So freundlich wie möglich fauchte sie ihn an: "Wieso hast du das gemacht?" -
"Es war doch nur Werbung!", gab er zurück.
"Du kannst doch nicht einen ungeöffneten Brief an jemand anderen einfach, so mir nichts dir nichts, in kleine Fetzen zerreißen." -
"Heißt das, ich hätte ihn zuvor öffnen sollen?" -
"Rede keinen Unsinn, du weißt, was ich meine, Du hättest ihn bei der Post abgeben und sagen können, dass der Brief versehentlich an dich ging, weil deine Exfrau schon lange nicht mehr dort wohnt." Wieder bestand er darauf, es sei doch nur Werbung gewesen, während er genüsslich und kopfschüttelnd in sein Frühstücksbrot biss.
Sie suchte einige Schnipsel heraus und bemerkte, dass die Werbung von einer Kreuzfahrtgesellschaft kam. Sie fuhr sich mit dem Finger zur Unterlippe und begann sich laut träumend vorzustellen, was z. B. hätte passieren können, wenn seine Exfrau diese Werbung erhalten hätte.
„Stell dir nur mal all die Möglichkeiten vor, die so ein Werbebrief einläuten kann.
Deine Exfrau hätte zum Beispiel den Werbebrief in ihrem Briefkasten vorgefunden, ihn geöffnet und sei auf die Idee gekommen, tatsächlich so eine Schifffahrt zu buchen.
Wie schnell ändert sich durch so eine Entscheidung, einen Werbebrief zu öffnen, anstatt ihn unbeachtet weg zu schmeißen, ein Leben komplett? Das Schiff könnte – negativ gedacht -, untergehen. Oder sie könnte gerettet werden. Oder sie könnte, während sie einmal abends allein auf der Reling steht, völlig neue Erfahrungen machen da draußen auf hoher See, indem ein für sie wichtiger Mensch auf sie zu kommt... Sie könnte da draußen mit so viel Wasser um sie herum und den Sternen über ihr und vielleicht einem philosophischen Gespräch mit diesem oder einem der anderen Passagiere zu völlig neuen Erkenntnissen oder Einsichten oder Bewusstseinserweiterung gelangen. Zusammen mit weiteren sie prägenden Erlebnissen, ungeachtet dessen, ob das Schiff untergehen würde oder nicht, könnte sie ihr gemeines unlauteres Vorhaben, mithilfe einer Klage und der Falschdarstellung zu mehr Geld zu kommen, in den Wind schlagen, nachdem sie einsieht und voll erkennt, wie fies jener Charakterteil in ihr war.
Sie könnte auch aufgrund besonderer Umstände noch einmal wie vor Jahren so einen hässlichen Wutanfall in der Öffentlichkeit bekommen, und in eine geschlossene Anstalt kommen. Auf die Weise könnte sie ihre böse erfundenen Forderungen vor Gericht wohl nicht mehr so leicht durchsetzen.
Auch wenn sie sich nicht für eine Kreuzfahrt auf hoher See entscheiden würde, so könnte sie, wenn du diesen Werbebrief nicht zerrissen hättest und er bei ihr angekommen wäre, während sie ihn aus dem Briefkasten holt, und ihn gleich dort unten noch öffnet, eben deswegen sich ein paar Sekunden länger vor der Haustür aufhalten, während ein ehemaliger Arbeitskollege von seinem fahrenden Wagen von der Straße aus sie erkennt und hoch erfreut ihren Namen ruft und mit dem Wagen zum Anhalten zur Seite fährt.
Sie könnte daraufhin, ebenfalls hoch erfreut, zu dem Wagen laufen, ein paar Sekunden oder Minuten mit ihrem früheren Kollegen plaudern und dann wieder ins Haus gehen. Kurz danach erführe sie über die Nachrichten von einem Verkehrsunfall und bald danach, dass es sich um das gleiche Auto handele, zu dem sie vorhin gelaufen war.
Hätte sie nicht den Werbebrief erhalten, wäre sie nicht diese paar Sekunden länger unten vor der Haustür geblieben, und wäre nicht in schier selbem Moment von dem vorbeifahrenden früheren Arbeitskollegen entdeckt worden. Auch wäre sie nicht zu ihm hin gelaufen, was bedeutet, dass er zeitlich etwas früher an der Stelle vorbei gefahren sein würde, wo sich dann der Unfall ereignete. So gesehen würde es sich zwar scheinbar als gut heraus gestellt haben, dass du den Brief vielleicht in weiser Intuition zerrissen hättest“, gestand sie. "Doch stell dir mal vor, dadurch, dass Ina, deine Exfrau, diesen früheren Arbeitskollegen im Krankenhaus besuchen, und sie ihn daraufhin öfter treffen würde und sie seine Familie kennen lernen, ob sie nun heiraten würden oder nicht, ob sie auf einer Kreuzfahrt landen würde, untergehen oder gerettet werde oder nicht, jedenfalls würde allein durch so einen Werbebrief das Leben deiner Exfrau unter Umständen in eine völlig andere Richtung verlaufen können, als ohne. Sagst du noch immer, das war doch nur Werbung?"
Sie ging zum Telefon, rief die Nummer an, die sie auf einem der von ihm zerrissenen Schnipsel entdecken konnte, an und erklärte dort bedauernd, man habe, weil die Adresse nicht mehr stimme, den Werbebrief zerrissen, anstatt ihn am Postschalter mit entsprechendem Hinweis abzugeben. Sie bat die Dame am Telefon, den Werbebrief noch einmal an die gleiche Adresse zu schicken, und versprach, dass ihr Mann ihn aber diesmal am Postschalter mit entsprechender Erklärung abgeben würde. Sie erklärte der Dame am Telefon ungefragt, sie fände halt, dass die Angeschriebene selbst entscheiden solle, ob sie den Brief nur für Werbung halte, die man entsorgen könne oder für interessant genug, sich damit und mit seinem Inhalt näher zu beschäftigen.
Sie jedenfalls, bekam die neue Adresse von Ina nicht heraus.
Ob im Falle eines Fehlers von Seiten der Post z. B. trotz bestehendem Nachsendeantrag, die sich dazu entschließen, die richtige Adresse ausfindig zu machen oder nicht, das sei dann deren Sache. Wahrscheinlich würden aber auch die „sagen“, ´es sei doch nur Werbung`.
Texte: Lisa Becker-Schmollmann
Tag der Veröffentlichung: 05.10.2012
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