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ucky lag in seinem Bett und konnte nicht einschlafen. Der Mond blickte durch die obere rechte Ecke des Fensters und erhellte das Kinderzimmer mit einem milchig-fahlen Licht. In dessen Schein sah Lucky die goldenen Sternchen und die lustigen Halb- und Vollmondgesichter auf seiner dunkelblauen Bettdecke glitzern, wenn immer er schläfrig blinzelnd die Äuglein öffnete. Es war Sonntag abend und schon recht spät. Die Mutter hatte ihn vor gut zwei Stunden mit einem liebevollen Gute-Nacht-Kuss zu Bett gebracht. "Schlaf gut und träum' was Schönes, mein Schatz", hatte sie noch geflüstert, bevor sie die Türe zu Luckys Zimmer leise ins Schloß zog.
"Die hat gut reden", dachte Lucky während er sich zum wiederholten Male von einer Seite zur anderen wälzte. Die Gedanken in seinem Kopf fuhren Karussell. Zahlen und Rechenaufgaben purzelten wirr durch-
einander. Morgen, am Montag begann die neue Schulwoche - mit zwei Stunden Mathematik. Und als wäre das allein nicht schon schlimm genug, war auch noch ein Mathe-Test angesagt. Lucky hatte Angst, diese merkwürdigen Aufgaben- zumindest er empfand sie als höchst merkwürdig - wieder nicht zu verstehen und wie beim letzten Mal eine "Fünf" nach Hause zu bringen. Seit Lucky in die vierten Klasse ging und den neuen Stundenplan bekommen hatte, war für ihn immer der halbe Sonntag verdorben. Schon am Nachmittag begann er mit Schrecken an die Montag-Morgen-Mathe-Marter mit der "Spitzzahn" zu denken. Frau Spitzzahn, die auf die Anrede Fräulein Spitzzahn Wert legte, weil sie nie geheiratet hatte, war seine Mathe-Lehrerin. Spitz an ihr war vor allem die Nase, die aus ihrem Gesicht hervorstach wie ein Bleistift. Ansonsten war sie spindeldürr und trug ihr mit silbernen Strähnen durchzogenes Haar zu einem mächtigen Knoten geflochten, fast so groß wie ihr Kopf. Als Lehrerin war sie genauso streng wie sie aussah. Jedenfalls verstand sie keinerlei Spass, wenn es um den richtigen Umgang mit Zahlen ging.
"Wer Mathematik nicht beherrscht, bringt es später nicht weit im Leben", pflegte sie all die Schüler zu drangsalieren, die der gestrengen Logik ihrer Zahlenwelt nicht gleich zu folgen vermochten. Diesen Satz empfand Lucky jedesmal wie einen Hieb. Er bekam ihn besonders oft zu hören. Zu fragen, wie weit es Frau Spitzzahn mit all ihren Mathematik-Künsten denn selbst im Leben gebracht hatte, fiel ihm nicht ein, denn Lucky war ein lieber und wohlerzogener Junge.
Lucky hieß eigentlich Lukas. Er war zehn Jahre alt und freute sich auf seinen 11. Geburtstag im Januar. Seine Eltern hatten Lukas schon als Baby Lucky genannt. Das war am Anfang als zärtlicher Kosename wie von selbst entstanden, so wie aus einer Monika schnell die Moni wird, aus dem Thomas der Tommy oder aus dem Michael der Mike.
Bald erwies sich der Name Lucky aber auch in einem anderen Sinne als passend. Denn schon in der Wiege liegend, betrachtete der kleine Lukas seine Umgebung mit großen, wachen Augen, neugierig und fröhlich, als ob er sagen wollte, seht her, ich will alles genau wissen und verstehen, was auf dieser Welt so vor sich geht. Schließlich fanden Lukas' Eltern auch deshalb mehr und mehr Gefallen an "Lucky", weil das auf englisch so etwas wie "Glück haben" bedeutet. Und mit Glück wollten sie ihren kleinen Lukas aufwachsen sehen.
Der Mond war derweil auf seiner nächtlichen Reise verstohlen weitergewandert und klamm heimlich aus der rechten oberen Fensterecke verschwunden. Während die Dunkelheit wie eine weiche, warme Decke langsam in sein Zimmer schlich, waren Lucky über all den wirren Zahlen und damit verbundenen Ängsten, die durch seine Sinne geisterten, schließlich doch die müden Augen zugefallen. Sein Atem ging ruhig und stetig. Er schlief.
Doch was war das? Seltsame Geräusche, ein Gewisper und Gepolter, drangen wie im Traum an sein Ohr. Zunächst glaubte er in dämmrigem Licht sein Klassenzimmer zu erkennen, die große, grüne Tafel an der Wand, die Stühle und Bänke davor, seinen eigenen Platz, wo er neben seiner besten Freundin Dorothee saß, die seine Abneigung gegen Spitzzahn´sche Mathematik-Stunden leidvoll teilte. Doch dann verschwammen diese Bilder wieder im Nichts.
"Hallo Lucky", sagte plötzlich von Ferne eine leise, aber kräftige Stimme, "kannst Du mich sehen?, meine Freunde und ich möchten Dich besuchen und Dir eine Freude machen." Lucky versuchte im Halbschlaf die Augen zu öffnen. Verschwommen wie im Traum erkannte er vor seinem Bett etwas großes Rundes, fast wie ein Kreis, aber mit einem langen Bein, auf dem es fröhlich hin und her wippte.
"Was, ähh, wer bist Du", fragte Lucky verwundert.
"Na kennst Du mich den nicht mehr aus dem Mathematik-Unterricht, ich bin doch die 9
, die große, dicke 9
. Und weil ich die größte unter den Ziffern bin, bin ich auch der Boss".
"Ich kann Mathematik nicht ausstehen", brummte Lucky. "Verschwinde und lass mich weiterschlafen".
"Siehst Du, er kann Dich nicht leiden", kicherte eine andere Stimme, die hell und weich klang wie von einem Mädchen. "Nicht wahr, Lucky mich magst Du mehr, schließlich bin ich die schönste unter allen Zahlen", schmeichelte die Stimme.
Lucky, der ungewollt wieder seine Augenlieder geöffnet hatte und nun deutlicher als zuvor sehen konnte, was sich in seinem Zimmer abspielte, entdeckte eine hübsche, wohlgerundete 8
, die sich graziös in den Hüften wiegte und in den Vordergrund tänzelte.
"Puh, du alte Angeberin", meldete sich lautstark die 7
auf der Bildfläche zu Wort: "Ich bin bei den Menschen viel beliebter, denn ich bringe Ihnen Glück".
"Hört auf zu streiten, seid lieber fröhlich und ausgelassen, so wie ich es immer bin", mischte sich die 6
ein.
"Du hast recht", riefen die 8
und die 3
wie aus einem Munde. "Kommt, wir wollen unseren Freund Lucky ein bißchen aufmuntern".
Lucky fühlte sich nun beinahe vollständig wach und wußte dennoch nicht wie ihm geschah. Was war das bloß für ein seltsamer Spuk ? Lauter Zahlen tanzten fröhlich Ballett um ihn herum und begannen im Chor zu singen: "Wir sind jetzt frei von der Rechen-Tyrannei, nicht länger wollen wir Kinder plagen mit den doofen Mathe-Fragen."
Da musste Lucky urplötzlich lachen: "Das hört sich ja fast zu schön an um wahr zu sein", sagte er, "aber wo kommt Ihr alle denn eigentlich auf einmal her?"
Die Zahlen hörten auf zu tanzen und zu singen und stellten sich im Kreis vor seinem Bett auf. "Wir haben abgestimmt und beschlossen das Mathematik-Buch von Frau Spitzzahn zu verlassen", berichtete die 5
kurz und knapp in sachlichem Ton.
"Wir sind ihr einfach abgehauen", bestätigte die 6
fröhlich und handelte sich dafür einen leicht strafenden Blick der 5
ein, die eine nochmalige Bestätigung ihrer Worte für unnötig hielt. Die 5
galt als die klügste und ernsthafteste Ziffer unter den Zahlen. Entsprechend ihrem Wert fühlte sie sich in der Mitte zwischen der 1
und der 9
. Und so war sie stets darauf bedacht, auch eine Position in der Mitte einzunehmen und versöhnlich zu wirken, wenn andere unterschiedlicher Meinung waren oder gar zu streiten anfingen. Deshalb hatte die anderen Zahlen die 5
zu ihrer Sprecherin gewählt, um wichtige Dinge, auf die sie sich geeinigt hatten, zu formulieren und zu verkünden. Mit der 9
, die sich allein ihrer Größe wegen nach außen hin gerne als der Chef der Gruppe ausgab, hatte die schlaue 5
meistens keine großen Probleme. Sie ließ sie reden, bestimmte aber selbst, wo es lang ging.
Im vorliegenden Fall hatte die 5
ohnehin eine einfache Aufgabe gehabt, denn alle Zahlen von der 1
bis zur 9
waren sich, was sonst selten vorkam, vollkommen einig gewesen. Auch die kleine 0
0
, die sich allein ziemlich wertlos vorkam, hatte sich entschlossen bei der 1
eingehakt und trat zusammen mit ihr selbstbewußt als 10
auf: "Wir lassen uns nicht mehr länger dazu benutzen, die Schüler im Mathematik-Unterricht zu quälen," verkündete sie.
"Jawohl", stimmte die 3
zu, "wir wollen die Freunde der Kinder sein und ihnen dabei helfen, Spaß beim Rechnen zu haben." Die 3
hatte als erste die Idee gehabt, Frau Spitzzahn einen gehörigen Denkzettel zu verpassen, weil sie es mit ihrem strengen Mathe-Untericht zwar gut meinte, den Kindern aber jede Lust am Lernen verdarb. Mit dem Motto "sind wir aber erst zu dritt, machen auch die anderen mit", hatte die 3
rasch ihre Kollegen dafür begeistert, in den Zahlen-Streik zu treten. Selbst die stets ängstliche 4
hatte sich mit einem "na ja, wenn ihr das alle meint" angeschlossen. Da konnte auch die 2
, die sich sonst nur um ihre eigenen Interessen zu kümmern pflegte, keinen Widerspruch erheben.
Lucky war von dem, was sich in den letzten Minuten in seinem Kinderzimmer abgespielte, so verblüfft, dass er zunächst kein Wort herausbrachte. "Ihr seit wirklich aus dem Mathe-Buch geflüchtet", fragte er schließlich zweifelnd. "Heißt das, die Spitzzahn hat nun keine Zahlen mehr, mit denen sie uns Rechenaufgaben stellen kann ?"
"Genauestens, genau, Du hast es erfasst", himmelte die schöne 8
ihn an und drehte vor dem staunenden Lucky eine elegante Pirouette.
"Aber..., aber, wenn ihr nicht mehr im Mathe-Buch bei der Spitzzahn zu Hause seit", suchte Lucky nach Worten, "wo wollt ihr dann bleiben, wo wollt ihr hin"?
Nun war die 5
wieder an der Reihe, stellvertretend für die anderen Zahlen zu sprechen: "Weißt Du Lucky, wir alle mögen Dich sehr", hob sie an, "wir würden gerne eine kurze Weile bei Dir bleiben, weil wir Deine Freunde werden wollen. Außerdem", fügte die 5
lächelnd hinzu, "möchten wir Dir gerne beweisen, dass Mathe sogar Spass machen kann."
"Das soll ich glauben?", schüttelte Lucky den Kopf, "und überhaupt, wo wollt ihr hier wohnen, etwa in meinem Kinderzimmer ?"
"Wir haben uns gedacht, Dein Schulranzen wäre vorübergehend ein wunderbarer Unterschlupf für uns", sagte die 5
freundlich aber bestimmt. "Da entdeckt uns niemand, aber wir sind Dir trotzdem nahe und können Dir beim Rechnen helfen, wenn es nötig ist."
"Also gut, meinetwegen", antwortete Lucky und fühlte plötzlich, wie entsetzlich müde er war. "Es ist ja auch sehr schön, so viele neue Freunde zu haben". Mit einem wohligen Seufzer fiel er in tiefen, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen...
Um Punkt acht Uhr betrat Frau Spitzzahn eiligen Schrittes das Klassenzimmer der 4b. "Guten Morgen, wie ihr wisst, schreiben wir heute einen Mathematik-Test", sagte sie knapp und blickte fast noch ein wenig strenger als sonst üblich in die Runde. Freundliche Worte oder gar ein aufmunterndes Lächeln für ihre Schüler hatte sie nur sehr selten übrig. Solcher Schnickschnack lenkte ihrer Meinung nach nur von der pädagogischen Aufgabe ab, die reine Lehre der Mathematik in die Köpfe der Kinder zu pauken. Und so war ihre Nase im Laufe der langen Jahre ihrer Lehrtätigkeit immer spitzer geworden.
"Guten Morgen, Fräulein Spitzzahn", antwortete die Klasse im Chor. Aber diese Begrüßung klang eher ängstlich und zaghaft. Mit Ausnahme der drei Mathe-Genies, die es in der 4 b gab, Max, Roman und Kerstin, hatten fast alle anderen Kinder ziemlich Muffensausen vor dem Mathe-Test. Vor allem deshalb, weil die Spitzzahn besonders komplizierte und manchmal schwer verständliche Textaufgaben zu stellen pflegte, um die Rechenkünste ihrer Schüler auf eine möglichst harte Probe zu stellen. "Das fördert das logische Denkvermögen", behauptete sie strikt.
Die Mehrheit der 4 b empfand es eher als Qual, und selbst manche Eltern schüttelten darüber den Kopf. Dorothee rutschte neben Lucky nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Sie sah blass aus, denn ihr war übel im Magen. Die halbe Nacht hatte sie vor Aufregung nicht geschlafen. "Bloß nicht wieder eine "Fünf" in Mathe", ging es ihr ununterbrochen durch den Kopf.
Lucky versuchte seine beste Freundin zu beruhigen: "Komm, reg' Dich nicht auf Doro, es wird schon nicht so schlimm werden", flüsterte er ihr zu. Ganz anders als vor früheren Mathe-Tests, wo er ähnlich reagiert hatte wie Dorothee, fühlte er sich heute irgendwie ruhig und entspannt, so als könne ihm überhaupt nichts passieren. Schon seine Mutter hatte sich gewundert, wie fröhlich Lucky am Morgen aus dem Bett gehüpft war. "Na, vielleicht packt er es ja heute einmal, eine bessere Note zu schreiben, denn Rechnen kann er ja eigentlich ganz gut, wenn ihn niemand unter Druck setzt", hatte sie innerlich gehofft und ihrem Sohn beide Daumen gedrückt.
Während er Dorothee noch Mut machte, erinnerte sich Lucky vage an den seltsamen Traum in der vergangenen Nacht. Die Einzelheiten brachte er nicht mehr zusammen, aber irgendetwas mit Zahlen war es gewesen und irgendwie lustig und fröhlich.
"Max und Roman, kommt her und verteilt die Aufgabenblätter", befahl Frau Spitzzahn und holte Lucky damit wieder in die rauhe Wirklichkeit zurück. "Ihr habt genau 50 Minuten Zeit für diesen Test. Wen ich beim Abschreiben oder Vorsagen erwische, der bekommt ohne jede Diskussion eine "Sechs". Verstanden!"
Die Kinder fingen sofort an, sich auf die ihnen gestellten Aufgaben zu stürzen. Doch schnell begannen die ersten zu stutzen. Was war das? Da stimmte doch irgendetwas nicht. Fehlte da nicht das wichtigste? Es erster hob Sebastian die rechte Hand und schnippte mit den Fingern, wie er es gewohnt war, sich zu melden. Er war fast immer der Schnellste in der Klasse.
"Fräulein Spitzzahn", rief er ohne darauf zu warten, aufgerufen zu werden", Fräulein Spitzzahn, "da stehen ja gar keine Zahlen in den Aufgaben, nur Text, was sollen wir denn eigentlich rechnen?"
"Hör auf, solchen Blödsinn zu reden, konzentriere Dich auf die Aufgaben und verschwende nicht Deine Zeit", reagierte die Lehrerin ungehalten.
"Aber, bei mir stehen auch keine Zahlen auf dem Blatt", meldete sich Carina.
"Ich kann auch nirgendwo welche sehen", bestätigte Franziska.
"Ich auch nicht", "ich auch nicht", tönte es nun von überall her in der Klasse.
"Zum Donnerwetter, ihr wollt mich wohl zum Narren halten", schrie Frau Spitzzahn empört während sich ihre hohlen Wangen und selbst ihre spitze Nase dunkelrot zu färben begannen. "Wenn ihr nicht sofort anfangt zu arbeiten, bekommt die ganze Klasse zwei Stunden Arrest."
"Entschuldigung, Fräulein Spitzzahn", sagte Max zögernd und stand dabei auf. "Bitte seien Sie nicht böse, aber die anderen haben recht, auch ich kann zwischen den Texten keine Zahlen finden. Er hielt ihr das Aufgabenblatt hin: "Hier sehen Sie bitte selbst."
Nun schien Frau Spitzzahn doch ein wenig verunsichert. Wie konnte ihr Lieblingsschüler Max, der Mathematik-Primus, so etwas behaupteten, der hatte sie doch noch nie geärgert und stecke mit den anderen bestimmt nicht unter einer Decke. Frau Spitzzahn schüttelte unwirsch ihren Kopf, griff aber dann doch nach dem Blatt, das Max ihr reichte.
Währenddessen glaubte Lucky ein leises Zischeln und Kichern zu hören. Es schien aus der Richtung seiner Schultasche zu kommen, die unter der Bank auf dem Boden stand. Genauso wie die anderen hatten auch Dorothee und er auf ihren Blättern keine Zahlen gefunden, hatten sich im allgemeinen Lärm der Klasse aber bisher still verhalten. Dorothee, weil sie froh war, sich zunächst nicht mit den Aufgaben beschäftigen zu müssen, Lucky weil im plötzlich ein geradezu unglaublicher Gedanke durch den Sinn ging ...
Frau Spitzzahn starrte derweil völlig entgeistert auf das Blatt, das Max ihr zurückgegeben hatte. Ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt. Egal aus welchem Winkel sie es betrachtete, ob aus der Nähe oder von weitem, zwischen all den Texten, welche die komplizierten Aufgaben beschrieben, klafften da, wo die Schüler die Zahlen zum Berechnen hätten finden sollen, nur weiße Lücken. Dabei hatte sie gestern Abend doch alle zuvor kopierten Seiten mit den Aufgaben nochmals gewissenhaft überprüft.
Das Klassenzimmer der 4 b und die Schüler begannen vor ihren Augen zu verschwimmen. Stattdessen sah sie auf einmal nur noch Zahlen, Zahlen, die sich immer schneller und schneller im Kreise drehten.
"Gütiger Gott, ich leide wohl unter Halluzinationen", stammelte Frau Spitzzahn, während sie an der Kante ihres Lehrerpultes Halt suchte. Die Zornesröte von zuvor war völlig aus ihrem Gesicht gewichen, ihre Nase kalkweiß. Sie fühlte noch wie ihre Knie nachgaben, dann drehte sich die Mathematiklehrerin langsam einmal um die eigene Achse und sank wie in Zeitlupe zu Boden. Ihr mächtiger Haarknoten verhinderte zum Glück, dass der Kopf gar zu heftig auf dem Parkett aufschlug.
Die Kinder waren für Sekunden starr vor Schreck. Martin, der Klassensprecher fand als erster die Worte wieder: "Verdammt, ich glaube die Spitzzahn ist in Ohnmacht gefallen, komm schnell Dorothee, wir müssen den Rektor holen".
Dorothee, die zu Beginn des Schuljahres zur stellvertretenden Klassensprecherin gewählt worden war, weil sie mit fast allen Mitschülern ein gutes Verhältnis hatte, folgte zögernd dem zur Tür stürmenden Martin. Max versuchte der Lehrerin seinen Turnbeutel als Kissen unter den Kopf zu schieben. "Vielleicht helfen ein paar Spritzer Wasser ins Gesicht", gab Franziska zu bedenken. Doch niemand reagierte auf ihren Vorschlag.
Nachdem Martin und Dorothee gegangen waren, um Herrn Knappe, den Rektor der Schule zu verständigen, schossen Lucky blitzartig die wirrsten Gedanken durch den Kopf. Wie war das mit seinem Traum gewesen? Ja, da waren doch alle diese Zahlen in seinem Kinderzimmer herumgetanzt. Und hatten sie nicht beschlossen, in den Streik zu treten und aus dem Mathe-Buch der Spitzzahn abzuhauen? "Ja natürlich", fiel es Lucky mit einem Male wie Schuppen von den Augen, "und dann hat sich die ganze Rasselbande in meinem Schulranzen versteckt".
Lucky überlegte fieberhaft: "Hatte nicht seiner Mutter gesagt, dass Träume manchmal wahr werden können?" Deshalb also waren in dem Mathe-Test nirgendwo Zahlen zu finden.
Kaum hatte Lucky begriffen, was geschehen war, bekam er es mit der Angst zu tun. Gleich würde der Rektor auftauchen und die ganze seltsame Geschichte mit den verschwundenen Zahlen und der ohnmächtigen Spitzzahn genau untersuchen. Und dem entging bekanntlich nichts. Was würde passieren, wenn die Zahlen in seiner Schultasche entdeckt würden. Nicht auszudenken. Lucky mußte handeln. Er griff nach seinem Ranzen und stellte ihn neben sich auf Dorothee's leeren Stuhl. Dabei glaubte er erneut ein Tuscheln zu hören.
Vorsichtig öffnete er den Deckel und beugte sich über die Öffnung des Ranzens, so als ob er etwas Bestimmtes darin suchte. So leise er konnte, flüsterte er: "Hallo, ihr Zahlen da drin, hört ihr mich? Ihr habt doch gesagt, ihr seit meine Freunde. Eine schöne Geschichte habt ihr Euch da ausgedacht. Aber jetzt ist es genug. Ihr müßt damit aufhören und mir helfen!"
"Warum denn, was ist denn los, es hat doch gerade erst angefangen, richtig Spass zu machen", kam die Antwort aus einer Ecke des Ranzens. Es hörte sich an wie die Stimme der schönen 8
, die Lucky besonders zugetan war.
"Nein, nein", flüsterte Lucky in den Ranzen hinein, "wenn der Knappe, ich meine unser Rektor, Euch hier findet, dann glaubt er, ich sei der Anführer des ganzen Streiches, und ich fliege womöglich gar von der Schule. Bitte, bitte lasst mich jetzt nicht hängen, wenn ihr wirklich meine Freunde seid."
Nach einer kurzen Pause antwortete aus der Tasche ein Stimme, die so klang wie vergangene Nacht die kluge 5
: "Lucky hat Recht, das dürfen wir nicht riskieren. Wir Zahlen sollten so schnell wie möglich auf unsere Plätze zurückkehren."
"Danke, liebe 5
", sagte Lucky erleichtert. Für paar Sekunden konnte er noch ein Gebrummel und Gemurmel aus seinem Schulranzen vernehmen, dann war es still. Als Lucky auf den Mathe-Test-Bogen vor sich schaute, waren alle Lücken wieder mit Zahlen gefüllt.
Im selben Moment ging die Tür auf und Rektor Knappe stürzte herein. Unmittelbar hinter ihm folgten Herr Bratfisch, der Hausmeister und Herr Staffelholz, der Sportlehrer, die beide ziemlich kräftig gebaut waren. Mit etwas Abstand betrat Frau Möhrle, die bei den Schüler unter dem Namen "Rübchen" sehr beliebte Aushilfslehrerin den Klassenraum. Martin und Dorothee bildeten den Schluß.
"Fassen Sie mal vorsichtig an, meine Herren", kommandierte der Rektor Herrn Bratfisch und Herrn Staffelholz," wir tragen Frau, ähh, ich meine, Fräulein Spitzzahn erst einmal in den Ruheraum. Der Arzt ist schon unterwegs."
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Lucky im Gesicht von Herrn Knappe einen Hauch von ironischem Lächeln entdeckt zu haben. Auf einmal war der Rektor ihm direkt sympathisch.
Nachdem der Hausmeister und der Sportlehrer die bewußtlose Frau Spitzzahn, behutsam an den Beiden und unter den Armen gefasst, aus dem Zimmer getragen hatten, trat Rektor Knappe vor die Klasse: "Was höre ich da für einen Unsinn über aus dem Mathematik-Test verschwundene Zahlen und dass sich Fräulein Spitzzahn darüber so aufgeregt hat, dass sie in Ohnmacht gefallen ist", knurrte er. "Lass doch mal die Aufgaben sehen !"
Jonas, der in der ersten Reihe saß, gab ihm das Blatt mit den Test-Fragen. "Na und, was soll daran nicht stimmen?", fragte Herr Knappe, nachdem er einen kurzen Blick auf das Papier geworfen hatte. "Wahrscheinlich hat sich Fräulein Spitzzahn das alles nur eingebildet. Vermutlich ist sie überarbeitet."
In der Klasse wagte niemand dem Rektor zu widersprechen. Enthielten die Aufgaben doch plötzlich die notwendigen Zahlen, um sie zu lösen, wie einer nach dem anderen verblüfft feststellte.
Über dieses Wunder lange nachzudenken, blieb keine Zeit, denn Herr Knappe ordnete an, dass der Mathe-Test nun unverzüglich geschrieben werden müsse. "Frau Möhrle, Sie führen bitte die Aufsicht", wandte er sich an die Aushilfslehrerin. "Die letzten beiden Aufgaben werden der knappen Zeit wegen gestrichen, sie erscheinen mir sowieso zu schwer für eine 4. Klasse."
Lucky fühlte sich nun regelrecht erleichtert und konzentrierte sich auf die verbliebenen Test-Fragen. Dabei kam es ihm fast so vor, als ob die richtigen Zahlen für das geforderte Ergebnis bisweilen schon ganz schwach durch das Papier schimmerten bevor er zuende gerechnet hatte. So musste er sie nur noch mit Tinte überschreiben. Seiner Freundin Dorothee neben ihm schien es genauso zu gehen. Wenn er kurz zu ihr rüberblickte, sah er ihren Füllfederhalter nur so übers Papier flitzen.
Am nächsten Tag übernahm Frau Möhrle vorübergehend den Mathematik-Unterricht in der 4 b. Die Kinder klatschten begeistert in die Hände, als sie davon erfuhren. Als erstes berichtete sie der Klasse, dass es Frau Spitzzahn schon viel besser gehe. Der Arzt habe ihr aber einen halbjährigen Kuraufenthalt verschrieben, damit sie sich gründlich von ihrem Stress mit den Zahlen erholen könne. Alle Schüler, auch die Mathe-Genies, gönnten Frau Spitzzahn - und sich - diese Pause von Herzen.
Als "Rübchen" dann auch noch die denkwürdige Mathe-Arbeit vom Vortag korrigiert zurückgab, kannte der Jubel kaum noch Grenzen. Noch nie zuvor in diesem Schuljahr war ein Test im Notendurchschnitt so gut ausgefallen. Lucky und Dorothee waren unter den Schülern, die mit einer glatten "Eins" abgeschnitten hatten. Und niemand fragte mehr danach, ob vielleicht eine gütige Fügung dabei geholfen habe.
"Das war die coolste Mathe-Arbeit, die ich je geschrieben habe", sagte Dorothee auf den Nachhauseweg. Lucky nickte nur und dachte dankbar an seine neuen Freunde, die Zahlen.
Texte: Copyright 2008 by Walter Junginger
Tag der Veröffentlichung: 07.08.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Dorothee