»Da! Siehst du ihn?« Attur zeigte nach oben in den Nachthimmel und deutete auf einen der vielen Sterne. »Das ist er. Ich habe ihn nach dir benannt und er wird immer für dich leuchten.« Rhez lag neben ihm im Gras und kicherte.
»So ein Unsinn, Tur. Das hast du dir doch eben ausgedacht.« Empört drehte er sich zu ihr.
»Niemals! Ich habe ihn entdeckt, also darf ich ihm einen Namen geben. Außerdem, kennst du die Legende der Seelen im Stern nicht?« Doch, diese kannte wohl jeder. Mütter erzählten diese Sage ihren Kindern gerne. Davon, dass es in jedem Stern unzählige Seelen gab, ungeborene, die eines Tages auf die Welt kamen. Es hieß, wenn man einen Stern für sich beanspruchte und ihn tatsächlich zu seinem Eigentum machen konnte, würde man von allen Seelen, die ihm innewohnen, beschützt, sobald diese auf die Erde kämen. So hatte bereits der Weltenkönig vor mehr als achttausend Jahren die Nichtwesen besiegt und ihre Welt ins Licht geführt.
Rhez kicherte.
»Na wenn du meinst.« Sie drehte sich ebenfalls auf die Seite, sodass sie Attur ins Gesicht sehen konnte und lehnte sich zu ihm vor. Das Gras kitzelte sie im Gesicht. Ihre Lippen berührten ganz sanft seine Wange, welche augenblicklich heiß wurde.
»Danke.« Er zuckte zurück und sah sie leicht verdutzt an.
»Nicht… nicht der Rede wert. Habe ich doch gerne gemacht.« Vorsichtig lächelte er sie an, als wüsste er nicht, ob es in Ordnung war, aber sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und er fühlte sich wieder sicherer. Attur drehte sich zurück auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
»Sie alle leuchten so schön. Denkst du, wir waren auch einmal Bestandteil von einem davon?«
»Wer weiß. Aber die Vorstellung wäre schön. Von dort oben könnte man alles überblicken und man hätte stets viele andere um sich; man würde sich sicher nie alleine fühlen.« Der Wind glitt über das Gras und brachte es in der Dunkelheit, die nur durch das schwache Licht der Sterne erhellt wurde, zum Wogen. Aber es war nicht kalt. Das war es hier nie. Nicht einmal in tiefster Nacht. Ruhig lagen sie nebeneinander und sahen hinauf ins Firmament, jeder seinen Gedanken nachhängend.
Langsam erschien in der Ferne ein flackerndes Licht. Es kam näher und nach einer Weile erkannte man eine Laterne, gehalten von einem jungen Mann. Als er sie entdeckte, kam er direkt auf sie zu und blieb vor ihnen stehen. Sie setzten sich auf und Rhez lächelte leicht.
»Du weißt doch, dass Mutter sich Sorgen macht, wenn du so lange hier draußen bist. Ich soll dich nach Hause bringen«, sprach er zu ihr. »Und dann noch immer in so einer Gesellschaft.« Sein Blick streifte Attur und war kühl; man erkannte deutlich die Abneigung darin.
»Ich weiß, Beldur. Aber die Sterne sind diese Nacht doch so schön!« Rhez stand auf und deutete in den Himmel. Beldur hingegen schenkte den Sternen keine Sekunde lang seine Aufmerksamkeit. Stattdessen drehte er sich um und ging ein paar Schritte.
»Nun komm schon, Mutter wartet auf uns.«
»Ja. Bis bald, Tur!«, rief sie Attur am Schluss noch winkend zu, als sie hinter ihrem Bruder herlief, um im Licht der Laterne zu gehen. Attur hob kurz die Hand und hatte sich aufgerichtet, um ihr nachzusehen. Der Lichtkegel wurde kleiner und verschwand irgendwann hinter einem der vielen Hügel. Er legte sich zurück in die Wiese. Sein Blick war fixiert auf den Stern, den er entdeckt hatte.
»Bitte, pass immer auf Rhez auf, egal was passiert. Scheine hell für sie, auch wenn um sie herum nur Dunkelheit sein mag. Mach, dass ihr Licht niemals erlischt. Ich will nicht, dass sie wird wie all die anderen.« Ein trauriger Ausdruck ergriff Besitz von seinem Gesicht. Er wollte sie nicht verlieren…
10 Jahre später…
Die Fransen des Besens stachen in sein Gesicht.
»Na los, feg schneller, schneller!« Höhnisches Lachen erklang und dröhnte in seinen Ohren, als sein Kopf gegen den Boden gedrückt wurde. Er kniff seine Augen zusammen, um sie vor den Fransen des Besens zu schützen, den einer der Söhne des Hauses ihm ins Gesicht drückte.
»Ich kann nicht fegen, wenn Ihr mich auf den Boden drückt«, brachte er heraus. Seine Hände hatten sich zu leichten Fäusten geballt und er stützte sich darauf, damit nicht das gesamte Gewicht seines Oberkörpers auf seinen Nacken drückte. Wieder Lachen.
»Ach, ist das so? Dann versuch doch einmal mit deinem Gesicht zu kehren!« Anscheinend fand Rick Haver seinen eigenen Einfall überaus amüsant.
»Los, los!« Dann nahm er den Besen von Atturs Gesicht und seine Hand nahm den Platz ein. Attur schwante Böses. Der Druck verstärkte sich und er musste die Zähne fest zusammenbeißen, als Rick ihn zwang, seinen Kopf vor und zurück zu bewegen, sodass seine Wange über den kalten, harten Boden wetzte. Er merkte, wie sich die groben Partikel in seine Haut trieben und sie aufrissen.
»Rick?« Das Scheuern hörte auf und der Druck wurde weniger. »Was tust du da?« Das war die Stimme des älteren Sohnes, Draper.
»Ich erinnere diesen Hund daran, welchen Platz er hier inne hat. Nicht, dass er zu übermütig wird.« Man hörte das höhnische Grinsen sogar aus seiner Stimme.
»Ich glaube, Attur weiß genau, wo sein Platz ist. Nicht wahr?« Attur versuchte, mit der Hand auf seinem Kopf zu nicken. »Siehst du?« Die Hand verschwand gänzlich, man konnte einen herablassenden Laut seitens Rick hören, als er aufstand.
»Du bist einfach viel zu weich mit deinen Dienern. Ich frage mich, ob du Vater später mit so einer Einstellung wirklich vertreten kannst.« Ein Fußtritt traf Attur in die Seite, ließ ihn schmerzvoll aufstöhnen, bevor sich Rick völlig von ihm abwandte.
»Die Gesellschaft findet sich gleich ein, lass ihn arbeiten und bereite dich lieber darauf vor.« Dann hörte Attur, wie die beiden den Raum verließen. Er rappelte sich auf und strich vorsichtig über seine Wange. Als er seine Hand ansah, erkannte er Blut daran. Mit einem Seufzen stand er auf und wusch sich an der Spüle das Gesicht, bevor er den Besen wieder zur Hand nahm und den Boden der Küche weiterkehrte. Er hatte noch viel zu tun und wusste er durfte nicht trödeln, da Faulheit für gewöhnlich streng bestraft wurde.
Nach dem Fegen brachte er den Eimer mit Schmutzwasser aus der Küche hinaus in den Hof, um ihn auszuschütten. Er sah seine Mutter das Unkraut im Garten jäten. Sie hatte ebenso sandfarbenes Haar wie er und etwas dunklere Haut. Viele sagten, er wäre ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Dies galt zumeist als großes Kompliment, da seine Mutter wirklich hübsch anzusehen war, soweit er das beurteilen konnte. Attur war froh, dass wenigstens sie nicht von Rick auf ihren Platz hingewiesen wurde. Er war immer hart und streng. Mit Draper konnte man reden. Er sah sie zwar als seine Diener - was sie ja auch waren - und empfand durchaus, dass sie unter ihm standen, aber er behandelte sie nicht wie Dreck. Ganz anders als Rick; Attur würde niemals wegen irgendetwas an diesen herantreten. Er wusste sowieso, wie das enden würde: Mit Beleidigungen und Schmerzen, wenn er nicht schnell genug wieder das Weite suchte.
Als er zurück zum Haus ging, sah er einige Schmiede und Metallwarenhändler durch die Tür gehen. Er verneigte sich vor ihnen und wartete, bis sie eingetreten waren, bevor er es ihnen gleichtat. Heute würde wieder eine Gesellschaft zusammentreffen. Es wurde über Preise verhandelt und diese wurden für die nächsten Monate festgelegt. Man teilte mit, wie viel Rohstoffe man derzeit zur Verfügung hatte und zeigte seine letzten Verkäufe auf. Die Familie Haver war seit jeher der Verwalter aller Schmiedeaufträge und Vertreter des gesamten Metallwarenhandels ihrer Region. In einem Land, das sich als Waffengroßmacht schmückte, nannten sie einen mächtigen Posten ihr Eigen.
Attur lief in die Küche zurück und holte einen großen Weidenkorb für das Brennholz, welches hinter dem Haus aufgestapelt war. Nachdem er den Korb randvoll mit Holz gefüllt und ihn zurück in die Küche neben den Ofen gebracht hatte, kehrte er zurück hinter das Haus und begann damit, neues Holz zu spalten und aufzustapeln. Er hatte viele Aufgaben hier auf dem Anwesen der Haver. Dabei war er auf nichts spezialisiert; was anstand, erledigte er. Das konnten das Sauberhalten des gesamten Anwesens, Botengänge oder andere körperlich anstrengende Aufgaben, wie der Transport von Metallwaren oder die Mithilfe am Bau eines neuen Gebäudes sein. Lesen, Schreiben oder andere intellektuelle Tätigkeiten waren ihm fremd und er vermisste deren Fähigkeiten auch nicht, da er die damit verbundenen Vorteile nie kennen gelernt hatte.
Schweiß rann ihm die Stirn und den Körper hinab. Er machte eine kurze Pause, legte die Axt zur Seite und wischte sich die nassen Haare von der Stirn, welche nicht durch das Haarband zusammen gehalten wurden. Die Sonnenstrahlen brannten auf ihn herab. Er sah hinauf in den strahlend blauen Himmel, auf dem sich kaum eine Wolke zeigte. Sultas, die erste Sonne schien erbarmungslos auf das Land nieder und versuchte sie alle zu verbrennen. Doch nicht mehr lange und sie würde von Toltas abgelöst und die Temperaturen erträglicher werden. Attur wischte sich einmal quer über das Gesicht, um den Schweiß wegzubekommen und streckte sich, bevor er ein weiteres Mal zur Axt griff. Vor ihm befand sich noch immer ein Berg von Holzstämmen, welche zerkleinert und dann in handgerechte Scheite gehackt werden sollten. Aber eigentlich genoss er die Arbeit im hinteren Hof. Hierher kam Rick nur sehr selten, sodass Attur zumeist in Ruhe seiner Tätigkeit nachgehen konnte, ohne Angst haben zu müssen, gleich wieder Tritte einzustecken oder gar noch schmerzhaftere Züchtigungsmaßnahmen des jungen Herrn.
Gerade zerteilte er ein Stück Holz auf dem Hauklotz, als hinter ihm die sanfte Stimme eines Mädchens erklang.
»Attur?« Er ließ die Axt stecken und drehte sich um zu dem jüngsten Kind der Familie Haver, Satyrana. Sie hatte, wie beinahe alle Männer und Frauen dieses Landes, pechschwarzes Haar. Das Ihre glänzte und ging ihr bis zum Rücken. Es war leicht gelockt und umrandete ihr weiches, zartes Gesicht. Ihre Kleidung war nicht zu vergleichen mit seinen Lumpen. Sie trug ein kobaltblaues, dünnes Kleid mit schwarzen Rüschen ab der Taille nach unten gehend. Um ihren Hals hing eine silberne Kette mit einem prunkvollen kreisförmigen Anhänger.
»Was kann ich für Euch tun, Satyrana?« Er deutete eine Verbeugung an und blies sich dabei die hellen Haare aus dem Gesicht. Sie lächelte sanft und hielt ihm einen Brief und in der anderen Hand einen kleinen braunen Beutel hin.
»Ich wünsche mir, dass du das hier dem Schneider bringst und den Brief bitte an dessen Sohn übergibst.« Ein wissendes Lächeln erschien auf Atturs Gesicht und brachte Satyrana dazu, peinlich berührt zu Boden zu schauen. Zwischen dem Sohn des Schneiders und ihr entstand langsam ein feines Band der Zuneigung und Attur war stets derjenige, der für den Briefverkehr der beiden zuständig war, weshalb er davon wusste. Ob Satyranas Vater von dieser Sache begeistert wäre, bezweifelte er jedoch und falls irgendwann herauskam, dass er der Überbringer und somit Mittäter in der Beziehung war, würde ihn wohl eine harte Strafe erwarten. Doch er konnte dem Mädchen einfach keinen Wunsch abschlagen. Sie hatte ihn gewissermaßen in ihren Bann gezogen, ohne dass er es gemerkt hatte.
»Ich werde mich sofort darum kümmern«, erwiderte er und ließ sie dadurch erleichtert aufsehen. Sie übergab ihm die beiden Dinge und nickte ihm zum Abschied kurz zu, bevor sie Richtung Haus verschwand. Attur freute sich, die schweißtreibende Arbeit etwas nach hinten verschieben zu könnnen, denn sobald Toltas schien, würde es erträglicher. Er schob den Beutel in seine rechte Hosentasche. Wahrscheinlich befanden sich darin die Sternsteine als Bezahlung für die neuen Kleider von Satyrana. Er marschierte los, um schnell ins Innere ihrer kleinen Stadt zu kommen. Das Anwesen der Haver war etwas abseits, aber nach einem kleinen Fußmarsch erkannte Attur das liebevoll gestaltete Schild, auf dem wohl der Name der Stadt stand. Doch er konnte es nicht mit Sicherheit sagen. »Rhodohr«.
Er schlenderte durch die äußeren Teile der Stadt, bis er zum Markt kam. Einen Ausflug hierher sollte man schließlich nutzen. Er roch das herrlich duftende, gezuckerte Obst, als er daran vorbei ging; der gewürzte Fisch am Stand gegenüber wurde über einem feuerbetrieben Grill zubereitet und angeboten. Ihm knurrte richtiggehend der Magen bei all den Köstlichkeiten, die hier zum Verkauf standen. Aber er konnte sich nichts davon leisten, bekam er doch keine Sternsteine für seine Arbeit. Genau aus diesem Grund stellte er sich an einen der Zuckerobst-Stände, an welchem gerade viele Leute standen und wartete, bis man ihm keine Aufmerksamkeit schenkte, bevor er in eine der Schalen griff und sich mehrere Stücke davon stahl, sie in seine Hosentasche gleiten ließ und sich dann bemüht unauffällig entfernte.
Nicht weit entfernt vom Markt verschwand er in einer Gasse, holte seine Beute freudig heraus und begann sie zu vertilgen. Selten aß er so etwas Gutes. Bei seinen Herren bekam er meist dumpf schmeckende Feldrüben oder Karglandbeeren. Nicht zu vergleichen mit der Geschmacksintensität dieser Zuckerfrüchte.
»Und wie gedenkst du, dieses Essen zu vergelten?« Die Stimme ließ ihn erschrocken herumfahren, dabei fiel ihm eines der Stücke beinahe aus der Hand.
»Nikyla!« Das Mädchen grinste ihn breit an und in ihren dunklen Augen blitzte der Schalk.
»Hast du mich erschreckt«, beschwerte sich Attur und zog die Augenbrauen tief zusammen. Nikyla lachte auf, hielt sich dabei die Hand leicht vor den Mund und kam dann auf ihn zu. Sie schnappte sich eines der Stücke aus seiner Hand und beugte sich zu ihm vor.
»Ich verlange trotzdem eine Bezahlung dafür, dass ich dich nicht verrate«, schnurrte sie ihm entgegen und biss von dem Zuckerobst ab. Atturs Mundwinkel verzogen sich zu einem wissenden Lächeln. Sie war ebenso wie er Sklavin, nur bei einer anderen Familie. Sie hatte ihm vor einigen Jahren auch gezeigt, wie man richtig stahl, ohne dass die Standverkäufer etwas davon bemerkten. Ohne sie wäre er wohl nicht halb so oft in den Genuss solcher Köstlichkeiten und dafür viel häufiger in Schwierigkeiten gekommen. Er richtete seinen Blick auf ihr Gesicht, schob den Rest des Essens in seine Tasche zurück und griff in ihre Haare, bevor er sie zu sich zog und ihre Lippen eroberte. Willig drückte sie sich ihm entgegen, bewegte ihren Mund gegen den seinen und umschlang ihn mit ihren Armen, fuhr mit den Händen seinen Rücken hinauf, bis zu seinen Schultern, wo sie sich festkrallte. Sie war heiß und wild, leidenschaftlich. Das hatte Attur schnell bemerkt. Wenn sie etwas tat, dann stets mit voller Inbrunst. Es war nicht so, als würde er für sie tiefliegende Gefühle hegen. Er fand sie hübsch und war imponiert von ihrem Einfallsreichtum und ihrer Raffinesse. Aber sein Herz gehörte jemand anderem und das würde sich auch durch eine durchtriebene Diebin nicht ändern. Aber trotzdem sprach nichts gegen ein wenig Vergnügen in einer Welt, in der Sklaven nicht viel zu lachen hatten.
Ausgehungert glitten Atturs Lippen hinab zum Hals der jungen Frau und seine rechte Hand schob ihr dunkles, etwas schäbig wirkendes Kleid am Kragen ein wenig hinab, sodass er bis zu ihrem Schlüsselbein kam. Ihre Hände wanderten ebenfalls, strichen nun den Rücken wieder hinunter und über seine Hüften. Kurz darauf entzog sie sich ihm mit einem Lächeln.
»Gut, ich werde dich nicht verraten. Nun genieße deine Beute.« Sie ging wenige Schritte mit hinter dem Rücken verschränkten Armen rückwärts, bevor sie ihm noch einmal zuzwinkerte und sich dann umdrehte.
Ein wenig überrascht war Attur schon, dass sie so schnell zufrieden war, doch sie war seit jeher flatterhaft und ihre Begegnungen bestanden nicht selten nur aus kurzen Zusammentreffen. Vielleicht hatte sie auch noch irgendetwas für ihre Herren zu erledigen, was eilte. Er zuckte mit den Schultern, sah sich kurz prüfend um, bevor er wieder in seine Hosentasche griff und eines der Zuckerobststücke herausholte. Doch Moment! Hatte er nicht bis eben noch in der gleichen Hosentasche den Beutel für den Schneider mit sich getragen? Erschrocken tastete er mit beiden Händen an jede Seite, schluckte das Obst einfach hinunter. Doch nichts; weder links noch rechts fand er den Beutel in seiner Hose. Er sah kurz auf den Boden, doch auch dort wurde er nicht fündig. Seine Augen wurden zu Schlitzen.
»Nikyla…«, knurrte er düster, bevor er zum Sprint ansetzte. Noch konnte er sie einholen. Sicher rechnete sie nicht damit, dass er es so schnell bemerkte. Wütend preschte er aus der Gasse hinaus zurück auf den Marktplatz und suchte mit den Augen den Platz ab, um sie ausfindig zu machen. Diebin blieb eben Diebin! Wie er ihr nur so auf den Leim gehen konnte. Er ärgerte sich richtig über seine eigene Naivität. Es dauerte nur einen Moment, dann erkannte er ihre wilde Haarpracht unter den anderen Leuten und hetzte ihr hinterher. Hier und da stieß er an Passanten, rempelte eine reiche Dame an und sprang über eine Kiste. Durch diesen Lärm wurde Nikyla auf ihn aufmerksam und erkannte, dass sie entlarvt worden war. Sie sah ihm einen Augenblick ins Gesicht, dann drehte sie sich um und lief ebenso schnell wie Attur durch die Menge, um ihm zu entkommen.
Er folgte ihr, achtete kaum noch auf seine Umgebung. Der Beutel, er musste ihn zurückbekommen! Was würden seine Herren ihn strafen, wenn er ohne ihn zurückkehrte und ohne den Schneider bezahlt zu haben? Er wollte sich dieses Dilemma gar nicht ausmalen. Seine Aufmerksamkeit galt gänzlich Nikyla, an die er immer näher heran kam. Gleich würde er ihren Arm zu packen bekommen. Eine schnelle Bewegung seitens der Diebin, ein dumpfer Schlag und lautes Krachen ließen ihn dann jedoch wieder seine Umgebung wahrnehmen. Er lag auf dem harten Steinboden und sah Nikyla wieder mehr Abstand zwischen sie bringen, dann erschienen saubere Stiefel in seinem Blickfeld und er sah hinauf in das verärgerte Gesicht einer der Händler. Um ihn verstreut lagen Tonwaren. Allesamt zerbrochen. Schleunigst rappelte er sich auf, versuchte noch nach hinten zu fliehen, um dem Schlamassel zu entkommen und Nikyla vielleicht doch noch zu erwischen. Grob wurde er am Arm gepackt, als er Reißaus nehmen wollte, und zurückgezogen.
»Hier geblieben, Bürschchen! Den Schaden, den du mir gemacht hast, ersetzt du mir gefälligst!« Außer Atem und verzweifelt, wie er das seinen Herren erklären sollte, versuchte er sich aus dem Griff loszureißen, doch der Griff wurde nur noch verstärkt und die Hand drückte schmerzhaft in seinen Arm. Das Gesicht des Händlers wurde zunehmend wütender und Attur gestand sich ein, dass eine Flucht aus dieser Situation unmöglich war.
Mit einem schmerzhaften Aufschrei landete er auf dem steinigen Boden, direkt vor den Füßen seines Herrn. Er wagte sich gar nicht aufzusehen. Das würde böse Folgen haben, er wusste es genau. Attur rappelte sich wieder auf, blieb aber am Boden knien, wagte es nicht, sich zu erheben oder erneut die Flucht anzutreten. Stattdessen lauschte er bangend dem Wortgefecht der Männer über sich.
»Dieser Junge hat mir mein Geschäft für die nächsten Tage ruiniert! Ich verlange eine Wiedergutmachung, Lord Haver! Ein Großteil meiner Waren ist zerbrochen, wie soll ich so meinen Handel führen? Wenn ich keine Ware habe!« Die Stimme des bulligen Mannes war unangenehm näselnd und Attur fragte sich, wie so jemand ein gutes Handelsgeschäft betreiben sollte. Sicherlich wich die Hälfte der potentiellen Käufer bereits zurück, wenn sie ihn die Angebote ausschreien hörten. Lord Haver schien sichtlich verärgert, wobei nicht klar war, ob sein Groll Attur oder dem aufgescheuchten Händler galt. Oder nicht gleich beiden.
»Wieso sollte er so etwas tun?«
»Ich kann nicht mehr sagen, als ich bereits erklärt habe: Er rannte wie ein Wildgewordener durch das Volk und sprang am Schluss mitten in meine Tonwaren! Hätte ich ihn nicht aufgehalten, wäre er weiter durch die Gänge gestürmt wie ein wilder Stier.« Der Händler rang mit seinen Händen und schwang die Arme wild gestikulierend durch die Gegend, sodass Attur sich sicher war, ein jeder, der ihm in diesem Moment zu nahe gekommen wäre, hätte sich einen saftigen Schlag eingeholt.
»Ich kann keine Scherben verkaufen, aber die Materialien als auch die Arbeit sind trotzdem hinfort! Lord Haver, für Euren Sklaven müsst Ihr gerade stehen.« Diese Zurechtweisung seines Herrn ließ dessen Unmut nur noch steigen. Als wüsste nicht ein jeder, was für Gesetze galten.
»Macht eine Aufzählung der Gegenstände bereit, ich werde Euch morgen einen Boten mit den Sternsteinen zu Eurem Haus schicken.« Dass die hohen Leute in seiner Gegenwart immer so sprachen, als sei er nicht anwesend, war Attur bereits zu Genüge gewöhnt. Sklaven schenkte man wenig Aufmerksamkeit, sie standen noch unter Nutzvieh. Und mit jenem sprach man schließlich auch nicht. Der Händler schien zufrieden und gab kund, er würde die Liste noch heute Abend vorbeibringen lassen. Das Gespräch wandte sich zum Ende und Attur wurde immer mulmiger zumute. Welche Strafe würde ihm wohl nun widerfahren? Er schluckte trocken, als er das Gefühl bekam, ein großer Kloß würde sich in seinem Hals bilden.
»Steh auf und geh hinunter in den Keller.« Der Kloß wurde dicker. Atturs Augen weiteten sich. Nicht der Keller, bitte! Alles nur nicht der Keller, dachte er flehend. Er spürte kalten Schweiß auf seinem Gesicht. Ein Zittern durchzog seinen Körper wie ein schauerliches Frösteln, doch er rappelte sich langsam auf, wollte seinen Herrn nicht dazu bringen, sich wiederholen zu müssen. Er sah nicht in das faltige, graue Gesicht des alten Mannes, wollte die Härte und den kalten Zorn nicht in dessen dunklen, starren Augen sehen.
Er fühlte sich wie ein Ross, das auf dem Weg zur Schlachtbank war. Der Keller bedeutete solche Schmerzen, dass man es nirgends tun wollte, wo andere ihn allzu laut schreien hören könnten. Attur öffnete zittrig die schwere, massive Holztür, hinter welcher sich düstere, einschüchternde Dunkelheit befand. Ein am oberen Ende mit Pech bestrichener Stock sollte ihm helfen, diese Dunkelheit zu durchdringen. Er zündete die Fackel an und stieg langsam mit ihr in der Hand die unebene Steintreppe hinunter. Eigentlich lagerten hier Nahrungsmittel, damit sie nicht so schnell verdorben und einige empfindliche, unbearbeitete Metalle, doch Attur war schon ein paar Mal zur Bestrafung hier unten gewesen. Er steckte die Fackel in eine Wandhalterung. Irgendwo neben ihm quiekte eine Ratte, die wohl vom plötzlichen Licht erschrocken worden war und sich an eine dunklere Stelle zurückzog.
Attur stand unruhig da und knetete seine Hände.
Wenn er Nikyla in die Hände bekam! Ihr hatte er den ganzen Schlamassel zu verdanken. Hätte sie ihn nicht so schamlos ausgetrickst und die Bezahlung für den Schneider gestohlen, wäre er niemals in diese Lage gekommen. Bestimmt würde dieser raffinierte Händler Lord Haver eine Liste auftischen, die nur so vor gezinkten Zahlen stank. Doch sein Herr müsste bezahlen, konnte er doch schließlich nicht nachweisen, um welche und wie viele Tonwaren es sich bei denen handelte, die Attur seiner Ungeschicklichkeit halber zerbrochen hatte. Er wollte gar nicht wissen, wie viel Sternsteine das kosten würde. Sicherlich einige und er müsste dafür büßen.
Schritte ertönten auf der Treppe. Erneut versuchte er, den trockenen Kloß in seinem Hals loszubekommen. Er wusste genau, wer da in den Keller hinabstieg.
»Du ungezogener, dreckiger Bengel«, erklang die süffisante, kratzige Stimme Ricks. Lord Haver war viel zu gebrechlich und erhaben, um ihn selbst zu bestrafen. Sein jüngster Sohn hingegen liebte es. Wenn er jemanden demütigen konnte, fühlte er sich mächtig. Rick war ein grässlicher, grausamer Mann, der keinerlei Menschlichkeit besaß, wenn es darum ging, einem Sklaven Schmerzen zuzufügen. Manchmal bildete Attur sich ein, dass diese Art des Vergnügens die einzige Möglichkeit war, um Rick zufrieden zu stellen. Jedenfalls las er das aus dem düsteren Grinsen, welches im Gesicht des anderen prangte.
»Wie kannst du es nur wagen, so einen Schaden anzurichten?« Attur wusste, dass es unnötig war, sich erklären zu wollen. Rick würde ihm niemals zuhören oder gar seinen Worten Glauben schenken. Unterwürfig stand er nun zu diesem gedreht, während der junge Herr seine Fackel ebenfalls in eine Halterung in der Wand steckte und den schweren Holzstock, welchen er in der anderen Hand gehalten hatte, nun mit beiden umfasste, bevor er auf Attur zuging. Er ließ den Stock unheilvoll auf seine Handfläche schlagen.
»Draper hatte Unrecht. Du weißt überhaupt nicht, wo dein Platz ist«, schnurrte er so widerlich süß, dass Attur beinahe schlecht von diesem Ekel wurde und es ihm gleichsam eine Gänsehaut bereitete.
»Wollen doch mal sehen, ob wir dem nicht Abhilfe schaffen können!« Ein verrücktes Funkeln blitzte in Ricks Augen auf, bevor er ausholte und Attur kräftig mit dem Stock ins Gesicht schlug, sodass dieser auf den Boden geschleudert wurde. Ihm war von dem Schlag richtiggehend schwindelig, als er sich langsam vom staubigen Stein löste und wirr über seine Wange strich, die unter dem Schlag heftig pochte und schmerzte.
»Oh, was haben wir denn da?«, erklang erneut diese kratzige, gekünstelt erhöhte Stimme. Attur versuchte, ihm mit seinem Blick und den Gedanken folgen zu können. Was hatte er denn gefunden? Rick kam auf ihn zu, beugte sich kurz vor ihm zu Boden und hob irgendetwas auf. Etwas Kleines… oh nein! Er hielt es in die Höhe, um es zwischen den Fingern zu drehen und besser betrachten zu können.
»Zuckerobst.« Er klang, als hätte er eine unglaubliche Feststellung gemacht. Dann richtete sich der kalte, funkelnde Blick wieder auf den Sklaven. »Sag mir, kleiner Bastard, wie kannst du dir so etwas denn leisten?« Attur öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch seine Kehle war so trocken vor Furcht, dass er keinen Ton herausbrachte. Wie sollte er auch erklären, dass er diese Köstlichkeit gestohlen hatte, ohne noch schlimmer bestraft zu werden? Rick sah ihn eine Weile lang forschend an, dann grübelte er; legte einen Finger ans Kinn, nachdem er das Stück Süßes achtlos weggeworfen hatte.
»Satyrana hat mir gesagt, sie hätte dich in die Stadt geschickt, um ihre neuen Kleider zu begleichen.« Sein Blick traf erneut aus den Augenwinkeln auf den jungen Sklaven.
»Hast du das getan?« Verflixt und zugenäht! Nein, hatte er nicht. Wie auch, wenn ihm der Beutel mit den Sternsteinen gestohlen worden war? Aber die Stimme des jungen Herrn hatte so einen lauernden Unterton, dass er sich nicht wagte, auch nur zu heftig einzuatmen. Er fühlte sich unter dem bedrohlichen Blick, wie ein Stück Wild vor der Waffe eines Jägers. Eingeschüchtert starrte er zurück, unfähig, etwas zu tun oder zu sagen. Aber das schien dem Sohn seines Herrn voll und ganz als Antwort zu genügen. Verstehend nickte er mit dem Kopf.
»Ah, so ist das also. Du bereicherst und vergnügst dich mit den Sternsteinen, welche für einen gänzlich anderen Zweck vorgesehen waren.« Tadelnd schüttelte Rick den Kopf und schnalzte mit der Zunge, während er hin und her ging.
»So etwas tut man nicht. Hat dir das dein Miststück von Mutter nicht beigebracht?!« Ricks Stimme wandte sich zum Ende hin zu einer aggressiven Anschuldigung. Attur konnte gar nicht so schnell reagieren, da war dieser bereits wieder bei ihm, den Stock hoch erhoben und dreschte damit auf ihn ein. Zweimal, dreimal, viermal. Dann ließ er wieder von ihm ab. Zusammengekauert lag der Junge am Boden, versuchte, seinen Kopf unter den Händen vor den Schlägen zu schützen. Ein jämmerliches Winseln entkam ihm, als die Schläge aufhörten, die Schmerzen aber erst anfingen, in seinem Körper zu explodieren.
»Ich wusste ja gar nicht, dass es dir so sehr an Gehorsam mangelt. Es scheint so, als müsste ich in nächster Zeit mehr auf dich achten.« Nun war die Stimme wieder ruhig, drohte alleine mit dieser Tatsache. Attur fiel es schwer den Worten überhaupt noch richtig zu folgen, weil der Schmerz beinahe seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Er keuchte gequält auf. Einerseits wegen der Schmerzen, andererseits aber auch wegen der Drohung. Er wollte nicht, dass Rick ihm mehr Aufmerksamkeit schenkte!
Doch natürlich war die Bestrafung noch nicht zu Ende. Sie hatte gerade erst angefangen. Attur nahm langsam die Hände vom Kopf, als das träge Nachlassen der Schmerzen zuließ, dass er sich wieder bewegen konnte. Er sah auf zu seinem Peiniger, der anscheinend noch über seine eigenen Worte grübelte. Gleichsam sah er in dessen Blick nur zu genau, dass er noch lange nicht mit ihm fertig war. Dann schüttelte Rick den Kopf, wobei seine etwas zu lang geratenen, fettigen Haare leicht in sein Gesicht schlackerten.
»Satyrana wird sehr enttäuscht von dir sein, wenn sie das hört. Dabei hegt sie ja solche Sympathien für… euch.« Dabei sprach er das letzte Wort mit so angewidertem Ton aus, als würde er über Kakerlaken reden. Rick behandelte Sklaven wie Dreck, schlechter als Vieh und käme wohl nie auf die Idee, dass sie doch derselben Spezies angehörten. Er sah in ihnen keine Menschen. Sie waren niedere Wesen, dafür geschaffen, den Leuten seines Standes zu dienen. Für diesen und nur für diesen einen Zweck waren sie da.
Es schmerzte Attur, an das Gesicht des Mädchens zu denken, wenn sie davon hörte. Er mochte sie, doch nach dem würde sie ihn sicherlich nicht mehr so gütig behandeln. Sie dachte bestimmt, er wäre ein schlechter Mensch, weil er sich an ihren Sternsteinen bereichert hatte. Was eigentlich gar nicht stimmte! Nikyla war es gewesen. Sie hatte ihn bestohlen. Doch er war dumm genug gewesen, es zuzulassen. Er hätte ihre wahren Absichten bemerken müssen, jedoch wollte er sich auch selbst nichts vormachen. Sie war einfach zu geübt, zu gut in dem, was sie tat. Sie trickste so viele aus und Attur war kein Genie. Er war nicht gerissen oder gebildet. Wie sollte er es also schaffen ihre Absichten zu durchschauen? Sie war einfach zu raffiniert.
Rick holte ihn mit einem kräftigen Schlag zurück ins Hier und Jetzt. Schmerzhaft keuchte Attur auf. Er war erschrocken, hatte fast vergessen, dass der junge Herr vor ihm stand. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf den Boden, welchem sein Kopf bereits wieder so nahe gekommen war. Aus seinem Mund lief Blut auf den Stein und schimmerte im Licht der Fackeln.
»Was ist los? Erdreiste dir nicht, jetzt an etwas anderes als an mich zu denken! Ich bestrafe dich für deinen Ungehorsam. Bereue deine Untaten!« Ein weiterer Schlag folgte. Erneut krümmte sich Attur zusammen, während der Stock einige Male auf seinen geschundenen Körper niederprasselte. Er biss die Zähne fest zusammen, um den Schmerz zu ertragen, doch schlussendlich nahm er Überhand und er schrie ihn hinaus. Die Schreie hallten an den Kellerwänden wider und vermischten sich mit dem grässlichen Geräusch des massiven Stockes, welcher auf seinem Körper auftraf. Attur wand sich unter den Schlägen, versuchte, ihnen zu entkommen und somit seinen Körper zu schützen. Aber Rick stellte kurzerhand einen Fuß auf seine Hüfte, drückte ihn damit fest auf den Boden und verhinderte so jegliche weiteren Fluchtversuche. Ein grausames Lachen ertönte, während die Schläge kurzzeitig verklangen.
»So ist es richtig! Fühle den Schmerz, der dich ereilt. Du bist daran selbst schuld. Du bist ungezogen gewesen. Lerne aus deinem Schmerz!« Die Worte waren noch nicht verklungen, da trafen erneute Schläge den Rücken des Jungen. Schmerzverzerrte Schreie mit überschlagener, panischer Stimme hallten im Raum. Atturs Herz raste und drohte, jeden Moment aus seiner Brust zu springen. Wann hörte Rick nur damit auf? Sein ganzer Körper tat weh, er konnte die einzelnen Schmerzen nicht mehr von einander differenzieren. Sie hatten sich zu einem gigantischen Klumpen zusammengeballt.
Die Panik ereilte Attur. Er wusste, wenn Rick nicht bald aufhörte, würde er das hier nicht überstehen, denn dieser schlug wie wild auf ihn ein. Mehr als den Kopf konnte Attur in seiner Position nicht schützen, obwohl er sich so gut wie möglich zusammen gekauert hatte. Dann jedoch hörten die Schläge auf und der Fuß auf seiner Hüfte, der ihn niedergedrückt hatte, verschwand.
»Und? Bereust du deinen Ungehorsam?« Zittrig nahm Attur die Hände vom Kopf, sah unsicher und schwer atmend zum jungen Herrn auf. Dieser stand mit dem Stock in der Hand direkt neben ihm, hatte den Oberkörper jedoch so weit vorgebeugt, dass er beinahe über ihm schien. Langsam nickte Attur, denn er wagte es nicht, hastige Bewegungen zu vollbringen. Zu groß war die Angst, dass sein Körper ihm dies mit einer explosionsartigen Verschlimmerung seiner Schmerzen vergalt.
»Ich bereue es. Bitte, habt Gnade und verzeiht mir mein schlechtes Betragen. Ich werde… mich in Zukunft bessern und ein guter Sklave sein.« Noch immer raste sein Herz wie verrückt. Ricks Gesicht verdunkelte sich durch den strengen Ausdruck darin.
»Das hoffe ich. Für dich.« Dann grinste er düster und schlug noch einmal nach Attur. Er traf ihn am Kopf und mehr als einen kurzen Schmerz verspürte dieser nicht mehr, dann umschloss ihn Finsternis und nahm ihm sein Bewusstsein.
»Wird er bald aufwachen?«
»Ich weiß es nicht. Der junge Herr hat ihn schwer bestraft. Aber ich bete dafür.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Attur so etwas tun würde.«
Langsam hörte er Stimmengewirr, dann nach und nach konnte er auch die Worte darin erkennen. Es waren seine Mutter und Haal, der dritte Sklave der Familie.
»Oder? Ich meine, es wäre schließlich ein schlimmes Vergehen. Attur bemüht sich immer, unauffällig seine Arbeit zu machen, um von Rick nicht behelligt zu werden. Hätte er die Kleider von Satyrana nicht bezahlt, wäre es mit Gewissheit aufgeflogen. So etwas Dummes tut er nicht.« Attur stöhnte. Natürlich tat er so etwas nicht! Dann versuchte er seine Augen zu öffnen. Das sandfarbene Haar seiner Mutter war das Erste, was er erkannte. Sie saß direkt neben ihm und schien gerade seine Verletzungen zu behandeln, denn hier und da durchzog ihn ein heftiger Schmerz, deutlich stärker als der, den Attur noch von den Schlägen spürte. Ihr Gesicht kam in sein Blickfeld, als sie anscheinend bemerkt hatte, dass er wach war. Die Sorge war klar darin zu erkennen.
»Attur.« Mehr sagte sie vorerst gar nicht. Sie wollte wohl herausfinden, ob er sich in einem Stadium des Bewusstseins befand, in dem er antworten konnte und alles um sich herum wahrnahm. Sofort danach hörte er schnelle, polternde Schritte, bevor sich das junge, aufgeregte Gesicht von Haal ebenfalls in sein Blickfeld drängte.
»Hey, bist du wach? Wie fühlst du dich?« Attur öffnete den Mund und drehte den Kopf hastig zur Seite, als er husten musste. Erst danach schaffte er es zu sprechen.
»Ich lebe noch. Von dem her…« Dabei stöhnte er erneut auf. Beim Sprechen tat sein gesamter Oberkörper weh. Ihm war irgendwie übel und sein Schädel dröhnte, als habe er sich am Abend zuvor bis an den Rand volllaufen lassen.
»Was ist passiert? Erzähl was wirklich war. Man hört schließlich allerhand Humbug die Runde machen«, forderte Haal ihn sofort auf. Attur verzog das Gesicht. Er fühlte sich wirklich nicht in der Verfassung nun zu erzählen, was sich zugetragen hatte. Die Hand seiner Mutter legte sich auf Haals Schulter und drängte ihn sanft, aber bestimmt zurück vom Bett, sodass der junge Sklave nicht mehr direkt darüber lehnte und Attur derart bedrängte.
»Gib Ruhe, Haal. Er kann auch noch später davon berichten. Nun muss er sich erst ausruhen und wieder zu Kräften kommen.« Attur war seiner Mutter zutiefst dankbar dafür, dass sie Haal davon abgehalten hatte, ihn mit seinen Fragen zu löchern. Gerne würde er den beiden später die Wahrheit erzählen, aber nun fühlte er, wie die Bewusstlosigkeit bereits wieder an seinem Geist zerrte und ihn zurück in die verlockende Dunkelheit ziehen wollte.
Es dauerte einige Tage, bis Attur tatsächlich wieder in der Lage war, seinen Aufgaben nachzugehen und Arbeit zu verrichten. Währenddessen hatte Haal die Seinige mit erledigen müssen und war deshalb abends stets erschöpft nach der kargen Mahlzeit sofort eingeschlafen. Attur hatte den beiden von seiner Naivität und Dummheit erzählt und Haal wäre beinahe ein Lachen ausgekommen, als er hörte, wie Nikyla es geschafft hatte, ihm den Beutel abzunehmen. Doch der ernste, warnende Blick seitens Adina, Atturs Mutter, hatte ihn dazu gebracht es sich zu verkneifen.
Seitdem Attur nun wieder seiner Arbeit nachging, versuchte er stets peinlichst genau das zu tun, was von ihm verlangt wurde. Er ging Rick so gut wie möglich aus dem Weg, doch dieser hielt Wort und stattete ihm zusehends mehr Besuche ab. Manche davon liefen friedlich ab, andere endeten damit, dass Attur erneut gedemütigt und verletzt wurde. Nikyla hatte er seitdem nicht mehr in der Stadt gesehen. Sie tat auch gut daran, sich ihm nicht zu nähern, denn noch immer hatte er eine gehörige Wut im Bauch, wenn es um sie ging.
Er half seiner Mutter gerade in der Küche, um Gemüse für das Mittagessen kleinzuhacken, als Draper beschwingten Schrittes die Tür öffnete und hereintrat. Sofort standen er und seine Mutter parat, denn es war selten genug, dass der älteste Sohn sich direkt an sie wandte, ohne sie auch nur rufen zu lassen. Draper schien einen arbeitsreichen Tag mit vielen Verpflichtungen zu haben, wobei sein Weg ihn bereits an der Küche vorbei geschickt hatte.
»Attur.«
»Herr?« Attur stand aufrecht da, das Messer, mit dem er zuvor noch das Gemüse geschnitten hatte, lag nun achtlos auf dem Holzbrett. Er war bereit, jeglichen Auftrag anzunehmen und sogleich auszuführen.
»Bring das eilends in die Schänke der Stadt. Dort fragst du nach Harlekin. Du bringst ihm das in sein Zimmer und übergibst es ihm. Ausschließlich ihm! Hast du das verstanden?« Eifrig nickte der junge Mann und ergriff sogleich Beutel und Brief. Kaum dass Draper die Küche zufrieden wieder verlassen hatte, verabschiedete sich Attur von seiner Mutter und machte sich sogleich auf, den Befehl zu erfüllen.
Auf dem Weg traf er auf die familieneigene Kutsche, für die er sofort artig Platz machte und wartete, bis sie an ihm vorbeigefahren war. Dabei senkte er demütig seinen Kopf. Er wusste, wer darin saß und zum Anwesen zurück kehrte. Satyrana. Seit dem Vorfall mit Nikyla strafte sie ihn mit Nichtachtung, aber einmal hatte er den verletzten Blick gesehen, welchen sie ihm zugeworfen hatte. Es tat ihm leid, das Mädchen enttäuscht zu haben, jedoch würde er den Teufel tun und ihr die Wahrheit erzählen. Sie würde ihm wahrscheinlich nicht einmal glauben, weil ihre Brüder ihr etwas ganz anderes erzählt hatten. Denen glaube sie sicher mehr als einem niederen Sklaven.
Bei der Schänke angekommen umfasste er den Beutel fester. Auf dem Weg hatte er bereits bemerkt, wie schwer der Beutel war - es musste sich eine ansehnliche Summe Sternsteine darin befinden. Attur fragte sich, wofür der junge Herr so viel bezahlte, doch der Brief war versigelt und selbst wenn nicht, hätte er ihn ja doch nicht lesen können. Er betrat den Schankraum, welcher zu dieser Zeit noch nicht so gut besucht war. Einige Tische waren mit Männern gefüllt, die eine warme Speise zu sich nehmen wollten. Solche ohne Frauen Zuhause, die ihnen etwas kochen hätten können. Attur wurden einige Blicke zugeworfen; neugierige, gelangweilte, schiefe, sogar leicht skeptische. Er versuchte sie geflissentlich zu ignorieren und trat auf den Schankwirt zu, der sich bullig vor ihm aufbaute und ihn abwartend anstarrte. Als Attur vor ihm stand, sah er zu ihm auf - der Mann war ein ganzes Stück größer als der Sklave und muskulös wie ein Stier; er glich einem Koloss.
»In welchem Eurer Räume kann ich Harlekin finden?«, stellte er mit kräftiger Stimme seine Frage. Hier musste man von Anfang an zeigen, dass man wusste, was man wollte, sonst machte man sich zur leichten Beute. Der Schankwirt musterte ihn von oben bis unten, wobei seine Augen für Atturs Geschmack einen Moment zu lange auf dem Beutel in seiner Hand lagen.
»Den Gang entlang, die letzte Tür rechts.« Dabei zeigte er mit dem Daumen über seine Schulter auf eine Tür. Attur nickte und trat an dem Koloss vorbei, als dieser noch einmal das Wort an ihn richtete: »Aber was will ein junger Bursche wie du von Harlekin? Der hat keine Zeit für Kinderspielchen.«
»Mein Herr hat Geschäfte mit ihm«, erwiderte er ohne stehen zu bleiben. Er wusste schließlich selbst nicht mehr und seiner Meinung nach ging das den Schankwirt auch gar nichts an. Attur betrat den Gang hinter der massiven Tür und ging bis zum Ende weiter, bis er an der letzten Tür angekommen war. An diese klopfte er.
»Ja bitte?« Verwirrt starrte er die Tür an, als er dahinter eine Frauenstimme, anstatt der eines Mannes, vernahm, doch schnell hatte er sich wieder gefasst.
»Ich möchte zu Harlekin.«
»Das möchten sie alle«, erwiderte die Frauenstimme amüsiert durch die Tür. Missmutig kräuselte Attur seine Stirn. So einfach wollte man es ihm wohl nicht machen.
»Mein Herr schickt mich.«
»Und wer ist dein Herr?« Nun klang die Stimme schon ein wenig interessierter. Ein schmerzhafter Schrei erklang hinter der Tür. Attur wich erschrocken einen Schritt zurück. Was ging in dem Zimmer vor sich? Irgendwie war ihm die Sache nicht geheuer. Mit etwas Verspätung antwortete er doch noch: »Lord Haver ist mein Herr.«
Die Tür ging einen Spalt weit auf.
»Oh, na wenn das so ist, komm doch herein.« In dem Zimmer war es dämmrig, anscheinend waren die Vorhänge zugezogen. Im Türspalt erschien eine Frau; sie war schön, obwohl ihr Aussehen gänzlich fremdländisch erschien. Sie hatte feuerrotes, langes Haar, welches zu einem seitlich über die Schulter hängenden Zopf geflochten war. Ihre Haut war alabasterfarben und der Blick aus ihren ungewöhnlich dunkelgrünen Augen betrachtete Attur neugierig. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals eine Frau mit solchem Äußeren gesehen zu haben, mit solcher Schönheit und Anmut. Ihr Gesicht zierten beinahe aristokratisch erscheinende Züge und ein amüsiertes Lächeln. Allerdings war sich Attur nicht sicher, ob er dort hinein wollte. Er erinnerte sich nur zu gut an den Schmerzensschrei, der eben noch erklungen war. Aber Draper hatte ihm diesen Auftrag gegeben und er hatte Folge zu leisten. Sicher würde der junge Herr ihn nirgends hinschicken, wo sein Leben in Gefahr wäre… hoffte er.
Nach einem versucht unauffälligen Durchatmen machte er einen Schritt nach vorne und die exotisch anmutende Frau im Türspalt ging zurück, um ihn einzulassen. Kaum hatte er den Raum ganz betreten, wurde die Tür schon wieder geschlossen und die Frau blieb hinter ihm stehen. Attur sah sich um. An einer Wand lehnten zwei düstere Gestalten, hochgewachsen, aber beinahe dürr erschienen sie. Eine von ihnen rauchte übelriechenden Tabak; sie beide starrten ihn an. An den Gürteln trugen sie lange, gekrümmte Säbel in teuer mit Edelstein verzierten Scheiden und ihre enganliegenden Gewänder zeugten von außergewöhnlichen Stoffen, welche man in ganz Perron nicht fand.
Erneut erklang ein Schrei; dieses Mal war er ein wenig lauter, weil er nicht mehr durch die Tür gedämpft wurde.
»Halt still, du Dummkopf! Trink lieber noch etwas Brandy und beiß die Zähne fester zusammen«, zischte kurz darauf eine leise, raue Stimme dem Schreienden erzürnt entgegen. Attur sah in die Richtung, aus der er die Stimmen hörte. Doch dort befand sich nur ein lumpiger, großer Vorhang, der den Blick auf alles, was sich dahinter befand, verwehrte.
»Was wünscht dein Herr von mir?« Die Stimme war dunkel, schwer und rau. Sie sprach von Erfahrung und zugleich von unglaublicher Dominanz. Attur drehte seinen Kopf zu einem Tisch in der anderen Ecke. Auf dem danebenstehenden Stuhl saß ein Mann. Auch sein Gesicht konnte er nur schwer erkennen, weil es im Zimmer so dämmrig war. Doch ganz klar ersichtlich war, dass der Mann eine Augenklappe trug und sich vom dahinter versteckten Auge über die Wange hinunter tiefe, lange Narben zogen.
»Junger Neno, antworte.« Die Aufforderung riss Attur aus seiner Musterung und er senkte demütig seinen Kopf.
»Das hier ist für Euch.« Er ging auf den Mann zu und streckte beide Hände mit dem Beutel und dem Brief nach vorne, sodass der andere ihm beides abnehmen konnte. Dann sah er wieder auf, beobachtete, wie Harlekin den Beutel auf den Tisch stellte und das Siegel des Briefes mithilfe eines Messers zerbrach. Er faltete den Brief auseinander und überflog die Zeilen darauf, was im Halbdunkel sicher schwer war, den Mann aber nicht zu stören schien. Währenddessen hörte man von hinter dem Vorhang im Zimmer ein Wimmern. Attur sah erneut dorthin, doch seine Aufmerksamkeit wurde sogleich wieder auf Harlekin gerichtet. Dieser lachte kurz auf.
»Lord Haver hat sich nicht geändert…« Er legte den Brief beiseite und widmete sich dem schweren Beutel. Die Schnur hatte er schnell gelöst; dann drehte er den Beutel um und schüttete die Sternsteine allesamt auf den Tisch neben sich.
Ihre Größe machte mitunter den Wert aus; diese hier waren ungefähr zwei Fingerglieder groß und rund. Das Besondere - was sie von normalen Steinen unterschied - war, dass sie einen ungewöhnlichen, geheimnisvollen, goldenen Schimmer ihr Eigen nannten. Ihre Konsistenz war löchrig, porös und großporig, wobei sie durchaus ein paar Stürze auf den Boden aushielten, bevor sie in kleinere Teile zersprangen.
Die Summe, die dort auf dem Tisch lag, war immens. Wenn Attur daran dachte, dass er diese den ganzen Weg über bei sich getragen hatte… Hätte er diesen Beutel an Nikyla verloren, er verwettete seine Seele darauf, Rick hätte ihn zu Tode geprügelt. Harlekin hingegen schien gar nicht überrascht über diese Menge an Sternsteinen. Nur zu gerne würde Attur wissen, was in dem Brief stand. Wofür war diese große Bezahlung? Doch fragen war natürlich undenkbar. Er war nur der Überbringer und hatte nicht das Recht, mehr darüber zu erfahren. Außerdem war er heilfroh, wenn er wieder aus dem Zimmer gehen durfte, denn er fühlte sich hier ausgesprochen unwohl.
Die zwei Männer an der Wand hatten angefangen, leise zu tuscheln. Jedoch in einer Sprache, die Attur nicht verstand und ebenso wenig kannte. Harlekin und seine Gefährten schienen größtenteils nicht aus Perron zu stammen. Denn in diesem Land gab es weder rothaarige Frauen noch eine zweite Sprache oder derart extravagante Gewänder. Aber Attur kannte sich zu wenig mit den verschiedenen Ländern des Weltenreiches aus, um bestimmen zu können, woher sie stammen mussten.
Harlekin stand auf und ging auf den Sklaven zu. Man erkannte erst nun seine hünenhafte Gestalt, da er aufgestanden war und er war größer, als Attur zu Anfang vermutet hatte. Er umfasste Atturs Unterkiefer mit der Hand und zwang ihn zum Fenster hinüber. Dort zog Harlekin den Vorhang ein Stückchen zur Seite, bevor er das Gesicht im Tageslicht musterte und ein wenig hin und her drehte. Dabei blieb sein eigenes im Dämmerlicht verborgen. Attur musste der Sonne wegen blinzeln. Er hatte ein markantes Männergesicht, obwohl die kindlichen Rundungen darin noch zu erahnen waren. Der Bartwuchs hatte zwar bereits eingesetzt, doch seine Herren befahlen ihm, sich sauber zu rasieren. Der Kiefer war prägnant und seine langen Haare fielen ihm teilweise ins Gesicht, weil sein Pferdeschwanz sehr schlampig war. In den Strahlen der Sonne leuchteten seine honigfarbenen Augen noch heller.
»Dein Herr ist ein grausamer Mann, junger Neno. Obwohl er mich kennt, schickt er mir doch einen Jungen mit solch seltenem Aussehen, ohne ihn mir als Bezahlung anzubieten.« Attur schlug die Hand an seinem Gesicht weg und wich einen Schritt zurück.
»Ich möchte auch gar nicht als Bezahlung gelten. Ich bin nur der Überbringer.« Harlekin lachte belustigt und dunkel.
»Wenn man sich doch nur aussuchen könnte, als was man gilt, junger Neno. Sklaven werden täglich verkauft und bekommen neue Herren. Warum sollte es ausgerechnet dir anders ergehen?« Er sah Attur streng an. Der Mann vor ihm hatte recht. Es gab keine Garantie, dass die Familie Haver ihn ewig bei sich behielt. Möglicherweise käme der Tag, an dem er verkauft werden würde. Die Unsicherheit, ob sich sein Leben dadurch verbessern oder nur noch schlimmer würde, ließ Attur schaudern. Daran wollte er gar nicht denken.
Sein Gegenüber seufzte und fuhr mit seiner Hand durch das sandfarbene, ungewöhnliche Haar des Jungen.
»Aber so gerne ich dich als Bezahlung fordern möchte und als meinen Diener nähme, ich weiß, wie speziell Lord Haver sein kann. Hätte er dich mir verkaufen wollen, so hätte er es getan. Ihm muss etwas an dir liegen. Also keine Angst.« Harlekins Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Grinsen, während er durch Atturs Haare wuschelte wie bei einem Kind.
»Ich diene meinem Herrn bereits fast mein ganzes Leben«, erwiderte Attur überzeugt davon, dass dies der Grund dafür war - jedoch wahrscheinlich auch der einzige. Harlekin ließ den Vorhang wieder zurück in seine Ausgangsposition gleiten, sodass auch Atturs Gesicht nicht mehr im Licht lag und ging zurück zum Tisch, wo er sich erneut auf den Stuhl niederließ.
»Vesil, bring mir Tinte, Feder und Papier.« Eine der düsteren Gestalten an der Wand löste sich und trat auf einen schmalen Wandschrank zu, aus welchem er das Geforderte entnahm und zu seinem Herrn an den Tisch brachte. Dabei erkannte Attur weitere edle Verzierungen am Gewand von Vesil. Es sah beinahe so aus, als wären goldene Fäden in den Stoff gesponnen, welche grazile Muster formten. In Perron trugen nur adelige Männer solche schmucken Kleider; selbst dann nur zu gehobenen Anlässen. Wer waren diese Männer und woher kamen sie, dass sie derartig Wertvolles beinahe alltäglich trugen? Kaum war Vesil Harlekins Aufforderung nachgekommen, fand er sich wieder neben der anderen hageren Gestalt an der Wand ein. Er schien ihre Sprache also ebenso gut zu verstehen, wie die, mit der er eben selbst leise gesprochen hatte.
»Bringe das hier deinem Herrn.« Attur wurde ein Brief mit unbekanntem Siegel hingehalten. Es zeigte das Abbild einer Maske. Sogleich nahm er ihn an und richtete seinen Blick auf Harlekin.
»Lasse ihn nicht warten, er fiebert diesem Schreiben sicherlich bereits entgegen.« Ein düsterer Ausdruck verdunkelte Harlekins schemenhaft erkennbares Gesicht.
»Ich hoffe auf ein Wiedersehen mit dir, junger Neno.« Attur empfand definitiv nicht so; er wünschte sich, diese Ansammlung von Exoten nicht so schnell erneut zu sehen. Doch anmerken ließ er sich dies nicht zu offensichtlich; lieber nickte er stumm und drehte Harlekin den Rücken zu. Sein Blick glitt über die beiden Männer, die ihn weiterhin aufmerksam musterten, dann huschte er weiter zu der rothaarigen, schönen Frau. Sie lächelte ihm entgegen, bevor sie die Tür öffnete, sodass er hindurch schlüpfen konnte.
Kaum stand er draußen, fiel die Anspannung förmlich von ihm ab und er atmete erleichtert aus. Harlekin war ihm nicht ganz geheuer, vielleicht seiner Dominanz wegen, die sich in seinem ganzen Verhalten widerspiegelte. Attur starrte auf den Brief in seiner Hand. Besser er brachte ihn schnell zu Draper. Kaum dass er den Schankraum wieder betreten hatte, warf der Schankwirt ihm einen neugierigen Blick zu. Attur jedoch ignorierte ihn einfach und verließ die Schänke. Was interessierte ihn auch dieser wissbegierige Koloss, der doch nur hoffte, aus seinem Wissen eine gute Geschichte oder Sternsteine herausschlagen zu können?
Mit dem Brief fest in der Hand eilte Attur geschwinden Schrittes zurück zum Anwesen seiner Herren. Dort angekommen lief er durch die Küche, in der seine Mutter gerade dabei war, das Mittagessen fertigzukochen. Sie lächelte ihm gutmütig entgegen, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit widmete. Draper war sicher in seinem Arbeitszimmer zu finden. Er stieg die ausladende Treppe hinauf und wollte gerade nach dem Knauf greifen, als sich die sauber gearbeitete Tür bereits öffnete. Heraus kam sein junger Herr, der - überrascht wegen Attur, der nun direkt vor ihm stand - abrupt stehen blieb. Der Sklave machte einen Schritt zurück, um Draper nicht so ungebührlich nahe zu sein, bevor er ihm den Brief übergab.
»Dies hat Harlekin mir für Euch mitgegeben.« Sofort nahm Draper ihm die Botschaft ab und kehrte zurück in sein Arbeitszimmer. Attur folgte ihm hinein und beobachtete, wie dieser beschwingt das Siegel brach, um den Inhalt zu lesen. Drapers sonst so kühles, stoisches Gesicht drückte mit jeder gelesenen Zeile mehr Zufriedenheit aus. Es war kantig, genauso wie der Körper des jungen Herren. Muskulös, aber drahtig, mit keinem Wort als breit zu bezeichnen. Ganz anders als der Körperbau von dessen Bruder, der fleischig und hochgewachsen war. Dann erhob er seinen Kopf und sah Attur unverhohlen an. Dieser senkte sogleich demütig den Blick, da es sich nicht gehörte, seinen Herrn derart direkt und respektlos anzusehen.
»Er hat sicherlich sein Interesse an dir bekundet.« Es klang mehr nach einer Feststellung denn einer Frage. Trotzdem nickte Attur überrascht. Drapers Gesichtsausdruck wurde nachdenklich, bevor er den Blick abwandte.
»Du kannst nun gehen und deinen anderen Arbeiten Folge leisten.« Nachdem Attur entlassen war, verließ er das Arbeitszimmer und schloss hinter sich die Tür.
»Wen haben wir denn da?«, erklang eine widerlich süßliche Stimme den Gang entlang. Attur verspürte den Drang, sie zu ignorieren und weiterzugehen, doch dies würde nur Schmerzen und Züchtigung bedeuten. So blieb er stehen und drehte sich leicht zu Rick, der langsam auf ihn zukam.
»Was hast du denn im Arbeitszimmer meines Bruders zu suchen, kleiner Bastard?« Der Sklave senkte seinen Blick deutlich tiefer als zuvor bei Draper.
»Ich habe einen Brief übergeben.« Rick blieb vor ihm stehen und tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn.
»Von wem könnte dieser Brief denn gewesen sein?« Es war nicht ersichtlich, ob das eine rhetorische Frage oder eine Frage direkt an Attur gestellt war. Nichtsdestotrotz antwortete Attur vorsorglich, in der Hoffnung, das Richtige zu tun.
»Von Harlekin.« Der überraschte Blick, welcher sich dann schnell in einen interessierten wandelte, entging ihm nicht, obwohl er nicht lange in Ricks Augen währte.
»Ich habe eine Aufgabe für dich: Geh hinüber zum Haus des Statthalters. Sie brauchen noch ein paar helfende Hände für die Erweiterung des Westflügels. Dein kleiner Freund ist auch schon dort. Und wehe dir, du trödelst!« Attur nickte heftig, bevor er mit schnellen Schritten den Gang entlang lief, um Ricks Zorn ja nicht auf sich zu ziehen. Aus dem Augenwinkel sah er noch, wie der junge Herr die Tür zum Arbeitszimmer aufmachte und dort eintrat.
Wen Rick mit seinem kleinen Freund wohl gemeint hatte? Doch er würde es wohl erst erfahren, wenn er beim prunkvollen Haus des Statthalters ankam. Auf dem Weg dorthin grübelte er noch ein wenig über Harlekin und dessen Kameraden nach.
Ganz geheuer waren sie ihm wirklich nicht gewesen. Sie erschienen so fremd und erhaben. Die Frau war so wunderschön gewesen. Was sie wohl bei einem Mann wie Harlekin suchte? Wobei Attur ja nicht einmal wusste, wer oder was dieser überhaupt war. Er könnte theoretisch sogar eine Person von adeliger Herkunft sein. Die große Summe an Sternsteinen und die hochwertigen Kleider würden dafür sprechen. Allerdings fand Attur keinen Grund, warum eine solch reiche und wichtige Person dann in einer kleinen Stadt wie Rhodohr unterkommen sollte; noch dazu in einem Drecksloch wie ihrer Schänke.
Es gäbe doch viel bessere Orte. Sicher würde man Harlekin als Mitglied des Adels ins Haus des Statthalters einladen. Wobei sein Name keinesfalls dafür sprach, dass er zur gehobenen Gesellschaftsschicht gehörte. Attur hatte nicht einmal einen Nachnamen erfahren. Vielleicht war es ein Pseudonym. Und da waren auch noch dessen exotische Gefährten. War der Mann womöglich ein Adeliger oder eine wohlhabende Person aus einem fremden Land, die nicht erkannt werden wollte? Doch selbst dann blieb die Frage, weshalb er sich in dieser unwichtigen Stadt aufhielt. Attur seufzte und verzog unzufrieden ob der fehlenden, klaren Antwort sein Gesicht. Aber eigentlich ging es ihn sowieso nichts an. Das alles waren Geschäfte zwischen anderen und seinen Herren, die er nicht zu verstehen hatte. Er hatte schon häufiger als Bote fungiert und war schon dem einen oder anderen merkwürdigen Vogel begegnet. Wenngleich Harlekin ihm wohl erstmal im Gedächtnis bleiben würde.
Bald hatte Attur Rhodohr erreicht und befand sich wieder auf dem Marktplatz, wo er stehen bleiben musste, da er sich plötzlich in einer Menschentraube wiederfand. Verwirrt sah er sich um, in der Hoffnung, den Grund für diese Ansammlung zu entdecken. Doch er war zu klein, als dass er über die Umstehenden hinüber sehen hätte können. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich durch die Menschenmasse durchzudrücken. Er war schmal, sodass es ihm nicht schwer fiel, bis zum vorderen Ende zu gelangen, ohne die anderen Leute allzu sehr mit seinem Gedränge zu verärgern. Dabei stolperte er etwas zu weit, denn die Leute hatten eine Gasse gebildet, um Platz für einige Pferde zu machen. Sogleich machte Attur einen Schritt zurück, um wieder mit in der Reihe zu stehen und nicht zu sehr aufzufallen. Allem voran ritten zwei Reiter auf braunen Pferden, an ihren Hüften je ein Schwert befestigt. Dann folgte ein Kriegspferd. Es war ein gewaltiges, pompöses Wesen, das einem normalen Pferd durchaus glich. Nur mit dem Unterschied, dass es ein Stockmaß von gut sechseinhalb Fuß, Pranken mit robusten, starken Krallen statt Hufen und scharfe, lange Eckzähne besaß.
Es war ein Tier, das man in Perron nur allzu selten antraf. Ursprünglich stammte es aus Tinon, dem fernen Osten, von dem es hieß, dass die Sonnen sich stetig abwechselten und somit niemals untergingen und die Sommer ewig hielten. Mit den Jahrzehnten hatten sich ein paar davon in das restliche Weltenreich verteilt, doch angeblich war es ihnen nur in Tinon und den dortigen Wetterlagen möglich, Fohlen zu gebären, weshalb sie immer seltener wurden, je weiter man sich vom Osten entfernte. Im Westen, in Perron, gab es sie deshalb beinahe gar nicht. Attur fragte sich noch immer, wie Beldur - der das Kriegspferd stolz und erhaben ritt - an eine solche Kostbarkeit gekommen war. Am wahrscheinlichsten war, dass Prinz Altair - der Sohn des Herzogs ihrer Region - eine nicht ganz unwichtige Rolle bei der Beschaffung gespielt hatte. Vielleicht ein Zuvorkommen, da ihre Familien in naher Zukunft verknüpft würden.
Selbst das Zaumzeug und der Sattel des Kriegspferdes waren aus teuerstem Leder, die Riemen und Metallringe glänzten im Sonnenlicht von Sultas und die wilde Mähne - pechschwarz wie auch der restliche Körper - wehte im leichten Wind und glänzte gesund und kräftig. Es war ein wahrlicher Augenschmaus, ein solches Wesen zu betrachten und ein bewunderndes Raunen ging durch die Menge hinter Attur. Beldur erhielt dadurch die Anerkennung, die er sich wohl immer gewünscht hatte, schon seit er in der Wiege gelegen hatte. Nur besaß man ebenso gehörigen Respekt vor diesem Tier; so groß und ungeheuerlich wie es war. Anstelle von Hufgetrappel vernahm man das Kratzen der gewaltigen Krallen im kiesigen Untergrund und der lange Schweif schwang hin und her, sodass man Acht geben musste, davon nicht getroffen zu werden; denn dahinter verbarg sich augenscheinlich einiges an Kraft. Doch Kriegspferde waren äußerst ruhige und gelassene Tiere, denn schließlich mussten sie sogar in Kriegs- und Kampfessituationen die Ruhe bewahren und durften nicht türmen. Sie waren heiß begehrt in den kleineren Grenzscharmützeln zwischen den verschiedenen Ländern, die es immer mal wieder gab. Doch Attur interessierte sich dafür nicht sonderlich. Er war ein einfacher Sklave, da musste er sich über derlei Dinge keine Gedanken machen. Das war die Aufgabe der mächtigen Männer ihres Landes.
Nach dem Kriegspferd, auf welchem Beldur wie der Weltenkönig selbst thronte, folgte eine Sänfte, getragen von vier starken Männern. Sie war aus edlem Holz und verkleidet durch pure, leicht geraffte Seide. Attur wusste genau, wer dort saß und transportiert wurde. Eine zarte, schlanke Hand glitt durch den Spalt zwischen den hochwertigen Stoffen und schob sie ein Stück beiseite, sodass Atturs Blick auf das anmutige, sanfte Gesicht der jungen Frau fiel, welche dadurch offenbart wurde. Ihr rabenschwarzes, langes Haar war kunstfertig in einer aufwendigen, grazilen Hochsteckfrisur zur Schau gestellt, was ihr Gesicht schmaler wirken ließ. Dünne, beinahe zerbrechlich scheinende Goldkettchen waren mit ihrem Haar verwoben und ihr dunkelrotes Kleid wurde ebenso von sanftem Gold geziert. Doch sie hätte ebenso gut in Lumpen vor ihm stehen können, für ihn wäre sie trotzdem wunderschön gewesen. Ihr Anblick raubte ihm den Atem und als ihre dunklen, wachen Augen ihn erfassten, zeichnete sich ein kaum merkliches Lächeln auf ihren blutroten Lippen ab. Erkannte er da sogar ein freches Funkeln in ihrem Blick? Für einen winzigen Moment? So wie sie es früher oft völlig ungeniert in seiner Gegenwart gezeigt hatte? Allerdings war es zu schnell wieder verschwunden, sodass Attur nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob es nicht doch nur seine Einbildung gewesen war.
»Aus dem Weg!« Die strenge Stimme des Sänftenträgers riss Attur aus dem Bann, den Rhez über ihn gelegt hatte. Er musste ein paar Mal blinzeln, bis er verstand, dass er unbewusst einen Schritt vor gemacht hatte und somit der Sänfte den weiteren Weg erschwerte. Sofort trat er zurück und sah erneut hinüber zu dem Spalt im Stoff, doch die haltende Hand war verschwunden und mit ihr der Ausblick auf Rhez.
»Dummer Junge«, hörte Attur noch von dem Sänftenträger. Die Wut packte ihn, doch anstatt auf den Mann loszugehen, machte er auf dem Absatz kehrt und schob sich grob und ohne Rücksicht durch die Menge. Warum er wütend war? Vielleicht, weil der Mann ihn beleidigt hatte. Viel eher aber, weil Rhez in so unglaublich weite Ferne geglitten war und er sie nicht mehr zu fassen bekam. Sie war versprochen. An Prinz Altair. Schon bald würde sie ihn zum Gemahl nehmen und aus Rhodohr fortziehen, um bei ihm zu leben. Für sie und ihre Familie war es eine große Ehre und zugleich Aufstiegschance, doch für Attur das Schrecklichste, was ihm hätte passieren können. Er vermisste die gemeinsamen Nächte mit ihr auf den Wiesen nahe dem Stadtrand. Vermisste ihre warme Hand in seiner, wenn sie ihn freudig mit sich zog, auf ihren Streifzügen unter dem Sternenhimmel.
Doch das alles gehörte längst der Vergangenheit an. Eine Adelige und ein Sklave? Ein Wunder, dass ihre Eltern es Rhez als Kind erlaubt hatten. Wie sehr wünschte Attur sich diese glücklichen, unbeschwerten Tage zurück; allerdings gab es keine Möglichkeit, sie auch nur ein einziges Mal wieder zu erleben. Alles, was ihm blieb, war der trügerische Nachgeschmack des Himmels, von dem er einst kosten durfte. Es gab Tage, da wünschte er sich, sie nie kennen gelernt zu haben. Dann würde es nun nicht so weh tun, sie so nah und gleichsam so fern zu wissen; so unerreichbar für ihn.
Am Haus des Statthalters angekommen, waren die Arbeiten am Westflügel kaum zu übersehen. Große Eisenträger wurden mithilfe von Flaschenzügen und viel Manneskraft hinauf gehievt, um ein stabiles Grundgerüst zu schaffen. Das Gebäude sollte erweitert werden und natürlich nahm man, was am besten den Reichtum des Statthalters wiederspiegelte: Eisen und Metall. Diese Rohstoffe waren sehr gefragt, denn König Silfar stockte seine Waffenkammern auf. Beinahe als würde er einen Krieg fürchten. Wer es sich dann noch leisten konnte, das Gerüst seines Hauses mit Eisen zu stärken, musste wahrlich reich sein.
Attur ging Schnurstraks auf die Männer zu und entdeckte unter ihnen Haal. Ihn hatte Rick also gemeint. Auch der andere bemerkte ihn und lächelte ihm breit entgegen, als Attur auf ihn zukam.
»Du wurdest auch geschickt, um zu helfen?« Er nickte. »Anscheinend wollen unsere Herren sich mit dem Statthalter und den Bürgern gut stellen. Sonst würden sie uns kaum für fremde Arbeit herausgeben, die auch noch ohne Lohn ist, wenn es bei ihnen selbst genug zu tun gibt.« Haal hatte Recht und wusste bei solchen Sachen sowieso viel besser Bescheid. Er half ständig beim Verladen von Metall, obwohl er jünger war, nicht so wie Attur, dem einfach jede anfallende Arbeit aufgehalst wurde. Nicht, dass er sich beschweren wollte; es war in Ordnung, wie es war. Er mochte die Botengänge und Holzhacken. Es waren einfache Arbeiten, bei denen er nichts falsch machen konnte.
»Lord Haver hofft schließlich, seinen zweiten Sohn als Statthalter einsetzen zu können, sobald der jetzige das Zeitliche gesegnet hat. Irgendwie muss er sich dann ja engagieren, um sich von den Nebenbuhlern abzusetzen«, erwiderte Attur schulterzuckend. Der jüngere Sklave schüttelte nur grinsend den Kopf. »Zu spät. Siehst du da?«, er zeigte mit dem Kopf auf einen bulligen Mann mit zerfleddertem Gesicht, »Der wurde von Lord Sigel gesandt. Unser Herr ist nicht der Einzige, der versucht, dem Statthalter und den Bürgern zu hofieren.« Haal sah zu einem hochgewachsenen Mann hinüber, der den Arbeitern Befehle zurief.
»Du solltest dich bei ihm vorstellig machen«, riet er ihm noch, bevor er an seine Arbeit zurückkehrte und schwer aussehende, gigantische Eisennägel vom staubigen Boden aufhob, um sie einem anderen zu bringen, der anscheinend bereits darauf wartete.
Attur folgte Haals Rat und begab sich zu dem strengen, kräftigen Mann, der ihn um mindestens eineinhalb Köpfe überragte. Ein stählerner Blick bohrte sich förmlich in Atturs honiggelbe Augen. Er merkte, wie er genauestens gemustert wurde, so wie von vielen, die ihn noch nie gesehen hatten. Dunklere Haut zu sandfarbenem Haar fand man hier eigentlich nicht.
»Wenn du nichts zu sagen hast, verschwinde und störe mich nicht bei meiner Arbeit!«, hallte es ihm sogleich entgegen. Trotz der Strenge in der gesamten Haltung des Mannes und dessen Stimme, blieb Attur standhaft.
»Ich komme auf Geheiß von Lord Haver, um den Bau am Westflügel zu unterstützen.« Erneut wurde er unverhohlen beäugt, bevor der Mann nach seinem Oberarm griff und leicht zudrückte. Er rümpfte die Nase.
»Wir werden schon etwas finden, worin du dich nützlich machen kannst.« Attur fühlte sich beleidigt, denn er war sicher nicht schwach. Dank der teilweise doch sehr harten Arbeit bei seinen Herren besaß er einen kräftigen Körper, obschon er sicher nicht an den Fleischberg herankam, vor dem er gerade stand.
»Fidel Nostus mein Name. Solange du hier aushilfst, hörst du auf mein Kommando!« Nachdem Fidel sich vorgestellt und ihre Rollenverteilung unumstritten festgelegt hatte, gab er Attur sogleich Aufgaben, denen er nachkommen sollte. Er schleppte schwere Eisenträger und Stahlgerüste, half am Flaschenzug, diese in die richtige Position zu bringen und sie dort so lange zu halten, bis die Arbeiter auf dem bereits bestehenden Gerüst sie befestigt hatten. Sie arbeiteten den ganzen Tag, sahen Sultas das Weltenreich umkreisen und Toltas seine Runden ziehen, bis die sternenklare Nacht bereits drohte, über das Land zu fallen. Erst dann wurden sie entlassen. Erschöpft und mit schmerzenden Gliedern machten sich Haal und Attur auf den Heimweg, nur um bereits erneut aus den Betten geworfen zu werden, sobald Sultas die Herrschaft über das Land an sich gerissen hatte und den Himmel besetzte. Die Nächte in Perron, die tatsächlich sonnenlos waren, bestanden nur aus wenigen Stunden.
Viele Tage halfen die Sklaven der Familie Haver beim Bau des erweiterten Westflügels. Sie wurden mit auf das Gerüst geschickt, um von dort aus die Eisenträger zu befestigen, die die anderen Helfer nach oben zogen, weil die beiden flink und leicht waren. Fidel hatte die Baustelle immer mit Argusaugen im Blick und brüllte jene an, die trödelten; drohte ihnen mit Strafen. Die meisten, die hier arbeiteten, waren ebenfalls Sklaven, sodass es Attur nicht wundern würde, falls Fidel sie tatsächlich bestrafen würde, wenn sie faulenzten.
Er kniete neben Haal auf dem stabilen Gerüst, in beinahe schwindelerregender Höhe. Mit den Tagen hatten sie gelernt, sich auf den Eisenbalken zu bewegen wie auf Mutter Erde. Mithilfe schwerer Hämmer trieben sie lange Nägel in den Stahl, um ihn zu fixieren. Glutsteine halfen ihnen dabei, die Stellen zuvor zu erweichen, um überhaupt mit bloßer Manneskraft Stahl in Stahl treiben zu können. Nachdem sie fertig waren, mussten die Stellen wieder abkühlen, erst dann durfte der Eisenträger losgelassen werden, sonst würde er der weichen Stellen wegen nicht halten.
»Wie geht es deiner Mutter? Ich habe sie heute Morgen gar nicht gesehen.«
Attur nahm mithilfe eines eigens dafür angefertigten Handschuhs einen Glutstein beiseite, bevor er mit einem der Nägel ansetzte.
»Sie ist erschöpft. Die große Menge an Arbeit, die sie zu bewältigen hat, während wir nicht da sind, macht ihr zu schaffen.« Er trieb den Nagel in das Eisen. Haals Miene war offen besorgt.
»Wie lange meinst du, werden wir hier bei dem Statthalter noch gebraucht?« Nachdem Attur auch mit dem letzten Nagel fertig war, sah er sich auf der Baustelle um. Der Schweiß rann ihm hinab, während er sich die langen Haare zurück in den lockeren Pferdeschwanz steckte.
»Vielleicht noch ein paar Tage. Das Gerüst steht beinahe, danach folgen die Mauern, das können wir nicht. Von daher werden wir dann wohl zurückgeschickt. Unser Lord wird uns auch nicht viel länger entbehren können, wenn ich an die ganze Arbeit auf dem Anwesen denke…«
Haal nickte zustimmend, dann seufzte er. »Ich hoffe es.« Sie waren ebenfalls müde, denn das lange und harte Arbeiten überstieg sogar noch ihren Alltag bei ihren Herren. Vor allem waren sie ohne Pause Sultas und dessen alles verbrennender Hitze ausgesetzt. Attur legte den schweren Hammer weg, da sah er, wie Haal das Zeichen gab, den Eisenträger loszulassen. Sein Blick huschte über die Nägel.
»Nein, Haal, warte!« Die Stellen waren noch nicht wieder ausgehärtet. Er wedelte verzweifelt mit den Händen, dass die Männer unter ihnen nicht loslassen sollten, rief, doch es war zu spät. Sie hatten bereits auf Haals Zeichen gehört und die Seile gelockert, damit die beiden sie vom Träger lösen konnten. Das Unvermeidliche trat ein: Der Stahl unter ihnen knarzte und quietschte, dann hörte man, wie er brach. Attur sah, wie die Risse sich von den Nägeln aus ausbreiteten, bis der schwere Balken durch sein eigenes Gewicht nach unten in die Tiefe gezogen wurde. Man hörte Schreie, panisches Kreischen aus der Menge unter ihnen. Die Männer liefen, sobald sie bemerkten, dass der Stahlträger auf sie niederkam. Vergessen waren die Seile, die den Sturz noch hätten aufhalten können, doch bei der Wucht, die der Fall des Eisens mit sich brachte, hätte es mehr Männer gebraucht, um ihn aufzuhalten, als sie hatten. Es donnerte laut, als der Balken unten aufkam - auf einigen anderen Stahlträgern, die schon bereit lagen.
Sofort war Fidel zur Stelle, er kam mit erzürntem Gesicht angelaufen, starrte auf den gefallenen und kaputten Eisenträger, dann hinauf zu Attur und Haal.
»Runter, augenblicklich oder ich bringe euch dazu, dem Stahl zu folgen!«, brüllte er völlig außer sich. Sein Gesicht war so rot angelaufen, dass Attur es selbst aus dieser Entfernung noch erkennen konnte. Er rüttelte an Haal, der noch immer fassungslos in die Tiefe starrte. Sobald er ihn entgeistert anstarrte zischte er: »Beweg' dich, sonst wird das nur noch schlimmer für uns!« Da kam endlich wieder Leben in Haal und sie eilten über das Gerüst hinunter, bis sie vor Fidel standen, die Köpfe demütig geneigt und ihre Strafe abwartend. Wenigstens war niemand verletzt worden. Fidel war so wütend, dass eine Ader an seiner Stirn unregelmäßig pochte.
»Ihr vermaledeiten Nichtsnutze! Dreckiges Sklavenpack! Im Brunnen ersäufen sollte man euch, räudige Straßenköter!« Fidel machte seinem Ärger in wüsten Beschimpfungen Luft, zeigte mit dem Finger auf sie und riss Atturs Kopf an dessen Haaren grob hoch, was ihn überrascht aufschreien ließ.
»Sogar der Staub unter meinen Füßen ist schlauer als ihr! Wie oft habe ich euch gesagt, dass ihr aufpassen sollt?! Und sowas sind die Sklaven des großen Metallwarenhandels-Vertreters Haver!« Er stierte in Atturs Gesicht, der die Augen leicht zusammengekniffen hatte, ob des Schmerzes oder Sultas' gleisendem Licht war nicht ganz klar. Noch immer erzürnt stieß Fidel ihn wieder von sich, sodass er stolpernd zu Boden fiel, trat mit dem Fuß nach Haal. Dann ging er zu dem herabgefallenen Stahlträger und versuchte den Schaden auszumachen. Währenddessen rappelte Attur sich wieder auf, Haal rieb sich über die nun schmerzende Wade, da er dem Tritt nicht ganz ausweichen hatte können.
»Ruiniert!«, hörte man von Fidel, der um die Träger herumging. »Der darunter auch verbogen«, schimpfte er weiter. Um sie herum hatten sich die anderen Arbeiter gescharrt, die sich nur langsam von dem Schrecken erholt hatten und nun zusahen, was Fidel Nostus tat. Den Mann mit dem zerfleddertem, ledrigen Gesicht erkannte Attur auch in der Menge. Er grinste, als sich ihre Blicke trafen. Das Grinsen war dreckig und schadenfroh und das Gesicht erinnerte Attur an einen Breitmaulfisch, der ihn mit starrem Blick fixiert hielt. Er schüttelte sich. Was für ein unangenehmer Kerl.
»Damit kommt ihr nicht ungeschoren davon, ihr Bastarde!«, keifte Fidel, als er zurück zu ihnen kam.
»Es… es war-«
»Wenn du etwas zu sagen hast, dann spuck es aus und vertrödel nicht meine Zeit«, fuhr er Haal sofort an, was diesen zurückzucken ließ.
»Es war meine Schuld. Ich habe das Zeichen zu früh gegeben, Attur kann nichts dafür. Ich war unaufmerksam, nicht er.« Man merkte ihm an, wie schwer ihm diese Worte über die Lippen kamen. Attur sah, wie Haals Unterlippe zitterte. Er hatte eindeutig Angst vor der Strafe, vor allem, dass sie nun schlimmer für ihn ausfiel, wo er die Schuld auf sich alleine genommen hatte. Attur wollte etwas sagen, wollte den anderen in Schutz nehmen. Schließlich war Haal jünger als er, er musste für ihn einstehen, weil es sonst niemand tat.
Doch er konnte nicht. Er bekam nicht einmal den Mund auf; stattdessen starrte er seinen Freund an, sah dessen ängstlichen Blick und hasste sich selbst dafür. Haal stand für seinen Fehler ein, obwohl er Angst hatte und was tat er? Er stand vollkommen hilflos daneben und tat nichts. Er versuchte nicht einmal, dem anderen zu helfen. Was war er nur für ein ängstlicher Feigling.
Erst der abschätzige Laut, den Fidel von sich gab, ließ sie beide wieder zu diesem sehen.
»Es ist mir ganz egal, wer von euch den Helden spielt und die Schuld auf sich nimmt. Ihr wart beide dort oben und habt teuren Rohstoff beschädigt!« Er deutete auf die Eisenträger. Natürlich war der Rohstoff nicht verloren, man konnte ihn wieder einschmelzen und neu formen, aber das kostete Zeit und Geld.
»Macht euch frei und auf die Knie!« Mit zittrigen Fingern zog Attur sich sein schmutziges, verschwitztes Leinenhemd aus und sah aus dem Augenwinkel, dass Haal es ihm zögerlich gleichtat. Sie knieten sich vor Fidel, sodass ihre Rücken ihm präsentiert wurden. Währenddessen hatte der Mann sich eine Peitsche geben lassen. Attur biss die Zähne zusammen, als er auch schon das surrende Geräusch der Peitsche hinter sich hörte. Haal schrie neben ihm auf. Sein Herz schlug ihm vor Aufregung gehörig gegen die Brust, als wolle es daraus entfliehen, als sein Freund neben ihm mit dem Oberkörper nach vorne in den Staub sank.
»Der erste Schlag gebührt dir, wo du die Schuld doch so schön auf dich genommen hast«, höhnte Fidel, bevor auch Attur aufschrie, da die Peitsche sich dieses Mal in sein Fleisch vergruben hatte. Beim ersten Hieb schaffte er es noch, aufrecht zu bleiben, doch bereits kurz darauf sank auch er bei jedem weiteren Peitschenhieb zusammen und musste wieder aufgerichtet werden, um den nächsten zu erdulden. Schlussendlich wusste er nicht, wer von ihnen mehr gezüchtigt worden war, vielleicht Haal, vielleicht aber auch er.
Sie lagen beide noch eine Weile reglos da, nachdem Fidel die Peitsche längst wieder weggesteckt hatte, und hörten um sich herum, wie die anderen weiterarbeiteten. Fidel hatte andere hinauf geschickt, um die Eisenträger zu befestigen. Sultas brannte auf sie herab und das Blut auf ihren Rücken trocknete schnell. Ein Schauspiel, um den anderen zu zeigen, was ihnen blühte, wenn sie achtlos oder faul wurden.
Irgendwann vernahmen sie Fidels raue, strenge Stimme, die wenigstens nicht mehr so erzürnt klang, wie noch zuvor.
»Verschwindet für heute. Euer Herr weiß bereits Bescheid, besser ihr kehrt bald zurück. Ich erwarte euch morgen - für den Bodendienst.« Attur schaffte es als Erster, sich wieder aufzurappeln. Er nahm sein Hemd und wartete, bis sein Freund ebenfalls auf den Beinen war. Dann trottete er langsam weg vom Haus des Statthalters. Schnell hatte Haal aufgeholt, wenngleich man in seiner ganzen Gangart sah, wie sehr ihm die Wunden schmerzten.
»Verzeih, Attur. Ich war unaufmerksam und deshalb wurdest auch du-«, Attur schnitt ihm mit einer knappen Geste das Wort ab und schüttelte den Kopf, ohne ihn überhaupt anzusehen.
»Ich hätte nur besser Acht geben müssen.« Haal senkte stumm den Blick und ließ sich beim Gehen ein Stück nach hinten fallen, nachdem Attur ihn derart abgewiesen hatte. Doch Attur war nicht wirklich böse auf den anderen. Es war viel eher die Erkenntnis, ein Feigling zu sein, die ihn wie ein Schlag in die Magengrube traf.
*
Verständnislos starrte er seinen Vater an, dessen starrer Blick dieses Mal nicht ihm galt, sondern dem Garten, welcher sich vor dem großen Fenster erstreckte. In seinem fahlen Gesicht, das bereits von den Jahrzehnten gezeichnet war, die er auf dieser Erde weilte, breitete sich nichts als kühle Berechnung aus.
»Benutze deinen Kopf oder hast du ihn nur auf deinen Schultern sitzen, dass es dir nicht in den Hals regnet?« Die Stimme war schneidend und provozierend, doch das war sie schon immer gewesen, seit Draper sich daran erinnern konnte, sie gehört zu haben. Sein Vater umklammerte den Gehstock ein wenig fester, als er seine dunklen, leicht milchig-trüben Augen tatsächlich vom Garten lösen konnte, in dem Adina sich unter den kühlen Sonnenstrahlen von Toltas um die Blumen kümmerte, und auf seinen massiven, makellos gearbeiteten Schreibtisch zuging. Er hob einen Brief mit der freien Hand hoch, als würde er ihn noch einmal lesen.
»Er wünscht sich den Jungen. Denkst du nicht auch, dass es schlauer ist, jemandem erst zu zeigen, was er haben könnte und damit sein Verlangen zu vergrößern, anstatt es ihm gleich vor die Füße zu werfen?« Nun galt der Blick von unten herauf eindeutig ihm. »Wenn man einem hungrigen Tiger lange genug das Stück Fleisch vor dem Käfig zeigt, wird er irgendwann völlig darauf fixiert sein. Es wird zu seinem Herzenswunsch.« Mit einem beinahe lieblichen Lächeln strich Lord Haver über den Brief, sobald er ihn wieder zurück auf den Tisch gelegt hatte.
»Aber wir hätten ihn als Bezahlung verwenden können und uns damit eine enorme Summe eingespart.« Tadelnd schüttelte der Greis seinen Kopf auf Drapers törichte Annahme und hob seinen dürren, knochigen Finger belehrend in die Höhe.
»Du musst endlich anfangen zu lernen, was es heißt, vorauszuplanen«, murrte er griesgrämig, bevor er sich mit einem Stöhnen in den Stuhl sinken ließ.
»Es wird der Tag kommen, an dem er mehr von uns verlangt als heute und genau an diesem Tag wirst du ihm den Jungen versprechen. Dann, wenn dem Tiger bereits Speichelfäden aus dem Maul herabhängen.« Lord Augustus Haver hatte die Hände verschränkt und seine Augen sprachen von List.
Es klopfte und eine Dienerin trat ein. »Ein Bote, Lord Haver.«
»Soll hereinkommen«, war das Gemurmel des Hausherrn und er trat ein. Er deutete eine Verbeugung an.
»Sprich«, forderte Augustus Haver auf. Der Mann nickte und richtete seinen Blick auf beide Anwesenden.
»Auf der Baustelle am Haus des Statthalters geschah ein Unfall, den die beiden Sklaven Eures Hauses verschuldeten. Dabei sind zwei Stahlträger beschädigt worden. Die Sklaven wurden noch vor Ort gezüchtigt.« Draper zog verärgert die Augenbrauen zusammen, doch sein Vater hatte das Weisungsrecht.
»Sie werden selbstverständlich von mir ersetzt. Richte Statthalter Pilus mein tiefstes Bedauern aus.« Mit einer erneuten angedeuteten Verneigung verließ der Bote den Raum. Kaum war die Tür hinter ihm wieder geschlossen, wandte Draper sich um.
»Ein solcher Vorfall erhöht unsere Beliebtheit nicht unbedingt bei den Bürgern«, wandte er vorsichtig ein. Doch die wegwischende Handbewegung seines Vaters beruhigte ihn.
»Selbst wenn unsere Sklaven nun unfähig erscheinen mögen, schmälert das nicht gleichsam unseren Ruf. Wir ersetzen den Schaden großzügig und gewinnen so noch höheres Ansehen. Veranlasse sogleich, dass vier Stahlträger zur Baustelle gebracht werden.« Er blätterte in seinen Unterlagen. »Den Verlust, den wir heute machen, wandeln wir zu Gewinn, sobald Rick erst Statthalter ist.« Draper nickte, bevor er aus dem Raum verschwand, um seines Vaters Befehle auszuführen und auf die beiden Unglückseligen zu warten.
Raduskray N'emess blickte in die dunkle Nacht. Die drückenden Wolken besiedelten den Himmel und schienen die Sterne verstecken zu wollen. Als müssten sie verhindern, dass sie von jemandem gestohlen wurden. Man sah die Hand vor Augen kaum, was ihr Vorhaben erschweren, doch zur selben Zeit erleichtern würde.
Leise huschten sie über den nassen Waldboden; das vereinzelte Laub raschelte unter ihren Füßen. Durch die Baumwipfel fanden die schweren Regentropfen einen Weg hinab. Das Wasser war warm, welches Raduskray in den Nacken tropfte. Er wischte es mit einer nebensächlichen Handbewegung weg. Es rauschte über ihren Köpfen und unter ihren Füßen schmatzte die aufgeweichte Erde und verschmutzte ihr Schuhwerk, als sie darüber schlichen.
Raduskray machte eine Geste, die seine Gefährten der Dunkelheit wegen wohl nur erahnen konnten, doch sie stoppten wenige Schritte hinter ihm. Gerade rechtzeitig, wie sich herausstellen sollte. In völlige Stille getaucht warteten sie. Auf was, war bis zu dem Moment, in dem Fußstapfen zu vernehmen waren, unklar. Der warme, helle Schein einer Laterne blitzte durch die Blätter um sie herum und kam stetig näher. Raduskray legte seine Hände vor dem Mund ineinander und formte zwischen den Handflächen eine Kuhle. Erst als der Schein der Laterne nahe genug an sie herandrang, dass Raduskray die kräftige Gestalt, die davon erhellt wurde, ausmachen konnte, agierte er. Zwischen seinen beiden Daumen blies er hinein und ahmte durch das Bewegen der Finger den Ruf einer Eule nach.
Die Gestalt drehte sich sogleich zu dem Ruf um, allem Anschein nach verwirrt, doch zu einer weiteren Reaktion oder gar einem Warnsignal kam sie nicht mehr. Denn ein Surren im Wind war zu vernehmen und ein gurgelndes Geräusch drang aus ihrer durchtrennten Kehle. Der Pfeil steckte dabei noch im Fleisch. Der Mann verdrehte im Licht der Laterne die Augen und spuckte Blut, bevor seine Knie nachgaben und er dumpf auf dem nassen Boden aufschlug.
Der gläserne Windschutz landete neben dem Sterbenden und einer von Raduskrays Gefährten schnellte nach vorne, um Laub auf die Lichtquelle zu werfen. Erst dann streckte er vorsichtig seine Finger darunter, um das heiße Metalltürchen zu öffnen, wobei ihn die Hitze nicht zu stören schien. Er blies die Kerze im Inneren aus und brachte so das verräterische Licht zum Erlöschen. Dabei flirrte die Luft, die aus seinem Mund entfloh. Dann stand er auf, behielt aber eine gebückte Haltung bei, bis die anderen beiden zu ihm aufgeschlossen hatten.
Zu dem Geruch von frischem Regen und nasser Erde mischten sich der metallene von Blut und der penetrante von den letzten Ausscheidungen eines Toten. Mit gerümpfter Nase schritt Raduskray über den kleinen Trampelpfad, der durch die Runden der Wachen entstanden war. Er wartete im gegenüberliegenden Dickicht auf ihren letzten Gefährten, der bei der Leiche Halt gemacht hatte und über sie gebeugt ihre Taschen durchsuchte. Dann rollte er sie ins hohe Gras, damit ihr Tod lange genug unentdeckt blieb. Ein gehauchtes »Nichts« machte Raduskrays Hoffnungen zunichte, als auch sein letzter Gefährte zu ihnen gestoßen war.
»Dann müssen wir sie alle töten.« Ein klarer Befehl, der nur mit einem kaum erkennbaren Nicken aufgefasst wurde.
Ihr Weg trennte sich nun.
Raduskray kroch weiter im gebeugten Gang durch das Dickicht des Waldes, den Geruch von Erde in der Nase. Diesen zog er dem von Blut und Kot eindeutig vor. Erst ein erneuter Lichtstrahl ließ ihn stoppen. Er vernahm Stimmen und auf den zweiten Blick erkannte er, dass es sich nicht nur um eine Laterne handelte.
»Warum wurde die Bewachung der Wasserkristalle verstärkt? Niemand würde so etwas Kostbares beschädigen oder stehlen wollen. Hier ist der einzige Ort, an dem sie ihren Sinn für jeden erfüllen.« Ein Lachen erklang.
»Niemand aus Perron vielleicht.«
»Was erzählst du da? Die anderen Länder sind viel zu weit entfernt von diesem Ort. Sie müssten Tage und Wochen durch Perron wandern, um zurück in ihr Land zu kehren. Niemand wäre so dumm und würde davon ausgehen, dass er schneller ist, als sich eine solche Nachricht verbreiten würde«, wies die erste Stimme hin. Ein weiteres kehliges Lachen.
»Na wenn du meinst. Du solltest deine Runde weiter drehen, nicht, dass du noch Ärger bekommst.«
»Du würdest mich doch nicht verraten, oder alter Freund?« Raduskray war nahe genug herangeschlichen, um die beiden Männer erahnen zu können. Einer davon lehnte an einer fest montierten Laterne, der andere hielt die seinige in der Hand.
»Ich nicht, aber der befehlshabende Wachmann wird vielleicht stutzig, wenn du so lange brauchst, um wieder bei ihm anzukommen.« Der andere machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Der ist eher mit Saufen beschäftigt. Jedes Mal, wenn er denkt, dass es niemand sieht, nimmt er einen Schluck.« Er lehnte sich zu seinem Kameraden hinüber. »Ich denke, ich werde mir gleich auch einen genehmigen. Wenn er fragt, war das Sauwetter daran schuld. Also, bis zur nächsten Runde!«
»Pass auf, dass die Waldtiere dich nicht beißen!«, rief der Mann an der montierten Laterne dem Gehenden noch hinterher, erhielt aber nur noch ein raues Lachen.
Wie viele Männer wohl noch auf sie warteten, wenn die Bewachung verstärkt wurde? Wusste man etwa, dass sie kamen? Doch selbst wenn, gab es nun kein Zurück mehr, weder für Raduskray, noch für seine Gefährten und das wussten sie alle.
Er beobachtete den Mann einen Augenblick aus dem hohen Gras heraus. Seine Kleidung war bereits völlig durchnässt und klebte ihm am Körper, ebenso wie die des Wachmannes. Er hörte einen Eulenruf in der Nähe und kurz darauf einen weiteren. Ihr Schütze war also erstmal beschäftigt. Leider hatte nicht nur Raduskray diese Laute vernommen. Der Mann an der fest montierten Laterne horchte auf. Bevor dieser auf dumme Gedanken käme und ihren listigen Plan damit zunichtemachte, zückte Raduskray einen Dolch, mit dem er sich nun besonders leise zu seinem Gegner schlich.
Ihm waren hinterhältige Manöver gänzlich zuwider, doch was blieb ihm anderes übrig, wenn ihre Mission im Geheimen vollendet werden musste? Er tat es für sein Land, für sein Volk, seine Brüder und Schwestern und dafür konnte er einen so unehrenhaften Kampf hinnehmen.
Der Mann vor ihm zuckte zusammen, hatte wohl seinen letzten Schritt gehört, und er erkannte, wie sich in ihm jeder Muskel anspannte, die Hand auf den Griff der Waffe legte. Doch Raduskray war schneller und die Klinge des Dolches steckte bis zum Anschlag im Rücken des anderen. Hindurch zwischen den Rippen hatte er nach oben gestochen, um das Herz zu treffen. Er drückte seine andere Hand fest auf den Mund des Wächters, um mögliche Laute zu unterbinden, bevor der Mann vor ihm ein letztes Mal aufbegehrte und dann die Spannung im Körper nachgab. Als er den Leichnam auffing, trat ein Schwall Blut aus der Wunde.
»Weißt du, ich habe es mir anders überlegt. Ich teile mit dir.« Raduskray erschrak, als er die Stimme des Mannes hörte, der bis eben noch mit dem Toten gesprochen hatte. War dieser nicht weiter seiner Runde gefolgt? Sein Herz raste in seiner Brust, als er die Leiche mit sich ins Dickicht zerrte, schnell, bevor der Mann in Sichtweite kam. Gerade als er den Toten abgelegt hatte, erschien der andere Wächter und blickte verwirrt auf die leere Stelle, an der bis eben noch sein Kamerad gelehnt hatte. Langsam ging er auf die Laterne zu. Raduskrays Blick fiel auf das Blut, welches auf dem nassen Boden schimmerte. Er formte schnell die Hände vor dem Mund. Auch der Wächter hatte das Blut entdeckt und ging darauf zu. Im Schein der Laternen erkannte man den misstrauischen Ausdruck in dessen Gesicht.
»Edwin? Ed-« Das Surren eines Pfeils unterbrach den Ruf und ließ das Spiel von vorne beginnen. Ein Gurgeln, das die Geräuschkulisse der regnerischen Nacht erweiterte, eine Leiche, die vom Trampelpfad entfernt wurde, und eine Laterne, die erlosch.
Auch den Windschutz der feststehenden Laterne öffnete Raduskray, ohne der Hitze an seinen Fingern überhaupt Beachtung zu schenken, und blies die darin stehende Kerze aus, sodass er sich wieder in völliger Dunkelheit befand.
Er musste mehrmals blinzeln, um in der nun wieder vorherrschenden Finsternis auch nur ansatzweise etwas zu erkennen. Dann führte sein Weg ihn weiter. Näher an sein Ziel.
Das Schimmern war von Anfang an ganz anders. Es war nicht warm, nicht gelblich, nicht flackernd wie das einer Kerze. Es war kalt und stetig. Keine Regung war darin zu erkennen. Beinahe, als wäre es totes Licht. Nicht fähig, sich zu bewegen. Raduskray schluckte, als er ein letztes Mal stehen blieb und horchte. Der Wind pfiff ihn in den Ohren und schleuderte die Regentropfen gegen seine Haut. Er konnte keine Schritte ausmachen, keine Stimmen, keinen Lärm, der nicht von der Natur selbst käme.
Langsam setzte er seinen Weg fort, die Augen auf das gerichtet, was nur Wenige in ihrem Leben tatsächlich zu sehen bekamen. Der Grund, warum ein jeder leben konnte. Der Grund für sauberes Wasser in jedem Land. Das Rauschen des Regens wurde zunehmend übertönt von einem Brausen, das Raduskrays Ohren erfüllte. Das Wasser wurde in tiefem Azur erleuchtet. Es schien blauer, als jeder Strom, den er zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Selbst das Gras der Lichtung am Ufer des Flusses war überdeckt von einem blauen Schimmer. Und dort, genau am Übergang zwischen Fluss und Ufer, standen sie im Wasser wie treue Soldaten. Sie waren es, die alles in dieses kalte Licht tauchten. In dieses unendlich tiefe Blau.
Wasserkristalle.
Die stärksten ihrer Art.
Ihre sechseckigen Spitzen ragten aus dem Fluss wie Speere. Sie waren klar und leicht durchsichtig. Das Rauschen des Wassers dröhnte in Raduskrays Ohren, als er sich diesem Anblick hingab. Noch nie war er von solcher Schönheit eingenommen worden.
»Radus!«
Er riss sich aus dem Bann der Wasserkristalle und nahm eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Reflexartig sprang er zur Seite, was ihn in diesem Fall vor dem sicheren Tod durch die Klinge bewahrte, die sich statt in sein Fleisch in den Boden fraß.
Ein Koloss von Mann stand vor Raduskray, als dieser sich wieder auf seine Beine schwang. Sofort holte er das schwere Langschwert von seinem Rücken und schloss beide Hände darum.
»Kein Mann hat es je bis hierher gewagt! Fühlt ihr keine Ehre vor ihnen?« Die wütenden Augen des Wächters bohrten sich in Raduskrays Blick.
»Nicht weniger als ihr.« Brüllend kam der Wächter auf ihn zugeprescht, das Schwert fest umklammert und zum Schlag erhoben. Raduskray suchte nach einem festen Stand im feuchten Boden der Lichtung und parierte den gewaltigen Hieb. Trotz des guten Standes rutschten seine Füße nach hinten. Mit so viel Kraft hatte er nicht gerechnet. Er hatte Schwierigkeiten, das fremde Schwert mit seinem zu stoppen, merkte ein schmerzliches Ziehen in den Armen. Der übelriechende Atem des Mannes war getränkt von Wein.
Er sprang zurück, rutschte dabei erneut, kam dann zum Stehen. Leicht schüttelte er seine Hand, bevor er beide wieder fest um den Griff des Schwertes legte. Der Boden war ihm nicht freundlich gesonnen, also musste Raduskray selbst dafür sorgen, dass er für ihn arbeitete.
Der andere Mann brüllte wütend und erhob erneut das große Schwert.
»Heluskray! Kümmere dich nicht darum. Denke an das Ziel!«, mahnte Raduskray seinen Gefährten, der ihn vor dem Angriff gewarnt hatte und ihm nun zur Hilfe eilen wollte. Heluskray stoppte in seinen Bewegungen. Anstatt Raduskray zu helfen, drehte er sich dank der Rüge um und lief zu den Wasserkristallen. Er zückte sein Kurzschwert und begann, den Stand des ersten Kristalls zu lockern. Die Erde entließ ihn langsam, der Stein kämpfte darum, den Kristall bei sich zu behalten.
Raduskray stürmte währenddessen auf den Wächter zu, sein Langschwert zum Schlag erhoben. Sein Gegner erschien ihm wie ein wilder Stier und Raduskray war das rote Tuch, das ihn provozierte. Nur wenige Fuß trennten sie noch, da senkte Raduskray sein Schwert, um dem anderen einen Tiefschlag zu verpassen. Dessen Reaktionen waren zu langsam, um noch anständig reagieren zu können. So stark er auch sein mochte, wenn es dem Wächter an Wendigkeit fehlte, hatte Raduskray eine Chance. Er nutzte die Nässe des Bodens, um sich zur Seite rutschen zu lassen und so frontal die Seite des Wächters zu treffen.
Die Klinge durchtrennte die lederne Kleidung und fraß sich in das Fleisch. Blut spritzte und benetzte das Schwert, als Raduskray dieses durchzog. Der Mann kam ins Stolpern, schrie, doch fing sich noch bevor er fiel. Er trug eine tiefe Wunde, allerdings zeugte seine Haltung von eisernem Willen.
Er stürzte sich in blinder Wut und Schmerz auf den Eindringling, hielt sein Schwert knapp über dem Gras, um einen Hieb nach oben zu tätigen. Der Kampfeswille überdeckte die Verletzung, sodass nichts an Kraft wich, als er frontal auf Raduskray zielte. Dieser sprang seitlich weg und zog seine Waffe nach, wodurch er den Oberschenkel seines Gegners traf. Ein erneuter, wütender Schrei durchdrang die nächtliche Geräuschkulisse und der Boden wurde rot benetzt. Dieses Mal stolperte der Koloss und Raduskray nutzte diese Gelegenheit, um zurück auf seine Füße zu finden. Er schwang sein Schwert und bohrte es tief in den Rücken des anderen, der gerade wieder aufstehen wollte.
Der Mann sank zurück auf den Boden. Schwer atmend stand Raduskray zu dessen Füßen und wischte sich Blut vom Gesicht. Noch lebte der Wächter. Er keuchte und sog wie ein Ertrinkender die Luft ein. Mit letzter Kraft drehte er sich langsam und schwerfällig auf den Rücken; das Leben rann aus seinen Wunden.
Er starrte Raduskray aus trüben Augen an. Augen, die wussten, dass es zu Ende war, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollten.
»Wir werden sie uns zurückholen. Wir überlassen sie euch nicht«, drang es leise und röchelnd aus seiner Kehle. Raduskray legte die Spitze seines Langschwertes auf die Brust des Wächters. Auch nun starrte ihm noch eiserne Entschlossenheit entgegen. Er drängte seine Klinge durch Kleidung und Fleisch, durch Rippen und das Herz, auf dass dieses seinen letzten Schlag tat.
Für einen Augenblick erhellte rotes Licht den Himmel. Raduskray sah auf und erkannte im hohen Wald Flammen auflodern. Kurz darauf hörte man Schreie aus der Ferne zu ihnen dringen. Die grausamen Schreie von Verbrennenden.
»Taalakyre, was wohl geschehen ist?« Er sah zu Heluskray, dessen Blick ebenfalls auf den Flammen lag, die langsam durch den Regen erloschen. Er konnte dessen Frage nicht beantworten, doch egal wie viele Gegner dort oben auch kämpften, sie konnten ihren Posten nicht mehr verlassen. Jedoch war Taalakyre stark. Sie würde siegen.
Er zog sein Schwert aus dem Toten und schritt auf Heluskray zu.
»Wie geht es voran? Wir sollten uns beeilen« Der erste Wasserkristall lag bereits am Ufer, während der zweite schon gelockert war. Der Regen prasselte weiterhin auf sie nieder und schlug im Fluss kreisförmige Wellen. Raduskray legte sein Langschwert neben sich ab und nahm eine kürzere Waffe, um den Wasserkristall gänzlich aus seiner Verankerung zu lösen.
Ein Rascheln ließ sie beide aufsehen und ihre Waffen fester umschließen. Aus dem Wald kam ein gebückt laufender Mann mit gelben, stechenden Augen und schlitzförmigen, senkrechten Pupillen. Seine Haut war von grünlich schimmernden, feinen Schuppen bedeckt und blutbespritzt. Seine Ohren hatten eine spitzzulaufende Form und sie zuckten unentwegt. In seiner Hand hielt er einen Beidhänder.
»Wo warst du so lange?«, fuhr Raduskray ihn an, bevor Heluskray überhaupt reagieren konnte.
»Er eilte mir zu Hilfe.« Passend zu der weiblichen, aber starken Stimme trat hinter Jotuskray eine Frau aus dem Dickicht. Auch sie war blutverschmiert und von ähnlicher Gestalt wie Jotuskray; nur mit dem Unterschied, dass ihre schuppenbedeckte Haut rötlich schimmerte. Auf ihrem Rücken trug sie einen Köcher mit Pfeilen und in der Hand einen Bogen. Ihr rechtes Auge war von einem Fernglas verdeckt, das mit einem Lederriemen um ihren Kopf befestigt war.
»Taalakyre!«, rief Heluskray aus, »Du bist wohlauf!« Die beiden Neuankömmlinge näherten sich ebenfalls dem Ufer und halfen mit, die Wasserkristalle zu lockern und zu bergen.
»Drei Wächter fanden mich, griffen mich an und ich fiel vom Baum«, erklärte Taalakyre, bevor auch Jotuskray sich in das Gespräch mit einklinkte.
»Ich hörte ihren Kampf und dachte, dass sie Schwierigkeiten haben würde, also lief ich zu ihr. Grundlos, wie sich herausstellte.« Die beiden und ihre hochempfindlichen Ohren. Raduskray hatte natürlich bis zu dem kleinen Feuersturm nichts von einem Kampf mitbekommen. Er zog mithilfe seines Kameraden einen weiteren Wasserkristall aus dem Gestein.
»Du hast die Aufmerksamkeit aller auf dich gelenkt, als du Feuer benutztest«, rügte er sie. Taalakyre senkte den Kopf.
»Verzeih. Doch ich glaube, wir haben alle getötet, deren Aufmerksamkeit ich erregen hätte können.«
Nachdem sie alle zwölf Wasserkristalle aus dem Fluss geborgen hatten, blickte Raduskray in den Himmel hinauf. Seine Gefährten banden ihre kostbare Beute sorgfältig mithilfe von Seilen zu drei Paketen zusammen, während er in den Himmel schrie. Es war ein Ruf, der sich mit dem Wind verband und verschmolz. So hallte er über das ganze Land und die Ohren, für die er bestimmt war, hörten ihn.
»Ist alles bereit?« Heluskray stand auf und nickte.
»Denkst du, bei den anderen ist es ebenso gut gelaufen?«
»Wir können es nur hoffen.«
Sie warteten nicht lange, da ließ sie das Geräusch von mächtigen Flügelschlägen aufsehen. Ein weißes, gigantisches Wesen senkte sich zu ihnen herab, wobei der dadurch verursachte Wind die Baumkronen zur Seite bog.
Es landete auf seinen zwei kräftigen Hinterbeinen, die in riesigen Klauen endeten. Der Boden erzitterte unter dem Gewicht und die Wasserkristalle klirrten aneinander. Die weißen Flügel waren so lang, dass die Lichtung sie im ausgebreiteten Zustand nicht zu fassen vermochte und einige Bäume abbrachen, als der Drache seine Flügel einzog. Raduskray schritt auf ihn zu und legte seine Hand auf dessen schuppige, spitzzulaufende Schnauze, die dieser zu ihm herabgesenkt hatte. Der Regen perlte an den blütenweißen Schuppen achtlos ab. Die goldgelben Augen starrten ihn an, die Pupillen schlitzförmig und senkrecht. Sie verengten sich noch ein Stück, während Raduskray die scharfkantigen Schuppen vorsichtig streichelte.
Die Kreatur war nicht nur riesig, sondern auch angsteinflößend. Aus den Nüstern qualmte weißer Rauch. Der gewaltige Schwanz hatte die Länge von gut fünf ausgewachsenen Männern und senkte sich ruhig auf den Boden. Plötzlich schien die Lichtung winzig, da neben der riesigen Kreatur kaum noch Platz auf ihr war.
»Keltia«, murmelte Raduskray, als der Drache die lange Schnauze leicht an seine Hand drängte. Die Schuppen auf der Unterseite des Halses waren bronzefarben und diese Farbe zog sich am Bauch entlang bis zur Unterseite des Schwanzes. Vorderbeine besaßen die Drachen nicht. Ihr Körper war lang und reptilienartig und den Platz an den Schultern hatten ihre Flügel eingenommen.
Auf dem Übergang von Hals zu Rücken waren vier Sättel befestigt. Die maximale Anzahl, da sich vor dem ersten und hinter dem letzten der gewaltige Rückenkamm erstreckte und bis zum Kopfanfang und zur Schwanzspitze verlief.
»Aufsteigen!«, befahl Raduskray mit strenger Stimme, woraufhin Keltia sich gänzlich auf den Boden senkte, sodass er und seine Gefährten an ihren Hals herankamen.
»Endlich raus aus diesem stinkenden Land«, grunzte Jotuskray als er sich auf den Drachen schwang, »Vier verdammte Wochen Scheiße fressen.«
»Das tust du Zuhause doch auch«, zog Taalakyre ihn auf, während sie ihm ein Pack der Wasserkristalle überreichte. Danach stieg sie auf und schnallte ihre Beine im Sattel fest. Heluskray gab ihr einen weiteren Teil der Kristalle und tat es ihr dann gleich. Schlussendlich überreichte Raduskray ihm das letzte Paket und stieg dann ebenso auf, schnallte seine Beine stramm mit den Lederriemen fest. Dann klopfte er Keltia an den Hals und ergriff die vergleichsweise dünnen Zügel, die nur dafür da waren, dass Keltia auch ohne Worte seinen Richtungsweisungen folgen konnte.
»Steige empor und bring uns nach Hause.« Sie hob den Kopf und ihren Körper bis sie wieder aufrecht stand, dann breitete sie ihre Flügel aus, was weitere Bäume knarzend umstürzen ließ. Jotuskray saß am nächsten an den Flügelansätzen und sein Sattel bewegte sich etwas, als der Drache die ersten kraftvollen Schwünge vollzog. Er spannte die Muskeln in seinen Beinen an, um dem Gefühl nach mehr Halt zu haben.
»Daran werde ich mich nie gewöhnen.«
Raduskray und seine Kameraden setzten Schutzbrillen auf, um dem Wind, der sie gleich überkäme, zu trotzen. Diese waren aus abgestreifter Schlangenhaut. Man sah dadurch zwar unscharf, aber dafür konnte man die Augen wenigstens offen halten.
Sie erhoben sich in den Himmel, während Keltia laut brüllte, als würde sie die grauen Wolken vom Firmament vertreiben wollen. Die Lichtung unter ihnen wurde immer kleiner. Der Drache nahm Geschwindigkeit auf. Der Wind und Regen donnerte gegen die Reiter und Raduskray versuchte sich davor zu schützen, indem er den Kopf nahe an die Seite des Halses seines Drachens drängte.
»Dort!«, schrie Taalakyre nach einer Weile gegen den Wind und deutete in die Schwärze der Nacht. »Einer von den anderen. Vedim, der Silberflügel.« Raduskray lenkte Keltia leicht in die von Taalakyre angedeutete Richtung und bald darauf hörte auch er das fremde Flügelschlagen durch das Sausen des Windes in seinen Ohren.
Eine Wolke zog weiter und das erste Mal in dieser Nacht erhellten die Sterne die Erde. Silberfarben schimmernde Flügel waren links von ihnen zu erkennen und kamen ihnen ebenfalls ein wenig näher. Das Leuchten von Wasserkristallen erhellte die Gestalten auf dem anderen Drachen schemenhaft und Raduskray grüßte dessen Reiter mit erhobener Faust, bevor sie sich gemeinsam auf den Rückweg machten.
Er donnerte ihren flinken Körper unbarmherzig gegen die harte Hauswand. Dieses Mal entkam sie ihm nicht!
»Verdammt, lass mich los! Du tust mir weh!« Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu winden wie ein Aal, doch er gab nicht nach und hielt sie an Ort und Stelle, bis sie einsah, dass sie sich aus dieser Situation nicht einfach befreien konnte.
»Hab ich dich endlich, du kleines Miststück«, raunte er ihr von hinten entgegen.
»Attur, was willst du?«
»Was ich will?«, höhnte er mit kalter Wut in der Stimme. »Weißt du eigentlich, in welche Situation du mich gebracht hast? Und das alles nur wegen deinem Dasein als diebische Elster.« Nikyla lachte.
»Was soll schon passiert sein? Attur, willst du mir etwa sagen, dass du zimperlich geworden bist?«, spöttelte sie. Doch er zeigte ihr schnell, dass sie sich gerade wirklich nicht in der Situation befand, sich dumme Witze zu erlauben. Schmerzlich stöhnte sie, als er sie fester gegen die Steinwand drückte.
»Soll ich dir zeigen, was meine Herren mit mir gemacht haben, als sie erfuhren, dass das Säckchen mit den Sternsteinen weg ist, ohne dass ich den Schneider bezahlt habe?« Er war wirklich wütend. Obwohl diese Angelegenheit bereits viele Wochen zurücklag, war die Wut in seinem Inneren nicht verflogen seit dem Moment, in dem er ihr durch die Marktstände hinterhergejagt war. Sie wusste, dass seine Herren streng waren und doch hatte sie ihn in eine so missliche Lage gebracht - ganz bewusst. Lange hatte es gedauert, bis er sie endlich zu fassen bekam, aber nun war es soweit. Er schob ihren Arm auf ihrem Rücken weiter nach oben, bis sie gequält aufschrie.
»Nein, nein, ich will es nicht wissen, bitte!« Er stoppte. Denn egal wie wütend er auf Nikyla war, wirklich weh tun wollte er ihr eigentlich nicht. Ihre feinen Gesichtszüge waren schmerzverzogen, ihre gerade Nase gekräuselt. Sie hatte eine schlanke, schmale Figur, die sich im Augenblick krümmte; passend für eine Diebin.
»Es tut mir leid. Mein Herr hat mich beim Stehlen erwischt und mir drei Tage nur Wasser zu essen gegeben.« Attur stieß einen abschätzigen Laut aus.
»Du wirst erwischt und bestraft und das Erste, was du daraufhin tust, ist erneut zu stehlen? Dir ist wirklich nicht mehr zu helfen.« Er ließ ihre Hand wieder nach unten sinken, hielt sie aber weiterhin fest genug, damit sie sich nicht aus seinem Griff winden konnte.
»Du hättest dir Essen stehlen können, anstatt mir Sternsteine.« Dann ließ er sie los. »Satyrana sieht mich seitdem nicht mehr an. Sie ist enttäuscht von mir, obwohl ich nichts Falsches getan habe.« Nikyla drehte sich zu ihm um und strich mit einer Hand sanft über seine Wange.
»Du hättest ihr die Wahrheit sagen können«, flüsterte sie. Er schlug ihre Hand weg und lachte bitter.
»Als ob sie meinen Worten Glauben schenken würde. Den Worten eines Sklaven, gewogen gegen die ihres ehrenhaften Bruders.« Sie zuckte mit den Schultern und legte den Kopf ein wenig schief.
»Soll ich dir dabei helfen, sie und den Kummer, den sie erschaffen hat, zu vergessen?« Mit einer Hand raffte sie ihr zerschlissenes Kleid am Bein nach oben. Sie drängte sich an Atturs drahtigen Körper und küsste seinen Hals. Der gequälte Ausdruck in ihren dunkelgrauen Augen war einem verspielten gewichen.
»Lass mich«, grollte er und schob sie von sich. »Ich will, dass du mir aus den Augen gehst. Überall, wo du auch bist, bringst du nichts als Ärger. Ich kann mich in deinen Armen nicht mehr fallen lassen.« Noch immer war er wütend, aber er wusste, dass jedes weitere Gespräch mit Nikyla daran auch nichts ändern würde. Eher schürte es seine Wut nur wieder.
Ihre Augen verengten sich, bevor sie ihn grob zur Seite stieß, um an ihm vorbei gehen zu können.
»Ich habe dich nicht für so dumm gehalten«, erboste sie sich, »aber du wirst schon sehen, was du davon hast.«
»Nikyla!« Ein gesetzter Herr mit soldatischer, aufrechter Haltung rief von der Hauptstraße aus ihren Namen. Er schien aufgewühlt. Sobald sie ihn vernahm, lief sie los, schenkte Attur aber noch einen bedrohlichen Blick. Was sollte sie schon groß anrichten können? Vielleicht hielt er sich trotzdem vorerst von den Gassen und dem Marktplatz fern, soweit es möglich war. Erneuten Ärger konnte er nicht gebrauchen. Gerade hatte er eine ruhige Phase, denn nach dem Vorfall auf der Baustelle und der unerwartet erträglichen Strafe seiner Herren dafür, war nichts mehr passiert, was ihm erneut Schmerzen gebracht hätte.
Er blieb nur einen Augenblick länger in der Gasse stehen, dann ging auch er zurück zum Marktplatz, den viele Leute beinahe fluchtartig verließen. Verwirrt suchte er in dem Trubel nach seiner Mutter, die mit bleichem Gesicht einen Mann anstarrte, der auf einigen leeren Holzkisten stand, als wären sie ein Podest. Seine Arme waren ausgebreitet.
»Lauft zu den Flüssen und schöpft so viel Wasser, wie ihr nur lagern könnt! Schnell! Bald werdet ihr aus den Flüssen nicht mehr trinken können, denn die Wasserkristalle sind uns geraubt worden!«
Attur starrte den Mann ebenso an, ungläubig, entsetzt. Was? Das konnte nicht wahr sein! Niemand würde ihre Lebensgrundlage stehlen. Sein Blick wanderte zu Adina, fragend, kaum dass er sich durch die letzten Leute zwischen ihm und ihr durchgezwängt hatte und neben ihr stand. Nun war klar, was der Grund war, dass bereits am frühen Morgen die schwarzen Glocken über das ganze Land gehallt hatten.
Sie drehte sich langsam zu ihm, als er ihr eine Hand auf die schmale Schulter legte; Unruhe und Sorge zeichneten sich in ihren sonst so sanftmütigen Augen ab. Es dauerte einen Moment, bis sie zum Sprechen ansetzte:
»Wir müssen zurück zum Anwesen. Die Herren wissen sicherlich bereits Bescheid und wollen uns Anweisungen geben. Bestimmt sollen wir Wasser holen.« Sie umgriff den Weidenkorb in ihren Händen fester. Normalerweise hätte Attur ihn ihr abgenommen, damit sie nicht so schwer tragen musste. Doch dieses Mal ließ er ihn ihr, denn er war der Strohhalm, an den sie sich festklammerte, um den Halt nicht zu verlieren.
Attur nickte und sie setzten sich in Bewegung, drängten sich durch die aufgescheuchte Menge. Er lief voraus, versuchte einen kleinen Gang für seine Mutter zu machen. Viele Männer und Frauen schubsten ihn achtlos hin und her. Ein Schrei veranlasste ihn dazu, sich umzudrehen. Seine Mutter lag auf dem Boden, vor ihr der Korb. Die Lebensmittel, die sich darin befunden hatten, lagen verstreut um sie herum. Ein Apfel wurde von einem Fuß zerquetscht, bevor Attur nach ihm greifen konnte. Schnell richteten sie den Weidenkorb wieder auf und sammelten die Nahrung zusammen, bevor noch mehr davon zertrampelt wurde. Gerade als Attur nach dem letzten Teil griff, trat ein Mann eben dort hin und genau auf seine Hand. Er schrie auf und zog sie zurück an seinen Körper. Adina zog ihn hoch und lief weiter.
Attur stolperte neben ihr her, sein Blick abwechselnd zwischen dem staubigen Weg unter seinen Füßen und seiner schmerzenden Hand, bevor er sich wieder fasste und schneller ging.
Kaum waren sie zurückgekehrt, ließ Lord Haver nach ihm schicken und er folgte der Dienerin, die ihm den Ruf seines Herrn ausgerichtet hatte, in dessen Arbeitszimmer. Seine Hand pochte leicht.
Lord Haver besaß eine Habichtnase, sodass er noch mehr einem Raubvogel glich. Dazu noch seine kühlen, starren Augen, die auch nun wieder durchbohrend auf Attur lagen. Er musste ein Schaudern unterdrücken.
»In Kürze brechen Rick und ich auf, um zum Anwesen des Statthalters zu fahren. Du wirst uns begleiten, um dich für die Dauer der Abstimmung um unser Wohl zu kümmern. Hilf beim Einladen unserer Koffer in die Kutsche.«
Der alte Statthalter hatte vor wenigen Tagen tatsächlich seinen letzten Atemzug getan und nun trafen sich viele wichtige Männer und die Kandidaten auf dessen Anwesen, um den Nachfolger zu wählen. Wahrscheinlich würden sich die hohen Herren auch über das drohende Unheil beraten.
»Wie lange werden wir dort sein?«, wagte Attur sich zu fragen. Lord Havers Aufmerksamkeit, die ihn bereits entlassen hatte, kehrte auf ihn zurück, doch er sah den Sklaven nur aus dem Augenwinkel abschätzig an.
»So lange, bis der einberufene Rat zu einer Entscheidung gekommen ist.« Eine genauere Antwort würde er nicht erhalten. Jedenfalls nicht von Augustus Haver. Möglicherweise konnte jedoch sogar dieser nicht einmal schätzen, wie lange das Zusammentreffen des Rates dauern würde. Waren die Konkurrenten sich so ebenbürtig?
»Habt ihr bereits von dem Vorfall mit den Wasserkristall-Dieben gehört?«, richtete er noch einmal das Wort an seinen Herrn. Dieser wedelte mit dem Handrücken.
»Selbstredend. Gerade deshalb ist es nötig, sich nun um die Wahl eines Nachfolgers für die Stadt zu kümmern.« Unterwürfig deutete Attur eine Verneigung an, bevor er den Raum verließ. Ihm war mulmig zu Mute, wenn er daran dachte, dass ihr Wasser nicht mehr gereinigt werden konnte. Wer war so grausam, dass er die Kristalle stehlen würde? Und warum?
In seinem karg eingerichteten Zimmer, das er sich mit Haal teilte, packte er einige einfache Kleidungsstücke, die er sein Eigen nannte, in einen kleinen schäbigen Koffer.
Vor dem Haus waren zwei Dienerinnen bereits damit beschäftigt, die Kutsche zu beladen. Mit wenigen Schritten war Attur bei ihnen angekommen und half ihnen, was die beiden zum Lächeln brachte. Kaum dass sie fertig damit waren, tauchte bereits der Kutscher bei ihnen auf.
»Attur, ich habe gehört, du kommst mit zur Abstimmung?« Er grinste ihn fröhlich und aufgeweckt an, wobei man deutlich die Zahnlücke in der oberen Reihe bemerkte und seine Lachfältchen zur Geltung kamen.
»Ich werde als Diener eingesetzt. Wobei ich nicht verstehe, warum sie dafür keine der Damen mitnehmen«, antwortete er und deutete auf die Dienerinnen, die sich zurück ins Haus begaben. Der Kutscher schüttelte wild Kopf wie Zeigefinger.
»Du solltest wissen, dass bei Ratsversammlungen keine Frauen geduldet werden.«
»Auch nicht als Bedienstete?« Attur legte den Kopf etwas schief und zog die Augenbrauen zusammen. Er wusste nur, dass noch nie eine Frau mit an Abstimmungen teil genommen hatte.
Haal und Adina gingen mit großen leeren Fässern über den Hof. Wahrscheinlich mussten sie Wasser aus dem Fluss holen. Gerne würde Attur ihnen dabei helfen, aber Haal würde sich für ihn darum kümmern, dass seine Mutter nicht zu schwer tragen musste.
»Im ganzen Flügel haben sich während Abstimmungen und anderen Zusammenkünften des Rats keine Frauen aufzuhalten«, belehrte der Mann ihn, bevor sein Blick den Herrschaften galt, die aus dem Haus kamen.
»Spring doch schon mal auf den Kutschbock«, schlug er Attur vor, der sogleich nickte und sich umdrehte, um nach den Halterungen zu greifen und seinen Fuß auf die dafür vorgesehene Aufsteigehilfe zu stellen. Gerade als er sich hochschwingen wollte, erklang Ricks durchdringende, süßliche Stimme.
»Warte!« Attur erstarrte in seiner Position. Er hatte ja bereits gewusst, dass dieser Aufenthalt kein Zuckerschlecken sein würde, wenn Rick dabei war, aber er hatte gehofft, wenigstens noch bis zum Haus des Statthalters Ruhe vor ihm zu haben. Zögerlich ließ er los und drehte sich zu seinen Herren. Der Kutscher hatte indes bereits die Tür geöffnet, um den Herrschaften hineinzuhelfen.
»Ich möchte, dass du in der Kutsche mitfährst.« Überrascht sah er Rick an. Er sollte mit in die Kutsche? Aber er war ein Sklave! Dass so ein Vorschlag von Rick kam, verwunderte ihn schon, da es ihn in einer gewissen Weise mit den Herren gleichstellte. Doch noch im selben Moment wusste er, dass Rick nichts Gutes im Schilde führte.
»Das ziemt sich nicht, Herr.« Dabei senkte Attur unterwürfig den Kopf. Er sah aus dem Augenwinkel den abwartenden und gleichzeitig unzufriedenen Blick von Lord Haver, der mit erstaunlich festem Schritt für sein Alter an ihnen vorbei zur Kutsche ging. Ihm schien Ricks Eigenheit gar nicht recht zu sein, doch gleichsam nicht so sehr zu missfallen, dass er einschritt.
»Widersprich mir nicht, kleiner Bastard. Ich möchte, dass du die Fahrt nutzt und mir die Schuhe putzt. Also hol, was du dafür brauchst und beeil dich!« Hastig lief Attur zum Haus, um von dort zwei weiche Putztücher und eine Schmutzbürste sowie Schuhwachs zu holen.
Als er nach draußen kam, unterhielten sich der Kutscher und Rick gerade angeregt über die Fahrt. Sie beendeten ihr Gespräch jedoch, als Attur neben dem Kutscher stand, welcher ihm bedeutete, einzusteigen, damit er die Tür schließen konnte. Etwas mulmig war Attur schon. Im Innenraum war es etwas düster, denn außer dem kleinen Fenster hinter ihm, welches noch dazu einen Vorhang hatte, gab es nichts, was ihn erhellte. Links von der Tür saß Rick, rechts Lord Haver. Unsicher, wohin er sich setzen durfte, blieb er einen Augenblick stehen. Der jüngere Herr schien zu verstehen, denn er musterte Attur, bevor er auf den breiten Fußbereich des Kutschinnenraumes deutete.
»Knie dich vor mich, sonst fällst du gleich, wenn wir losfahren.« Ein widerliches Lächeln umspielte Ricks Mundwinkel, als er dies sagte. Es hörte sich beinahe so an, als würde er auf Atturs Wohlergehen achten, doch das bösartige Funkeln in seinen Augen machte diesen Eindruck sofort wieder zunichte.
Nichtsdestotrotz tat Attur, wie ihm geheißen und fand sich vor Ricks Füßen wieder. Keine Sekunde zu früh, wie sich herausstellte. Das Surren von einer Peitsche erklang und der Kutscher rief ein »Heya!« um die beiden eingespannten Pferde anzutreiben. Die zweiachsige Kutsche setzte sich holpernd in Bewegung und Attur kippte ein Stück nach hinten, bis die gepolsterte Holzbank in seinem Rücken die ungewollte Bewegung stoppte.
»Siehst du?«, flötete der Mann vor ihm selbstgefällig, bevor er ihm seinen rechten Fuß entgegenstreckte.
»An die Arbeit und schön vorsichtig, ja?«
Attur legte die Utensilien neben sich ab und griff als Erstes zur Schmutzbürste, um den feinen Dreck von dem Schuh zu entfernen.
»Sobald wir ankommen, unterlässt du solche Undinge.« Rick sah zu seinem Vater und winkte dessen Worte mit der Hand ab.
»Ich weiß, ich weiß. Bis ich Statthalter bin, muss ich mich von meiner guten Seite zeigen.«
»Nicht nur von deiner guten. Von deiner besten«, verbesserte Augustus Haver ihn. »Auch wenn die Bürger den verkommenen Sohn von Lord Utweier als schlimmstes Ergebnis vor Augen haben, soll doch ganz klar ersichtlich sein, warum du gewinnst. Was du wirst.« Attur griff nach der Kartusche mit Wachs und einem weichen Baumwolltuch, um das Wachs auf den nun sauberen Schuh aufzutragen. Rick hingegen lehnte sich siegessicher zurück.
»Ich gewinne die Abstimmung, keine Frage. Denn ich werde die beste Möglichkeit für die Stadt sein, die sich ihr bietet. Sie werden gar keine andere Wahl haben.« Er grinste und packte Atturs Kinn, um ihn etwas nach oben zu ziehen, was dieser nur widerwillig mit sich machen ließ.
»Und dich werde ich dann mitnehmen. Als meinen Haussklaven, kleiner Bastard.« Ihre Gesichter waren sich bereits recht nahe, sodass Attur sich auf Ricks Knien abstützen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Voller grässlicher Vorfreude blickte Rick ihm in die Augen, bis Attur die seinen niederschlug. Dann erst wandte Rick sich wieder an seinen Vater.
»Nicht wahr, du schenkst ihn mir doch, oder?« Er hatte einen richtiggehenden Narren an Attur gefressen, wenn es darum ging, jemanden zu demütigen oder zu quälen. Ein Geschenk für Rick? Attur wollte sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich sein Leben würde, wäre er erst Ricks Sklave. Ohne Draper, der hin und wieder dazwischen ging. Ohne Lord Haver, der seinen Sohn manchmal zurecht wies. Es schüttelte ihn, was Rick nicht entging.
»Was denn, was denn? Sag nur, du freust dich nicht darauf«, gab er mit gelüpften Augenbrauen von sich, ehrliche Überraschung - in Ricks Fall wohl eher ehrlich vorgespielte Überraschung - im Gesicht.
»Wir werden sehen«, mischte Lord Haver sich nun ein und beendete damit unüberhörbar das Thema. Ricks Gesichtsausdruck wandelte sich in ein boshaftes Grinsen, bevor er Attur wieder nach unten stieß, sodass Attur leise aufstöhne und das Gesicht ob dem harten Holz im Rücken schmerzhaft verzog.
»Du bist noch nicht fertig, Faulpelz!« Ihm wurde der teilweise eingewachste Schuh vors Gesicht gehalten, dann drückte Rick ihn gegen seine Wange. Attur wandte den Kopf ab und entkam zur Seite. Auf seiner Haut spürte er das leicht klebrige Wachs und noch immer kam es ihm so vor, als würde er das geschmeidige Leder daran fühlen. Erst als Rick seinen Fuß wieder still hielt, näherte er sich ihm langsam wieder, wobei er überrascht war, dass Rick ihm das Ausweichen nicht übel nahm. Ein flüchtiger Blick nach oben erklärte ihm den Grund.
Auf dem Oberschenkel des jungen Herrn lag das untere Ende des Gehstocks und drückte das Bein leicht hinunter. Sicher war dahinter kein großer Kraftaufwand, doch es reichte, um Rick in seine Schranken zu weisen. Attur spähte hinüber zu Lord Haver, der seinen Sohn mit strenger Miene bedachte, bevor dieser einen abschätzigen Laut von sich gab und aus dem Fenster sah. Attur nahm seine Arbeit wieder auf. Was täte er, wenn niemand mehr bei ihm wäre, der Rick zurechtwies?
»Von deiner besten Seite«, betonte Augustus Haver noch einmal.
Die restliche Fahrt verlief ohne Zwischenfälle und Rick hielt seine Füße still, sodass Attur seiner Arbeit unbehelligt nachgehen konnte.
Die Kutsche blieb stehen und das stete Wackeln hörte auf, worüber Attur eindeutig froh war. Er fuhr nicht oft mit dem Wagen, meistens lief er überall zu Fuß hin. Die Tür wurde geöffnet und die beiden Herrschaften erhoben sich, um auszusteigen. Auch Attur tat es ihnen gleich, wobei ihn das gleißende Licht von Sultas in den Augen stach, nachdem er die Fahrt im Halbdunkel verbracht hatte.
Sobald er wieder klar sah, erkannte er viele Kutschen. Bestimmt ein Dutzend. Sie waren alle mehr oder weniger pompös und hatten schöne, große Pferde eingespannt. Alleine daran erkannte man bereits, dass alles, was Rang und Namen hatte, hier versammelt war. Manche der Herrschaften waren noch beim Aussteigen, bei anderen waren Diener bereits dabei, das Gepäck auszuladen und eine Kutsche fuhr gerade an ihnen vorbei.
Lord Haver und dessen Sohn wandten sich zu dem prunkvollen Gebäude und begannen, die ausladende Treppe zum prachtvollen Tor hinaufzusteigen. Dieses war aus massivem, dunklem Holz. Es besaß glänzend polierte, metallene Beschläge, die sich teilweise als reine Verzierung quer über die Torflügel zogen. Zwei Bedienstete standen an je einem der geöffneten Torflügel, die Hand auf dem Knauf. Ihre Kleidung bestand aus einer weißen Weste, die unter dem Frack hervor schien und ein steifes Revers besaß, welches nach oben aufgestellt war.
Darüber trugen sie einen königsblauen Frack mit goldfarbenen Manschettenknöpfen und spitzen Revers aus glänzendem Seidensatin. Die Frackschöße gingen bis zur Kniebeuge. Eine eng anliegende Baumwollhose hüllte ihre Beine ein, die an den Waden von Seidenstrümpfen bedeckt wurden. An ihren Füßen glänzten schwarze Lackschuhe und auf ihren hoch erhobenen Köpfen trugen sie schwarze Zylinder mit einem königsblauen Satinband.
Attur war noch nie tatsächlich im Anwesen des Statthalters gewesen und war überwältigt von der aufwendigen Schönheit der Kleider. Dagegen waren sein schlichtes, aber sauberes Baumwollhemd und seine einfache Bundhose beinahe eine Beleidigung für diese großartigen Hallen mit ihren adeligen und reichen Gästen.
»Komm und hilf mir mit dem Gepäck«, bat der Kutscher ihn. Gemeinsam trugen sie die zahllosen Koffer hinauf in die Zimmer, welche für die Familie Haver zur Verfügung gestellt wurden. Sicherlich befanden sich hauptsächlich unzählige Gewänder darin, damit Atturs Herren für die Dauer ihres Besuches bestmöglich ausgestattet waren. Bei all den prachtvollen Kleidern musste man sich wirklich ins Zeug legen. Hoffentlich musste Attur sich nicht um die Zusammenstellung der Kleidung kümmern - er wäre mit einer solchen Aufgabe wirklich heillos verloren, denn mit so etwas kannte er sich nicht aus.
Der Kutscher verabschiedete sich von Attur und dieser fand sich alleine in den Räumlichkeiten wieder, die seine Herren für die nächste Zeit bewohnen würden. Er entdeckte auch seinen Schlafplatz: ein angrenzendes, kleines Zimmer mit einem winzigen Fenster, einem schmalen Bett und einem Tisch in der Ecke. Darauf legte er den schäbigen Koffer, aus dem er leben würde, da ihm kein Schrank zur Verfügung stand. Er räumte das Gepäck seiner Herren in die Schränke ihrer Räume, bevor er nichts mehr mit sich anzufangen wusste. Von Lord Haver hatte er keine Anweisungen bekommen, was er tun sollte, sobald sie angekommen waren. Musste er hier bleiben und ihnen jederzeit zur Verfügung stehen? Wäre es da nicht besser, er würde bei ihnen sein? Aber das dürfte er wahrscheinlich nicht, vielleicht könnte er sonst Gespräche hören, die ihn nichts angingen.
Nach einer Weile verließ er die Räumlichkeiten dann doch und streunte durch die Gänge des Hauses. Er bestaunte die hohen Decken und das bemalte Stichkappengewölbe, welches von einer blutigen Schlacht am Mutberg erzählte, die wohl das größte Gefecht in ganz Hinderik gewesen war. Nicht wirklich groß, aber in ihrer doch eher friedlichen, inmitten des Landes liegenden Region etwas, womit sich die damaligen Herrscherhäuser geschmückt hatten. Hin und wieder liefen Bedienstete an ihm vorbei - alles Männer. Tatsächlich entdeckte er keine einzige Frau auf seinem ganzen Weg. Als er den Flügel verlassen hatte, in dem alle Gäste untergebracht waren, sah er sogar ein paar Adelige zusammenstehen. Anscheinend war am heutigen Tag noch keine Abstimmung. Er kannte sich damit nicht aus, konnte sich aber vorstellen, dass den Mitgliedern des Rates erst einmal ganz offiziell die Anwärter für den Platz des Statthalters vorgestellt wurden und nun erst einmal alle Gäste in Ruhe ankommen sollten.
Bei einem Grüppchen erkannte Attur unter den Leuten auch Rick - das Unangenehme: dieser sah ihn ebenfalls. Sogleich erstarrte Attur und fühlte sich ertappt, obwohl ihm nicht verboten worden war, durch die Gänge zu laufen. Rick entschuldigte sich bei seinen Gesprächspartnern und kam auf ihn zu, auf den Lippen ein mildes Lächeln, das nichts von der sonstigen Widerwärtigkeit oder gespielten Süße beinhaltete. Angstvoll senkte Attur den Kopf.
»Attur, was tust du hier?« Erschrocken sah dieser auf. Kein Spott, kein Hohn, kein 'kleiner Bastard'. Nur eine ganz normale Frage in einem natürlichen Ton und sein tatsächlicher Name verließen Ricks Lippen.
Rick legte den Kopf ein wenig schief und wiederholte Atturs Namen. Dieser starrte ihn noch immer ungläubig und mit großen Augen an. Würde er nicht genau wissen, dass der Mann vor ihm Rick war, könnte er es nicht glauben. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er den jungen Herrn in einer normalen Stimme reden hören. Es klang falsch, merkwürdig und ungewohnt. Außerdem konnte er sich nicht daran erinnern, dass Rick je seinen Namen in den Mund genommen hätte. Eigentlich hatte er sogar daran gezweifelt, dass dieser ihn überhaupt kannte. Für ihn war er immer nur der kleine Bastard gewesen.
»Weißt du nichts mit dir anzufangen?« Auch jetzt reagierte der Sklave nicht auf Ricks ruhige Worte. Schließlich legte dieser ihm eine Hand auf die Schulter, wobei Attur nur unter Anstrengung ein Zusammenzucken vermeiden konnte.
»Komm mit, ich möchte, dass du dich etwas… angemessener kleidest.« Wieder dieses Lächeln, welches von Sanftmut und Güte sprach. Es war so perfekt, dass Attur gar an der Fälsche darin zweifelte. Obwohl er Rick kannte - nur zu gut kannte er ihn - war er nicht in der Lage, es eindeutig als falsch zu enttarnen.
Nur leicht festigte sich der Griff an seiner Schulter, als er mit in die Richtung dirigiert wurde, in die Rick nun ging. Zurück. Ihr Weg führte sie durch die opulenten Gänge des Anwesens bis in den Flügel, in dem die Gäste - die Mitglieder des Rats und die Anwärter des Titels - residierten. Wann immer ihnen jemand entgegen kam, setzte Rick das Lächeln wieder auf, einige grüßte er höflich. Mit manchen, die er wohl bereits besser kannte, wechselte er auch ein paar Worte. Attur stand lediglich stumm daneben, denn weder hatte er etwas zu sagen, wenn es um die Gespräche gehobener Leute ging, noch wäre er gerade dazu im Stande. Er war noch immer völlig überwältigt von Ricks Wandlungsfähigkeit. Der junge Herr war grausam, sadistisch, widerlich, falsch, mürrisch - er könnte noch unzählige Worte finden, die Rick perfekt zu beschreiben wüssten. Doch nie war er tatsächlich freundlich oder gar gutmütig gewesen. Selbst wenn er andere Eindrücke vorspielte, schimmerte immer ein wenig von seinem wahren Ich - von seiner Abscheulichkeit - hervor. Aber nicht hier. Als trüge er eine vollkommene, makellose Maske.
»Ich hoffe doch sehr, Eure Unterstützung sicher zu haben, Lord Marl. Nicht nur Eurem Geschäft würde es sich als dienlich erweisen, einen Handwerksverwalter als Statthalter zu ernennen. So wichtig die Landespolitik auch ist, wenn es dem Land bereits an einem soliden Grund aus einem zufriedenen, starken Volk und einer gut funktionierenden Wirtschaft fehlt, wird es scheitern. Gerade nun, da das Unheil uns so plötzlich ereilt, ist es wichtig, Landwirtschaft und Handwerk zu stärken.« Der rundliche Mann mit breitem Schnauzer nickte zustimmend auf Ricks Worte.
»Eine fürchterliche Wendung des Schicksals. König Rafin muss schnell handeln, denn lange wird es nicht dauern, bis das unreine Wasser die Flüsse hinab gespült wird und auch bei uns ankommt. Nicht auszudenken, was wir tun, wenn unsere sich nun füllenden Vorräte geleert sind.« Entsetzt über den Gedanken schüttelte Lord Valent Marl den Kopf und sein Doppelkinn kam deutlicher zum Vorschein denn je. Seine Wangen waren in einem tiefen Rot ebenso wie seine Nase und er sah nicht danach aus, als könne er bis Drei zählen, aber Attur wagte sich keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Vor allem nicht über Männer dieses Standes, denn der Schein war nicht selten trügerisch wie eine Diebin.
»Eben deswegen ist es auch von größter Wichtigkeit, im Bälde für unsere Stadt Vorkehrungen zu treffen. So mächtig unser ehrwürdiger König auch ist, Sichelstolz liegt deutlich östlicher als Rhodohr und seine schützenden Hände können nicht überall sein, wenn im ganzen Land Beistand benötigt wird. Wir müssen uns wappnen, um uns selbst helfen zu können, bis König Rafin seine Aufmerksamkeit auf uns lenkt.« Rick legte seine Hand auf den Hermelinkragen von Valent Marl. »Genau dafür ist ein Statthalter doch da, nicht wahr? Er dient dem König als verlängerter Arm, sodass er ganz Perron in seine hütende Umarmung ziehen kann.« Ein siegreiches, zuversichtliches Lächeln umspielte die Lippen des Anwärters und wurde von seinem Gegenüber erwidert.
»Ganz recht. So jung Ihr auch sein mögt, Ihr seid nicht auf den Kopf gefallen«, schmunzelte Lord Marl.
»Das will ich doch sehr hoffen. Mein werter Vater hätte mich längst in die Tiefen der Garus-Fälle geworfen, wäre ich nur Schall und Rauch.«
»Bei Teseus Zähnen! Welch Schande dies wär!« Beide lachten.
»Dann freue ich mich auf die Vorstellung nach dem prächtigen Empfang heute Abend. Hoffentlich ist das Essen ebenso prächtig.« Dabei hielt sich Valent Marl den Wanst und lachte, wobei seine Wangen noch ein Stück röter wurden.
»Ganz ohne Frage.«
Rick ging weiter und Attur folgte sogleich.
»Soll ihm doch ein Stück des Banketts im Halse stecken bleiben«, hörte Attur seinen jungen Herren leise knurren, kaum dass sie weit genug entfernt waren.
Sie kamen an den Gemächern der Haver an und Attur folgte seinem Herrn hinein. Sobald das Geräusch der zufallenden Tür im Raum erklang, fiel die zuvor kaum auszumachende Anspannung von Rick merklich ab. Er stieß die Luft aus und schüttelte sich kurz, bevor er sich zu Attur umdrehte.
»Kannst du dir vorstellen, wie widerlich es ist, diesen dummen, desolaten Narren in den Arsch kriechen zu müssen?« Da war sie wieder. Die merkwürdig süßlich klingende, viel zu hohe Stimme, gepaart mit Frustration und einer Prise Missfallen. Ja, das kann ich mir vorstellen, schließlich mache ich es mein ganzes Leben lang bereits, dachte Attur sich im Stillen. Rick schnalzte mit der Zunge und seufzte erneut lautstark, bevor er sich etwas im Zimmer umsah.
»Ich habe nun schon keinerlei Begehr mehr diese Scharade aufrecht zu erhalten. Am liebsten«, er schritt wieder auf Attur zu, sah auf ihn nieder und schlug ihm die Hand leicht auf die Wange, behielt sie dann dort, »würde ich dir etwas aaantuuun.« Das letzte Wort betonte er ganz besonders und zog es lang, beinahe schien es so, als würde Rick von einer Woge der Erregung überrollt. Attur sah hinauf in das pockennarbige Gesicht. In seinen Augen las er das Verlangen nach Schmerz heraus, nach Domination und Demütigung.
»Doch wie sähe es aus, wenn mein exotischer Blickfang mit Verletzungen entstellt wäre?« Attur lief es kalt den Rücken hinunter ob der widerlichen, wenn auch bereits gewohnten Stimmlage des anderen. Die Hand auf seiner Wange fühlte sich abstoßend an und am liebsten hätte er sie weggeschlagen.
Als wolle Rick ihm tatsächlich einen Gefallen tun, nahm er seine Hand zurück und ging zum Schrank, den er öffnete und darin augenscheinlich nach etwas suchte.
»Heute Abend wird uns Anwärtern die Ehre«, er sprach das Wort mit Verachtung aus, »zuteil, uns bei einem Bankett vorstellig zu machen. Ich möchte, dass du jederzeit an meiner Seite bist, verstanden?« Attur nickte hastig, als er jedoch bemerkte, dass Rick dies nicht sehen konnte - er hatte den Kopf noch immer im Schrank stecken - sprach er schnell: »Ja, Herr.«
»Natürlich fiele es nachteilig auf unser Haus zurück, würden wir dich bei solch einem wichtigen Anlass in diesen Lumpen herumlaufen lassen. Also erdreiste dir nicht, dich noch einmal in der Nähe feiner Herren mit dem sehen zu lassen, was du Kleidung nennst.« Er schien gefunden zu haben, was er suchte und kam mit einer Hand voll Kleidern zurück zu Attur. Unverhohlen musterte er den Sklaven und brachte sein Missfallen, was dessen Kleidung anging, deutlich zum Ausdruck.
Er drückte ihm alles in die Hände. »Schnell, schnell, zieh dich um.« Dabei wedelte er leicht mit der Hand. Unverzüglich sputete sich Attur und huschte hinter den Wandschirm im Zimmer. Er entledigte sich seines schlichten Leinenhemdes und seiner Bundhose, um in die schicke, wenn auch ungewohnt enge beigefarbene Hose zu schlüpfen und sich die hochwertigen Strümpfe bis unter die Knie zu ziehen. Einen winzigen Augenblick nahm er sich Zeit, um die schwarzen Lederstiefel zu bewundern, die er tragen durfte, bevor er hineinschlüpfte.
»Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, murrte Rick bereits. Schnell griff Attur nach dem weinroten Hemd und warf es sich über. Gerade als er es von unten nach oben zuknöpfte, erschien Rick hinter dem Paravent. Sein Gesichtsausdruck war ungeduldig.
»Hast du mich gehört, kleiner Bastard?« Attur machte sich klein. »Ja, Herr. Verzeiht meine Trödelei.«
Ein Finger bohrte sich unter sein linkes Schlüsselbein und ließ ihn erschrocken zurückweichen, was eine hüfthohe Statue von Duat und nicht zuletzt die Wand jedoch weitgehend verhinderten. Rick starrte ihn an.
»Nur weil du nun gekleidet bist wie ein Bürger heißt das nicht, dass du mehr wert bist als der Dreck, der dir innewohnt. Das hier«, er bohrte seinen Finger schmerzhaft fester in Atturs Körper, »verschwindet selbst durch andere Kleidung nicht.« Er nahm seinen Finger weg und offenbarte dadurch ein beinahe unscheinbares Brandmal. Es war ein Kreuz, in dessen Mitte sich ein Punkt befand, um welchen sich zwei größer werdende Kreise reihten. Am äußersten Kreis gingen noch einmal vier Striche - mittig zwischen den Spitzen des Kreuzes - ab.
»Sei dir dem gewahr, während du neben mir stehst.« Hastig nickte Attur. Er wusste, dass er für immer ein Sklave war. Nie würde er sein eigener Herr sein, nie würde er sich träumen wagen, als freier Mann durch die Welt zu schreiten. Er stand weit unter Rick und dieser ließ es ihm jedes Mal aufs Neue spüren - mit dem größten Genuss.
Wie befohlen hielt er sich den ganzen Abend über direkt neben seinem jungen Herrn auf. Dieser war in einen edlen Gehrock gewandet und hatte die ihm sonst etwas wirr ins Gesicht hängenden Haarfransen nach hinten gekämmt und dank Wachs hielten sie dort. Da sich keine Frau im Flügel und in den Sälen aufhalten durfte, war alles Atturs Arbeit entsprungen. Er hatte ein paar Schläge kassiert, weil dies eindeutig nicht zu seinen Fertigkeiten zählte. Aber da Lord Haver sich ebenfalls im Raum befunden hatte, waren sie alle verdient gewesen und nicht übermäßig quälend oder schmerzvoll. Wenn er nun das Ergebnis betrachtete, war er durchaus zufrieden.
Rick setzte seinen Weg fort, denn er hatte sich von den reichlich auf vier lange Tische aufgedeckten Speisen genommen. In der Mitte stand ein Zierbrunnen, aus dem man sich reichlich und fast schon verschwenderisch jederzeit frisches, sauberes Wasser nehmen konnte, wenngleich die meisten Gäste lieber dem Wein den Vortritt in ihre durstigen Münder ließen. Attur knurrte leise der Magen und er schluckte. »Halte dich ja zurück, für euch sind die Reste vorgesehen«, hatte Rick ihm zuvor eingebläut. Er konnte es kaum erwarten und hoffte, dass noch etwas übrig wäre, nachdem er seinen Herren in die Nachtgewänder geholfen hatte, und die anderen Sklaven sich nicht wie ein Schwarm Hornissen darüber hermachten, bevor er zurückkam. Denn es waren viele Sklaven hier.
Attur hatte Glück gehabt, wenn es um die Stelle ging, an der er als Sklave brandmarkt wurde. Zwar trug er stets Gewänder, die das Mal offen zeigten - auch jetzt durfte er das Hemd nur so weit zuknöpfen, dass das Brandmal ein Stück unter seinem linken Schlüsselbein noch gut sichtbar war -, doch er könnte es rein theoretisch verstecken. Anderen war es in den Hals oder gar die Wange gebrannt worden. Er hatte sogar schon einen Mann gesehen, der das Zeichen seines Herrn auf der Stirn trug.
Ganz eindeutig maßen sich die edlen Herren daran, welche Sklaven sie besaßen. Attur war es noch nie so sehr aufgefallen, da er bisher nur selten bei wichtigen Zusammenkünften anwesend gewesen war. Doch hier war es mehr als offensichtlich: beinahe ein jeder Gast hatte einen Sklaven an seiner Seite und die Wenigsten davon waren schäbig. Eigentlich sah er überhaupt keinen, der nicht irgendetwas Erstaunliches an sich hatte. Der eine war groß und bullig und strotzte nur so vor unaufhaltsamer Kraft, der andere von unsagbarer Schönheit. Wieder andere - dazu gehörte er - waren nach perronischem Maßstab exotisch. Er sah einen rothaarigen jungen Mann, dessen Schopf beinahe wie das Feuer selbst loderte, und einen mit beinahe schwarzer Haut. Jedes Mal, wenn dieser lächelte - und das tat er oft, auch wenn Attur nicht verstand, welchen Grund er dafür haben könnte, da sein Leben sicher nicht viel amüsanter als das seinige war - blitzten die weißen Zähne im starken Kontrast zu seiner Hautfarbe auf. Auch einen bereits etwas älteren Sklaven mit ebenso sandfarbenem Haar wie Atturs eigenem entdeckte er im Laufe des Abends.
Wer sich einen besonderen Sklaven leisten konnte, musste gut betucht sein. Es war ein Statussymbol, ein Weg seinen Reichtum und seine Macht zu zeigen und sich umwerben zu lassen.
Es gab viele Feste in Perron - dort waren Frauen nicht verboten - und die Herren nutzten diese Gelegenheiten, um ihre weiblichen Sklaven zu präsentieren. Bei Zusammenkünften wie diesen griffen sie hingegen auf die männlichen zurück. So manches Mal hatte sogar die Weitergabe eines Sklaven so begonnen. Interessierte man sich für einen, der hier zur Schau gestellt wurde, kam es öfters vor, dass nicht lange darauf ein Brief den betreffenden Herrn ereilte. Einigen Mächtigen und Reichen war es zuwider, sich auf Sklavenmärkte zu begeben und ihnen blieben nicht viele andere Möglichkeiten, an Sklaven heranzukommen, außer natürlich sie schickten Vertreter, was durchaus üblich war. Der größte Vorteil, einen Sklaven nicht von einem Händler zu kaufen, war, dass diese deutlich besser gepflegt waren, wie manch Sklave vom offenen Markt - dafür spielten sich die Verhandlungen aber auch auf gänzlich anderen Preiseben ab.
»Ganz vortrefflich, Eure Rede, junger Lord.« Ein hagerer und kleiner Mann in äußerst edlen Gewändern hatte Rick am Weitergehen gehindert und Attur, der sich direkt hinter ihm befand, wäre durch sein gedankenloses Gaffen beinahe in seinen Herrn hineingerannt. Nun richtete auch er seine Aufmerksamkeit lieber auf den augenscheinlich reichen Adeligen anstatt auf die unzähligen Sklaven um sie herum.
»Euch als neuen Statthalter einzusetzen, wäre die einzig richtige Entscheidung, die der Rat treffen kann.« Wie bereits zu Anfang seines Gesprächs nickte Ricks Gegenüber ständig. Attur kniff die Augen etwas zusammen und versuchte herauszufinden, ob irgendetwas den Mann dazu zwang. Doch selbst nach minutenlangem Starren fand er weder einen Faden an dessen Kopf noch etwas anderes, das die ununterbrochene Nickbewegung erklärte. Also legte er sein Augenmerk lieber an den jungen Sklaven neben dem Adeligen. Dieser war beinahe noch ein Kind mit großen dunklen Augen und schmaler Gestalt. Nichts an ihm schien besonders und Attur fragte sich, ob sich der Mann keinen guten Sklaven leisten konnte - was jedoch völliger Unsinn war, wenn man sich alleine dessen Kleidung ansah.
Die großen dunklen Augen starrten ihn unverhohlen an, wodurch Attur ein Anflug von Verlegenheit durchzuckte. Es war, als hätte der Junge genau bemerkt, wie er ihn angaffte. Schnell sah Attur in eine gänzlich andere Richtung. Er bestaunte lieber den Reichtum, der alleine in diesem Saal beinahe erdrückend auf ihn wirkte. An der hohen Decke hingen vergoldete Kronleuchter mit unzähligen Kerzen, deren Ketten schier unendlich lange waren, um tief genug zu hängen und den großen Raum überhaupt zu erleuchten.
Die Gespräche, in die Rick verwickelt wurde, interessierten ihn nicht. Nahezu jeder lobte ihn in den Himmel und Attur wartete nur darauf, bis der Erste Ricks Gehrock nach oben zog, um ihm wortwörtlich in den Arsch zu kriechen. Bei den meisten konnte er nicht sagen, ob es ehrlich oder gelogen war, doch es gab ein paar Männer, die äußerst schlecht im Lügen waren und sogar Attur erkannte in ihren Worten und ihrer Haltung die Falschheit. Er verstand nur nicht, warum sie unehrlich waren. Haal hatte einmal das Wort Diplomatie in den Raum geworfen, als sie darüber gesprochen hatten. Doch weder er noch Attur hatten gewusst, was es genau bedeutete. Haal hatte es nur irgendwo in diesem Zusammenhang aufgeschnappt.
Die Vorstellungen der Anwärter - vier an der Zahl - waren bereits vor dem Eröffnen des Festmahls von statten gegangen. Bevor die Mägen aller Anwesenden vollgestopft mit Köstlichkeiten und ihre Köpfe wie Körper dadurch träge und müde waren. Attur hatte nur mit halbem Ohr hingehört und war solange an Lord Augustus Havers Seite gestanden. Es hatte sich sowieso nur darum gedreht, sich selbst als die beste Partie darzustellen.
»Euer Sklave… er ist besonders.« Attur sah auf, als von ihm die Rede war. Der Adelige beäugte ihn interessiert. »Normalerweise besitzen Perrondraner eine viel dunklere Haut, aber seine scheint mir eher stark sonnengeküsst als dunkel. Fast wie die der Lanari und sein Haar ist das der Rienen.«
Rick legte Attur eine Hand auf die Schulter.
»Bereits seine Mutter besitzt diese Eigenart.«
»Nein wirklich?« Die Augen des anderen Mannes leuchteten und erneut schnappte Attur den unverhohlen neugierigen Blick des jungen Sklaven auf. Dabei waren die dunklen Augen derart durchdringend, dass er ihnen nicht lange standhielt und wieder wegsah. So ging das einige Male: Der Junge sah immer dann wieder zu Attur, sobald dieser ihn erneut abschätzig musterte, um herauszufinden, was so besonders an ihm war, und starrte ihn förmlich zu Boden, bis es dem älteren Sklaven reichte und er seinen Blick wieder abwandte. Irgendwann ging Rick weiter und Attur war ihm fast schon dankbar dafür, weil ihn dieses Katz-und-Maus-Spiel langsam den letzten Nerv geraubt hatte. Der Abend zog sich beinahe unerbittlich in die Länge. Attur konnte das Gesülze der Adeligen und Reichen nicht mehr hören - er fragte sich, wie seine Herren diesen Umgang Tag ein, Tag aus ertrugen - und vor allem machte ihm der neue Rick zu schaffen, der den Menschen die Güte in Person bühnenreif vorheuchelte. Manchmal bemerkte er die prüfenden Blicke seitens Augustus Haver, die seinem Sohn galten. Rick stand unter ständiger Beobachtung - doch nicht nur von seinem Vater, sondern auch von allen anderen Gästen, die ihn oft mit bedeutungsschweren Blicken bedachten und sich wohl ihre Gedanken über die Abstimmung und die möglichen Kandidaten machten. Es war, als befänden sie sich an dem Stand eines Sklavenhändlers, bei dem die Kunden sich ihre Ware ansahen und den Gesündesten und Stärksten unter ihnen auserwählten.
»Beeil dich und bring mir mein Nachtgewand!«, quengelte Rick unleidlich und erschöpft, als sie endlich zurück in ihre Gemächer gegangen waren und der erste anstrengende Abend sein Ende nahm. Attur nahm Lord Haver soeben den hochwertigen Zylinder ab, den er die ganze Zeit über auf dem Haupt getragen hatte, als seine Bewegungen hastiger wurden, um Rick nicht unnötig lange warten zu lassen. Dieser war so übellaunig, dass er mit Leichtigkeit in neue Schwierigkeiten geraten könnte - aber glücklicherweise wohl ebenso müde.
»Morgen erwarte ich eine ebensolche Leistung von dir«, ertönte die schneidende Stimme des Ältesten, der seinen Gehstock an die Wand lehnte. »Die Abstimmung wird sich noch einige Tage hinziehen, deshalb rate ich dir, deine… Vorlieben bis dahin aufzusparen.« Dabei traf der Blick aus grauen, trüben Augen Attur, bevor er wieder zurück zu Rick schweifte, der sich bereits mit einem tiefen Seufzen aufs Bett plumpsen hatte lassen und selbst die ersten Knöpfe seines burgunderfarbenen Wams öffnete. »Ein paar Tage… solange bin ich dazu in der Lage. Danach wird es nie wieder nötig sein. Statthalter auf Lebenszeit - was gibt es Schöneres?«, schwärmte Rick, als Attur ihm sein Schlafgewand aufs Bett legte. Sofort schnellte die augenscheinlich müde Hand hervor und schlang sich um Atturs Handgelenk. »Und dann… musst du erstmal nicht mehr hübsch aussehen.« Es klang wie eine düstere Drohung, gepaart mit dem grausigen, vorfreudigen Lächeln auf Ricks Antlitz. Er sollte für den jungen Herrn also eine Möglichkeit darstellen, sich abzureagieren. Es machte Attur bisweilen Angst, doch gleichzeitig empfand er weniger Panik als er wohl sollte. Womöglich, weil er sein ganzes Leben schon dazu diente und vorerst ein paar Tage den guten Rick erleben durfte.
Die Herrschaften ins Bett gerichtet eilte der junge Sklave hinunter, um sich etwas zu Essen zu holen, bevor die anderen Sklaven ihm alles wegaßen. Er lief durch die - zu dieser späten Stunde leeren - Gänge, worin seine Schritte dumpf widerhallten und wetzte um eine Ecke, nur um mit vollem Tempo gegen irgendetwas zu laufen, was ihm erst einmal die Luft aus den Lungen presste, bevor er merkte, dass nicht er sondern sein Gegenüber rücklings zu Boden ging. »Verzeihung!«, keuchte er reuevoll, kaum dass er wieder Luft geschnappt hatte und sah erst jetzt auf den anderen, den er sogleich als den jungen, unscheinbaren Sklaven mit dem durchdringenden Blick wiedererkannte. Dieser hatte einige Leckereien auf den Armen geladen gehabt, die jedoch bei seinem Sturz teilweise zu Boden gefallen waren. »Verflucht«, schimpfte dieser und griff schnell nach dem Essen, um es wieder aufzuheben, bevor er sich flink aufrappelte. »Pass doch auf, Tölpel!«
Nun fühlte Attur sich doch etwas vor den Kopf gestoßen. Hatte er sich nicht eben bereits entschuldigt? Er ließ sich schließlich nicht von jedem beleidigen - vor allem nicht, wenn dieser jemand auf derselben Stufe wie er stand. Er griff nach einem Brötchen, das wie süßes Gebäck aussah, und schob es sich dreist in den Mund, bevor er einfach weiterging. Er sah gerade noch, wie sich Empörung im Gesicht des Jüngeren abzeichnete und dieser die Wangen plusterte.
»Wenn du etwas zu essen willst… bist du zu spät.« Das veranlasste ihn doch dazu, sich noch einmal umzudrehen.
»Was?« Ein freches Grinsen, das nach Genugtuung aussah, zeichnete sich in dem Gesicht des anderen ab.
»Das Essen für die Sklaven wurde schon vor einer Stunde eingeläutet. Und schon da waren unzählige davon mit hungrigen, leeren Mägen vor den Buffets gestanden. Mittlerweile müssten sie alles leergegessen oder mitgenommen haben. Tut mir leid für dich.« Er zuckte lapidar mit den Achseln.
Das konnte doch nicht…! Entgeistert starrten honiggelbe Augen den Jungen an, während sich Atturs Magen bereits zum erneuten Male schmerzlich zusammenzog und knurrte. Zur gleichen Zeit, als seine Hand sich auf den Bauch legte, glitt sein Blick auf die noch immer prall mit Essen beladenen Arme seines Gegenübers.
»Und für wen ist das alles?« Es reichte mindestens für zwei Leute, vielleicht sogar für drei, wenn diese nicht allzu hungrig wären.
»Na für mich«, kam prompt die Antwort, wobei eine Selbstverständlichkeit in den Worten steckte, die an Arroganz grenzte. Wollte dieser eine Knabe wirklich alles davon essen? Er würde sich den Magen verrenken, während Attur Hunger leiden musste, denn er bezweifelte die Worte über das verbliebene Essen nicht. Vielleicht würde er noch ein paar herunter gefallene Happen erwischen, aber seine Hoffnung diesbezüglich war nicht überragend. Viel lieber hätte er ein paar der Köstlichkeiten, die der andere Sklave für sich ergattert hatte…
Eben jener verstärkte den Griff um das Essen und drehte sich etwas seitlich, als hätte er genau erkannt, was sich in Atturs Köpfchen zusammenbraute.
»Oh, nein! Schlag dir diese Idee gleich wieder aus dem Kopf. Das hier gehört mir.« Beinahe wie ein Tier verteidigte er seine Mahlzeit. Atturs Augenbrauen zogen sich flehend zusammen. »Komm schon. Das ist doch viel zu viel für einen alleine. Ich habe Hunger. Gib mir wenigstens ein bisschen davon ab.«
»Ein bisschen hast du dir schon selbst genommen.« Erwischt. Nun ärgerte Attur sich über seine voreilige und vor allem kindische Reaktion von eben. Vielleicht wäre der andere nachsichtiger mit ihm, wenn er das süße Gebäck nicht unerlaubt genommen hätte.
»Bitte.« Was könnte nun noch helfen? Als Sklaven wussten sie beide, wie dreckig sie behandelt wurden und dass Essen - vor allem diese Köstlichkeiten - für sie stets knapp war. Attur appellierte an das Gewissen des anderen, denn mehr fiel ihm gerade nicht ein - versuchen, ihn zu überwältigen und ihm noch etwas Essbares zu stehlen, könnte er immer noch, obschon seine Erfolgsaussichten eher gering schienen.
Sie standen lange dort. Der unscheinbare Sklave bedachte ihn mit einem nachdenklichen, abwägenden Blick. Seine Lippen kräuselten sich und er spitzte sie grüblerisch und Attur sah versucht bittend zurück, um den anderen doch noch zu erweichen.
»Einverstanden. Du bekommst ein Wenig davon ab. Aaaaber«, er streckte ihm seinen erhobenen Zeigefinger drohend entgegen, wobei ihm beinahe ein Gebäckstück entwischt wäre, »ich verlange etwas im Gegenzug dafür.« Kaum drohte die Freunde Attur zu überfluten, wurde sie bereits wieder gedämpft.
»Und was?«
»Du musst mir eine Frage beantworten.« Ein Lachen entkam Attur. Das war alles?
»Jede, die du willst.« Ein breites Grinsen hatte sich auf seine Lippen gelegt.
»Gut, dann komm.« Atturs Grinsen schien auf den jüngeren Sklaven überzugehen und er schmunzelte leicht, als er sich umdrehte und zu nahe gelegenen Stufen spazierte, wo er sich niederließ, damit sie nicht im Stehen essen müssten. Attur setzte sich neben ihn und ihm wurde ein belegtes Brötchen gereicht. Wenn er sich das Essen so ansah, schien der andere nur Dinge mitgenommen zu haben, die er problemlos tragen und mit den Fingern essen konnte, ohne sich zu beschmutzen. Freudig biss Attur in das Brötchen und schloss genießerisch die Augen. Das tat so gut!
»Wie heißt du?« Er runzelte die Stirn. »Ist das schon die Frage?« Das wäre… merkwürdig einfach. Zu einfach. Doch laut des Augenverdrehens lag er mit seiner Annahme daneben. Gewaltig daneben.
»Ja, natürlich. Und ich bin Lord von Brakenhaal.« Zweifelnd schüttelte der Jüngere den Kopf und tippte Attur mit dem Zeigefinger fast schon provokant grob gegen die Stirn.
»Sag mal, ist in deinem Oberstübchen auch etwas anderes als heiße Luft?« Empört zogen sich die Augenbrauen des Haver-Untergebenen zusammen, doch ehe er noch zu einer unbedachten Antwort ansetzen konnte, wurde er mit weiteren Worten davon abgehalten.
»Ich will wissen, wo du herkommst. Welchem Geblüt du entstammst. Als unsere Herren sich über dich unterhalten haben, hieß es, es wäre eine Eigenart. Ich will wissen, was sich dahinter wirklich verbirgt und jetzt sag mir schon deinen Namen, oder soll ich dich mit 'Du da' ansprechen?«
»Attur. Ich heiße Attur.« Wenn das die ganze Gegenleistung für ein Abendessen edelster Küche - wenngleich einiges davon bereits mindestens einmal auf dem Boden gelegen hatte - war, könnte Attur sich so etwas durchaus öfter vorstellen. Er biss in sein verdientes Brötchen.
»Schön, Attur, ich heiße Ylan. Und nun erzähl mir etwas über deine Abstammung.«
»Wie mein Herr richtig gesagt hat, ist auch meine Mutter schon etwas exotisch. Sie ist zur Hälfte eine Rieni, was ihr und auch mein sandfarbenes Haar erklärt. Zum Rest ist sie Perrondranerin.« Skeptisch sah Ylan ihn an.
»Aber die Haut eines Perrondraners ist fast schwarz. Deine hingegen ist es nicht. Selbst wenn in dir das Blut der Rienen fließt und somit etwas hellere Haut verständlich wäre, ist es seltsam.« Attur lächelte schlicht.
»Mein Vater ist ein Mann aus Lanar.« Jedenfalls hatte seine Mutter ihm dies einst erzählt.
»Aber die Lanari haben keine Sklaven ihres eigenen Volkes und sie nehmen eine Stellung im Weltenreich ein, die es nicht erlaubt, Kriegsgefangene ihrer Rasse zu halten. Geschweige denn, dass jemand gegen sie freiwillig Krieg führen würde, wenn er sich eines Sieges nicht vollkommen sicher ist. Niemand im ganzen Weltenreich. Wie kann der Vater eines Sklaven also ein Lanari sein?«
»Indem er der frühere Herr meiner Mutter war.«
Ylans Lippen formten ein stummes 'Oh'. »Du bist also ein Bastard.«
»Nicht gerade eine Schande für einen Sklaven, meinst du nicht?«, lachte Attur trocken. Denn Bastarde standen sicher nicht tiefer als Vieh, aber als Sklave tat man das.
»Mach dir nichts draus. Ich bin auch einer«, gab Ylan offen und mit einem schiefen Lächeln zu, was Attur fast schon verwirrte.
»Wirklich?« Der andere nickte und nahm sich noch etwas zu essen.
»Was…«, er brach ab. So etwas konnte man niemanden so direkt fragen. Es wäre unhöflich.
»Was ist?« Ylan legte den Kopf schief und beugte sich vor, um Attur direkt ins Gesicht sehen zu können, welcher seinen Blick etwas abgewandt hatte.
»Was ist an dir so besonders, dass du heute Abend von deinem Herrn mitgeführt wurdest? Ich meine- ich will dich nicht beleidigen, aber ich kann nichts erkennen, was einen reichen Mann wie deinen Herrn dazu brächte, dich als Schaustück mitzunehmen.« Neugierig musterte Attur ihn, versuchte sich selbst eine Antwort auf seine Frage zu geben, doch vergebens. Das laute Lachen des anderen überraschte ihn, woraufhin Ylan von ihm nur angestarrt wurde.
»Was? Ich bin diese Frage einfach schon gewohnt. Man sieht es nicht, wenn das Licht so schlecht wie hier oder auch im Saal ist.«
»Man sieht was nicht?« Verständnislos waren Atturs Augenbrauen zusammen gezogen, als Ylan aufsprang und ihn einfach am Arm packte und mitzog.
»Hey, wo gehen wir hin?«, verlangte er zu wissen und sah sehnsüchtig auf ihr Essen zurück, das auf den Stufen liegen blieb. Hoffentlich kam niemand und stahl es ihnen. Doch so weit gingen sie gar nicht weg, denn Ylan blieb bereits bei den nächsten Kerzen stehen und ließ Attur los, der sich neben ihn stellte. Er nahm eine der Kerzen aus der Halterung und hielt sie sich ganz nahe an den Arm.
»Siehst du?« Die Flamme spiegelte sich in seinen Augen wieder, als er Attur mit einem geheimnisvollen Lächeln bedachte. Die Haut, die direkt vom Feuer beschienen und erhellt wurde, schimmerte ganz zart orange - aber nicht so, wie menschliche Haut es im Schein einer Kerze tat. Vielmehr zeichnete sich ein unwirklicher, schimmernder Film ab, der sich aus kleinen, kaum sichtbaren Schuppen zusammensetzte.
»Was ist das?« Verwirrt starrte Attur auf Ylans Haut.
»Drachenschuppen.«
»Drachenschuppen?«, wiederholte Attur zweifelnd. Kurzerhand streckte er seine Finger aus und fuhr über Ylans Unterarm. Tatsächlich. Es fühlte sich anders an, als menschliche Haut. Jedoch war der Unterschied nicht groß genug, um ihn zu bemerken, wenn man sich nicht darauf konzentrierte.
»Es gibt die Drachen also wirklich? Bist du einer?« Attur hatte immer geglaubt, Drachen wären nur eine Sage.
»Dummkopf, natürlich bin ich kein Drache. Oder sehe ich so aus?« Fast schon verärgert schüttelte Ylan den Kopf und stellte die Kerze zurück.
»Hast du diese Schuppen am ganzen Körper?«
Ylans Augenbrauen wanderten amüsiert in die Höhe.
»Willst du nachsehen?« Das Lachen konnte er sich jedoch nur so lange verkneifen, bis Attur ihn entgeistert ansah, dann brach es aus ihm heraus und er musste sich am Schluss sogar den Bauch halten, bevor er mit Attur zurück zu den Stufen ging und sich wieder setzte.
»Du kennst dich in der Welt wirklich nicht aus, oder?« Diese Annahme brachte Attur zum Grummeln, aber eigentlich hatte Ylan schon recht. Viel von der Welt, in der er lebte, wusste er in der Tat nicht. Seit seiner Geburt lebte er in Rhodohr und alles, was er von den anderen Ländern und dem Rest von Perron wusste, hatte ihm seine Mutter erzählt, welche zwar schon in ein paar dieser Länder gelebt hatte, aber gebildet konnte man sie wohl deswegen auch nicht nennen.
»Woher weißt du so viel?«, stellte er die Gegenfrage. Als Sklave kam ihm Ylan extrem weltmännisch vor… und selbstbewusst. Man konnte kaum glauben, dass dieser augenscheinlich jünger als er war.
»Mein Herr sagt, dumme Sklaven sind nicht besser als Vieh. Aber wenn ein Sklave ein bisschen was weiß, kann er seinem Herrn noch dienlicher sein. Außerdem will er sich nicht mit ungebildeten Wesen umgeben. Er hat mir auch erzählt, wie ich entstanden bin. Kennst du die Dahair?« Unwissend schüttelte Attur den Kopf.
»Aber die Draner sagen dir etwas. Unser Nachbarvolk, das im Besitz von Drachen ist. Es gibt noch so etwas, wie ein Zwischenstadium zwischen Mensch und Drache. Das sind die Dahair. Einer davon war mein Vater, während meine Mutter eine normale Frau war und ich bin das Ergebnis. Ein Mensch mit feinen Drachenschuppen. Das ist das Besondere an mir, weswegen mein Herr sich mit mir zeigt und was ihm noch höheres Ansehen bringt. Es gibt anscheinend nur eine Handvoll Menschen wie mich, weil die meisten bereits im Mutterleib sterben oder nicht lebensfähig sind.« Für Attur hörte sich diese Geschichte an wie ein Ammenmärchen und doch saß vor ihm ein junger Bursche, der alleine mit seiner Existenz widerlegte, dass es sich um irgendein Hirngespinst handelte.
Die Tage vergingen im Haus des Statthalters und wenn Attur nicht mit Rick gemeinsam unterwegs sein musste, traf er sich mit Ylan, um sich Geschichten von ihm anzuhören. Oft alberten sie auch herum, wenn keiner hinsah. Ylan hatte ihm erzählt, dass die meisten Stimmen sich wohl zwischen Rick und Lord Sigel teilten, da niemand einen Säufer wie Lord Utweiers Sohn als Statthalter wollte. Jedoch schien es beinahe so, als würde Lord Sigel mehr Zulauf erhalten und in der finalen Abstimmung am morgigen Tag als Sieger hervorgehen. Wie genau Ylan das alles herausfinden konnte, war Attur unerklärlich, aber ebenso wenig wollte er nachfragen, um nicht noch dümmer da zustehen. Attur wusste nicht so recht, was er von der Entwicklung der Abstimmungen halten sollte. Einerseits wäre es ihm nur recht, würde sein junger Herr nicht zum Statthalter ernannt, denn so wäre Attur verschont, Ricks persönlicher Sklave zu werden. Andererseits wäre Ricks Wut und Hang zur Gewalt nur noch größer, würde er nicht gewinnen - und Attur war derjenige, der dessen Ärger aushalten müsste.
Gerade gingen er und Ylan die erneut leeren Gänge des prunkvollen Gebäudes entlang und hatten beide etwas zu essen in Händen, da soeben die Ausgabe der Essensreste an die Sklaven stattgefunden hatte. Mittlerweile schaffte Attur es schneller, seine Herren zu Bett zu bringen, um selbst rechtzeitig zum Saal zu gelangen. Manchmal kam es ihm aber so vor, als würde Rick abends besonders lange brauchen, um bettfertig zu werden und gab ihm noch zusätzliche Aufgaben. Fast als wolle er, dass Attur zu spät zur Essensausgabe kam. Wenn er es dann einmal tatsächlich nicht rechtzeitig schaffte und nur noch Krümel und leere Tische vorfand, hatte Ylan immer so viel dabei, dass es für Attur mit reichte. Der Bursche hortete wie ein waschechter Drache - nur eben anstelle von Gold und Schmuck war es Essen, das sich bei ihm in Bergen anzusammeln schien - auch, wenn Attur ihm das niemals ins Gesicht sagen würde; hatte er doch bemerkt, wie empfindlich Ylan im Bezug auf einen Vergleich mit echten Drachen war.
»Mein Herr sagt, Frauen sind nicht in der Lage, derart komplex zu denken, wie Männer. Deshalb dürfen sie an wichtigen Ratsversammlungen auch nicht teilnehmen.«
»Aber warum dürfen sie nicht einmal als Dienerinnen dabei sein?«, harkte Attur nach. Es war nicht das erste Mal, dass Ylan ihm etwas erklären musste, auf das er selbst keine Antwort fand.
»Sie könnten delikate Angelegenheiten ungewollt mit verfolgen. Jedoch soll den meisten Frauen die Fertigkeit fehlen, zu entscheiden, wie prekär gewisses Wissen ist, sodass sie es an die falschen Leute ausplaudern könnten. Deshalb nehmen die edlen Herren nur Männer und Knaben mit, denen dieser Fauxpas deutlich seltener passiert.«
»Frauen sind also dumm?«
Ylan schüttelte den Kopf. »Nein. Verdreh doch nicht meine Worte! So lapidar kann man das nicht sagen; vielmehr haben Frauen ganz einfach andere Qualitäten als Männer.« Nachdenklich biss Attur von seinem Abendessen ab und überlegte, ob ihm Rhez jemals so vorgekommen wäre, als wüsste sie nicht mindestens so viel wie er. Vielleicht war sie einfach eine Ausnahme der Regel?
»Gibt es Ausnahmen? Ich meine, Frauen, die-« Lautes, aufgeregtes Stimmengewirr und trampelnde Schritte unterbrachen ihn in seiner Frage und sie beide drehten sich um, als einige Diener an ihnen vorbei stürzten und wirr durcheinander riefen.
Balkon und Sturz war, was Attur den Satzfetzen entnehmen konnte.
»Was ist da passiert?«
»Lass es uns herausfinden!« Voller Elan und Spannung ergriff Ylan erneut Atturs Arm und zog ihn hinter der eilenden Meute her, die schleunig die Treppen hinunter stürzte, die zum Garten führten. Sie liefen den Kiesweg entlang, bis die Männer unruhiger wurden und auf etwas einige Meter vor ihnen zeigten. Mitten im sattgrünen Gras, das in der sternenklaren Nacht sacht im leichten Wind wogte, lag eine reglose Gestalt. Um sie herum waren Stücke der hölzernen Brüstung verteilt und der Körper schien merkwürdig verdreht. Das Gras wirkte um die Gestalt noch dunkler. Womöglich war es Blut, das sich unter ihr abzeichnete und langsam in den Boden sickerte. Atturs Blick glitt die Hausmauer hinauf zum Balkon. Es war eines der Gemächer für die Anwärter. Moment. Lag dort etwa…? Seine Schritte beschleunigten sich und anstatt von Ylan mitgeschleift zu werden, zog er diesen nun hinter sich her.
»Attur? Hey, Attur! Was ist los?« Doch Attur antwortete nicht. Er musste so schnell wie möglich bei der Person sein, um Klarheit zu schaffen. Einige der Diener knieten sich bereits neben die Gestalt und schienen tief betroffen. Zwei davon wagten es sich, sie vorsichtig auf die Seite zu drehen, sodass man mehr als nur die Silhouette des Rückens erkannte. Attur blieb wie vom Donner gerührt stehen und Ylan krachte in ihn hinein. Die Gestalt war groß und bullig. Ihr Haar war kurz.
Aber es war nicht Rick.
»Lord Sigel! Um Himmels Willen!«, dröhnten die Stimmen der Diener zu ihm herüber, doch er nahm es nur wie durch einen dicken Nebelschwaden wahr.
»Bei Wikkers Hand, was sollte das?«, beschwerte sich Ylan und trat neben Attur, sich die Nase reibend. Erst sah er in das Gesicht seines Freundes, dann zu Lord Sigel, der den Sturz allem Anschein nach nicht überlebt hatte. Immer mehr Leute versammelten sich im Garten, nicht nur Diener und Sklaven, sogar einige Adelige und Reiche staksten mit ihren Pantoffeln durch das feuchte Gras, um dem Spektakel zu folgen. Einer der Diener hatte die Hände auf die Schultern eines anderen Mannes gelegt und führte ihn von der Leiche weg. Attur erkannte den Mann als Lord Sigels Kammerdiener.
»Ein Schatten, Schatten«, murmelte der arme Kerl geistesabwesend. Wahrscheinlich hatte er den Sturz seines Herrn mit ansehen müssen. Es gab schließlich auch Diener und Sklaven, die ihre Herren nicht hassten - aber normalerweise wurden diese auch nicht mit jemandem wie Rick konfrontiert. Kaum folgte Attur den beiden Männern mit den Augen, erblickte er seine beiden Herren, die schnellen Schrittes auf die Menschenmasse zugingen. Anscheinend hatte mittlerweise das ganze Haus mitbekommen, dass es einen Toten gab. Nur leider wünschte sich Attur den Tod eines anderen Anwärters viel dringlicher. Nun, da er für einige Sekunden diese kleine, aufkeimende Hoffnung in sich getragen hatte, wurde er den Gedanken nicht mehr los.
Ylan versuchte noch ein paar Mal, auf ihn einzureden, damit Attur sich wieder ihm zuwandte, aber dieser war vollkommen in seinen eigenen Gedanken versunken, sodass der andere bald darauf aufgab und mit einem Seufzen zurück ins Anwesen ging. Attur blieb alleine draußen stehen, sah zu, wie die hohen Herren den Schock verarbeiteten und dann den Dienern Befehle gaben, sie sollten die Leiche ins Gebäude bringen und die Bruchstücke des Geländers aufsammeln. Es war spät in der Nacht, sodass sie alles Weitere auf den nächsten Morgen verschieben wollten. Aber die ersten Spekulationen gab es bereits. Es wurde immer wieder etwas von 'morschem Holz' gemurmelt.
Eine Hand traf auf Atturs Schulter und riss ihn aus seiner Grübelei. Er sah aufgeschreckt in Ricks müdes Gesicht.
»Komm, kleiner Bastard. Für heute ist dein Freilauf vorbei.« Die Hand blieb auf Atturs Schulter liegen und auch der Griff schwächte während des langen Weges zurück in ihre Gemächer nicht ab. Lord Haver ging die ganze Zeit neben seinem Sohn und als Attur die Tür hinter ihnen schloss, tauschten sie Blicke aus, bevor sie zurück in ihre Betten gingen. Auf dem ganzen Weg hatten sie kein einziges Wort verloren, aber sonderlich gefühlvoll waren seine Herren ihm noch nie vorgekommen. Rick blies die Kerze aus, obwohl Attur noch mitten im Raum stand, aber dieser gewöhnte sich nach ein paar Mal blinzeln an die Dunkelheit und schlich an den Betten vorbei, um in sein eigenes, kleines Zimmer zu gelangen. Das Schnarchen von Rick bezeugte wieder einmal, wie wenig diesen der Vorfall berührte und Attur wollte nicht der Grund sein, ihn in dieser Nacht ein zweites Mal zu wecken. Lord Haver selbst hatte nicht mehr das beste Gehör, allerdings wollte Attur auch hier nichts riskieren. Leider stieß er versehendlich an den Schreibtisch und warf einige Papiere zu Boden, was ihn stumm fluchen ließ. Er beugte sich hinab und sammelte sie wieder zusammen, wobei ihm ein Brief auffiel, der seines Wissens noch nicht auf dem Schreibtisch gelegen hatte, als er die beiden Herren zu Bett gerichtet und das Zimmer verlassen hatte. Er strich über das ungebrochene Siegel und versuchte, es im Dunkel zu erkennen. Seine eigene Neugier verfluchend bewegte er sich heimlich und versucht leise zum Fenster hin und zog den Vorhang nur einen winzigen Spalt auf, damit genug Licht auf den Brief fiel, um das Siegel erkennen zu können. Es zeigte eine Maske. Dieses Zeichen hatte er doch schon einmal gesehen…
Tag der Veröffentlichung: 18.07.2014
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