Grau. Alles war grau. Die Wände, an denen sie vorbeigingen. Der Boden. Ja sogar sie selbst. Fridolin war einer von ihnen und ihm entfloh ein Seufzen. Sofort wurde er von einem der Ordnungshüter besorgt angesehen. Er blickte ihm kurz in die stechend gelben Augen, umrundet von einem spitz zulaufenden Gesicht, dann sah er wieder gerade aus. Wie viele von ihnen, wusste er, wohin sie gebracht wurden. Er war schon oft dort gewesen und es war schön, doch jedes Mal besaß seine Rückkehr einen bitteren Nachgeschmack. Außerdem hätte er schwören können, bei Sophie wäre alles perfekt gewesen. Er hatte tatsächlich geglaubt, bleiben zu können. Aber Sophie hatte ihn auch vergessen und brauchte ihn nun nicht mehr, so wie viele andere vor ihr. Jetzt hieß es erneut warten. Er hob seine große Hand, drehte sie hin und her. Das schöne satte Dunkelgrün war einem trostlosen Grau gewichen. Vor ihm ging ein menschengroßer Hase mit einem hohen Hut. Auch er war grau. Die Bewegungen der gesamten Gruppe waren mutlos, trübsinnig. Der lange Korridor fand nach einer gefühlten Ewigkeit endlich ein Ende. Im Licht der Sonne, die durch die Fenster schien, kamen ihre Farben ganz blass wieder zum Vorschein. Der Hase vor Fridolin schien blau zu sein.
»Alle aufstellen!«, rief einer der Ordnungshüter und sie blieben stehen, drehten sich in Reih und Glied zur Seite. Vor ihnen schritt eines der Wiesel in einer strengen, grauen Uniform auf und ab, während er redete:
»Jeder von euch füllt wie immer eines dieser Formulare aus, damit wir sicher gehen können, niemanden zu früh wieder nach draußen zu schicken. Vergesst nicht, eure aktualisierte Karte im Amt für auswärtigen Dienst abzuholen. Ich bitte die Neulinge, noch hier zu bleiben. Allen anderen möchte ich nur noch eines sagen: Willkommen Zuhause, Freunde.«
Viele der grauen Gestalten setzten sich in Bewegung und stellten sich an, um eines der dargebotenen Formulare ausgehändigt zu bekommen. Fridolin stand ungeduldig am Ende der Schlange. Er tippelte von einem Fuß auf den anderen, denn ihn plagte ein schlimmes Leid: Er hatte fürchterlichen Hunger. Ein dunkles Grummeln aus seinem Bauch bestätigte das. Der Specht vor ihm drehte sich mit einem verdutzten Blick zu ihm um, bevor er ihn schief ansah und einen Schritt weiter nach vorne ging, als die Schlange sich in Bewegung setzte. Wie peinlich! Warum musste Sophie ihn auch vergessen, bevor er gefrühstückt hatte?
Hinter dem Drachen ertönte immer noch die Stimme des Wiesels, der zu den Neulingen sprach:
»Ihr seid Tagträume und somit die besten Freunde der Kinder, seid stets bei ihnen und steht ihnen Tag für Tag zur Seite. Ihr entsteht durch die Fantasie eben dieser Kinder. Wir nennen sie Patenkinder. Ihr seid ihre Tröster, ihre Beschützer. Doch oft erzeugt die Fantasie auch Böses, geschaffen aus kindlichen Ängsten. Dieses gilt es auszumerzen. Aber wenn eure Patenkinder älter werden, vergessen sie euch und brauchen euch nicht mehr. Sie finden richtige Freunde und werden ein vollständiges Mitglied ihrer Gesellschaft. Dann zieht ihr euch zurück und wartet wieder auf ein Kind, das sich euch herbeiwünscht, um es zu trösten.« Auch ohne hinzusehen, wusste Fridolin, dass der Ordnungshüter sich nach einem Räuspern am hinteren Ende der Reihe umdrehte und diese erneut entlang schritt.
»Ihr seid sicher bedrückt und traurig.« Nicht nur sie, dachte der Drache grimmig. »Das ist ganz normal. Aber lasst mir euch versichern: Auch wenn die Kinder ihre Tagträume vergessen, habt ihr ihnen doch sehr geholfen. Jedes Mal, wenn es soweit ist, kommt ihr hier her zurück.« Fridolin war endlich an der Reihe und ergriff sogleich hastig das Formblatt, welches ihm hingehalten wurde. Er kassierte dafür einen skeptischen Blick des Wiesels hinter dem Tisch, scherte sich jedoch nicht darum und ging beschwingten Schrittes weiter, um endlich den Weg zum Speisesaal anzutreten. Das Formular würde er später ausfüllen. Es konnte warten; sein grollender Magen nicht.
Die langen Gänge glichen beinahe einem Labyrinth, aber er war schon so lange hier, dass seine Füße den Weg bereits von alleine kannten. Der Speisesaal war wohl auch der Raum, in dem er hier mit Abstand die meiste Zeit verbrachte. Sogar mehr als in seinem Zimmer und Drachen mussten viel schlafen. Mit einem erleichterten Seufzen ließ er den grauen Eingangsbereich hinter sich. Je weiter man nämlich in das Schloss hineinkam, desto bunter und farbenfroher wurde es. Zwar war Fridolin noch immer traurig, weil Sophie ihn vergessen hatte, aber die Aussicht auf etwas Leckeres zu essen gab seiner Laune wieder einen Aufschwung.
Er war kurz vor dem großen Saal, da hörte er seinen Namen. Er drehte sich um und sah eine blasse rot-weiße Katze auf ihn zulaufen. Sie blieb erst kurz vor ihm stehen und grinste ihn an.
»Magenta, du auch hier?«, fragte Fridolin seine Freundin.
»Jap, letzte Woche eingetrudelt. Timmy hat mich gegen reale Freunde eingetauscht«, erklärte sie betont nebensächlich.
»Oh, das tut mir leid.«
»Ach was«, winkte die Katze ab, »ist halb so wild. Es hat sich angekündigt, ich konnte mich darauf einstellen, dass er mich nicht mehr lange braucht. Ich bin ja froh, dass er richtige Freunde gefunden hat.« Fridolins Magen knurrte wieder. Sie grinste verschmitzt und sah zu ihm hoch.
»Ah, jetzt weiß ich, warum du hier bist. Dann sollten wir wohl besser im Speisesaal bei einer leckeren Portion Spiegelei mit Speck weiterreden, hm?«, dabei klopfte sie ihm freundschaftlich auf den Bauch. Sie war ein ganzes Stück kleiner als er, aber was sie an Körpergröße einbüßte, machte sie mit Selbstvertrauen wett. Fridolin nickte erleichtert und ging mit ihr zusammen hinein. Vor ihnen erstreckte sich ein wahres Essensparadies. Es waren drei meterlange Holztische mit Bänken zu beiden Seiten im Raum aufgestellt, auf denen sich Berge von Essen türmten. Schnell fanden sie zwei Plätze gegenüber und kaum dass sie saßen, schaufelte sich der Drache einen regelrechten Haufen voller Köstlichkeiten auf seinen Teller. Dagegen sah Magentas Teller beinahe wie der eines Models aus, obwohl sie sich auch ganz schön aufgeladen hatte. Sie sprachen eine Weile über ihre Patenkinder. Es tat gut, sich mit einer Freundin darüber auszutauschen. Nach einer Weile jedoch glitt das Gespräch in stummem Einverständnis ab. Sie beide hatten anscheinend genug über die Menschenkinder geredet. Sie hatten sich beide lange nicht mehr gesehen.
Zusammen gingen sie in den Schlossgarten und setzten sich deutlich fröhlicher auf das grüne Gras. Die Farben der Katze waren bereits wieder ein wenig kräftiger als die von Fridolin. Bei dem Verlust ihrer Patenkinder verloren sie auch ihre Farben und diese kamen nur langsam wieder zurück, genauso wie ihre Kräfte. Im Schloss konnten sie sich ausruhen und nebenbei auch gleich auf ein neues Patenkind warten.
Fridolin folgte einigen Tagträumen mit den Augen, die gerade Fußball spielten. Ein Nashorn stand im Tor, was es den Gegnern ziemlich schwer machte, einen Ball dort hinein zu bekommen.
»Oh, sieh doch!«
Fridolins Aufmerksamkeit wich vom Spiel und richtete sich wieder auf Magenta, die auf irgendetwas zeigte. Er folgte ihrem Deut und entdeckte einen lilafarbenen Tiger, der sie gerade auch zu erkennen schien. Ein verhaltenes Lächeln war zu sehen, als er auf sie zukam.
»Lars!«
»Hallo, Leute.« Er setzte sich zu ihnen. Seine Farben waren ziemlich stark. Er war wohl schon eine Weile hier. Magenta grinste auch ihn breit an und schlug ihm auf die Schulter.
»Nicht so steif, Lars! Wir haben uns ewig nicht mehr gesehen.« Der Tiger zuckte bei dem Schlag zusammen, lächelte sie dann wieder zurückhaltend an.
»Wann seid ihr zurückgekommen? Ich habe euch bisher gar nicht bemerkt.«
»Ich bin schon ein paar Tage hier. Dachte nur, du seist draußen. Fridolin ist erst heute zurückgekommen.« Der Drache nickte zustimmend und freute sich, seine Freunde wieder zu sehen.
Einige Tage später gingen sie zu dritt durch die breiten, bunten Gänge des inneren Teils des Schlosses. Eines der Wiesel kam ihnen geschäftig entgegen und stieß dabei versehentlich gegen Lars, welcher sich an Fridolin festhielt, um nicht umzufallen. Eine Entschuldigung murmelnd hetzte der Ordnungshüter weiter.
»Alles okay bei dir?«, fragte Fridolin seinen Freund. Dieser nickte.
»Ja, alles in Ordnung. Bin nur erschrocken.« Sein Blick blieb auf einem Blatt Papier auf dem Boden hängen. Er hob es auf und drehte sich um.
»Halt, Sie haben etwas ver-«, aber das Wiesel war schon um die nächste Ecke verschwunden und hörte ihn nicht mehr. Fridolin drehte sich auch um.
»Ist es denn etwas Wichtiges? Dann tragen wir es ihm eben nach.«
»Ich weiß nicht…« Lars sah auf das Dokument und überflog es kurz. Magenta hatte sich inzwischen zwischen die beiden gequetscht und starrte ebenfalls auf das Blatt.
»Was-? Habt ihr das gelesen?!«, rief Lars aus, zügelte jedoch sofort seine Lautstärke. Das weckte auch Fridolins Interesse. Was stand da auf diesem Zettel, das keiner hören durfte? Er lehnte sich über Lars und las:
"00-01-75: Rückaktion Nr. 36119 begonnen.
Traumfänger aufgeladen und montiert. Warte auf erste Anzeichen.
00-02-09: Anzeichen vorhanden. Baldiger Abschluss vorhersehbar.
00-04-83: Rückaktion erfolgreich. Proband Nr. 5996 wurde gelungen von Subjekt Nr. 421 getrennt. Versuch der autarken Eingliederung in die Gesellschaft begonnen.
Warte auf Zwischenergebnisse. Weitere Befehle abwarten, hängen vom Verhalten von Proband Nr. 5996 ab. "
»Was soll das bedeuten?«, brach Magenta die Stille, die in den letzten Augenblicken entstanden war, während sie alle gespannt gelesen hatten.
»Ich weiß nicht genau. Aber wer soll dieser Proband sein? Und was für Tests werden hier geführt?« Lars' Augenbrauen zogen sich grübelnd zusammen. Ein Räuspern hinter ihnen ließ sie zusammenschrecken und herumfahren. Vor ihnen stand ein schwarzes Wiesel mit elitärer Haltung. Es hatte die Hände hinter dem Rücken, seine gelben Augen bohrten sich in die von Lars. Dieser sank unter dem starren Blick deutlich in sich zusammen.
»Dürfte ich fragen, was ihr hier herumsteht? Es hat schon zweimal geläutet, das Mittagessen beginnt gleich.«
»Wir sind schon auf dem Weg, nicht wahr, Jungs?«, tönte Magenta bemüht fröhlich und unbeschwert, während sie die beiden anderen versucht unauffällig mit sich wegschieben wollte.
»Moment noch, Fräulein«, hielt das Wiesel sie auf. »Das Dokument, das dein Freund da hat, würde ich gerne zurückbekommen.« Seine Stimme war ruhig, aber es schwang nur zu deutlich mit, dass er keine Widerrede dulden würde. Eine seiner Hände streckte sich ihnen entgegen, wartend, das Blatt ausgehändigt zu bekommen. Lars tauschte einen schnellen Blick mit Fridolin, dieser nickte kaum merklich. Es würde seltsam erscheinen, wenn sie es nicht zurückgaben. Also händigte der Tiger das Dokument aus, welches sogleich von Sir Elrik, dem Ordnungshüter, ergriffen wurde und sicher in seiner Mappe und hinter seinem Rücken verschwand.
»Nun, ich würde sagen, ihr solltet euch zum Mittagessen begeben, bevor alle Plätze besetzt sind.« Mit diesen Worten und einem Nicken ging Sir Elrik an ihnen vorbei und den langen Korridor entlang, bis er hinter einer der Ecken verschwand. Erst dann wagten die drei es, wieder aufzuatmen.
»Bei dem bekommt man ja eine Gänsehaut!«, rief Magenta deutlich unzufrieden mit dem Ausgang der Situation aus.
»Was ist das nur gewesen?«, warf Lars wieder in die Runde. Er sah grübelnd auf den Boden, die Hand am Kinn. Fridolin stand nur ruhig da. Er wusste nicht so recht, was er von all dem halten sollte. Der Text auf dem Blatt war höchst verdächtig, jedenfalls in seinen Augen. Und seine Freunde schienen dasselbe zu denken. Das Verhalten von Sir Elrik war jedoch ganz wie sonst auch gewesen: streng und elitär. In ihren jeweiligen Gedanken versunken gingen sie schließlich zum Speisesaal. Nicht, dass sie noch einmal von jemandem ermahnt würden.
In der Nacht lag Fridolin noch immer grübelnd in seinem Bett. Sein Zimmer war klein, aber immerhin hatte er eines für sich alleine. Mehr als das drachengeeignete Bett und ein Kleiderschrank passten nicht hinein, dafür war er einfach zu groß. Auf dem Rücken liegend starrte er an die Decke. Einige feine Risse veranlassten seine Augen dazu, ihnen zu folgen. Er konnte sich einfach keinen Reim aus dem Dokument machen. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, es zu vergessen. Bestimmt war es gar nicht wichtig und sie interpretierten irgendetwas hinein. Aber es ging ihm einfach nicht aus dem Kopf und das nervte ihn! Wütend schnaubte er. Die Augen von den Rissen in Deckenputz nehmend drehte er sich auf die Seite, mit dem Ziel, endlich nicht mehr daran zu denken und zu schlafen. Aber das klappte nur einen Augenblick.
Denn plötzlich waren schwere, schnelle Schritte vor seinem Zimmer zu hören. Leise Stimmen erklangen. Er verstand nicht, was sie sprachen, aber ab diesem Moment war er wieder hellwach und neugierig. Er setzte sich flink auf. An Schlaf war jetzt sowieso nicht mehr zu denken. Er stand auf und lauschte an der dünnen Tür. Die Schritte verhallten, keine neuen kamen mehr nach. Er öffnete vorsichtig die Zimmertür und lugte hinaus. Seine Augen waren an die Dunkelheit seines Zimmers gewöhnt, da war der spärlich beleuchtete Korridor beinahe blendend hell für ihn. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand mehr in der Nähe war, lief er leise den Schritten nach, welche er nur noch leise aus gewisser Entfernung hörte. Ein paar Ecken weiter hörte er wieder Stimmen. Sie sprachen in normaler Lautstärke. Er erspähte eine Tür, die nur angelehnt war. Das war das Büro von Sir Levis. Leise schlich er dorthin und sah sich noch einmal um, dann stellte er sich an die Tür und lugte zwischen dem offenen Spalt hindurch. Im Raum stand Sir Levis und erhob seine Arme beschwichtigend.
»Elrik, das sind schwere Anschuldigungen von deiner Seite. Dem bist du dir doch bewusst?« Das schwarze Wiesel starrte den älteren Ordnungshüter beinahe entgeistert an, wobei Fridolin dessen Gesichtszüge nur schlecht sah.
»Aber selbstverständlich! Ich sage nur, was ich mit eigenen Ohren gehört habe und Audrey kann das auch bestätigen, nicht wahr?« Er sah neben sich, aber wer oder was dort stand sah Fridolin durch den schmalen Spalt nicht. Die Stimme erkannte er allerdings und so wusste er, wer sich noch mit im Raum befand. Die Stimme war hell, aber streng.
»Ganz genau, Levis. Ich habe es ebenso wie Elrik gehört. Sie plant, zurück zu ihrem letzten Probanden zu gelangen! Und sie hat Hilfe dabei. Das können wir nicht zulassen. Du weißt, was es für Ausmaße mit sich bringt, wenn ein Tagtraum zurück zum Probanden kommt und ihn dazu zwingt, sich an ihn zu erinnern! Es könnte nicht nur passieren, dass der Proband schwere Schäden davon trägt, wir müssten sie natürlich auch-«
»Ich bin mir der Konsequenzen durchaus bewusst, danke Audrey«, unterbrach Levis sie sanft, aber bestimmt. Ein unterdrücktes Grummeln zeugte davon, dass sich Dame Audrey nur ungerne in ihrem Redefluss unterbrechen ließ, aber gegen ihren Vorgesetzten konnte sie nicht einfach aufbegehren. Kurz kratzte sich Sir Levis am Kinn, strich sich über die braunen Haare und schien zu überlegen. Einen Augenblick schien es Fridolin beinahe so, als hätte Levis ihn kurz mit seinen warmen Augen betrachtet.
»Wir müssen sie auf alle Fälle aufhalten. Habt ihr auch erfahren, wann sie diesen Plan in die Tat umsetzten will?«
»Nein, sie hat davor abgebrochen. Ich glaube, sie hat bemerkt, dass wir sie gehört haben. Ich weiß aber nicht, wie viel sie denkt, das wir mitbekommen haben.« Sir Elrik hörte sich zerknirscht an.
»Dann ist davon auszugehen, dass sie entweder aus Angst den Plan verwirft«, Elriks Schnauben hörte sich nicht sonderlich überzeugt von dieser Annahme seitens des höheren Wiesels an, »oder aber sie wird es so schnell wie möglich tun, um unseren Vorkehrungen zuvor zu kommen.«
»Das hört sich schon viel mehr nach ihr an!«, stimmte Dame Audrey zu.
»Am besten, ihr bringt sie gleich morgen früh zu mir.« Nach einer Zustimmung seitens der Ordnungshüter bemerkte Fridolin, der bis dato gespannt und erschrocken den Worten gelauscht hatte, wie im Raum Aufbruchsstimmung aufkam. Schnell wich er von der Tür zurück und sah sich panisch um. Wohin mit ihm? Gleich würde die Tür aufgehen und die drei bemerken, dass sie von ihm belauscht worden waren! Die nächste Ecke war zu weit weg und weit und breit keine andere Tür außer die zum Träumeantiquariat und die war immer verschlossen! Er lief trotzdem zu dieser und griff in stiller Hoffnung nach der runden Klinke, drehte sie und - sie war offen! Rasch hastete er hinein und schloss die Tür sogleich hinter sich wieder. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er draußen die ruhigen Stimmen von Sir Elrik und Dame Audrey hörte. Er bildete sich beinahe ein, sie könnten es hören, weshalb er die Luft angespannt anhielt, bis sie verklungen waren.
Am nächsten Morgen noch vor dem Frühstück klopfte es Sturm an Magentas Zimmertür. Verschlafen stand sie auf und maulte: »Ja ja, ich komme ja schon. Nicht so hecktisch, so früh am Tag!« Als sie die Tür öffnete, zwängte sich sogleich Fridolin an ihr vorbei und fing an, wie ein Wasserfall zu reden: »Ihr glaubt ja gar nicht, was ich in der Nacht gehört habe!« Lars folgte ihm ins Zimmer. Auf einen fragenden Blick seitens der Katze hin zuckte er nur unwissend mit den Schultern und schloss die Tür, bevor sie beide wieder gespannt zu Fridolin sahen. Der erzählte ihnen schnell und ohne Punkt und Komma von dem Gespräch zwischen den drei Ordnungshütern, welches er belauscht hatte. Magenta schien empört.
»Das kann doch nicht sein! Also sind unsere Patenkinder diese Probanden? Und wir dann wohl die Subjekte? Sie trennen uns also ganz bewusst von den Kindern!« Magenta wurde stets lauter, redete sich selbst in Rage. Vorsichtig legte Lars ihr eine Hand auf den Rücken, um sie zu beruhigen, aber sie schlug diese nur mitsamt einem bissigen Kommentar weg.
»Es sieht ganz so aus. Aber wieso? Warum sollte man uns willentlich von unseren Patenkindern trennen? Sie brauchen uns also noch immer, aber sie vergessen uns?« Grübelnd schürzte Fridolin die Lippen.
»Dem müssen wir nachgehen! Gleich heute nach dem Frühstück!« Lars nickte zustimmend.
Doch kaum dass sie Magentas Zimmer verließen, stand ein braunes, großes Wiesel vor ihnen, beinahe als hätte es auf sie gewartet.
»Sir Levis!«
Dieser lächelte den dreien sanftmütig zu. »Ihr habt viele Fragen, nehme ich an? Ich glaube, dass ich euch diese beantworten kann und es so das Beste für alle Beteiligten wäre. Folgt mir bitte.«
Nun saßen sie zu dritt gespannt im Büro des Vorgesetzten.
»Woher-?«
»Woher ich wusste, dass ihr der Sache auf der Spur seid? Ich habe dich gestern Nacht gesehen, Fridolin«, beantwortete Sir Levis ihm seine unausgesprochene Frage. Der Drache sah betreten weg. »Ein Wunder, dass Sir Elrik und Dame Audrey dich nicht gehört haben«, lächelte Sir Levis verschmitzt.
»Die Kinder lieben euch Tagträume. Ihr macht ihnen das Leben leichter. Aber ihr könnt nicht ständig an ihrer Seite bleiben.«
»Warum nicht?«, unterbrach Magenta ihn trotzig.
»Weil die Kinder dann nie die Notwendigkeit sehen würden, sich echte, reale Freunde zu suchen und ein Teil der menschlichen Gesellschaft zu werden. Sie müssen euch also in einem gewissen Stadium verlieren, um zu wachsen und sich zu entfalten. Am angenehmsten ist das für sie, indem sie euch vergessen.«
In der kurzen Stille versank Fridolin in Gedanken. Er verstand, was Sir Levis ihnen versuchte zu erklären. Auch wenn es schwer war.
»Aber warum wird uns dieses Wissen dann vorenthalten?« Das Wiesel seufzte.
»Weil viele Tagträume in der Vergangenheit trotzdem eine so starke Verbindung zu ihrem Patenkind hatten, dass sie nicht einsahen, warum sie gehen mussten. Die Kinder lernten keine sozialen Fähigkeiten, fanden deshalb nie Freunde und waren als Erwachsene von ihrem Tagtraum als einzigen Verbündeten abhängig. Wir hatten keine andere Wahl, als unser System umzukrempeln. Es fällt den Tagträumen nämlich deutlich leichter, loszulassen, wenn sie denken, dass die Kinder sie von sich aus abstoßen.«
»Dann lassen wir die Kinder also einfach im Stich, sobald sie ein gewisses Stadium erreicht haben?« Bekümmert dachte Fridolin bei Lars' Frage an Sophie. Das Lachen von Sir Levis ließ ihn wieder aufsehen.
»Aber natürlich nicht! Wir beobachten sie ihr ganzes Leben lang. Und wenn es ihnen schlecht geht, erlauben wir ihren alten Tagträumen, sie nachts in ihren Träumen zu besuchen und ihnen Mut zuzusprechen.« Er richtete seine Augen direkt auf den Drachen.
»Sophie geht es gut. Sieh selbst.« Er deutete auf einen großen Spiegel an der Wand des Büros. Die Spiegelung darin verzerrte sich, bis er Sophies Zimmer erkannte, das kleine Mädchen saß auf dem Boden, neben ihr ein anderes Mädchen. Zusammen spielten sie mit Bauklötzen. Sophie lachte. Fridolin konnte seinen Blick nicht von dem Bild wenden. Sie sah so glücklich aus.
»Ich weiß, dass sie schüchtern ist. Aber seit sie dich vergessen hat, ist sie ein wenig aus sich heraus gekommen und findet ihre ersten Freunde. Sie wird sicher ein schönes Leben haben. Mach dir deshalb keine Sorgen.« Und Fridolin konnte bei dem Anblick gar nicht anders, als eben diese Worte zu glauben.
Tag der Veröffentlichung: 07.10.2014
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