es nicht zu übertrieben aussieht. Sonst wird man erst recht auf uns aufmerksam." - Das war schwierig.
Auch im Institut machte man sich Sorgen. Prof. Liebrecht hegte die größten Befürchtungen bezüglich Juttas Identität. Er beorderte Dr. Salmann zu sich.
"Wir sind vielleicht ein bißchen zu sorglos mit Jutta umgegangen", meinte der. "Sie ist mittlerweile zu vielen Leuten bekannt. Es könnte durchaus sein, daß man ihre rätselhafte Herkunft mit irgendwelchen Außerirdischen in Verbindung bringt - wir wissen ja selbst nichts darüber."
"Könnte wohl sein. Auch wenn die Sache so halb und halb als Spionagefall hingestellt wurde, Aufsehen genug hat es erregt damals. Am besten, wir weisen noch einmal nachdrücklich darauf hin, daß die Sache mit Juttas Auftauchen geheim bleibt. Genauso wie alle anderen neuen Erkenntnisse aus unserem Institut. Dazu ist zwar jeder Mitarbeiter von vornherein verpflichtet worden, aber sicher ist sicher." - So Prof. Liebrecht.
Bei all diesen Gesprächen war Ingbert klar, daß er selbst etliches verschwieg. Zum Beispiel die Sache mit Jans Geburt. Oder als seine Frau des nachts vor seinen Augen verschwunden war. Auch das Geplapper seines Sohnes über Onkel Bert. Und natürlich die Vorkommnisse im Kindergarten. Er konnte nur hoffen, daß all diesen Leuten klar war, was sie anrichteten, wenn auch nur die kleinste Andeutung in die Öffentlichkeit geriet. Er konnte doch nicht jeden anflehen, nur ja nichts zu sagen. Damit hätte er noch mehr Aufsehen erregt. Oh Gott - vielleicht war man schon hinter ihm her. Bzw. hinter seiner Frau und seinem Sohn.
Was das Verschwinden der beiden Kinder betraf, bedarf es hier einer Aufklärung. Zugetragen hatte es sich in Minnesota am Michigansee.
Die Kinder hatten mit einigen anderen in ihrem Hortpark, der zu jedem modernen Kindergarten gehörte, gespielt. Es war Sommer, heiß und trocken. Da boten die hohen Bäume des Parks die ideale Gelegenheit sich zu tummeln. Plötzlich Gekreische und Tumult. Zwei große Raben schossen auf sie herab. Sie hatten Junge und wollten die Störenfriede vertreiben. Zwei Kinder waren von Pionieren begleitet. Die bemerkten rechtzeitig die Gefahr, schlossen ihre Hüllen um die Kleinen, machten sie so unsichtbar. Die Kinder liefen schreiend in alle Richtungen davon. Natürlich wurde das sofort von der Zentrale aus bemerkt. Man kam ihnen entgegen, sammelte sie ein - und stellte fest, daß zwei fehlten. Aber nein, sie fehlten ja gar nicht, sie befanden sich mitten unter ihnen. Nur leider immer noch umhüllt von ihren Beschützern und daher unsichtbar. Erschrocken über das Aufsehen deswegen, setzten die beiden Pioniere die Kleinen sofort frei und verblüfften so die Pflegerinnen wie die restliche Kinderschar. Das Wunder wurde ruchbar, der Publikumsrummel begann - und eines Tages waren die Kinder tatsächlich verschwunden. Die Eltern wurden bestürmt, doch den geheimen Aufenthaltsort ihrer Kinder preiszugeben oder wenigstens zu sagen, daß sie sie versteckt hätten. Doch die Leute waren selber untröstlich, denn ihre Kinder waren und blieben unauffindbar. Die Pioniere, die ihnen beigegeben worden waren, um ihren Lebenslauf kennenzulernen, hatten sich kurzerhand in die Kinder verwandelt und schwebten unsichtbar für die Menschen nun irgendwo auf der Erde herum. In der Gestalt der Kinder getrauten sie sich nicht mehr, sich zu den anderen Geistchen vom Kristallstern zu gesellen. Hatten sie doch die Vereinbarung gebrochen, sich nicht zu solchen Eskapaden hinreißen zu lassen. So erfuhren sie auch nichts davon, was inzwischen beraten worden war. Und die Menschen kamen zu dem Schluß, die Unglückseligen seien ermordet worden.
Das war der Anfang und weitere Morde geschahen. An Kindern, die nicht von den fremden Wesen bewacht wurden.
Mutun erschien wieder bei Salmanns. Die kleine Familie wohnte wieder zusammen in Salmanns Kuppelhäuschen. Ingbert hatte Frau und Sohn sofort zurückgeholt, als er von den ersten Ausschreitungen erfuhr. Das war nun schon drei Jahre her. Mutun war überrascht, als er Jan als schon großen Jungen von sechs Jahren vorfand. Auch sonst schien einiges verändert. Er hatte immer noch Probleme mit der Zeit. Sie verging so wahnsinnig schnell hier auf der Erde. Die kleine Familie versuchte, ein ganz normales Leben zu führen. Bisher waren sie auch unbehelligt geblieben. Doch immer lebte die Angst mit ihnen, daß sie als verdächtige Individuen aufgespürt und verfolgt werden würden. Jans seinerzeitige Spiele mit diesem 'du siehst mich nicht' hatten damals etliche Aufregung hervorgerufen.
Eines Abends, als Jutta ihren Sprößling zu Bett gebracht hatte und mit ihm das Abendgebet sprechen wollte (an dieser schönen Sitte hielt sie fest, obwohl es heutzutage längst nicht mehr üblich war), jubelte der Sechsjährige plötzlich laut auf und streckte die Arme nach etwas aus. "Onkel Bert, Onkel Bert! Da bist du ja wieder! Gottseidank, du bist wieder da!" Er sprang aus dem Bett, hüpfte hoch, um jemanden zu umarmen - und ward nicht mehr gesehen. Mutun hatte ihn aufgefangen. "Das geht jetzt nicht mehr, Jan", sagte er und setzte den Jungen wieder zurück aufs Bett. "Es wird Zeit, daß wir uns deinen Eltern vorstellen. Und du mußt den Dolmetscher machen, weil sie uns nicht sehen können. Übrigens, das ist Zuschick, mein Freund." Er deutete auf seinen Begleiter, den er vor seiner Abreise aus seinem menschlichen Gefängnis befreit hatte.
"Er war die ganze Zeit in deiner Mutter, auch als du noch nicht geboren warst. Deswegen hast du die Fähigkeit mitbekommen, uns zu sehen. Du bist zur Hälfte einer der Unsrigen geworden. Aber jetzt bleib schön sitzen und tu genau das, was ich dir sage."
Jutta war inzwischen ganz bleich geworden, als sie mitbekam, wie ihr Sohn so ganz normal mit den Unsichtbaren umging, ja, sogar selbst verschwand. "Ingbert!" schrie sie angstvoll. "Schnell, komm her! Iiingbert!"
Jan war zusammengezuckt bei dem entsetzten Geschrei seiner Mutter. "Aber Mami, das sind doch bloß Onkel Bert und Zuschick. Sie sind wieder da! Und Zuschick wird auch gleich wieder in dich hineinfahren - nicht?" wandte er sich an die beiden Geheimnisvollen.
"Wwas sagst du da? Wer wird in mich hineinfahren?" Schon wieder wollte sie nach ihrem Mann rufen. Doch der öffnete soeben die Tür.
"Was ist denn bei euch los? Gibt's irgendwo eine Riesenspinne oder haben wir Einbrecher im Haus?" spöttelte er ein bißchen.
"Ingbert, Jan ist soeben wieder verschwunden! Es ist wieder soweit. Alles fängt wieder von vorn an. Ingbert!" Angstvoll weiteten sich ihre Augen. Da mischte sich Jan ein.
"Onkel Bert hat gesagt, ihr sollt euch setzen. Er will euch was erklären", sagte er ernsthaft.
"So, Onkel Bert hat gesagt - aha! Ist das dieser Onkel Bert, mit dem du früher immer im Garten gespielt hast?"
"Ja, genau, Papi!" rief Jan begeistert. "Aber jetzt setzt euch doch! Onkel Bert hat euch was zu sagen."
"Na gut", meinte sein Vater und zog Jutta mit auf eine Couch am Fenster. Jan wandte sich wieder den beiden Gestalten am Fußende seines Bettes zu. Er schien ernsthaft zu lauschen. Dann zu seinen Eltern gewandt: "Mutun sagt, er sei mit vielen seinesgleichen von einem Kristallstern auf die Erde gekommen, um sie zu studieren. Sie haben gesehen, daß es hier sehr unfriedlich zugeht und daß es ziemlich bald böse enden wird mit uns."
Wieder wandte sich der Kleine den Unsichtbaren zu. Er nickte.
"Er hat gesagt, daß Zuschick, was sein Freund ist, seit vielen Jahren in der Mami gesteckt hat und daß er sie vor noch viel mehr Jahren einmal in unsichtbarer Form auf den Kristallstern entführt hat. Viele andere von denen haben das auch so gemacht. Sie haben sich in alle möglichen Wesen von der Erde verwandelt und sie weggebracht von hier. In ihre Heimat, sagt Onkel Bert. Dort wollten sie die ganzen Sachen von der Erde genau studieren, weil sie noch nie sowas gesehen haben." Wieder lauschte er zum Fußende seines Bettes hin. Gleich ging's weiter. "Aber es gibt auf ihrem Kristallstern keine Atmosphäre und auch sonst nichts, was die Menschen und Tiere von der Erde zum Leben brauchen. Sie konnten sie nicht mehr zurückverwandeln, weil sie sonst gestorben wären. Deswegen sind sie nochmal zur Erde gekommen, um hier in den Menschen und Tieren und Pflanzen selbst ein Leben lang zu bleiben. Alles, um die Erde kennenzulernen".
"Mhm", machte Ingbert, halb ungläubig. Jan sah schon wieder begeistert zu seinem Besuch hin. "Wirklich wahr?" fragte er. - Dann: "Gut, ich sag's ihnen. Ist echt toll, eure Geschichte.
Mami, Zuschick sagt, er hat dich damals direkt aus eurem Garten heraus geklaut. Du warst in einer Hängematte gelegen. Dann hat er dich auf ihren Stern gebracht. Und später wieder zurück. Aber an der Stelle, wo einmal euer Haus gestanden hat, war jetzt dieses große Institut, wo der Papi arbeitet. Dort haben sie dich dann abgeladen und Zuschick ist in dir geblieben. Aber Mutun wollte immer bei der Mami sein, so lange wie sie lebt. Damit er Zuschick später wieder heraushelfen kann, sagt Onkel Bert gerade. - Nein, Mutun - er heißt in Wirklichkeit Mutun, nicht Onkel Bert, sagt er." Die Eltern sahen sich betroffen an. "Ja, so könnte es gewesen sein", meinte Jutta schließlich.
"Klar ist es so gewesen! Der Onkel Bert lügt doch nicht!" rief Jan vorwurfsvoll.
"Gut, und weiter?" wollte Ingbert wissen.
Wieder schaute Jan angestrengt in die bewußte Ecke.
"Weil Zuschick so viele Jahre in der Mami war, ist er so mit ihr verwachsen, daß ich ein Teil von ihm geworden bin. Deswegen kann ich auch diese Geister sehen und ihr nicht. - Ich bin so müde!" Er gähnte und sank in die Kissen zurück. Noch einmal weckte etwas seine Aufmerksamkeit. "Onkel Bert hat gesagt, ihr sollt jetzt ins Wohnzimmer gehen und mich schlafen lassen. Sie wollen euch auch verwandeln, damit sie sich mit euch unterhalten können. Sie fragen, ob euch das recht ist."
"Das überlegen wir uns noch", kam Jutta heran. "Schlaf schön jetzt, mein Kleiner. Das war ja alles ganz schön anstrengend für dich. Gute Nacht." Sie küßte ihn.
Als sie noch ganz betäubt von dem Gehörten im Wohnraum Platz genommen hatten, verschwand plötzlich Jutta vor Ingberts Augen. Er war nicht mehr überrascht, nein, er erwartete im nächsten Moment das Gleiche bei sich selbst. War aber nichts damit.
Zuschick hatte sich in Jutta verwandelt. So wie seinerzeit, als sie alle in die Proben gefahren waren, um sie wegtransportieren zu können. In dieser Form konnte er den menschlichen Körper jederzeit ohne Hilfe wieder verlassen. Mutun klärte Jutta über das Vorhaben seines Volkes auf. Berichtete auch über den schrecklichen Mißerfolg, den sie hatten und daß sie nach einem Weg suchten, den Verfolgungen ein Ende zu bereiten. Endlich, nach ziemlich langer Zeit, wurde Jutta wieder transparent, saß gleich darauf wieder lebendig neben ihrem Mann.
"Entschuldige, daß es so lang gedauert hat", sagte sie. "Mutun - oder Onkel Bert, wenn du so willst, hat mir eine Menge erzählt. Er will noch einen von seinen Leuten herbringen, der sich in dich verwandeln soll, damit wir uns alle zusammen unterhalten können. Jetzt sollen wir erst mal schlafen gehen, er sagt uns durch Jan Bescheid, wenn er wieder da ist."
"Schlafen gehen! Wenn wir das noch können!" zweifelte Ingbert, aber sie taten, wie ihnen geheißen wurde.
Sie fanden beide keinen Schlaf. Jeder von ihnen tat sein Bestes, um sich ruhig zu halten und den anderen nicht zu stören. Doch was da geschehen war, dieses Unnatürliche, Unerklärbare, Unglaubliche hatte sie zu sehr aufgewühlt, rumorte immer noch in ihren Köpfen. Ja, auch in ihren Seelen. Wie sollte man mit solchen Dingen fertig werden? Jan nahm diese Zustände als ganz natürlich hin, für ihn hatte das Ganze höchstens Unterhaltungswert. Seine Mutter aber kämpfte mit Panikanfällen, lag bewegungslos und schweißgebadet neben ihrem Mann. Wann würde es diesen Wesen wieder einfallen, sie einfach verschwinden zu lassen? Was hatten sie wirklich vor? Jan sollte Bescheid sagen, wenn Onkel Bert zurück war. Dann sollte auch Ingbert in diese unsichtbare Welt eintauchen. Und sie konnten nichts dagegen tun. Wie sich wehren? Eine unsichtbare Familie - es drängte sich ihr der Gedanke auf, daß es vielleicht besser wäre, sie würden einem dieser Morde zum Opfer fallen, als so weiterleben zu müssen. Als es Tag wurde, stand sie leise auf und schlich sich in den Garten. Dort, in der taufeuchten Natur, hoffte sie ihr Gleichgewicht wieder zu finden.
Auch Ingbert lag da wie ein Klotz, hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und grübelte. Seine Frau war ihm noch fremder geworden seit letztem Abend. Er wollte mit dieser ganzen Sache nichts zu tun haben. Zwar hatte er im Laufe seines Forscherlebens schon vieles entdeckt und erlebt, was unglaublich schien und doch war es real. Aber dies hier, daß man mit Geistern sprach, daß die bereits seit Jahren zum eigenen Haushalt gehörten wie ein Familienmitglied, das ging zu weit. Sein Verstand weigerte sich, das zu akzeptieren. Irgendwann zog ihn aber doch der Schlaf in seinen Bann. Bewegungslos wie er war und verdüstert nahm er seinen Zwiespalt mit hinüber und versank in traumlose Unendlichkeit.
Der Widerspenstige erwachte erst, als die Sonne bereits hoch stand und sein behagliches Haus durchflutete. Er blieb noch eine Weile so liegen, überdachte, wie er jetzt gleich mit seiner Frau umgehen sollte. Die Arme konnte ja auch nichts dafür. Sie war selbst unglücklich. Ingbert rang sich zu einem Lächeln durch, wandte den Kopf. "Na? Gut geschlafen?" wollte er sagen. Aber das Bett an seiner Seite war leer. Hatte er wirklich nicht bemerkt, daß sie aufgestanden war? Oder lag sie schon wieder unsichtbar an seiner Seite? Er langte vorsichtshalber hinüber. Nichts. Auch keine warme Stelle, wo sie hätte gelegen sein können. Nein, das hielt er nicht aus. Auf keinen Fall. Keine Sekunde länger. Was hatte dieser Mu, Muuhh - ach was, zum Teufel, dieser Onkel Bert gestern gesagt? Er wollte noch einen von seiner Sorte holen und auch ihn selbst unsichtbar machen? Um sich unterhalten zu können. Nein, nein und nochmals nein. Fortscheren soll er sich mit seiner ganzen Brut. In Ruhe sollen sie ihn lassen. Ihn und seine Familie. Wo ist Jutta? Hat es überhaupt einen Sinn, sie zu suchen? Vielleicht steht sie neben ihm, kann sich bloß nicht bemerkbar machen.
Jan! Der könnte helfen. Der Junge sieht sie ja, die Bagage. Ingbert sprang auf, lief ins Kinderzimmer. Es war leer. Natürlich, um 10 Uhr morgens. Doch daran dachte der Ergrimmte gar nicht. Ein unheimliches Gefühl erfaßte ihn. Er tappte in die Küche, setzte sich auf einen Stuhl. Da erst bemerkte er einen leeren Becher, ein Teller mit Bröseln daneben. Das war Jans Gedeck. Ingbert kam wieder zu sich. Ein böser Spuk war das gestern. Erst mal frühstücken, dann normalisierte sich wahrscheinlich alles wieder.
Jutta hatte sich inzwischen längst um ihren Sohn gekümmert, mit ihm gefrühstückt und als Papa immer noch schlief, war sie mit ihm in den Wald gegangen. Nur, um nicht zu stören. Er hatte wohl auch eine schreckliche Nacht hinter sich, brauchte seinen Schlaf. So kam es, daß es statt zu einer Aussprache nur noch zu einer größeren Anhäufung von Mißtrauen, Wut und Abwehr kam.
Salmann begab sich in sein Arbeitszimmer. Was sollte er sonst auch tun? Noch saß er unentschlossen auf seinem Stuhl - da hörte er das fröhliche Gezwitscher seines Sohnes von draußen her und Juttas vertraute Stimme. Ein warmes Gefühl überflutete ihn. Sie waren wieder da, ganz normal, wie immer. Nein, nichts konnte sie voneinander trennen. Die Liebe war stärker als alles, was grade auf sie einstürmte. Sie würden das überwinden. Gemeinsam würden sie das. Jawohl.
Gleich drauf ein fröhliches Wiedersehen, vertraute Liebkosungen - die Salmanns waren wieder eine Einheit. Jan bestürmte seinen Vater, doch alle zusammen einen kleinen Rundflug zu starten. Er wollte sein neues Navigationsgerät ausprobieren. Seinen Eltern kam das gerade recht. Es war ein herrlicher Morgen, die Luft klar, das Navi funktionierte ohne Störungen. Jan war glücklich. Kurzerhand wurde beschlossen, den Tag außer Haus zu verbringen. Jan durfte die unmöglichsten Ziele anpeilen, sein Vater segelte mit dem Kleinen durch die Lüfte, flog halsbrecherische Kapriolen, unterwarf sich aller Willkür, die sich der Junge ausdachte. Jutta lachte dazu und war erleichtert. Sie setzten auf abenteuerlichem Gelände auf, weitab von jeder menschlichen Behausung. Mitten in einem Felsenkindergarten stiegen sie aus, unter ihnen der hohe Wald. Hinein ging's ins Abenteuer, Jan mit seinem Navi immer voraus. Es wurde ein faszinierender Tag. Mit knurrenden Mägen suchten sie sich zurück zum Airset, peilten irgendeine Ortschaft an, aßen dort und nahmen dann wieder Heimatkurs auf. Immer noch sein Gerät in der Hand, verließ Salmann junior das Fahrzeug, eilte aufs Haus zu. Jutta und Ingbert folgten. Eng umschlungen, ausgesöhnt und verliebt wie am ersten Tag.
Da ertönte Jans begeistertes Geschrei. "Onkel Bert, Onkel Bert, weißt du, wo wir heute waren? Hier ist alles drauf, ich zeig's dir gleich, schau mal!" Und schon war der Junge in einer schattigen Ecke des Grundstücks verschwunden.
Ingbert und Jutta sahen sich an. Es war nicht vorbei. Nichts war vorbei. Die Geister warteten auf sie. Schweigend betraten sie ihr Heim.
Hinter sich riesengroßes Geschrei ihres Sohnes. "Mami, Papi, kommt doch! Schaut mal, was da ist! Da ist ein Reh, ein richtiges Reh!"
Tatsächlich, da hinten in der Kühle des Gebüsches lag ein Reh im Gras. Vollkommen erschöpft. Es wollte sich erheben, davonlaufen. Ging nicht, es krachte wieder zusammen. "Mein Gott, woher kommt das denn? Wieso ist es so k.o.?" fragte Jutta erschüttert.
"Das kommt von Gehru. Der ist mitgekommen wegen Papi", klärte Söhnchen auf.
"Wer ist denn nun wieder Gehru?" erboste sich der Hausherr. "Was bekommen wir denn noch alles angeschleppt? Es ist genug - hört ihr, es i s t g e n u g !!" schrie er wütend in Richtung Gebüsch. Verschüchtert stand der Junge neben dem Reh.
"Schafft mir das Ding vom Hals! Und dann raus mit euch, habt ihr verstanden? Alle raus und kommt nie mehr in mein Haus! Nie mehr!" Der Mann war außer sich. Jutta den Tränen nahe. Wie sollte das denn gehen? Hatte Ingbert denn vollkommen den Verstand verloren? Sie wollten doch helfen, die Unbekannten.
"Beruhige dich doch!" faßte sie ihn am Arm. "Komm erst mal rein. Alles wird sich finden." Und zu Jan: "Bring dem armen Tier doch erst mal Wasser. Dann wird es sich schon wieder erholen." Jan lief davon.
Kurze Zeit danach kam Jan zu seinen Eltern ins Wohnzimmer. Ganz ungewohnt setzte er sich ihnen gegenüber auf einen Stuhl, sah sie ernst an.
"Darf ich euch jetzt was fragen?"
"Na los", sein Vater.
"Mutun hat Gehru mitgebracht, Papi. Der will sich in dich verwandeln, damit wir uns alle miteinander unterhalten können. Willst du?"
"Dann sag ihm, deinem Gehru, daß er sich zum Teufel scheren soll. Ich werde nicht verwandelt, verstanden? Unterhaltet ihr euch, wenn ihr wollt. Mich laßt damit in Ruhe. Will nichts davon wissen."
Jan ganz kleinlaut: "Es ist aber wichtig, sagt Onkel Bert - Mutun. Er sagt, er will euch alles erklären und dann könnt ihr entscheiden, was zu tun ist."
"Dann soll er es dir sagen. Mich und meine Frau hält er da raus. Sag ihm das."
"Er hat's doch schon gehört, Papi. Er versteht alles, was wir reden."
"Also, dann laß dir's schon erklären, wenn's denn sein muß."
Jan beobachtete aufmerksam eine Stelle hinter seinen Eltern. Dann legte er los.
"Zuerst müßt ihr wissen, wie das mit denen geht. Sie können in irgendeinen Körper hineinfahren und sich dort halb auflösen, so daß sie sich im ganzen Organismus ausbreiten. Das machen sie mit ihrer halben Energie und dabei wissen sie fast nichts mehr von sich. Dann sind sie das, worinnen sie gerade stecken. Sie können nur wieder da heraus, wenn der Körper stirbt oder wenn ein anderer Kollege sie mit seiner Energie daraus befreit. Gehru war in einem Rehkörper. Gehru heißt ‚Geruhsamkeit’, sagt er."
Hier mußte das Kind tief Luft holen und sank erst mal auf seinem Stuhl zurück. Es dauerte nicht lange. "Gehru sagt, er wurde gejagt und er hatte furchtbare Todesangst. Und deswegen hat sich seine Energie wieder verdichtet, so daß er selber aus dem Reh hätte herauskommen können. Er hat sich aber nur mit seiner ganzen Energie in es verwandelt und dabei wird man unsichtbar. So ist er dem Jäger entkommen und als unsichtbares Reh herumgeschwebt. Mutun kam zufällig dazu, hat ihn aufgefangen und hierher gebracht. Gehru sagt, er wäre bereit, sich in den Papi zu verwandeln, damit sich alle miteinander unterhalten können."
"Nein, kommt nicht infrage", brauste Ingbert auf.
Jan machte ein trauriges Gesicht. Müde war er auch. "Wird es nicht zuviel für den Jungen, Ingbert?" sorgte sich Jutta. "Sieh nur, wie erschöpft er aussieht." Der sah das ein.
"Komm, wir wollen aufhören mit diesem blödsinnigen Spiel, Jan. Geh schlafen. Und morgen sagst du deinen Gespenstern, sie sollen abziehen." Salmann hatte sowieso keine Lust mehr, sich das weiter anzuhören. Er wollte endlich seine Ruhe haben und seinen Feierabend. Doch sein Sohn setzte sich kerzengerade hin und wies seinen Vater zurecht.
"Das ist kein blödsinniges Spiel, Papi. Und schlafen kann ich jetzt sowieso nicht. Onkel Bert sagt nämlich, daß es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis auch wir an die Reihe kommen. Er hat gesehen, daß überall auf der ganzen Welt gemordet wird und besonders die Kinder. Er möchte, daß du durch die Medien zu den Leuten sprichst und ihnen erklärst, daß die Wesen vom Kristallstern uns nur kennenlernen wollen. Du sollst fragen, ob die Menschen einverstanden sind, wenn sie mit ihnen zusammenarbeiten. Sie würden sich auch aus allen irdischen Wesen zurückziehen, wenn man ihnen irgendwo alles genau erklärt, was sie wissen wollen. Sie könnten uns auch vieles über andere Welten erzählen, meinen sie."
Der Genealoge schüttelte den Kopf. "Das wird nicht gehen, mein Lieber. Man würde mich ja für verrückt halten, wenn ich mit solchen Märchen in die Öffentlichkeit trete. Ich, der große Ingbert Salmann, habe den Vorzug, persönlich mit den Außerirdischen zu verkehren. Ich bekäme eine eigene Fernsehshow, in der ich die Außerirdischen vorführen dürfte, ja, das wahrscheinlich. Aber ernst nehmen würde mich niemand. So etwas bedeutet nur noch eine weitere Gefahr für uns. Unser Leben wäre keinen Pfifferling mehr wert. Außerdem - wie sollen wir jemals erfahren, daß sie sich tatsächlich zurückgezogen haben? Nein, das geht nicht. Am besten, sie gehen gleich wieder nach Hause. Ich denke, sie haben genug gesehen von der Erde, so lange, wie die schon hier sind."
Der Kleine sah wieder der Reihe nach die drei Gestalten hinter Mami und Papi an. Sein Gesichtchen wurde immer trauriger.
"Sie gehen jetzt fort und sie sind tief gekränkt. Du hast sie sehr beleidigt, Papa." Der Junge wandte sich ab und verließ das Zimmer. Als wäre er selbst der Beleidigte gewesen. Kein Wort mehr an seine Eltern. Auch Jutta fand später, als sie ihn zu Bett bringen wollte, keinen Zugang zu ihm. Jan wollte auch von ihr nichts mehr wissen. Es war, als hätte er einen Schritt aus seiner Kindheit gemacht. Zur Seite gewandt lag er in seinem Bett. Als Jutta sich ihm zärtlich nähern wollte, zog er die Decke über sich, sagte nur: "Zuschick geht auch nicht mehr in dich hinein. Er will nicht mehr. Er hat genug von dir. Sie sind schon weg."
Verstört kehrte die Verschmähte zu ihrem Mann zurück.
Nichts mehr war wie früher. Dieses letzte Ereignis schien die gegenseitige Entfremdung endgültig besiegelt zu haben.
Während Jutta immer noch nach einer Möglichkeit suchte, doch noch auf den Vorschlag der Unsichtbaren einzugehen, brach Ingbert jedes Gespräch in der Richtung sofort ab. Er ärgerte sich darüber, daß seine Frau sich überhaupt damit befaßte. Nach jedem solchen Versuch zog er sich mehr von ihr zurück. Er bereute bereits tief, sich überhaupt näher mit ihr eingelassen zu haben. Sie zu heiraten! Er hätte sie Edda überlassen sollen. Oder sie bei Prof. Liebrecht einquartieren. Die hätten das einzig Richtige mit diesem Wesen gemacht. Es erst auf Herz und Nieren geprüft und dann ihre Neuentdeckung ganz groß herausgestellt. So wie frühere Knochenfunde dieser riesigen Fossilien zum Beispiel. Eine Menge Geld hätte man damit machen können. Ganz abgesehen von der Reputation ihres Instituts. Alle hätten sie davon profitiert. Aber nein, er mußte sich in diese Kreatur verlieben, sie behüten und vor aller Welt beschützen. Wie konnte ihm das nur passieren! Ihm, dem kühlen Wissenschaftler, dem absolut realen Denker. Hatte er tatsächlich geglaubt, ihrer beider Leben könnte in ganz normalen Bahnen verlaufen, wenn sich die anfängliche Begeisterung der Leute gelegt hatte? Schien wohl auch so, da sich ja niemand mehr für Juttas Kurse interessierte. Nein, er hätte es sich denken können. Besonders nach den Erlebnissen in jener Nacht, als die Schwangere vor seinen Augen verschwand. Und als es bei Jans Geburt wieder passierte. Zum Glück besaß er jetzt Durchblick. Er sah die ganze Realität seiner Beziehung zu dieser Frau. Im Grunde kannte er sie nicht. Würde er sie nie wirklich kennen. Sie hatte in seiner Welt als Tatsache nichts zu suchen. War und blieb eine Art Fossil aus vergangenen Zeiten mit der ihm gebührenden Bewertung. Erforschung war bereits erfolgt, nun war ihr Platz in einem Museum oder Ähnlichem, jedermann zugänglich. Prof. Liebrecht würde schon was Passendes einfallen. Dr. Salmann aalte sich richtig in derlei Vorstellungen. Seine Liebe rutschte ab, hatte nur noch einen Platz als Erinnerung in einem seiner persönlichen Datenträger. An Jan hatte er dabei nicht gedacht.
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Das Leben des Jungen hatte seit der Begegnung mit den Leuten vom Kristallstern einen Knick bekommen. Seine große Freude über das Wiedersehen mit 'Onkel Bert', seine Aufgeschlossenheit Zuschick und Gehru gegenüber - alles war ganz plötzlich ausgelöscht worden. Er hätte gerne mehr über sie erfahren, mit ihnen zusammengelebt. Und dann die brüske Ablehnung seines Vaters. Er begriff sehr wohl die Kränkung, die diesen Besuchern aus einer anderen Welt zugefügt worden war. Sie waren voller Freundlichkeit und guten Absichten den Menschen gegenüber, und dann diese bösen Worte. Womit hatten sie es verdient, davongejagt zu werden wie räudige Hunde?
Nun, der Alltag ging weiter. Oberflächlich gesehen hatte sich alles wieder eingerenkt. Salmann hatte seinen Jungen gefragt - widerwillig! - ob seine unsichtbaren Freunde nun wirklich verschwunden wären. Die Antwort war nur ein knappes 'Ja'. Auch Jutta hätte gerne mehr gewußt über das Verhältnis ihres Sohnes mit diesen Wesen. Auch, ob sie vorhatten, sich wieder in ihren Körper zu integrieren. Das vor allem beunruhigte sie, machte sie unsicher. Jan ließ sich auch diesesmal nur zu einem kurzen 'Nein' herab, nichts weiter. Weiteren Fragen ging er aus dem Weg, lenkte ab. Nie wieder hörte man sein fröhliches Gejuchze, kein Wort mehr über Onkel Bert.
"Ist doch ganz normal bei einem Jungen in seinem Alter", meinte Ingbert seiner Frau gegenüber. "Gottseidank hat er diese kindische Phase jetzt überwunden. Sei doch froh!"
Jutta war nicht froh. Ihr Kind entglitt ihr mit jedem Tag mehr. Jan entdeckte bewußt seine Intelligenz, die Möglichkeiten, die ihm sein rascher Geist eröffnete. Es war ganz natürlich, daß er sich nun mehr seinem Vater zuwandte. Seinem großen Ideal und Vorbild. Die Reiterausflüge wurden Vergangenheit, Jan drängte vielmehr darauf, ihm möglichst bald diverse Sensoren zu integrieren, er verlangte Schnittstellen in seinem Gehirn, wollte alles genauso haben wie sein Vater und noch mehr.
Der vertröstete den Wißbegierigen. "Da mußt du schon noch eine Weile warten, bis deine Organe ausgereift sind, mein Junge. Aber bis dahin kannst du dich schulen, deinen Geist und deine Zellen darauf vorbereiten. Die vergessen nichts, verlaß dich drauf! Wenn es soweit ist, daß dir Fremdprogramme eingepflanzt werden, wirst du d e r Superstar. Am besten, wir suchen eine Schule für dich aus, die dich in dieser Richtung vorbereitet."
Das taten sie mit Feuereifer. Die beiden waren so sehr damit beschäftigt, daß die arme Mutter ganz in den Hintergrund trat. Ingbert nahm seinen Sohn sogar hin und wieder mit ins Labor. Dort beschäftigte er ihn mit vielen Kleinigkeiten, die zu einem zukünftigen Wissenschaftler gehören. Und sei es nur, Instrumente zu reinigen und richtig aufzubewahren. Später durfte er deren Funktionen kennenlernen, bekam sogar kleine Aufgaben von seinem Vater gestellt. Das alles begeisterte Jan ungemein, spornte ihn auch an, seine schulischen Leistungen zu verbessern.
Dann kam der Tag, an dem der Junge sein Elternhaus verließ, um an einer Eliteschule ein vorzeitiges Studium aufzunehmen. Das Kind voller Jubel, sein Vater stolzgeschwellt und Jutta ein einziges Bündel von Trauer und Einsamkeit. Das Ende ihrer aller Gemeinschaft, das Ende aller Liebe?
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Wir müssen zurückkehren zu den einst so enthusiastischen Pionieren vom Kristallstern. Mutun, Zuschick und Gehru hatten sich nach der Vertreibung aus Dr. Salmanns Haus mit den anderen getroffen. Mutun teilte ihnen mit, daß sich seine Familie geweigert hatte, ihn und seinesgleichen anzuerkennen oder sie gar mit ihrer Welt bekanntzumachen. Noch immer lastete der Schimpf auf den Dreien, den ihnen dieser Dr. Salmann angetan hatte.
"Ich fürchte, es wird uns allen so gehen, sollten wir uns den Menschen offenbaren", gab er kleinlaut zu verstehen. "Nichts als Unruhe haben wir gestiftet, Chaos überall. Sollen wir so die Erde verlassen und unseren Wissenschaftlern gegenübertreten? Nichts ist zu Ende geführt, wir hätten uns gar nicht erst in diese Kreaturen zu verwandeln brauchen, wenn wir jetzt so zurückkehren müssen, ohne endgültiges Ergebnis. Was meint ihr, was sollen wir tun?"
Erst mal betroffenes Schweigen, dann kamen von allen Seiten Vorschläge, Einwände, Wutausbrüche. Mutun gebot Ruhe. "So, und jetzt ein Vorschlag!" forderte er auf.
"Wir versuchen es bei anderen Familien noch einmal", meinte einer. "Es müssen ja nicht alle so verstockt sein wie bei deinen Leuten".
"Und wenn das Morden dann noch schlimmer wird? Nein, die wollen uns hier nicht haben, damit müssen wir uns abfinden", meinte Mutun.
Eine andere Stimme: "Wir gehen zurück und fragen die Weisen. Sollen die sich doch gegenseitig umbringen hier, das haben sie sowieso schon immer getan!"
"Nein, so können wir das nicht stehenlassen!" ein anderer. "Wir haben all das Unglück veranlaßt, wir müssen es auch wieder in Ordnung bringen. Früher können wir nicht zurück!"
"Ja, wie denn? Wenn sie uns einfach nicht verstehen wollen, wenn sie jeden totschlagen, der nur in den Verdacht kommt, mit uns was zu tun zu haben!"
Sie waren alle sehr unglücklich und ratlos. Keiner traute sich mehr so recht zurück in die vorher besetzten Körper. Zumindest die nicht, die sich in Menschen verwandelt hatten. Was sollte man nur tun?
All die Verzagtheit ging Mutun schließlich auf die Nerven. "Nein, Leute", sagte er, "wir bringen zu Ende, was wir uns vorgenommen haben. Die Menschen merken nichts davon, wenn wir uns in ihren Körpern aufhalten. Jeder muß nur aufpassen, daß es nicht wieder zu Unsichtbarkeitsfällen kommt. Egal, was passiert, das darf nicht mehr vorkommen. Und wenn ihr sterben müßt mit denen, ihr müßt drinnen aushalten bis zuletzt. Bis fast zuletzt, so wie es ausgemacht war. Nur dann können wir uns ein vollständiges Bild von den Zuständen hier machen. Und jetzt auf, jeder begibt sich wieder dahin, woher er gekommen ist."
Sie beugten sich diesem Entschluß, schwirrten auseinander und suchten wieder jeder seinen Menschen- oder Tierkörper auf, aus dem er sich entfernt hatte. Natürlich in Begleitung eines Pioniers, der den Integrierten am Ende aus den Körpern wieder heraushelfen sollte.
Zuschick erschien wieder im Hause Salmann, ließ sich von Mutun in Juttas Körper transferieren, verschmolz wieder mit ihr, war wieder sie, mit all ihren Gefühlen, Freuden und Leiden. Mutun wich nicht mehr von ihrer Seite.
Nur Jan war nicht mehr da.
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Die Jahre vergingen. Die Salmanns führten schon lange kein so richtiges Familienleben mehr. Seit langem schon bemerkte Jutta bei ihrem Mann ein Nachlassen der Fürsorglichkeit und des öfteren eindeutiges Interesse an anderen Frauen. Er hingegen setzte mittlerweile als selbstverständlich voraus, daß seine Frau dies akzeptierte und freundlichen Umgang mit diesen 'Teilhaberinnen' pflegte. Ingbert meinte jedesmal, sie könnte nur davon profitieren, weil es lauter geistig rege und individuelle Persönlichkeiten waren. Diese Gepflogenheiten waren zwar üblich, für Jutta aber immer noch nicht nachvollziehbar. Sie litt unendlich darunter, daß ihr ihr Mann und die festgefügte Welt, die er für sie beide errichtet hatte, allmählich entglitt. Ingbert lebte jedoch lediglich nach den Regeln, die seit Jahrhunderten galten und glaubte, auch seine Frau hätte sich inzwischen daran gewöhnt.
Der Doktor vernachlässigte seine Frau sträflich. Er war höflich und aufmerksam wie immer, doch auf eine distanzierte Art, keine Spur mehr von Herzlichkeit oder gar Zuneigung. Jutta kam sich vor wie eine Ausgestoßene und das war sie ja auch. Ihr Mann, der sie einst beschützen wollte vor aller Welt, glänzte meist in Abwesenheit. Mal machte er mit seinem Chef eine Geschäftsreise, ein anderes Mal war eine kleine Expedition zu einem fast ausgestorbenen Völkerstamm in irgendeinem anderen Erdteil angesagt. Auch Edda war mit von der Partie und danach hatten die beiden wochenlang mit der Auswertung ihrer Mitbringsel zu tun. Natürlich an ihrer Arbeitsstätte. Jutta trat vollkommen in den Hintergrund. Sie fühlte sich verletzt, ausgestoßen, verlassen von aller Welt. Am liebsten wäre sie ihrem Gefühl gefolgt und hätte sich von Ingbert getrennt. Ihn einfach verlassen. Auf und davon gehen, auf Nimmerwiedersehen. Doch wohin bei ihrem Ruf?
Sie war begehrt, das wußte sie. Wenn sie es nur gewollt hätte, im Nu wäre sie wieder im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses gestanden. Sie hätte sich diskret mit dem Geheimnis ihrer mysteriösen Herkunft umgeben können, das Ganze ein bißchen ausbauen. Damit konnte man Werbung machen, Verkaufsschlager ohne Ende starten.
Was sollte sie nur tun - ohne Ingbert? Ohne ihn fühlte sie sich in dieser Welt immer noch unsicher. Sie hatte nicht die Gabe sich zu vermarkten. Auch kannte sie nicht die Praktiken, wie man sich gegen die Werwölfe des Kommerzes da draußen zur Wehr setzte. Jutta war so unglücklich, daß sie sich lange Zeit außerstande fühlte, irgendetwas Vernünftiges anzufangen. In der ersten Zeit ihres Alleinseins verschlief sie fast den ganzen Tag. Schon kurz nach dem Aufwachen kam ihr wieder ihr ganzes Elend zu Bewußtsein und sie schluchzte vor sich hin. Sah ja keiner. War ja egal. Nachlässig wurde sie auch. Tat nur grade das Notwendigste, um sich am Leben zu erhalten. Allmählich sah sie aus wie eine heruntergekommene Schlampe. Wenn die Haushaltsroboter nicht gewesen wären, hätte alles um sie herum den gleichen Niedergang erlebt.
Doch durch all diese Verzweiflung hindurch drängte sich ihr immer mehr der Grund ihres ganzen Unglücks auf. Zuschick. Und Mutun. Und diese ganze Geisterwelt, von der ihr Mann nichts wissen wollte, die Jan hingegen so vertraut war. Ob sie immer noch eins war mit diesem Wesen? Da drüber mußte sie einmal ernsthaft nachdenken. Jutta hockte sich ins Eck ihrer Lieblingscouch, zog die Knie an und brütete. Ihre ungepflegten Haare baumelten in Strähnen drum herum, ihr vernachlässigter Körper strömte einen unangenehmen Duft aus, die bloßen Füße hinterließen schmuddelige Flecken auf dem Ruhelager. So saß sie da und grübelte. 'Wenn du in mir bist, Zuschick, dann melde dich doch. Ich bin so allein', sagte sie zu sich selbst und schnüffelte schon wieder, weil ihr die Tränen kamen. Die kamen überhaupt viel zu oft.
Zuschick spürte das. Er barst fast vor Mitleid mit ihr. War er doch so fest mit diesem Körper verbunden, daß er sich selbst empfand, als wäre er die junge Frau. Das übergroße Leid durchdrang sie beide wie eine einzige Einheit - und da geschah es. Plötzlich spürte Jutta etwas in sich, das ihr antwortete. Saß es in ihrem Gehirn, in ihren Adern? In ihren Nervenbahnen? Sie wußte es nicht. Sie fühlte nur, daß etwas anderes in ihr pochte, ihr etwas zu verstehen geben wollte. Nicht ihr eigenes Selbst. Und doch auch wieder sie. Ganz still saß das heruntergekommene Bündel Mensch da. Bewegungslos und in sich versunken. Ihr Geist erinnerte sich wieder ganz klar und deutlich an alles, was ihr Mutun und Zuschick seinerzeit erzählt hatten. Sie war ja gar nicht sie selbst! Nein, ebensogut konnte sie ein Wesen vom Kristallstern sein. Zuschick war sie. Dieser menschliche Körper nicht mehr als eine vorübergehende Behausung. Ja, sie war Zuschick und Zuschick war sie. Die Erinnerung an ein anderes Leben auf dem Kristallstern tauchte auf. Der Frieden dort, die Gemeinschaft. Wie sich jeder um jeden kümmerte und daran, daß ihr zugesichert worden war, sie bald aus diesem Körper zu befreien. Eine große Sehnsucht erfaßte sie. Ihre Gestalt streckte sich aus auf dieser Couch. Aus ihren geschlossenen Augen quollen schon wieder Tränen. Wenn sie doch zurück könnte in ihre Heimat! Zuschick war es jetzt, der sich so ganz und gar verzweifelt fühlte. Er war es und Jutta spürte es als ihr eigenes Gefühl.
"Ja, jetzt weiß ich es endlich", sagte sie zu sich selbst, "ich möchte zurück - zurück nach Hause. Ich hab es nicht gewußt bis zu diesem Tag, wohin ich immer wollte. Jetzt ist es mir klargeworden, was mir fehlt. Es ist meine Heimat. Ach, ihr Lieben, befreit mich doch aus diesem Körper, laßt mich doch wieder bei euch sein! Es dauert schon so lange - wie lange soll ich denn noch so leben?"
Mutun kriegte das mit, diese Jammerei. Energisch schritt er ein. Ließ durch Zuschick seine Meinung kundtun. Jutta fühlte sich plötzlich getrennt von der Einheit ihres Geistes mit diesem fremden Wesen. Oh, nun folgte eine Gehirnwäsche, daß ihr Hören und Sehen verging. Und vor allem das Weinen.
"Was soll das?" sprach Zuschick ungehalten zu ihr. "Du bist eine vielversprechende junge Frau, bist gesund, hast viele Fähigkeiten und Talente und was machst du? Hockst herum und trauerst vergangenen Zeiten nach. Mach doch was aus deinem Leben, nimm die Herausforderung an! Los, steh auf, sei wieder du selbst, mach dich hübsch und trau dich was. Wir beide wollen doch noch was erleben, oder?" Augenblicklich versiegten Juttas Tränen, ein neuer Lebensstrom durchrauschte ihren Körper, ihren Geist, ihre alte Tatkraft erwachte. Sie sprang auf, eilte zum Bad, ließ das Wasser spritzen und wandte sich mit jeder Minute wieder mehr dem Leben zu.
Nun war Jutta ja nicht gerade der Typ Hausmütterchen aus vergangenen Jahrhunderten. Auch wenn sie sich die ersten Jahre nach der Geburt ihres Sohnes liebevoll um die kleine Familie gekümmert hatte. 'Bis zum Erbrechen', wie sie im Rückblick meinte. Sehr viel mehr war ihr am Anfang auch nicht möglich gewesen, da sie vor der Öffentlichkeit um sie herum abgeschirmt war. Bis sie sich damals von Bert einen ersten Überblick über die moderne Technik verschaffen ließ. Von da an ging es aufwärts. Allmählich hatte sie sich Tätigkeiten nach ihrem Geschmack gesucht. Sollte das alles umsonst gewesen sein, nur weil Ingbert in seine alte Lebensweise zurückgefallen war? Oh nein, Jutta brauchte ihn nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Wie weggewischt waren die Zweifel, wie sie ohne den Schutz ihres Mannes klar kommen sollte. Da sie im Lauf der Jahre gut in der modernen Medienwelt zurechtkam, fiel es ihr auch jetzt nicht schwer, Arbeit zu finden. Als Designerin, als Model, als Stilberaterin. Zugegeben, zu Letzterem hatte ihr vor Jahren Edda geraten und sie auch auf einschlägige Seminare hingewiesen. Wie sie überhaupt in jeder Beziehung Juttas engste und beste Freundin geblieben war. Trotz ihrer merkwürdigen Anschauung in punkto Partnerschaft. Als junge, attraktive Frau hatte Jutta selber ihre Erfahrungen mit der modernen Einstellung zwischen den Geschlechtern gemacht. Wobei sie sich allerdings nie zu irgendeiner Untreue durchringen konnte. Das stieß oft auf Unverständnis. Es war durchaus üblich, mit mehreren Partnern ein loses Verhältnis zu haben. Sex war dabei gut und nützlich, führte er doch zu einer Art Vertiefung der Bekanntschaft oder sogar Freundschaft. Jutta war sich sicher, daß ihr Angetrauter jetzt in reichem Maße diese freizügigen Sitten genoß. Man fand nichts Anstößiges dabei. Es berührte sie nicht mehr. Sie hatte längst jeden Kontakt zu diesen Leuten abgebrochen. Lebte ihr eigenes Leben und das nicht schlecht.
Das Kuppelhäuschen, wo Salmanns einst so glücklich gewesen waren, vereinsamte und verkam mit der Zeit. Nachbar Bert war längst ausgezogen, arbeitete andernorts. Die Natur forderte ihren Tribut, überall überwucherten Pflanzen das kleine Anwesen. Der kleine Gartenroboter tat zwar immer noch sein Bestes, doch gegen diesen Wildwuchs kam er nicht auf. Auch Jutta lebte mal da, mal dort, wo sie ihre Tätigkeit eben gerade hinführte. Immer noch schön, bezauberte sie die Menschen durch ihren natürlichen Charme, durch ihren Ideenreichtum. Niemand hätte hinter ihrem zwanglosen Lachen, ihren strahlenden Augen die tiefe Traurigkeit vermutet, die in ihrem Innern wühlte. Nur Zuschick war davon betroffen. Er begriff es nicht, daß dieser Menschenkörper eine Heiterkeit zur Schau stellen konnte, die in nichts seinem betrübten Seelenleben glich.
Wenn es eine gewisse Regelmäßigkeit in Juttas Leben gab, dann waren es die Besuche auf ihrem Reiterhof. Dort atmete sie auf, fand bei langen Spazierritten zu sich selbst, zu ihrer Traurigkeit und Verlassenheit zurück. Es graute ihr davor, noch einmal in das kleine Kuppelhäuschen mit all seinen Erinnerungen zurückzukehren. Hier hatte sie ihre Pferde, nein, ihr Lieblingspferd. Die beiden verstanden sich, mit und ohne Worte.
Jan war ihr entwachsen. Er hatte mit 18 Jahren promoviert, nun gab es zwei Dr. Salmanns in ihrer Familie. Auch er trieb sich in der ganzen Welt herum. Man hörte höchstens durch Medienberichte von seinen Erfolgen oder von seinen Zukunftsplänen. Auch er hatte kein Zuhause mehr.
Ganz am Anfang, als er mit sieben Jahren in diese Eliteschule eintrat, gab es hin und wieder Anspielungen auf diverse Vorkommnisse in seiner Kinderzeit. Das Aufsehen seiner Mutter, von der niemand wirklich wußte, wer sie war, seine Fähigkeit, andere nur mit der Kraft seiner Augen dazu zu bringen, daß sie ihn nicht mehr sahen, das alles war irgendwie mit hinübergerutscht in seine neue Welt. Jan tat das alles ab. Ein kühler Blick, als verstünde er nicht recht, wovon die Rede sei, ließ solche Gerüchte verstummen. Man machte sich lächerlich, wollte man auf dieser Ebene ein Gespräch mit ihm anfangen. Es hatte tatsächlich den Anschein, als wüßte der Junge selber nicht mehr, wovon die Rede war. So sehr hatte er alles, was seine Kindheit betraf, von sich abgestreift. Viel zu früh hatte er den Ernst des Lebens erkannt, griff nach Zielen, die seinem kindlichen Geist eigentlich noch fremd hätten sein müssen. Nein, Jan war von einem unstillbaren Ehrgeiz ergriffen. Die Welt war so voller Wunder und er spürte die Fähigkeit in sich, viele davon aufzuklären. Die Welt war schön. Sie war geheimnisvoll, voller Lebenskraft. Für Jan eine einzige Herausforderung und er genoß sie mit jeder Faser seines Seins.
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Jutta war mittlerweile fast fünfzig Jahre alt. Ihr umtriebiges Leben und der Zwang, sich immer fit zu halten, hatten sie zu einer attraktiven, ja unwiderstehlichen Frau gemacht. Deswegen war sie begehrt in der Welt des schönen Scheins, hauptsächlich in der Modewelt. Nicht etwa wegen ihres dubiosen Erscheinens damals vor vielen Jahren. Etwas Geheimnisvolles umgab sie immer noch. Sie hatte sich nie ganz in die Gepflogenheiten dieser neuen Menschheit eingelebt, war immer Individualistin geblieben. Genau das erwarb ihr den Ruf der Extravaganz, schön war sie ja von Natur aus schon.
Doch der Schmerz in ihrem Innern ließ nicht nach. Er wuchs sogar. Manchmal fühlte sie sich nicht mal in der Lage, ihrer Beschäftigung nachzugehen, vermied jeden menschlichen Kontakt. Sie fühlte sich schwach und elend. Wo war ihr Sohn? Die Erinnerung an ihren Ehemann versuchte sie auszulöschen. Nur schemenhaft tauchte in ihr manchmal noch das Bild einer liebgewordenen Gestalt auf, doch sogleich überschattet von Häßlichem, Fremdem. Sie verdrängte solche Empfindungen. Das jetzige Leben war spannend genug, um Vergangenes vergangen sein zu lassen. Nur der Gedanke an Jan, der ließ sich nicht verdrängen. Ob er seine Mutter ganz vergessen hatte?
Jan hatte während seines Studiums sein Interesse an der Raumfahrt entdeckt. Der wandte er sich nach seiner Promotion ganz zu. Mit zweiundzwanzig Jahren absolvierte der junge Mann die Prüfungen zum Raumfahrer. Als Umwelt-Inspektor überwachte er nun die Reinhaltung der Atmosphäre.
Jutta mochte ihn nicht stören, versuchte gar nicht erst, Kontakt aufzunehmen. Dem Jungen war's wohl recht, bzw. er nahm es gar nicht wahr. Kein Gedanke an solche Nichtigkeiten.
So kam es, daß Jutta eines Tages auf ihrem Reiterhof erschien, matt und elend. Katharina und Jobst, die Betreiber des Anwesens, empfingen sie herzlich.
"So eine Überraschung! Wie schön, daß du dich wieder einmal umschaust bei uns", umarmte sie Katharina. "Dein Orion vermißt dich schon lange. Aber wie siehst du denn aus? Bist du krank?"
Jutta lächelte müde. "Ach i wo denn, laßt mich nur erst mal ausschlafen. Es war ein bißchen viel die letzte Zeit."
Auch Jobst schloß sie in seine Arme, hielt sie eine Zeitlang schweigend fest. Wie gut er nach Pferd roch! Und nach allem hier - Jutta fühlte sich geborgen in seinen Armen. Diesmal wollte sie länger bleiben. Vielleicht für immer - wer weiß!
"Na, komm erst mal rein, du alte Rumtreiberin", sagte er scherzhaft und schob sie sanft in Richtung Haus. Katharina hakte sich bei ihr unter.
"Magst Dampfnudeln, Madl?" fragte sie mütterlich. "Wern grad fertig sein, denk ich. Mit viel Vanillsoß dazu, so wie's d' as immer gern gmecht hast."
Na klar, das erste Hausmittel gegen Depressionen war gefunden. Satt und heimelig fühlte sie sich nach diesem Schmankerl.
"Gut hams gschmeckt, deine Dampfnudeln, Kathi", lobte sie. "Wie daheim. Jetzt noch ein paar Augen voll Schlaf, dann geht's mir wieder gut."
Jutta schlief fast bis zum Abend. Sie hatte sich von sämtlichen Textilien befreit, lag nackt und gelöst in ihrem Bett. Die Ruhe hier, die vertrauten Geräusche des Hofes ließen sie fast sofort in Schlaf sinken. Niemand störte sie, man hatte Verständnis.
Die Sonne war schon am Sinken, als die Heimgekehrte endlich erwachte. "Orion", das war ihr erster Gedanke. Rasch schlüpfte sie in leichte Kleidung, Jeans und T-Shirt, bequeme Schuhe, und ab ging's in Richtung Koppel, wo sich die Pferde um diese Tageszeit noch aufhalten mußten. Vorbei an den Stallungen, wo die Boxen gerade für die Nacht sauber gemacht wurden, frisches Futter aufgeschüttet. Jeder war beschäftigt, niemand bemerkte die junge Frau. Ihr Herz klopfte höher, als sie sich der Pferdeweide näherte. Viele der Tiere hatten sich schon am Gatter aufgestellt, warteten auf die Heimkehr in den Stall. Andere grasten noch, ein paar Jungtiere galoppierten am Zaun entlang. Und dort hinten, da stand Orion, ihr brauner Hengst. Mit hoch erhobenem Kopf, die Ohren spielten, seine Nüstern sogen witternd die Luft ein. Als ob er seine Herrin bereits erwartete.
"Orion!" rief Jutta im Näherkommen, "hallo, mein Alter!" Und schon trabte der Hengst heran, schüttelte sich, schnaubte und wieherte vor Freude. Jutta fiel ihm buchstäblich um den Hals, streichelte seine Nüstern, schmiegte sich an ihn. Und ihr großer Freund erwiderte die Zärtlichkeiten. Er rieb seinen Kopf an ihrer Schulter, teilte ihr mit kleinen schnaubenden und prustenden Geräuschen seine Freude mit, die beiden waren überglücklich miteinander.
"Komm, mein Großer, wir wollen noch ein bißchen Spaß miteinander haben", sagte Jutta schließlich und das Tier verstand, hielt still, während Jutta sich mit einem Satz auf seinen Rücken warf, in die blonde Mähne griff. "Los, Orion, auf geht's!" feuerte sie ihn an. Mit leisem Druck ihrer Fersen gab sie das Startzeichen, und der Hengst flog mit ihr davon. Quer über die Koppel ging's, mit kraftvollem Sprung setzte er über den Zaun und dann ab in die Freiheit. Wie genossen die beiden ihr Zusammensein. Flach nach vorne geneigt federte ihr Körper synchron mit den Bewegungen des Hengstes auf und nieder, ohne Sattel, ohne Zaumzeug. Die beiden brauchten das alles nicht. Wie zusammen-gewachsen liefen sie in die große Freiheit hinein, in das Abendrot, in die große Freude. Sie fühlten wohl auch das gleiche.-
Der Wiedersehensritt nahm kein Ende. Jutta hatte jedes Zeitgefühl verloren. Es gab nur sie beide, die Wiesen und Wälder, die sie durchritten, die Düfte, das Gefühl des Losgelöstseins.
Das Abendrot verblaßte, machte den Schatten der anbrechenden Nacht Platz. Immer noch rasten sie dahin. Endlich gab die Reiterin das Zeichen zum langsameren Trab. Es wurde kühl und sie fröstelte. "Brrr, bleib mal stehen, Orion!" befahl sie. "Wo sind wir eigentlich? Weißt du es?" Der Hengst schüttelte die Mähne, prustete zur Antwort. Dann beugte er sich hinab, um ein paar Maulvoll Gras zu erhaschen. Auch Jutta ließ sich hinunter. "Du hast's gut, Orion, für dich gibt's überall was zu fressen. Ich hab auch ganz schön Hunger. Wird Zeit, daß wir heim kommen." Sie setzte sich ins Gras. Ein paar Minuten sollte der Brave grasen dürfen. Die Dämmerung verhüllte die Landschaft immer mehr. Jutta saß wieder auf. "Lauf zu, mein Guter, du weißt jedenfalls besser als ich, wo's langgeht", tätschelte sie Orions Flanke. Der drehte kurzerhand um und trabte den Weg entlang zurück. Jutta ließ ihm völlig freie Hand, sozusagen. Allmählich fiel er in eine schnellere Gangart, setzte schließlich im Galopp über ein Hindernis hinweg und schwenkte gleich darauf nach links auf eine Wiese ein. Jutta hatte schon beim plötzlichen Sprung über das kleine Hindernis Mühe, sich oben zu halten. Nun brachte sie das Manöver mit dem Linksruck völlig aus dem Gleichgewicht. Sie rutschte zur Seite, versuchte sich in der Mähne festzuhalten und wieder nach hinauf zu schwingen. Der Hengst bemerkte wohl das Dilemma auf seinem Rücken, verlangsamte das Tempo. Jutta hing an seiner Seite, wurde ein paar Schritte weit mitgeschleift und polterte dann unsanft auf den Boden. Blieb liegen und rührte sich nicht mehr.
Bestürzt drehte das Tier um, beschnupperte seine Herrin. Kein Wort, kein Lebenszeichen kam von ihr. Verwirrt und ratlos blieb der Hengst neben ihr stehen. Schnaubte und schüttelte seine Mähne. Plötzlich, als hätte er soeben einen Entschluß gefaßt, hob er den Kopf und lief davon, querfeldein, wie es schien, doch immer in der Richtung, in die er vorhin eingebogen war. Um Jutta wurde es Nacht, innen wie außen. Sie spürte nichts mehr, lag da wie hingegossen, den Kopf zur Seite gedreht. Ein dünnes, rotes Rinnsal sickerte langsam aus ihrer Nase.
Mutun kauerte an ihrer Seite. War es Zeit für Zuschick zu entweichen? Sollte er sein Energiefeld aktivieren? Doch nein, noch nicht! Mutun bemerkte ein schwaches Lebenszeichen. Die Gestürzte atmete noch.
Auf dem Hof hatte man inzwischen Orions Fehlen bemerkt. Man konnte sich natürlich denken, wo er abgeblieben war. Sicherheitshalber ging Katharina in Juttas Zimmer nachsehen. Sie fand es leer.
Als es immer dunkler wurde, begann man sich Sorgen zu machen.
"Lang wart ich nicht mehr, dann ruf ich den Suchtrupp!" kündigte Jobst an.
"Wenn ihr was passiert ist, wär’ jede Minute kostbar", warf Katharina ein. Schweigend ging Jobst hinaus in die Nacht, lauschte ins Dunkel. "Du, ich glaub, sie kommen", wandte er sich um. Und tatsächlich, auch Katharina hörte nun die raschen Hufschläge, die sich näherten. Kurz darauf stand Orion vor ihnen, schweißbedeckt und atemlos. Ohne seine Reiterin. Jobst wollte ihn an der Mähne fassen, ihn zum Stall bringen. Er ließ es nicht zu. Aufgeregt stieg er vorne hoch, schüttelte sich dann, scharrte mit einem Huf auf der Erde, drehte sich um und lief zurück in die Nacht hinaus. Die beiden Eheleute wußten, was das zu bedeuten hatte. Jobst rannte zum Stall, warf sich aufs nächstbeste Pferd, rief seiner Frau noch zu: "Verständige den Rettungsdienst und hol mir den Karl her", und galoppierte Juttas Liebling nach, auch er ohne Sattel, dazu war keine Zeit mehr. Karl, einer der Stallburschen, folgte schon kurz darauf. Trotz der Dunkelheit verfolgte Orion zielsicher seinen Weg. Nach einer knappen halben Stunde hatte er die Unfallstelle erreicht. Er wieherte laut, erwartete ungeduldig die beiden Männer. Nur undeutlich konnte Jobst erkennen, wie es um Jutta stand. Vorsichtshalber berührte er sie nicht. Nun ging alles schnell. Mit seinem integrierten Sensor nahm er Kontakt mit Katharina auf, der Rettungsdienst empfing Signale über seinen Standpunkt. Schon in den nächsten Minuten erschien das Rettungsfahrzeug, leuchtete mit hellen Scheinwerfern den Platz aus. Binnen kurzem war dann die Bewußtlose medizinisch versorgt und auf dem Weg ins nächste Krankenhaus. Dort stellte man einen Sprung am Schädelbasis-Knochen und eine schwere Gehirnerschütterung fest. Das Blut aus der Nase war inzwischen zum Stillstand gekommen. Doch wurde ein Hämatom befürchtet. Immerhin war es gelungen, alle lebenswichtigen Funktionen aufrecht zu erhalten. Jutta schwebte halb im Jenseits und doch mußte sich ihr Körper an die Regeln der Apparate halten, die da sagten: 'Lebe!'
Für Zuschick ein merkwürdiger Zustand.
Katharina hatte zugleich mit dem Unfalltransporter Ingbert und Jan verständigt. Ingbert traf die Meldung auf einem Laborboot in der Nordsee an. Dort überwachte er anhand elektronischer Geräte gerade die Sezierung eines delphinartigen Geschöpfes. Die Mutation früherer Lebewesen dieser Art. Einen Moment lang konnte er es nicht glauben. Jutta dem Tode nahe! Auf der Stelle brach er seine Tätigkeit ab, bestieg das Personaljet auf dem Deck und flog auf schnellstem Wege zur angegebenen Klinik. Beinahe gleichzeitig mit ihm landete Jan auf dem kleinen Landefeld des Klinikums. Er befand sich auf dem Rückflug von China nach München, als ihn Katharinas Sender aufspürte. Die beiden Männer trafen sich im Desinfektionsraum, wo sich Ingbert gerade reinigte.
"Hallo, Papa", die kurze Begrüßung, "was ist mit Mama?"
"Vom Pferd gestürzt und bewußtlos, soviel ich weiß. Wir werden gleich sehen. - Komm!"
Dann standen sie vor Juttas Bett. Wie bleich sie war! Die goldbraune Mähne flutete über das Kissen, bedeckte teilweise Schultern und Arme. Reglos, mit einem friedlichen Ausdruck im Gesicht lag sie da, als lauschte sie auf geheimnisvolle Worte. Eine Schwester überwachte die Funktionen der Apparate, an denen sie angeschlossen war. Ein Arzt betrat das Zimmer. Ernste Begrüßung, Aufklärung über den medizinischen Zustand der Patientin.
"Dr. Salmann, wir brauchen schnellstens Ihre schriftliche Einwilligung zur Operation. Ein Blutgerinnsel muß entfernt werden, das lebensbedrohlich ist. Und außerdem muß der Schädelknochen stabilisiert werden. Wahrscheinlich gibt es noch andere Probleme, wir konnten ihre Frau wegen der schweren Kopfverletzung noch nicht vollständig untersuchen. Wir dürfen sie so wenig wie möglich bewegen."
"Ja, natürlich", stimmte Salmann zu. Er ging mit dem Arzt aus dem Zimmer, um die notwendigen Formulare auszufüllen.
Jan starrte unterdessen unentwegt auf seine Mutter hinab. Einmal hob er die Augen und es lag wie ein Lächeln und wie eine gewisse Zustimmung in seinem Blick. Als sein Vater zurückkam, stand er immer noch unbeweglich am Fußende des Bettes. Wie festgewurzelt. Ingbert berührte ihn an der Schulter. "Komm, Jan, wir müssen gehen. Jutta wird sogleich operiert. Wir stören."
Schweigend verließen sie den Raum, ließen sich von den Korridorgleitern zur Cafeteria bringen. Jan sagte immer noch nichts, fragte nach nichts.
"Die Ärzte haben Hoffnung", begann Ingbert schließlich. "Sie atmete noch, ihr Kreislauf hat sich bereits ein bißchen stabilisiert, seit sie hier ist."
"Jetzt nicht mehr" sagte Jan tonlos. "Mama ist tot."
Ingbert fuhr auf. "Wie kannst so etwas sagen! Das darfst du nicht einmal denken! Die Ärzte tun alles... - und du hast ja gesehen, sie ist ganz friedlich."
"Ist sie auch", gab ihm sein Sohn recht. "Aber sie ist gerade gestorben. Ich hab es gesehen."
"Ach du schon wieder! Hast schon wieder Gespenster gesehen, wie in alten Zeiten, was? Du, das ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann!"
"Spielt keine Rolle mehr, was es für dich ist, Papa. Ob du es nun wahrhaben willst oder nicht, ich hab Mutun gesehen. An Mamas Seite. Er hat sich gerade darauf vorbereitet, Zuschick aus ihrem Körper zu befreien. Mama ist gestorben. Noch bevor sie den OP erreicht hat."
Wieder wollte Ingbert ungehalten auffahren. Doch die Stimme des Arztes kam ihm zuvor. "Herr Dr. Salmann, bemühen Sie sich doch bitte auf Zimmer Nr. 7."
Entsetzt begegnete er Jans ernsten Augen. Sollte der Junge doch recht haben? Doch, ja, bestimmt. Gemeinsam eilten sie zu besagtem Zimmer, der Arzt bat sie, Platz zu nehmen.
"Es tut mir leid, meine Herren, ihre Frau ist soeben verstorben. Wir konnten nichts mehr tun. Sie war bereits tot, als wir sie auf den OP-Tisch legten. So schnell...! Es tut mir aufrichtig leid."
"Ich weiß", sagte Ingbert. Jan saß mit ausdruckslosem Gesicht daneben. Keiner wußte mehr etwas zu sagen. Ingbert fühlte den heftigsten Schmerz in sich aufsteigen, den er je erlebt hatte. Seine Jutta, sein fröhliches Mädchen, es gab sie nicht mehr. Was hatte er ihr nur angetan! Sie allein zu lassen, ganz allein, ohne sich jemals wieder um sie zu kümmern, nachdem sie sich getrennt hatten. Ja, er wollte sie zwingen, sich Liebrechts Führung anzuvertrauen. Sie hatten darüber gesprochen. Er war plötzlich ein anderer geworden nach diesen Gesprächen mit den Unsichtbaren. Wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Und jetzt das! Sie standen auf. "Wollen Sie sie noch einmal sehen?" fragte der Arzt.
"Ja, bitte", antwortete Ingbert. Der Arzt führte die beiden zu der Toten, ließ sie dann allein.
Ingbert rückte einen Stuhl an ihre Seite, nahm ihre Hand, ließ seine Finger liebkosend durchs dichte Haar gleiten. Der Schmerz, die Erinnerungen ließen ihn verstummen. Tränen kamen wohl später. Es schien, als hätte er seinen Sohn vollkommen vergessen. Der stand hinter ihm. Auch er von den widerstreitendsten Gefühlen zerrissen. Hätte er sich doch mehr um seine Mutter gekümmert! Was wußte er schon von ihr, seit er ins Leben hinausgetreten war? Immer war was anderes wichtiger gewesen, als sich mit ihr im Reiterhof zu treffen. Das hatte Jutta hin und wieder mal vorgeschlagen. War dann verstummt und ihre eigenen Wege gegangen. Nun sah er es und es tat ihm unendlich leid. Umso fester stand sein Entschluß. Der Entschluß, den er am Bett der noch Lebenden gefaßt hatte, Aug in Aug mit Mutun, dem Pionier vom Kristallstern. Statt zu trauern und zu weinen vernahm der Vater nun die ausdruckslose Stimme seines Sohnes hinter sich. "Ich gehe mit ihnen, Papa. Ich gehe mit Zuschick und Mutun. Mama ist nicht tot. Sie lebt in Zuschick weiter. Ich weiß es. Und ich will bei ihr sein."
Ingbert wurde richtig wütend. "Kannst du denn nicht mal jetzt mit deinen Phantastereien aufhören, Jan? Es ist doch nicht zu glauben...!"
"Ich gehe mit ihnen", erwiderte Jan nur fest. "Mutun wird mich entmaterialisieren, so wie sie es damals mit Mama gemacht haben, als sie das erste Mal auf der Erde waren. Und in ihrer Heimat bekomme ich meine neue Gestalt."
"Hör auf!" schrie ihn Ingbert an. "Wie kannst du nur! Am Totenbett deiner Mutter! Raus mit dir, verschwinde! So ein Ungeheuer!"
"Leb wohl" sagte Jan nur kurz und ging.
Sie trafen sich nur noch einmal und zwar bei Juttas Beerdigung. Eine unübersehbare Menschenmenge begleitete sie zur letzten Ruhe. Dennoch war es so still, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Liebrecht sprach ein paar Worte, der Totenamtmann schloß sich an. Bewegende und aufrichtige Worte. Es gab keinen Segen. Man wünschte der Toten nur eine gute Reise ins Jenseits und ewigen Frieden alldort. Die Menge war ergriffen. Besonders als sie die tapfere, gefaßte Haltung der beiden Hinterbliebenen sahen. Dr. Salmann mit seinem Sohn – sie ließen die Zeremonie mit versteinerten Gesichtern über sich ergehen. Als alles vorbei war, schritten sie durch die Menge, ohne nach links und rechts zu sehen. Man machte ihnen Platz, achtete ihre Trauer. Keine Kondolationen, keine Abschiedsworte von oder zu irgendjemandem.
Es war vorbei.
Noch einmal steuerten Vater und Sohn das alte Kuppelhäuschen an. Ingbert tat es leid, Jan im Sterbezimmer so hart angefahren zu haben. Er suchte nach ein paar entschuldigenden Worten.
"Jan, trag's mir nicht nach, ja? Ich war so verzweifelt, es tut mir leid...":
"Ist schon in Ordnung, Papa. Ich versteh's ja. Bin auch gleich weg. Was machst du jetzt? Gehst du wieder ins Institut zurück? Und Edda? Sie wär’ am liebsten mitgekommen."
"Das weiß ich jetzt alles noch nicht. Ich muß erst mal zu mir selber kommen. Meine arme Jutta! Ich hab ihr wohl sehr weh getan."
"Ich auch, Papa. - Aber ich geh jetzt. Leb wohl."
Er hielt seinem Vater die Hand hin. Der ergriff sie nicht. "Aber doch nicht jetzt! Wir müssen doch noch reden. Komm, gib uns zwei Tage. Nur wir beide. Ich glaub, das brauchen wir."
"Nein, Papa. Sie warten. Ich geh jetzt. Wir sehen uns nicht wieder. Sollte ich jemals wieder zurückkommen, dann vielleicht in ein paar hundert Jahren. Du wirst schon zurechtkommen. Also, ade jetzt. Mach's gut."
Damit verschwand er durch die Wand, wie es Jutta damals so unheimlich erschienen war.
Er ward wirklich nicht mehr gesehen. Seinen Raumgleiter hatte der Umweltinspektor ordentlich an seinem Standplatz geparkt, seine Arbeit ordnungsgemäß abgeschlossen. Auch Dr. Salmann konnte auf spätere Befragungen nur antworten, daß sein Sohn sich verabschiedet hatte und gegangen war. Wohin genau, wußte er nicht. Man hat ihn nie gefunden.
Der Verlust seiner Frau drückte Ingbert schwer nieder. Trauer, Schmerz, Schuldgefühle, alte Erinnerungen brachten ihn an einen Abgrund, in den er sich am liebsten gestürzt hätte. Doch das Leben ist stärker. Eine solche Verabschiedung läßt es nicht zu. Auch spürten ihn Edda und andere Arbeitskollegen auf, zerrten ihn zurück ins Institut, ließen ihn wieder Interesse an seiner Arbeit finden. Vielleicht gelang es ihm ja irgendwann tatsächlich, die Reststrahlung der Verstorbenen zu verfolgen, sie vielleicht einzufangen, zu speichern, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Was hatte Jan gesagt? Jutta war nicht tot? Wenn er nun recht hatte? Vielleicht, ja ganz vielleicht strahlte ihm eines Tages Antwort aus seinen Geräten, meldete sie sich bei ihm - wer weiß - vielleicht.
Dr. Ingbert Salmann geriet zur Koryphäe auf dem Gebiet der Gehirnforschung. Seiner unermüdlichen Arbeit war es zu verdanken, daß man viele nützliche Entdeckungen machte. Die Medizin erfuhr einen unerhörten Aufschwung, zog andere Gebiete nach sich. Salmann konnte sich auch im Alter nicht von seiner Arbeit trennen. Noch als Neunzigjähriger veröffentlichte er seine neuesten Erkenntnisse. Die Kontaktaufnahme mit seiner verstorbenen Frau war zu einer fixen Idee geworden, von der er allerdings niemanden etwas wissen ließ. Er trug die feste Hoffnung in sich, daß sie sich wiedersehen würden. Oder wiederspüren. Wie auch immer - die Hoffnung stirbt zuletzt, wie es so schön heißt.
Die seltsamen Ereignisse Anfang des dritten Jahrtausends gerieten in Vergessenheit, lebten nur noch als Sagen weiter. Es gab ja so viele Hirngespinste auf der Welt, nun war sie um eines reicher.
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Tag der Veröffentlichung: 08.03.2014
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