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SIE oder SIE

Fast hätte ich sie nicht erkannt. Sie war stark geschminkt, stärker als sonst. Und dann das Kleid. Noch nie hatte ich sie in einem weißen Kleid gesehen. Es stand ihr gut. Verdammt gut.

„Wer hätte gedacht“, flüsterte meine Frau mir zu, während wir uns von den harten Kirchenbänken erhoben, „dass sie sich für Albert entscheidet!?“ Sie rammte ihren spitzen Ellenbogen in meine Seite.

Natürlich erwartete sie nun, dass ich sie ansehen würde. Kannte ich doch. Aber ich konnte meinen Blick nicht von der Braut abwenden. Von Sarah. Sarah! Schon wenn ich nur an diesen Namen dachte wurde mir ganz warm in der Hose.

„Christian!“, sagte meine Frau etwas lauter und ich hörte selbst aus diesem einzelnen Wort heraus, dass sie grinste.

„Er ist doch ein Prachtkerl“, erwiderte ich und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, meinte ich das auch so. „Warum also nicht?“

„Hm.“ Sie neigte ihren Kopf so nah an mein Ohr, dass sie es fast berührte. Küssen wollte sie es nicht, soviel stand fest. Das hatte sie seit Jahren nicht mehr getan. Vielmehr wollte sie mir wohl etwas Ungezogenes hineinflüstern.

Doch in diesem Moment rief jemand hinter uns leise: „Stefanie!“

Meine Frau drehte sich um.

„Udo!“, antwortete sie. Ziemlich laut. Ihre Stimme durchschnitt den Hochzeitsmarsch, der die Braut und ihren Vater zum Altar begleitete. Ein paar Leute schickten ihr böse Blicke. Also - meiner Frau. Der alte Mann, der an meiner anderen Seite stand, hüstelte verärgert.

„Was machst du denn hier?“, hörte ich Udo hauchen.

Während meine Augen den leichten Schwung von Sarahs Hüften verfolgten, überlegte ich, wer Udo war.

„Na, zu gesellschaftlichen Anlässen nimmt Christian mich doch immer mit!“ Wenigstens flüsterte sie ihre schnippischen Bemerkungen jetzt.

‚Christian‘, dachte ich. Als sie mich noch liebte, nannte sie mich Chris oder Chrissie. Manchmal auch Jesus Christ. Lange war das her.

Ich musste meinen Hals strecken, um vorbei an einem ausladenden Hut, Sarahs Hintern verfolgen zu können. Diesen warmen, weichen Hintern, in den ich so gern mein Gesicht getaucht hatte. Auch das war schon lange her. Nein, das stimmte nicht. Ich sollte wenigstens zu mir ehrlich sein. Es kam mir nur lange vor.

Aus dem Augenwinkel nahm ich schemenhaft wahr, wie Albert, der am Altar auf seine Braut wartete, sich umdrehte. Natürlich, denn sie war heute eine Augenweide. An anderen Tagen legte se nicht soviel Wert auf ihr Äußeres.

Unwillkürlich stellte ich sie mir nackt vor. Mit Albert, der auch nackt war. Die beiden im Bett. Und in der Küche. Schwitzend und keuchend. Liegend, stehend. Sogar an einem Fallschirm hängend sah ich sie vor mir.

Plötzlich trat mir Schweiß auf die Stirn - als mir bewusst wurde, dass er nicht Sarah, sondern mich anstarrte. Ich wandte mich ab und versuchte stattdessen, Udo aus der Menschenmenge herauszufiltern. Das gelang mir jedoch erst, als er meiner Frau zuschleimte: „Mit Recht! Du bist ja auch ein Schmuckstück!“

Ich hatte ihm einmal die Nase gebrochen. Versehentlich, denn eigentlich hatte meine Faust sein Kinn treffen sollen. Aber ich war über den Locher gestolpert, den er kurz zuvor nach mir geworfen hatte, und aus dem Gleichgewicht geraten. Ich erinnere mich noch gut an das hässliche Geräusch, als seine Knochen splitterten. Zu Boden ging allerdings nur ich. Nicht er. Immerhin ergriff damals Sarah für mich Partei, ihre erste persönliche Geste. Sie half mir wieder auf die Beine - bevor sie mich am späten Abend flachlegte. Auf ihrem Schreibtisch.

Stefanie seufzte demonstrativ. „Hach“, sagte sie. „Es gibt noch Männer, die mich wahrnehmen!“

Ich fühlte ihren Blick auf meiner Wange, rieb automatisch mit der Hand darüber und sah nach, ob Albert seine Wahrnehmung noch mir widmete. Er tat es nicht. Sein Blick war fest auf Sarah gerichtet, die nur noch wenige Schritte von ihm entfernt dahinschritt. Genauso, dachte ich, hatte auch ich einst Stefanie angesehen. Bildschön war sie gewesen, damals in derselben Kirche. Und gelächelt hatte sie. Mich angelächelt hatte sie. Beseelt von Stolz war ich damals absolut sicher gewesen, das große Los gezogen zu haben: die Frau, die meine Frau werden sollte, war bildschön und liebte mich aufrichtig. Konnte es eine bessere Wahl geben? Gerade in der Anfangsphase meines Unternehmens ein echtes Pfund. Und wirklich schleppte sie mir im Laufe der Zeit so manchen Kunden an, den ich allein nie überzeugt hätte.

Aber dann machte sie einen Fehler und schleppte auch Kundinnen an. Also andere Frauen. Und mit manchen Kundinnen unterhielt ich mehr, als nur Geschäftsbeziehungen. Das ließ sich nicht vermeiden, um den Absatz zu halten. Und ein kleines bisschen zu erhöhen. Und irgendwann schleppte sie Udo an. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich dahinter kam, dass die beiden mich hintergingen.

Was soll‘s, dachte ich nun und straffte meine Schultern. Immerhin war Stefanie bei mir geblieben. Wenn mich das auch eine Stange Geld gekostet hatte. Es hatte kein Verfahren und keine Scheidung gegeben. Natürlich, mein Unternehmen lief jetzt auf Stefanies Namen und Sarah arbeitete seither bei Albert. Aber damit konnte ich leben. Einen Schreibtisch gab es auch bei ihm.

 

Impressum

Bildmaterialien: erstellt mit Canva.com durch Katharina Cubin
Tag der Veröffentlichung: 22.03.2013

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