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Der Hut

Zaghaft klopfte Emma de Buhr an die schwere Holztür. Sie sah sich um. Über den ganzen Flur liefen Leute, die, vertieft in nahezu lautlose Gespräche, Berge von Akten vor sich her trugen. Die Zierleiste auf halber Höhe der Wände war Staub bedeckt. Ebenso das Schild neben der schweren Holztür, das dieses Zimmer als das von Rechtspfleger A. Mörike auswies. Hastig verglich Emma den Namen mit dem Absender auf ihrer Einladung. Zum dritten Mal.
Die Tür wurde aufgestoßen und traf sie an der Schulter. Emma taumelte zwei, drei Schritte zurück und verlor dabei fast ihren Regenschirm.
„Ups!“, sagte die junge Frau, die in der Tür stand. „Haben Sie eine Einladung?“
Emma zeigte sie ihr. „Ich weiß aber gar nicht…“ Weiter kam sie nicht.
Die junge Frau wandte ihr den Rücken zu und sagte laut: „Frau Emma de Buhr.“ Sie ging hinter einen großen Schreibtisch, an dem ein Bär von einem Mann saß.
Er nahm ein Blatt in die Hand, nickte, sagte mit tiefer Stimme: „Guten Tag Frau de Buhr“, und malte einen schwungvollen Haken auf das Blatt. Erst danach sah er sie an.
In loser Gruppierung saßen noch weitere Personen im Raum. Sie starrten Emma an, als sie eintrat und ihnen einen: „Guten Tag“, wünschte.
„Setzen Sie sich bitte“, sagte der Bär freundlich. „Mein Name ist Mörike, ich bin der Testamentsverwalter für den verstorbenen Herrn Alfred Mende. Und da wir nun vollzählig sind, werden wir mit der Eröffnung beginnen.“
Emma hielt ihre Einladung mit beiden Händen fest und zerknüllte sie nach und nach. „Aber ich kenne, äh“, stammelte sie, „kannte den verstorbenen Herrn überhaupt nicht.“
Mörike zog eine Augenbraue hoch. „Nein?“
„Nein.“ Emma trat auf ihn zu. „Das muss ein Missverständnis sein.“
„Das i s t ein Missverständnis“, versicherte die ältere Dame, die neben der Heizung saß, an der sie ihre Hand wärmte. An jedem ihrer Finger funkelte ein goldener Ring, manche mit weißen Steinen oder Perlen besetzt.
„Das denke ich nicht“, meinte Mörike und wandte sich erneut an Emma: „Setzen Sie sich bitte.“
Emma gehorchte. Sie hängte nur rasch ihre kleine Handtasche über die Lehne des einzigen freien Stuhls, bevor sie Platz nahm.
„Möchten Sie nicht ablegen?“, fragte Mörike und deutete auf einen Kleiderständer in einer Nische.
Emma wollte schon ablehnen, aber dann bemerkte sie, dass sie die Einzige gewesen wäre, die einen Mantel trug. Der obendrein nass war. Sie beeilte sich mit dem Ablegen und huschte sofort wieder zurück auf ihren Platz.
„Dann will ich Sie einander vorstellen“, fuhr Mörike fort. Er zeigte auf die ältere Dame. „Frau Elisabeth Mende, die Schwägerin des Verstorbenen.“ Seine Hand wanderte weiter zu einem dicken Mann mit Glatze und pinker Krawatte zum lilafarbenen Hemd. „Ihr Sohn, Herr Josef Mende.“ Er nahm sein Blatt zu Hilfe, bevor er den nächsten vorstellte, einen schlaksigen jungen Mann mit Akne im Gesicht. „Herr Javier Santos, der private Krankenpfleger von Alfred Mende, sowie Frau Sybille Meyer, eine Freundin des Verstorbenen.“ Er sah auf. „Und Frau Emma de Buhr. Sie wissen“, er sah in die Runde, „ihr hatte Herbststurm Felix den Hut vom Kopf gefegt.“
Elisabeth Mende gab ein Zischen von sich und murmelte: „Wir wissen.“
„Das war ziemlich peinlich“, sagte Josef Mende und verdrehte die Augen.
„Es war“, beeilte Emma sich zu erklären, „doch keine Abs…“
„Warum waren Sie denn überhaupt da?“, fragte Sybille Meyer.
„Oh“, erwiderte Emma und errötete leicht. „Ich hatte nur auf den Pastor warten wollen. Er hatte nämlich meine Nichte konfirmiert und ich wollte ihm für die schöne Rede dank…“
„Hat man Ihnen den Wert inzwischen ersetzt?“, unterbrach Mörike sie in dem sachlichen Ton eines altgedienten Beamten.
„Na hören Sie mal!“, empörte Elisabeth Mende sich. „W i r hätten Entschädigungsansprüche an s i e für diesen höchst unangenehmen Vorfall!“
Emma schüttelte den Kopf. „Nein, aber der Pastor hat mir den Hut später zurückgegeben. Ich kann ihn allerdings nicht mehr…“
„Sie können von Glück sagen, dass der Pastor Sie kannte“, meinte Mörike.
„So ein Glück“, raunte Josef Mende ohne zu lächeln.
„Und dass er uns Ihren Namen sagen konnte“, ergänzte Mörike.
„Noch mehr Glück“, meinte Josef Mende.
Ungeduldig klopfte Elisabeth Mende auf die Heizung. „Und warum ist sie h i e r? Meinetwegen erstatten wir ihr doch den Preis für einen neuen Hut aus dem Erbe!“
„Okay“, sagte Mörike ohne darauf einzugehen. „Dann gehen wir jetzt mal das Testament durch.“ Er begann vorzulesen.
Josef Mende setzte gerade zu einem Gähnen an, als Mörike den Punkt ‚Verteilung des Vermögens‘ erreichte. „Meinem Pfleger, Santos, vermache ich das Auto, damit er in Zukunft schneller kommt, wenn er gerufen wird. Das gute Porzellan mitsamt den Sammeltassen geht an Sybille Meyer, die das meiste davon ja ohnehin bereits zerbrochen hatte. Meiner Schwägerin überlasse ich den Wohnzimmerteppich - der Schmutz darin stammt sowieso überwiegend von ihr. Und ihrem Sohn, Josef, bitte ich ein Ticket für einen einfachen Flug nach Übersee auszustellen, damit er sich möglichst weit von meinem Grab entfernt.“ Mörike sah auf, als die Mendes zu tuscheln begannen. „Und damit komme ich zum Wesentlichen“, sagte er laut, um sich wieder Gehör zu verschaffen. Gespannt schauten ihn alle an. „Der Rest des Vermögens“, fuhr er fort, „das aus den beiden Bierfabriken, den Immobilien in Deutschland, Mallorca und Sankt Moritz, sowie den Bankkonten und Aktienpaketen besteht, ist demjenigen auszuhändigen, der an meinem Grab weint.“ Mörike sah auf und grinste. „Und das war Frau de Buhr.“

Impressum

Texte: Frei nach einer Idee aus dem Fernsehen
Bildmaterialien: scripta
Lektorat: ohne
Übersetzung: ohne
Tag der Veröffentlichung: 07.02.2013

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