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Gab es eine Vorwarnung?




Gleich nach Mittag forderte die Dampfpfeife die Freunde von Lawrence Beesley dazu auf, von Bord zu gehen. Die Gangway wurde eingezogen. Das Schiff mit diesem großen Namen bewegte sich am 10. April 1912 langsam aus dem Hafenbecken von Southampton. Majestätisch anmutend, 2208 Menschen vielversprechend tragend und begleitet von den letzten Abschiedsgrüßen und Rufen jener, die auf dem Kai zurückblieben, schien sie und das laute Anpreisen ihrer Unsinkbarkeit, jedweden Zweifel gebietend zu untersagen. Mehr noch: überhaupt welchen aufkommen zu lassen.

Lag dennoch entgegengesetzt zu dem Wesen des Menschen eine von den Gezeiten ungehorsam erspürte dunkle Ahnung über den Wassern des Hafens?
Wenn das größte Schiff der Welt zu seiner Jungfernfahrt verabschiedet wird, und von den anderen Schiffen im Hafenbecken kein Hurra, kein Jubel und sonst auch kein Getue stattfindet, was genau so der Fall war, wie lässt sich dies und besonders in Verbindung mit zwei mysteriösen, kurz nach Auslaufen des Schiffes, geschehenen Zwischenfällen erklären?
Bis auf diese verlief das Auslaufen der Titanic ins offene Meer hinaus ansonsten recht ruhig.
Die beiden Zwischenfälle jedoch boten womöglich in mystisch liebender Weise eine letzte Chance, in ihnen eine ernst gemeinte Warnung verstehen wollen zu können.

Ihr Pech erwies sich als ihre Rettung


Nachdem die letzte Verbindung zum Kai bereits unterbrochen war, hörte eine Gruppe von Heizern, mit ihren Habseligkeiten um die Schultern geschlungen, nicht auf, zu rennen. Mit ihnen die brennende Absicht, über die Gangway das Schiff vielleicht doch noch zu erreichen.

Aber seltsamerweise wies ein dort Wache haltender Unteroffizier sie, seine eingetragenen Besatzungskollegen unerbittlich zurück, fest entschlossen, sie nicht an Bord der Titanic zu lassen. Und das, obwohl dies technisch gesehen kein Problem gewesen wäre. Ihr offensichtliches Gestikulieren, um ihre Verspätung zu rechtfertigen, nützte nichts. Der Wachhabende ließ sich einfach nicht mehr umstimmen. Das Zurückziehen der Landungsbrücke setzte trotz ihres Protests ein endgültiges Ende unter ihre Bemühungen, an Bord dieses bedeutenden Schiffes zu gelangen.
Die Überlegung sei hier erlaubt: Sah dieser wachhabende Unteroffizier vielleicht in seiner Wahl zu dieser Entscheidung eine Möglichkeit, seine Macht zu demonstrieren, ohne einen wichtigen Aspekt zu berücksichtigen?
Denn Heizer, und zwar eine vorher festgelegte Anzahl von ihnen, würden - so sollte man annehmen -, immerhin eine hoch wichtige Funktion inne haben inmitten der mitunter grausigen Kälte des weiten Meeres.

Dennoch, es sollte nicht so sein. Diese Heizer gehörten wenige Tage später, in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 nicht zu jenen insgesamt 2208 ums Leben gekommenen Passagieren und Besatzungsmitgliedern; nicht zu jenen Menschen, die bis zum Erlangen letzter Gewissheit, schreiend, betend, hoffend und verzweifelnd ums Überleben gekämpft haben würden; sei es um ihr eigenes und/oder das ihrer Lieben.
Die beiden Heizer waren nicht unter jenen Menschen, die bis zuletzt es fast nicht glauben konnten, mit solch einer ungeheuerlichen Tatsache unwiderruflich konfrontiert zu werden: Ein wie aus dem Nichts auftauchender Eisberg erschütterte zuerst den allseits geglaubten Grund für den damaligen kollektiven Stolz jäh, um sich hiernach kalt und hart konsequent mit dem schaukelnden hell erleuchtenden Riesen anzulegen.

Sie gehörten zu jenen Menschen, die niemals ihr eigenes wahres Gesicht - sei es vor sich selbst erschreckend oder sich dankbar wundernd - kennen lernen würden, in Sekunden, Minuten und Stunden höchster oder tiefster Not.
Gehörten sie doch zu jenen Menschen, die, weil sie nicht unter den zum Untergang Geweihten sein würden, ohne Antwort bleiben müssten auf Fragen: Wie hätten sie persönlich in jener schrecklichen Nacht gehandelt und wie gefühlt? Würden sie, in eine ähnliche Situation gepeitscht, eher Ellenbogen stoßend, bereit über Leichen gehend -, Kinder und Frauen wie lästige Steine im Weg empfunden haben werden? Oder würde die Dynamik ihres Herzensbodens sie eher auf diesem Kurs gehalten haben: Auf möglichst faire Weise, die Würde des Nächsten achtend, das möglich Beste aus der offensichtlich ausweglosen Situation heraus zu holen?

Solcherart tief aus dem Herzen kommenden Fragen und Herausforderungen sahen sich diese Heizer vielleicht niemals mehr im Leben gegenüber gestellt.
Nur dieser eine Gedankenkomplex wird sie, angesichts einer niemals erlangten sie persönlich betreffenden Antwort, wohl für alle Zeit nicht mehr los gelassen haben: War es Schicksal; war es Gott; oder war es sonst etwas, das unser Zuspätkommen mit veranlasste und uns vor diesem schrecklichen Schicksal bewahrte? Oder war es reiner Zufall und sonst nichts?
Hatten sie ihre Rettung vielleicht sogar der Macht ihrer Intuition zu verdanken? Einer inneren Kraft, die ihnen aus dem Unterbewusstsein jenes Zuspätkommen quasi diktierte. Ob im Kollektiv oder auch nur einem aus der Gruppe, der es sich genau so diktieren lassen wollte? Unbewusst!

Nämlich ein unbewusst gesteuertes Hinbiegen eines angesichts des bedeutenden Vorhabens eigentlich leicht vermeidbaren Zuspätkommens, - diktiert von einer der vielen zärtlich und fast zu leise geflüsterten Gesten jener mächtigen - mit Raum und Zeit verschränkenden - Intuition.
Ging etwa, wenn auch nur von einem Einzelnen aus der Gruppe der den Kai entlang rennenden Heizer, eine Art geknickte Kraft aus dessen Blick hervor, eine Art undefinierbaren Widerspruchs innerhalb des - den Machtkampf gewinnen wollenden - Gestikulierens? Erreichte diesen über die Aufsicht Gestellten vielleicht jener entscheidende Blick, in vielleicht nur einem Sekundenbruchteil, welcher gleichzeitig ein Wollen und ein Lieber-doch-nicht-Wollen zum Inhalt hatte?

Spürte der zur Machtausübung befähigte Unteroffizier jene heilsame Überforderung in sich, jene Verantwortung zu tragen, angesichts dieses seltsamen ihn erreichen sollenden Blickes?
Lag ein von einem gut intaktem Unterbewusstsein des betreffenden Heizers moderierter Befehlsansatz in einem buchstäblichen Augen-Blick, der den Unteroffizier erleichternd jene Entscheidung treffen ließ, die den fahrig gestikulierenden Männern verwehrte, die Bretter der Titanic doch noch betreten zu dürfen?
Oder bestanden banale strikt einzuhaltende Anweisungen für diesen jungen Offizier, zu spät angelaufen kommende Menschen ohne Wenn und Aber abzuweisen, weil eben ganz einfach keine Zeit mehr bleiben würde, um sich mit den Passagier-Papieren zu befassen?

Wer von all den 1513 Menschen, Männern, Frauen und Kindern, die es inmitten der tiefkalt zerrenden dunklen Wasserschlunde, zuerst schreiend dann endgültig kraftlos geworden schweigend, nicht mehr schafften, wer von ihnen, mag während ihrer letzten Minuten und Sekunden erschrocken, zusammen mit dem Gefühl, ihre damalige Entscheidung nie mehr rückgängig machen zu können, bei sich gedacht haben: "Hätte ich damals doch nur auf meine Intuition gehört, da war doch so eine seltsame Warnung tief in mir zu spüren, die ich brutal beiseite gedrängt habe."

Zumindest für Viele zu jenem Zeitpunkt noch möglich, als diese schwarze Figur ganz oben auf dem Mast von den hinauf schauenden Menschen erblickt wurde. Als sie sich zusammen mit den neben, vor und hinter ihnen Stehenden, ebenfalls tief erschrocken haben und laut Einer den Anderen gefragt, ob das jetzt nicht vielleicht ein böses Vorzeichen gewesen war.
Auch bei dieser hoch oben erblickten Figur, bei diesem Gesicht des Mannes, handelte es sich um einen Heizer. Mit einem - zur, tief unter ihm in die Höh schaudernd schauenden Menschenmenge - geneigten Kopf.
Einem Kopf, ganz in Schwarz.

Bald, nachdem die Titanic in Richtung Meer sich auf ihren Weg machte, wurde jene Begebenheit Mittelpunkt jeder Unterhaltung auf Deck.
Unter sowohl den Passieren als auch der Besatzung gab es die fürchterlichsten Ahnungen hinsichtlich dieses Zwischenfalls.
Einer der Überlebenden, Lawrence Beesley, berichtete diese Szene wie folgt, wortgetreu nachzulesen unter: http://www.nicolaslindt.ch/bisher/Buchzeichen/Titanic.htm

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"Als wir den Fluss Richtung Meer weiter hinunter dampften, war die Begebenheit Mittelpunkt jeder Unterhaltung auf Deck. Es muss darüber gesprochen werden – auch wenn es schwerfällt -, dass es unter den Passagieren und der Besatzung die fürchterlichsten Ahnungen gab über den Zwischenfall. Vor allem Seeleute sind außergewöhnlich abergläubisch. Ich möchte in einem späteren Kapitel diese Form des Aberglaubens wieder aufgreifen, will aber ein zweites sogenanntes düsteres Vorzeichen ansprechen, das etwas später bei unserem letzten Zwischenhalt in Queenstown geschah.
Als sich eins der Zubringerboote mit Post und Passagieren der Titanic näherte, blickten einige der Neuankömmlinge von unten auf das Schiff, das sich über ihnen erhob – und sahen weit oben den Kopf eines Heizers, schwarz von der Arbeit in seinem Heizraum, der von der Spitze eines mächtigen Schornsteins – es war die Belüftungsklappe – herabsah.
Er war zum Spaß im Innern des Schornsteins hinaufgeklettert, doch für einige, die ihn erblickten, war damit ein Zeichen gesetzt, dass eine böse Prophezeiung eine unbekannte schreckliche Frucht tragen könnte. Eine amerikanische Passagierin – sie möge mir vergeben, wenn sie diese Zeilen liest – wandte sich an mich in tiefster Überzeugung und großer Ernsthaftigkeit. Sie brachte das Erscheinen des schwarzen Mannes mit der Befürchtung in Verbindung, dass die Titanic bald sinken werde.“
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Impressum

Texte: Elisabeth Becker-Schmollmann
Bildmaterialien: Titanic Wellpaper Pack
Tag der Veröffentlichung: 23.04.2012

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