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Kapitel 1

Wie ich heiße? Früher hätte ich sofort geantwortet, meinen Namen mit Stolz verkündet und gehofft, dass er in aller Munde weitergetragen würde. Doch nun, da die Ereignisse, in die ich verstrickt wurde, sich so unheilvoll gewendet haben, hoffe ich, dass ich niemandem je ein Begriff sein werde.

Es ist beängstigend, solche Worte von mir zu geben und es fällt mir selbst jetzt, nachdem es vermutlich für alles zu spät ist, immer noch schwer, mich meinem Drang nach Berühmtheit zu widersetzen.

Ich bin ein Künstler. Ich war schon immer ein Künstler, ein Maler, doch früher haben mich Leute niemals gewürdigt oder mich irgendwie bedacht. Meine Bilder wurden verlacht und mein Name verhallte wie ein sterbendes Echo. Ich träumte vom Ruhm, von Anerkennung, einem Sinn für meine Existenz. Aber ich malte nur Bilder, die keiner wollte, Landschaften und Dinge, die niemanden kümmerten.

Meine Eltern starben früh und ich bin froh, dass sie meinen traurigen Lebensweg nicht mitansehen mussten. Mancher würde hier vielleicht widersprechen, mir erklären, dass sie mich aus dem Himmel beobachten, von der Seite Gottes und seiner Engel, und dass alles besser würde, wenn ich doch nur frommer zu leben versuchte.

Engel? Gott? Oh, ihr ahnungslosen Blinden…

Ich bin unendlich froh zu wissen, dass meine Eltern rottend in der Erde liegen und nicht in jene höllischen Sphären entrückt wurden, die dort draußen existieren. Die unsere Geister in dunklen Augenblicken zu sich ziehen.

Es ist mir klar, dass sich meine Worte wie die eines Wahnsinnigen lesen müssen. Und ja, ich bin vermutlich wahnsinnig. Bei dem, was ich erlebte und was ich im Begriff bin zu erleben, da würde wohl keine Menschenseele frei von Irrsinn sein.

Ich war jedoch nicht immer so.

Zwar wuchs ich in einem ärmlichen Stadtviertel von Irkutsk auf und genoss weder eine umfangreiche Schulbildung, noch hatte ich irgendwelche Freunde, jedoch behielt ich immer einen klaren Kopf.

Ich wusste, was ich wollte.

Ich wollte mein Leben der Kunst schenken, Welten auf Papier bringen, die mich aus jenen kargen Gassen befreien würden, die den Leuten Hoffnung machten in dieser Zeit des stillen Krieges. So fing ich früh an den Umgang mit Pinseln und Farben zu lernen, um meinem Traum ein bisschen näher zu kommen.

Aber leider musste ich merken, dass die Leute die farbenfrohen Gemälde nicht wollten, weil die Gedanken der damaligen Zeit ihre Geister bereits vergiftet hatten. Ich schlug mich durch mit kleinen Aufträgen, mit Porträts, die ich lieblos anfertigte, welche aber meine begehrtesten Werke schienen.

Es mussten mindestens zehn Jahre vergangen sein, seit das erste Mal jemand eines meiner Bilder aus dem winzigen Atelier in der engen Seitengasse trug, in der ich wohnte. Immer noch waren die Menschen unruhig und eine Angst vor der Zukunft schien in ihren Herzen zu wachsen. Ob sie den Ausbruch eines dritten Weltkrieges fürchteten? Oder ob sie gar spürten, dass weit andere Dinge sich regten, während alle Augen in den Westen gerichtet waren? Es konnte mir egal sein.

Die Jahre waren schwammig vergangen, es machte keinen Unterschied für mich, ob es regnete oder schneite, ob die Sonne schien oder der Wind peitschte. Ich malte nur. Berge und Täler, Wüsten und Wälder. Zwar hatte ich noch nie meine Heimatstadt verlassen, mich jedoch durch unzählige Bücher und Zeitschriften gekämpft, die mir einen Eindruck von der Welt außerhalb meiner bekannten Umgebung gaben. Meine Taschen waren zwar leer, jedoch besaß mein Geist einen Ideenreichtum, der mir selbst teilweise unheimlich war.

Alles begann vor ungefähr einem Monat, als ich mich aufmachte, um die Natur zu malen, ihre eindrucksvolle Pracht persönlich zu erleben und sie auf meine Leinwand zu bannen. Nur mit meiner Staffelei und dem Nötigsten bewaffnet machte ich mich auf, die trüben Gassen und Straßen mit den trüben Menschen hinter mir zu lassen und mich in die freie Natur zu begeben.

Es dauerte nicht lange, bis ich schließlich auf einer sonnigen Hügelkuppe Platz gefunden und meine Staffelei in die frische Erde gerammt hatte. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu und tauchte den Himmel in brennendes Rot. Die saftig grünen Hügel mit ihren unzähligen Bäumen, die sich hinzogen, soweit das Auge reichte, gaben mir das Gefühl inmitten einer Oase blühenden Lebens zu stehen. Mein Pinsel huschte über die Leinwand, hoch und runter, kreuz und quer, wie ein Schlittschuhläufer auf einer Eisfläche.

Ich genoss es maßlos, endlich diese wundervolle Welt der Ruhe festhalten zu können und nicht die unangenehmen Zeitgenossen malen zu müssen, die sonst auf meiner Türschwelle standen. Der Großteil des Gemäldes war bereits fertig gestellt, als langsam die Nacht hereinbrach und plötzlich grüne Bänder am Himmel auftauchten.

Die Polarlichter, die ich erblickte, waren so wundervoll, dass ich das angefangene Bild achtlos hinfort warf und von Neuem begann. Mit schnellen, präzisen Pinselstrichen bildete ich die neongrünen, gewaltigen Kreise auf der Leinwand ab. Vielleicht war ich durch die Begeisterung von Sinnen, vielleicht wusste ich damals auch noch nicht, dass Polarlichter solch seltsamer Form und so weit entfernt von den Polregionen ungewöhnlich waren, doch es hätte mich auch nicht gekümmert und ich wurde nicht stutzig. Es war, als wäre das Bild meine Welt, als würde dort alles Wichtige geschehen, was überhaupt geschehen konnte. Ich malte lange und suchte mir erst sehr spät eine Scheune, in der ich nächtigen konnte.

Am nächsten Tag stand ich erneut auf jenem Hügel, malte und malte, unzählige Lichter, die immer verzerrter und heller wurden, umherpulsierten, abgehoben von der Dunkelheit des Alls, bis meine Finger wund wurden und ich erschöpft niedersank. Am dritten Tag dann beging ich den Fehler, der mich schließlich in die Situation bringen würde, in der ich mich nun befinde. Der Fehler, durch den mir die Möglichkeit auf einen schnellen Tod entronn.

Die Pillen waren vermutlich nicht sauber und viel zu billig gewesen. Sie aufzutreiben hatte ebenfalls entgegen meiner ursprünglichen Erwartungen nicht wirklich Mühen gekostet. Vermutlich würden sie also gar nicht die berauschende Wirkung haben, die sie versprachen.

Bis zu jenem Zeitpunkt hatte ich noch nie Drogen genommen, selbst dem gelegentlichen Tropfen Alkohol und dem Zug einer Zigarette war ich ferngeblieben, jedoch verkaufte sich die „moderne Kunst“, welche einige meiner Konkurrenten unter dem Einfluss berauschender Substanzen erschufen, unverhältnismäßig gut. Und da war er wieder, der Drang nach Ruhm. Nach Anerkennung. Nach Bewunderung. Dieses Gefühl, das mich schließlich über den Rand trieb.

Die Pillen schmeckten fruchtig und zart, zergingen auf der Zunge zu Pulver und lösten sich schnell auf. Es dauerte nicht lange, bis die Substanzen in mein Blut eindrangen und ich mich ins saftige Gras fallen ließ, den Pinsel in der einen Hand, eine kleine leere Leinwand in der anderen. Mein Geist wandte sich gen Himmel, in die ewigen Welten über mir. Langsam spürte ich die Wärme in meinen Adern, die langsam meine Sinne schärfte und meine Gedanken erleichterte. Die gewaltigen Polarlichter leuchteten rhythmisch zu meinem Herzschlag. Ihre rundliche Form schien wie ein Tor in eine andere Welt, in das unentdeckte All, zu Monden und Sternen und Sonnen und Planeten… Es war, als ob ich flog, dort hinein in den Weltenraum, weiter in die Ekstase, einen Hauch von Unendlichkeit spürend. Und zum ersten Mal seit nunmehr zehn langen Jahren waren Pinsel und Leinwand vergessen, jetzt, da ich die farbenfrohen Welten selbst zu bereisen glaubte und wusste, dass ich so viele Eindrücke wie möglich in mich aufsaugen musste, um mit ihnen mein weiteres Leben zu bereichern. Sollte ich sie teilen mit all den leblosen Menschen? Sollte ich wirklich diese Schönheit einfangen und unter jene Leute bringen, die nur auf ein kommendes Zeitalter des Todes warteten? Bestimmt kümmerte sowieso niemanden, was ich empfand, was ich erblickte. Bestimmt würden Bilder dieser Großartigkeiten ebenso erbärmlich enden wie meine anderen Gemälde der wunderbaren Natur.

Doch wenn nicht? Wenn man erkennen würde, was für Perfektion diese Welten besaßen, die ich gerade sah? Ich würde reich werden, mein Name in die Annalen der Kunstgeschichte eingehen, neben Größen wie Picasso und van Gogh.

Während ich weiter und weiter durch die pure Grandiosität der Sternenlandschaften glitt, gelang dumpfes Dröhnen in meine Gedanken. Wie ein eiterndes Geschwür trübte es mein Erlebnis, meine Offenbarung. Die Erde schien zu vibrieren und ich sah neue Lichter tanzen, zwischen den Polarlichtern, züngelnd, blau und weiß und kalt.

Oder bildete ich sie mir nur ein? Glitt da nicht etwas aus den Himmeln zu Boden? Entfloh nicht ein Schatten den fremdartigen Blitzen?

Doch ich musste mich getäuscht haben, denn bald verblassten jene Störungen und meine Gedanken wurden wieder gefangen genommen von den grünen Schlieren, die sich in langen Bändern über den Nachthimmel zogen. Das All schien mich wieder zu sich zu rufen und die saftig leuchtenden Farben wirkten wie ein Ursprung des Lebens selbst, einer Quelle voll reiner Energie gleich. Die Sterne leuchteten, Nebel und Quasare umgaben mich, keine Erschütterungen waren mehr zu spüren, nur Ruhe und Geborgenheit. Ich wünschte mir sehnlichst, dass diese Momente nie vergehen würden, dass ich den Rest meiner Tage in diesem Zustand des Glückes verbringen würde, jedoch war mir dies nicht vergönnt.

Ich spürte eine Nähe, setzte mich auf, während alles vor mir sich zu drehen schien.

Und dann sah ich ihn, auf einer anderen Hügelkuppe sitzend, keine dreißig Meter von mir entfernt.

Es war… ein… Hase?

Oder… irrte ich mich? Die Welt schien so unwirklich, immer noch stoben die Himmel an meinen Augen vorbei.

Und inmitten des Gewusels… ein… ein… Hase?

Hellbraunes zerzaustes Fell, abstehende struppige Löffel, irgendwie verwittert. Mit errichtetem Haupt und mandelförmigen Augen, die die Gegend musterten…

War das ein Hase?

Er verschwand und tauchte wieder auf.

In dem winzigen Moment, in dem er nicht mehr zu sehen war, wurde mein Innerstes eiskalt und eine tiefe Furcht vor einer maßlosen Gefahr befiel mich. So schnell wie es kam, verging es wieder. Die Ruhe kehrte zurück und dort saß nur der Hase. Musterte die Welt. Inspizierte sie.

Als suchte er etwas jenseits der Hügel.

Dann verschwamm er wieder, erneut dieses Gefühl in mir…

Wuselte, wand sich da nicht etwas Anderes auf jenem Hügel? Eine… zähe Masse? Ein schleimiger Leib? Gepanzerte Glieder? Haarige Klauen? Ein Schwarm? Ein Körper? Hände, Füße, Fühler? Augen und Münder? Ein gierender Schlund des Abschaums?

Nein, nur ein Hase.

Ein Hase, der unter den verblassenden Polarlichtern saß, das Gras um sich herum leuchtend wie die Sterne, in die ich mich wieder verlieren wollte.

War ich blind? Oder wollten meine Augen nicht begreifen, was dort war? Schützte mein Geist mich?

Erneut wurde es kalt. Und dann bemerkte ich, dass sich der Boden unter mir drehte, der Himmel sich verzerrte, die Zeit stehen zu bleiben schien und eine Wesenheit aus dem Anders sich regte, dort auf jenem Hügel…

Ich hatte vermutlich zu viele der Pillen auf einmal genommen… Wieso dachte ich solche Dinge?

Es mussten die Pillen gewesen sein.

Nur ein Hase.

Das Tier saß dort und spähte umher, die langen Löffel weit abgespreizt und die Nase zitternd, riechend, suchend. Ich wollte ihn nicht mehr sehen, starrte in den dunklen Nachthimmel, erblickte das Band der Milchstraße. Tausende weiße Punkte, geflochten zu atemberaubender Schönheit.

Sollte ich sie nicht malen, diese Sterne? Sollte ich nicht das ignorieren, was in der Nähe auf der Hügelkuppe saß? Ich setzte den Pinsel an, wollte die Gestirne einfangen, doch dann spürte ich es erneut. Diese Präsenz, diese ekelhafte Präsenz. Bildete ich mir ein, ein Schnattern und Klicken zu hören? Nein, ich musste mich beruhigen, ich musste zurück zu meinen Sternen.

Aber dort saß er, auf dem Hügel.

Einfach nur ein Hase.

Wieso… ihn nicht einfach malen? Es erschien mir plötzlich so logisch, so clever. Als das Tier erneut verschwand, war es, als würden Konturen von etwas Schrecklichem sich andeuten.

Ließen die Pillen nach?

Eine Panik übermannte mich und das Herz schlug mir bis zum Halse. Was, wenn da doch kein Hase war? Wenn es nicht die Drogen waren, die mir dieses merkwürdige Empfinden nach Abscheulichkeit vermittelten? Wenn sie mich schützten, mir erlaubten, es nicht zu sehen?

Ich schmiss die restlichen Pillen ein und alles wurde besser.

Der Himmel machte meinen Geist frei und der Hase wirkte majestätisch und erhaben. Wieso… nicht ihn malen? Wieso nicht? Sterne konnte ich immer sehen, aber dieses wunderschöne Tier, das nichts Schlimmes sein konnte, harmlos, das könnte ich malen. Das könnte ich malen.

Eine gute Idee.

Vielleicht sollte ich…

Sollte ich vielleicht…

Näher herangehen? Mehr Details ausmachen? Um ihn lebendiger auf Papier zu bringen?

Es war doch nur ein Hase. Ein bisschen knuffig, flauschig, fluffig.

Harmlos.

Nur ein Schritt, ich musste ihn in seiner ganzen natürlichen Perfektion auf die Leinwand bannen.

Langsam stand ich auf.

Tat einen Schritt.

Einen weiteren.

Ging auf ihn zu, pirschend.

Das Tier regte sich nicht, saß nur dort und sah umher.

Als ich den nächsten Schritt tat, drehte sich die Welt erneut und ich stürzte. Den Aufprall spürte ich nicht. Meine Hände gruben sich in das lange Gras, das bereits mit zähem Morgentau überzogen war. Ich war nun ganz nahe an dem… Hasen.

Tastete nach meinem Pinsel, der mir beim Sturz aus der Hand gerutscht war. Nahm die Leinwand, die eingebogen worden sein musste, als ich auf sie fiel.

Dann malte ich.

Ich malte den… Hasen…

Er war so… schön, sein braunes Fell… seine braunen Augen, keck, wachsam, schleimüberzogen… seine Stubsnase… seine Münder, seine langen Löffel… seine flauschigen Pfoten und Knospen, sein kleiner, stummeliger Schwanz.

Seine... Zungen…

So wunderschön.

Ich malte und malte, verlor mich in das fantastische Wesen, brachte seine unweltliche Perfektion auf meine Leinwand.

Am nächsten Morgen wachte ich auf, benommen.

Ich musste in der Nacht gewandert sein, fand mich unter einer alten Eiche liegend wieder, den Pinsel noch in der Hand, die Leinwand nirgendwo mehr zu sehen.

Ich hatte meinen Rausch ausgeschlafen.

Und von jenem Hasen hatte ich geträumt; meine Gedanken hatten wirres Zeug gesponnen.

Der Hase war geflogen, fort in die Nacht, seine Löffel wie Flügel schlagend, hinein in aufleuchtende Polarlichter und vermutlich in die Weiten des Alls. Ich machte mir natürlich Sorgen um meinen Verstand, hatte ich doch noch niemals zuvor so einen Stuss erdacht. Ich war Maler, doch waren meine Bilder und Visionen immer welche der Realität gewesen.

Nicht so abgedreht und eigentümlich.

Ich schwor, mir nie wieder so ein Teufelszeug reinzuschmeißen. Es dauerte ein wenig, bis mein Orientierungssinn einsetzte und mir bewusst wurde, dass ich mich nicht weit entfernt von jener Hügelkuppe befand, an der ich mich dem Rausch hingegeben hatte.

Doch war dort keine Hügelkuppe mehr.

Wie abgeschmirgelt war die Landschaft an jener Stelle, vielleicht auf einer Fläche von dreißig Quadratmetern. Was war dort geschehen? Plante einer der Anwohner, hier ein Haus zu bauen? Oder war die Landschaft in der letzten Nacht verschwunden? Als ich hier war?

Und wo war das Bild? Ich wusste, dass ich es finden musste, dass es alles erklären würde! Es würde den Hasen zeigen, der auf der Kuppe saß und die Gegend musterte.

Nur den Hasen.

Als ich den Schrei hörte, gefror mein Blut mir in den Adern. Unmenschlich hoch, voller Grauen, als würde jemandem seine Seele vom Teufel höchst selbst aus dem Leibe gerissen. Ich strauchelte nach vorne, umrundete die kleine Kuppel, deren Spitze so ungewöhnlich glatt war, und schließlich sah ich ihn.

Ein alter Mann, der wahnsinnig lachte, fast meckernd wie eine Ziege. Seine Augen waren weit aufgerissen, fast schon tot. Speichel lief aus seinem kichernden Mund. Er zitterte heftig, schüttelte sich, umklammerte ein Feuerzeug, mit dem er sich wohl eine Zigarette angezündet hatte. Doch etwas Anderes brannte vor seinen Füßen.

Es war die kleine Leinwand, die ich in der Nacht bei mir gehabt hatte.

Nur einen Hasen hatte ich gemalt… oder?

Der Mann erblickte mich.

Seine Pupillen weiteten sich und er gierte laut und panisch.

„Was haben Sie gesehen?“, rief er mit rauer Stimme.

Als meine Augen in seine sahen, konnte ich einen Funken Klarheit aufblitzen sehen, eine winzige Flamme Verstand. Mir war, als würde dieser kleine Partikel Mensch, der noch in jenem Mann vorhanden war, mich für alles Übel der Welt selbst verantwortlich machen und einen bodenlosen Hass mir und meiner Existenz gegenüber empfinden.

Dann nahm er einen großen, schweren Stein in die Hände, während zu seinen Füßen die letzten Reste meines Kunstwerkes zu Asche verbrannten. Bevor ich noch irgendetwas tun konnte, schlug er den Brocken in sein Gesicht, so oft, bis er zusammenbrach und nur noch zuckend in einer Pfütze roter Flüssigkeit lag, während sein Geist entfloh. Ich ergriff meine Sachen und machte, dass ich fortkam, fort von jenem Hügel und jener Leiche, deren grotesker Anblick jede weitere Sekunde meines Lebens verdunkeln würde.

 

Kapitel 2

Ich verschwand so schnell von jenem Ort des Grauens, wie ich konnte. Ich fand mich keine Stunde später in einer Straßenbahn sitzend wieder, geschützt vor dem stürmischen Regenguss, der aufgekommen war, aber meinen Gedanken ohne Fluchtmöglichkeit ausgeliefert. Kälte umfing mich, jedoch wusste ich nicht, ob sie von der Nässe oder meinen Erlebnissen herrührte. Die Menschen um mich herum wirkten fern und fremd. Teilnahmslos. Gleichgü+ltig. Ihr Gemurmel und Geflüster schien irgendwo unbedeutend in meinem Geist zu verhallen. Der Boden der Bahn war schmutzig, schmutzig wie mein Innerstes.

Was war geschehen? Ich konnte es einfach nicht begreifen. Was war auf jener Hügelkuppe gewesen? Was hatte der Mann auf der Leinwand gesehen, die sich in lodernde Asche verwandelt hatte? Ob die Leiche schnell gefunden würde, man mich vielleicht sogar in der Nähe jenes Ortes gesehen hatte? Man etwas fand, das von meiner Anwesenheit dort zeugte? Ich konnte nur hoffen, dass der Regen alles fortwusch, fort vom Angesichte dieser Welt. Als die Straßenbahn in der Nähe meiner kleinen Gassenwohnung hielt und ich endlich durch die Fluten des Himmels getrieben zu meiner Bleibe rannte, fühlte ich immer wieder die Gegenwart von etwas Fremdem, das mich zu verfolgen schien. Die Wände der Häuser um mich herum waren marode und alt und obschon ich sie kannte, war da etwas Neues, etwas, das so abartig anders war, dass ich meine Schritte noch weiter beschleunigte, um endlich in meine kleine Wohnung zu gelangen, in der ich mich erst einmal beruhigen konnte.

War der Himmel dort nicht ungewöhnlich braun? Düster, sogar als die Blitze ihn erhellten? Bewegte sich da nicht etwas, das nicht dort sein sollte? Ein Umriss? Nein, der Rausch war wohl doch noch nicht vorbei, ich musste mich irren, halluzinieren, vielleicht sogar wahnsinnig werden!

In mein Zimmer gestolpert war ich, tropfnass und verzweifelt wie nie zuvor. Was sollte ich tun? Wenn die Polizei die Leiche fand, vielleicht irgendwie zu dem Schluss kam, dass ich dort gewesen war, dass ich jenen Mann erschlagen hatte? Wie sollte ich dann meine Unschuld beweisen? Und wann würden diese Trugbilder und dieses Gefühl der Verlorenheit verschwinden?

Heute weiß ich, dass niemand sich je um den Toten gekümmert hatte. Dass er vergessen worden war, ohne dass die Geschichte Notiz von ihm nahm. Und ich wünschte, dass es mir ebenso ergehen wird, dass mein Name verhallt und diese…

Doch es kam anders. Die ganze Nacht plagten mich Visionen des Horrors, Bilder von abartigen Zerrwelten und Wesenheiten, die nach mir trachteten. Als ich schweißgebadet aufwachte, fühlte ich den Drang, zu malen, mich abzulenken um den schrecklichen Gedanken zu entkommen, aber es half nichts. Mein Pinsel weigerte sich über die Leinwand zu huschen und jene Alpträume in diese Welt zu holen. Verzweifelt muss ich niedergesunken sein. Dann fielen sie mir ins Auge, zwei der Pillen die ich gekauft und zur Sicherheit in meiner Wohnung gelassen hatte. Falls ich erfolgreich gewesen wäre auf meiner Suche nach Inspiration in den Weiten des Rausches, hätte ich sie gebrauchen können.

Und irgendwie… irgendwie war ich das ja auch.

Irgendwie… hatten sie ja gewirkt. Mich beruhigt, mir Frieden gegeben, Glück und Freiheit. Mich behütet vor dem Ding auf dem Hügel. Sie hatten mir Geborgenheit gegeben in den Sternen. Im Band der Milchstraße.

Wieso… wieso nicht eine von ihnen nehmen? Vielleicht… Vielleicht würde es mir dann bessergehen. Vielleicht könnte ich schlafen? Alles hinter mir lassen? Warum nicht…

Ich stand auf und wankte zu der alten ranzigen Kommode, die in meinem Zimmer stand. Nahm die Pille. Steckte sie in den Mund, während eine leise Stimme im Hintergrund meiner Gedanken versuchte, mich davon abzuhalten. Und dann wurde es besser. Das Grauen und die Angst ebbten ab, langsam aber sicher.

Was für lächerliche Sorgen ich gehabt hatte, Sorgen, die langsam fortschwebten.

Alles war gut. Ich konnte schlafen gehen.

Oder… sollte ich malen? Wo es mir doch nun besserging. Ich musste ja nicht jene Welten thematisieren, die ich erblickt hatte. Nur einfache Landschaften. Was war schon dabei?

Der Pinsel glitt über den Stoff und meine Sinne verschwanden in göttlicher Ekstase.

Stunden später kam ich zu mir, über und über mit Farbe bekleckert. Die Wirkung der Pille hatte nachgelassen. Wo war das Bild, welches ich gemalt hatte? Was war darauf zu sehen? Wieder etwas Unnennbares, das den Betrachter in den Wahnsinn treiben würde? Ein Splitter der Hölle, gebannt auf eine Leinwand? Der Tod, das Ende?

Hektisch zuckte mein Blick umher, bis ich es schließlich sah.

Ein Bild, das eine Landschaft zeigte, anmutig und schön, aber auch mysteriös und lockend. Die Farben woben ein Wunderland, das so betörend war, dass ich den Blick einfach nicht davon abwenden konnte. Wie hatte ich so etwas zustande gebracht? Solche Perfektion?

Ich muss eine Ewigkeit nur dagestanden haben, den Blick auf jenem Tal ruhend, den Bäumen, den Bächen…

Dann klopfte es an der Tür.

Wer konnte das sein? Wer konnte sich in solch eine entfernte Gasse verirrt haben? Zögernd machte ich die Tür auf. Draußen stand ein vornehm gekleideter Mann, vermutlich um die vierzig Jahre alt und wohlgenährt.

„Ich brauche ein Porträt, aber es muss günstig sein“, sagte er kurz angebunden.

„Ja, selbstverständlich. Entschuldigen Sie meine Verwunderung, es verirren sich nicht viele Menschen in diese Räumlichkeiten“, erwiderte ich zögerlich.

„Seien Sie unbesorgt, ich werde dieses Rattenloch nicht lange mit meiner Anwesenheit beehren. Man sagte mir, dass sie für einen guten Preis Porträts erstellen und recht zügig arbeiten. Wollen wir gleich beginnen? Ich habe nicht ewig Zeit. Ich…“

Er verstummte. Hatte das Bild bemerkt. Ein Feuer begann, in seinen Augen zu lodern.

„Was… was ist das?“, fragte der Mann wie benebelt.

„Mein neuestes Werk“, erklärte ich ihm.

„Ich will es.“

Wie in Trance schritt er an mir vorbei und blieb vor dem Gemälde stehen. Gaffte.

„Wie viel?“, näselte der Mann.

„Ich weiß nicht, ob ich es verkaufen will…“, hörte ich mich sagen.

Mein Gegenüber fuhr herum. Wirkte erzürnt, fast ein bisschen hasserfüllt.

Oder bildete ich mir das nur ein?

Er nannte mir einen Betrag.

Ich glaubte, mich verhört zu haben. Fragte nach.

Keine fünf Minuten später stand ich wieder allein in meinem Zimmer, mehr Geld in der Hand, als ich in meinem gesamten Leben verdient hatte. Neben mir der leere Esel, auf dem das Gemälde bis vor einigen Augenblicken geruht hatte.

Ein Unwohlsein überkam mich. Was hatte ich getan? War das, was der Mann mitgenommen hatte, wirklich gänzlich von dieser Welt? Natürlich traute ich den Pillen nicht, doch mit ihrer Hilfe hatte ich nun schon zweimal etwas Besonderes erschaffen.

Einzigartige Kunst.

Zumindest redete ich mir das damals ein, den Blick immer auf den Geldscheinen in meiner Hand, während ich verzweifelt die Erinnerungen an jenen Mann zu verdrängen versuchte, der sich vor meinen Augen selbst gerichtet hatte.

 

Kapitel 3

 Mit dem Geld, welches mir das Bild beschert hatte, konnte ich mir eine neue Wohnung in einem etwas besseren Stadtviertel leisten. Der Stress des Umzugs schaffte es, mich ein wenig von jenen dunklen und wirren Gedanken abzulenken, die seit meiner Nacht auf jenem Hügel mein Gemüt plagten. Ich sah nicht mehr in den Himmel, aus Angst davor, eine Wesenheit aus den Tiefen des Alls dort zu erblicken und in der Tat meinte ich ein ums andere Mal, eine andersweltliche Präsenz zu spüren.

Das Atelier, das ich bezog, war um einiges größer als mein vorheriges Zimmer und bot Platz für einige neue Werke. Doch als nach einigen Tagen die ersten Bilder entstanden, kam Unmut in mir auf. Nichts kam auch nur ansatzweise an jenes Kunstwerk heran, das nun vermutlich die Wand des Geschäftsmannes schmückte.

Alle Kunst, die entstand, fühlte sich seelenlos und falsch an. Je mehr ich malte, desto weniger konnte ich innerlich zur Ruhe kommen. Erinnerungen an jene Landschaft, die ich im Rausch auf die Leinwand gezaubert hatte, hallten spottend in meinem Kopf umher. Das Zimmer füllte sich mehr und mehr mit Bildern der Langeweile, Bildern der Trostlosigkeit, Bildern der Nichtigkeit. Stunde um Stunde schwang ich den Pinsel, doch so oft ich auch nach der Schönheit der Welt griff, konnte ich sie doch nie erreichen. Ich vergaß zu essen und zu trinken, wollte nicht mehr schlafen. So konnte es nicht weitergehen, ich musste doch etwas Gescheites vollbringen können! Ich musste doch jene Perfektion rekonstruieren können! Aber nichts half, nur triste Landschaften fristeten ihr Dasein an meinen Wänden.

Dann bekam ich Besuch. Eine hübsche junge Dame und ein älterer, adrett gekleideter Herr standen auf meiner Türschwelle, gespannt und mit einem Funkeln in den Augen.

„Verzeihen Sie, aber sind Sie derjenige, der… die Landschaft gemalt hat?“, brachte die Frau nach einigen Momenten des Schweigens hervor.

Sie musste nicht näher beschreiben, welche Landschaft gemeint war. Es konnte nur eine sein. Zögernd nickte ich.

„Nun, junger Mann, meine Frau und ich haben jenes fantastische Werk an der Wand meines Schwagers gesehen und uns sofort in es verliebt. Er wollte das Bild selbstverständlich nicht verkaufen, aber hat nach einiger Überzeugungsarbeit Ihren Namen preisgegeben. Und dann war es auch nicht mehr schwierig, herauszufinden, wo Sie wohnen. Immerhin können sich nicht viele Künstler solch eine Bleibe in diesen Zeiten leisten.“

Der Mann wirkte aufgeregt und seine Frau blickte gierig im Atelier umher.

„Was sind das hier für Bilder? Ich muss leider sagen, die kommen gar nicht an jene Landschaft heran“, meinte sie dann enttäuscht.

„Nur ein paar Übungen. Meine richtigen Werke sind natürlich um einiges gekonnter“, beeilte ich mich zu versichern, peinlich berührt.

„Natürlich, das versteht sich von selbst. Aber… wäre es möglich, so etwas zu erhalten, wie mein Schwager über dem Kamin hängen hat? Ich zahle gut. Besser als er zumindest“, versprach der Mann hastig.

„Ich werde sehen, was ich tun kann. Die Muse wird mich vermutlich in den nächsten paar Tagen erneut küssen. Dann werden Sie selbstredend sofort in Kenntnis gesetzt. Lassen Sie einfach Ihre Nummer da.“

„Ich hoffe sehr darauf. Geben Sie mir ein Gemälde von solch unvergleichlicher Schönheit und Tugend und ich verspreche, Ihr Name wird in der Kunstgeschichte niemals vergessen werden!“

Seine Worte rangen in meinen Ohren. War das die Wirklichkeit? Hatte ich es nun doch geschafft?

Als das Paar schließlich wieder verschwunden war und eine Visitenkarte zurückgelassen hatte, wusste ich nicht, wo mir der Kopf stand. Mein Name? In die Geschichte eingebrannt? Das konnte doch nicht wirklich geschehen! War der Traum des Ruhmes über Nacht wirklich in greifbare so Nähe gerückt? Es musste sich um ein Wunder handeln!

Aber… ich konnte nicht malen. Zumindest nicht das, was von mir verlangt wurde. Meine Bilder hatten keine Seele, nicht wie jenes andere. Sie waren nur tot und trist. Was sollte ich tun? Wie….

Die Pillen, ja, die Pillen.

Ich brauchte mehr. Viel mehr. Ich musste sehen, ich musste verstehen.

Heute wünschte ich, dass ich am nächsten Tag nicht jenen schäbigen Halunken aufgesucht hätte um weitere der kleinen Pillen zu besorgen und dass ich mein unwichtiges Dasein fortgeführt hätte, aber dem war nicht so. Die Aussicht auf ein Leben im Rampenlicht hatte jeglichen klaren Teil meines Verstandes im Keime erstickt.

Schließlich stand ich vor meinem Esel, den Pinsel und die Farben griffbereit und schluckte die kleinen Objekte, die mich schnell in einen Rausch versetzten.

Und dort waren sie, die Bäume und Berge, die Gewässer und Wälder und Steine, die Tiere und Gewächse aus einer perfekten Welt, unendlich und alt. Sie leuchteten und blitzten vor meinen Augen, während mein Geist über einen fernen Himmel glitt. Es gab nur jene Landschaften, kein All über ihnen, kein Erdreich darunter. Nur die ewigen Weiden und Täler, die Städte und Burgen, die Türme und Zinnen und Giebel einer anderen Welt, längst vergessen und noch nicht gebaut.

Als ich wieder zu mir kam, sah ich es. Ein Bild, das noch vollkommener schien als mein vorheriges. Die Flora und Fauna, die ich dort erblickte, wirkte göttlich und erhaben. Wie eine Scheibe der Unendlichkeit selbst. Es war mir erneut gelungen. Man würde sich um dieses Kunstwerk reißen, ich würde reich und bekannt werden, jedes Kind würde von mir wissen, jedes…

Aber konnte ich es überhaupt weggeben? Dieses Ding der Schönheit? Konnte ich es diesem Mann und seiner Frau überlassen und es vermutlich nie wiedersehen? Bestimmt würden sie es für sich alleine wollen. Ganz für sich alleine.

Was dachte ich da? So ein Schwachsinn! Warum sollten sie?

Ich schüttelte verwirrt den Kopf und wählte die Nummer.

Kapitel 4

Das Lob, mit dem mich das Paar überschüttete, überstieg meine kühnsten Vorstellungen. Nervös waren die beiden vor meiner Tür aufgetaucht, die Frau ein bisschen zitternd und der Mann verschwitzt. Sie pressten sich an mir vorbei in das geräumige Zimmer und blieben erstarrt stehen, als sie das Bild sahen.

„Es… es ist wunderbar“, keuchte die Frau.

„Ein Traum“, gab der Mann hinzu.

Sie näherten sich der Leinwand, langsam, pirschend.

Ich beobachtete sie gespannt, immer noch an der Tür stehend.

„Der Preis… was wollen Sie haben?“

Ich zuckte mit den Schultern, nannte den Preis, den der andere Mann gezahlt hatte.

„Lächerlich. Ich gebe Ihnen das Dreifache! Nein, das Vierfache! Wir müssen es haben.“

Die beiden sahen mich gespannt an, erwarteten meine Antwort.

Aber wollte ich es weggeben? Es war so wunderschön! Was, wenn ich niemals wieder so etwas erschaffen würde? Wenn das der Zenit meiner Kunst war und es nun bergab ging? Die Pillen! Ja, mit den Pillen würde ich wohl noch weitere Göttlichkeiten hervorzaubern. Warum also nicht? Es konnte nicht schaden, nein, wie auch?

Somit schloss ich das Geschäft ab. Die Scheine füllten meine Taschen, ein wohltuendes Gewicht. Ich war damals so glücklich über die Ereignisse auf jenem Hügel, so froh über die Begegnung mit jenem… Hasen…

Am Abend nahm ich erneut eine der Pillen ein, ließ meinen Pinsel tanzen, die Farben pulsieren und die Herrlichkeit Einzug nehmen in meine Welt.

Den Tag darauf malte ich zwei weitere Bilder, am nächsten Tag noch drei. Ich bewahrte sie in einer Hinterkammer auf, sonst würde man sie womöglich von der Straße aus sehen! Und man weiß ja, welches Gesindel sich draußen in den Gassen herumtreibt…

Dann kamen die Leute. Jeden Tag einige mehr. Man hatte meine Gemälde an den Wänden meiner Käufer erblickt und langsam schien sich ein Gerücht zu verbreiten, ein Gerücht, dass irgendwo im Herzen von Irkutsk ein Maler lebte, der das Jenseits auf die Erde holen konnte. Ein Maler, der die Tore des Seins weit aufgestoßen und die Vollkommenheit der Welt erfasst hatte. Ein Gerücht über mich.

Es kam mir in jenen Tagen fast so vor, als hätten alle, die gutes Geld besaßen, von mir gehört. Und dann kamen auch Leute von außerhalb, Leute aus Moskau und von überall aus dem Land. Ich tat mein Bestes, die Bilder nachzuliefern.

Jedes Mal, wenn ich wieder zu mir kam und eine weitere Schönheit auf meinem Esel erblickte, machte mein Herz kleine Sprünge. An jedes Bild erinnere ich mich, an jedes Kunstwerk, das ich in diesen Tagen malte und verkaufte. An die Landschaften und Städte, die Täler und Himmel, die Sterne und Monde, die Tiere und Pflanzen, an alles. Jedes Detail blieb präsent, jeder Pinselstrich. Damals kam es mir wie ein Wunder vor. Ich hatte Glück, dass jeder wohlhabende Haushalt sich mit einem Bild zufriedengab. Sonst hätte ich vermutlich nicht genug nachliefern können. Zweiundfünfzig Bilder malte ich, jedes ein Abbild der Schönheit selbst.

Die Zeitung kam und sogar das Fernsehen, mit den großen klobigen Kameras und der vielen modernen Ausrüstung. Sie machten Fotos und Videos von meinen Werken, würden sie bestimmt in der ganzen Welt herumzeigen und mich zu einem der gefragtesten Männern der Menschheitsgeschichte machen.

Doch dann kam der erste der Anrufe, die alles veränderten. Der Anrufe, die den Beginn jener Ereignisse bildeten, die mich zu der drastischen Tat verleiteten, die ich im Begriff bin zu begehen.

Es waren die Leute vom Fernsehen. Ein junger Mann, der sich nach mir erkundigte.

„Wir haben die Videos angesehen, die wir von ihren Bildern gemacht haben…“, begann er stockend.

„Ja, was ist damit? Sie sagten, dass Sie einen Bericht zusammenschneiden, der überall im Land zu sehen sein wird. Haben Sie sich etwa unentschieden? Wollen Sie der Welt diese Perfektion vorenthalten?“, fragte ich unwirsch.

„Natürlich nicht, ich habe sie ja selber gesehen. Mit meinen eigenen Augen. Aber… Auf den Videos sind die Bilder nur weiß. Nichts. Es ist wie eine Bildstörung. Wie ein blinder Fleck. Als ob die Motive sich den irdischen Naturgesetzen entgegenstellen…“, sagte mein Gesprächspartner.

Er schien Angst zu haben.

„Wenn… wenn man sich die Videos ansieht… man bekommt so ein Gefühl. Zunächst ist es nur Verwunderung, Sie können sich das bestimmt gut vorstellen… Wieso sollten die Bilder auch nicht zu sehen sein? Doch dann… Es ist, als ob man blind wäre, verstehen Sie? Als ob dort etwas ist, was man mit unserer Technologie nicht erfassen kann. Ich habe die Bilder gesehen und bin überzeugt… dass sie nicht von dieser Welt sind. Dass sie etwas abbilden, was nicht hierhergehört.“

Ich schnaubte wütend. Was für ein Spinner.

„Und darum ziehen sie also den Schwanz ein? Weil es Probleme bei den Aufnahmen gab? Ich bitte Sie! Dann machen Sie einfach neue!“, fluchte ich.

Dieser Stümper wollte meine Arbeit verreißen, mich lächerlich machen. Nachdem so viele Menschen die Gemälde wollten! Er gönnte mir meinen Erfolg nicht, lebte wahrscheinlich in irgendeiner dreckigen kleinen Wohnung und fütterte seine Bastarde durch. Das würde ich nicht zulassen. Ich würde…

„Das werden wir nicht tun. Die Anweisung kommt direkt von meinem Vorgesetzten. Wir bringen nichts mehr über diese Bilder. Gar nichts. Er sagt, etwas Unnennbares wäre auf jenen Leinwänden gefangen. Geister, die nach den Lebenden trachten und nur darauf warten, zurückgeholt zu werden aus der Hölle. Seelen, die keine Ruhe haben und in der Farbe neues Leben finden…

Die Aufzeichnungen, die wir bereits gemacht haben, hat er verbrennen lassen! Er hatte große Angst! Wir alle haben große Angst! Was haben Sie da gemalt? Was haben Sie gesehen???“

Der Redakteur fand keine Worte mehr, stöhnte fast weinerlich und legte ohne ein weiteres Wort zu verlieren den Hörer auf. Ich stand wie vom Blitz getroffen da, das Telefon noch lange in der Hand haltend.

Was haben Sie gesehen?

Diese Frage machte mir Angst. Schönheit? Hatte ich wirklich Perfektion gesehen? Oder doch etwas ganz und gar Anderes, Unheilvolleres, dass mich in Sicherheit wiegen wollte? Etwas, das mich benutzte? Etwas, das…?

Ich verlor mich und starrte nur an die Wand. Entschied, dass es wohl besser war, an die frische Luft zu gehen. Mich zu entspannen, abzulenken. Als ich mein Atelier verließ, war mir, als ob sich mir eine klare Wahrheit entziehen würde…

Die Straßen wirkten grau wie immer, die Menschen fremd und fern. Der Himmel war verhangen und ließ mich wünschen, in jenen anderen Welten zu sein, jenen Welten der Vollkommenheit. Was tat ich überhaupt noch hier? Hier an diesem trostlosen Ort voller Misstrauen und Feindseligkeit? Voller ekelhafter Arroganz und voll Hochmut, voll Hass…

War da nicht etwas in den Wolken über mir? Ein Schatten? Eine unförmige Gestalt, die sich dort wand? Nein, das war nicht möglich. Vermutlich nur Entzugserscheinungen, ich hatte seit einem Tag keine Pille mehr genommen. Nur mein Körper, der seine Medizin verlangte. Seine tägliche Dosis Euphorie.

Folgte mir nicht jemand? Ich sah mich um, habe die Straße abgesucht, die Autos, die Fußgänger, aber nichts war abnormal. Und doch…

Ich ging schneller, durch enge Gassen und an stinkenden Wohnungen vorbei. War da nicht wer? War es der Hase? Was, wenn er… es kommen würde? Wenn mich seine Münder verschlingen würden? Ich musste weg, fing an zu rennen. Vorbei an mürrischen Menschen, die mir nachstarrten. War er mir auf den Fersen? Glitt er hinter mir her? Hörte ich nicht sein Klicken, sein Schnattern? Nein, die Einbildung, nur der Entzug.

Der Park kam näher. Ich suchte Schutz unter einem der Bäume, war froh darüber, dass sein Blätterdach den Himmel abschirmte.

Langsam kam die Ruhe zurück.

Doch dann begannen die Fragen.

Was geschah mit mir? Sollte ich einen Arzt aufsuchen? Aber was würde man dann denken? Der größter Künstler der Menschheitsgeschichte nur ein armer Irrer? Ein Wahnsinniger, den man nicht für voll nehmen musste?

„Seine Kunst war eigentlich gar nicht so fantastisch, so außergewöhnlich wie alle immer behaupten. Nur ein paar Pinselstriche. Das hätte doch jeder hinbekommen. Kein Talent, vergessen sollte man den Stümper…“, hörte ich die Leute schon reden, als ich dort unter jenem Baum kauerte, schweißnass und angsterfüllt.

Heute hoffe ich, dass man genau das von mir denkt. Das man mich vergisst, aber damals…

Damals war das undenkbar, als hätte ein Fieber meine Gedanken übernommen um mich in den Wahn zu stürzen.

Ein lautes Rascheln, das aus den Baumkronen über mir zu kommen schien, lenkte mich ab. Was war dort? Es war nichts zu erkennen, kein Eichhörnchen, kein Vogel… und doch…

Was, wenn es das Wesen war? Jene Kreatur aus der Fremde? Der… Hase?

Ich musste weg, fort, einfach weg.

Das Rascheln wurde lauter.

War es gar nur der Wind? Nur der Wind, der dort durch das Blätterdach fegte? Nur der Wind?

Es war noch immer nichts zu sehen, aber ich wusste, dass dort etwas war. Panik umfing mich und die Welt schien zu verschwimmen, als sich ein Ohnmachtsanfall anbahnte, doch ich hielt stand. Dachte nach über einen Ausweg aus all dem Schlamassel. Sah nur den einen Weg…

Vielleicht hätte ich mir in jenen Momenten das Leben genommen, wäre verendet und mein Tod hätte die Bilder noch berühmter, noch berüchtigter gemacht…

Aber es kam anders.

„Sind Sie der Maler? Der, der meinem Mann dieses Bild verkauft hat?“, hörte ich plötzlich eine Stimme.

Sie gehörte zu einer Frau, die sich mir unter jenem Baum genähert hatte und mich halb furchterregt, halb ungläubig ansah. Wie ein Haufen Elend muss ich ausgesehen haben.

„Welches Bild…?“, fing ich stockend an.

„Er hat es mir zu meinem Geburtstag geschenkt. Zuerst dachte ich, dass er mir wieder nur so ein liebloses Porträt von sich gibt, wie schon so oft zuvor, aber als ich es auspackte… Mir ist fast das Herz stehen geblieben, so sehr habe ich mich gefreut…“

„Ich erinnere mich. Er hat das erste… ja“, gab ich schwach zurück.

„Was kann ich für sie tun?“

„Also, erst war ich überglücklich, fühlte mich fast wie im Rausch, als ich jene Landschaft erblickte. Verträumt habe ich das Gemälde in unserem Kaminzimmer aufhängen lassen und die nächsten Tage wohl zum Großteil damit verbracht, es anzustarren. Richtig verloren habe ich mich in den Weiten jener Welt. Meinem Mann ging es ähnlich, jedoch arbeitet er hart und daher ist seine Zeit oft knapp bemessen. Manche Abende saßen wir einfach nur da, sagten nichts und sahen nur schweigend auf jene Leinwand. Solch atemberaubende Schönheit…“

Ihr Blick verlor sich im Blätterdach des Baumes.

Vorsichtig räusperte ich mich.

„Entschuldigen Sie, es ist einfach…“

„Das habe ich schon bei vielen Leuten beobachtet. Mich selbst eingeschlossen. Aber was ist dann geschehen?“

Verwirrt sah ich sie an.

„Vor einigen Tagen, als ich morgens aufstand um einen Blick auf das Kunstwerk zu werfen…“

Sie stockte, fing an zu zittern.

„Es kam mir verändert vor. Fremd und unbehaglich. Ein wenig bedrohlich sogar. Ich konnte es mir da noch nicht erklären. Hielt mich schon für verrückt. Die Bäume schienen tot zu sein, trotz ihrer Pracht. Die Berge wirkten vergessen und dreckig, die Bäche versifft, trotz ihres klaren blauen Wassers. Es war dasselbe Bild, jedoch verändert. Mein Mann hatte nichts bemerkt, er sah nur weiter in jene Weite auf der Leinwand. Ich aber konnte keine Sekunde mehr auf das Gemälde blicken. So falsch, so verdorben…

Doch das war nicht alles. Am Tag darauf dann…

Sah ich die Veränderung.

Die Berge im Hintergrund waren ohne Zweifel etwas fahler geworden, trostloser, die Bäume trugen nicht mehr so viele Blätter wie zuvor und in den Gewässern waren dunkle kleine Schatten zu erkennen. Das Schlimmste war jedoch der Umriss am Horizont. Zunächst hielt ich ihn für ein Stück Dreck, welches die Putzfrau übersehen hatte, nur… am nächsten Tag war er größer geworden, deutlicher. Eine Wesenheit, die sich aus der Ferne näherte.

Ich bekam große Angst, aber mein Mann sah es nicht. Er beschrieb weiterhin die Wunder und Prachten des Bildes, als wäre alles beim Alten. Aber in der Nacht… Da begann er, wild um sich zu schlagen und zu schreien, als wäre der Satan selbst hinter ihm her. Als ich meinen Mann dann aber endlich wachbekommen habe, wusste er nichts mehr. Er sagte, er habe von dem Bild geträumt und wäre durch jene göttlichen Landschaften geschwebt.

Und gestern war der Fleck wieder größer geworden. Es ist nicht wirklich beschreibbar, vielleicht eine Masse, vielleicht ein Tier, eine Pflanze, oder…  Und die Landschaft… es ist nicht in Worte zu fassen. Sie müssen mir glauben! Ich bin die einzige, die es sieht, nur ich! Alle anderen halten mich schon für gestört, aber Sie… Sie müssen wissen, was dort vor sich geht. Woher haben Sie diese Bilder? Was wissen Sie über den Fleck…? Sie als der Erschaffer, es muss von Ihnen kommen! Was haben Sie gesehen?“

Die Frau war kreidebleich geworden. Ihre Augen wirkten leer.

War sie reif für einen Arzt? Konnte man ihr noch helfen? Hatte sie auch Medikamente genommen, irgendwelche bewusstseinserweiternden Substanzen? Und doch... diese Worte, so vertraut. So klar.

Was… was, wenn es der… Hase war?

Der Hase mit seinen Mündern und Knospen und dem Stummelschwänzchen?

Was, wenn er kam? Wenn er aus dem Bild kam in diese Welt…?

Schwachsinn, absoluter Schwachsinn.

Mein Herz hatte bei dem Gedanken wie wild zu pochen begonnen, als wolle es mich warnen. Wenn es aber doch der…

„Ich will es sehen. Zeigen Sie es mir, Ich will das Bild noch einmal sehen!“

Natürlich erinnerte ich mich an jedes Detail. Jedes der Bilder, die ich gemalt hatte, schwebte an meinem inneren Auge vorbei, wunderbar und erhaben. Dort konnte doch nichts Schlimmes sein, oder? Was sollten auch schon in jener Wunderwelt für furchtbare Dinge hausen?

„Ja, kommen Sie mit! Sie sehen es bestimmt, diesen Fleck kriechenden, fliegenden Unheils…“

Keine zehn Minuten später saßen wir in einer Straßenbahn, um das Gemälde genauer zu betrachten.

Kapitel 5

 Drei Berge, gigantisch und erhaben, schimmernd in einem türkisenen Farbton, der die Seele befriedete. Bäche aus kristallklarem Wasser, glitzernd in der warmen Sonne. Bewaldete Ebenen, saftig grün und voller Leben. Eine Flora und Fauna wie aus einem süßen  Traum. Das Gemälde war wunderbarer, als ich es in Erinnerung hatte. Es beflügelte die Gedanken und gaben mir Freiheit.

„Es ist alles in Ordnung. Hier ist nichts Ungewöhnliches, alles genau so, wie ich es in Erinnerung habe. Genau so, wie ich es gemalt habe.“

Ich stand in einem Kaminzimmer, vor mir hing die gewaltige Leinwand. Es war bereits Abend geworden und der Herr des Hauses hatte mich überschwänglich und begeistert ins Wohnzimmer gebeten und mich sogleich zum Essen eingeladen.

„Sie haben mein Leben verändert. Verbessert. Was war ich nur ohne das Bild? Ein Nichts. Ein kleiner Geschäftsmann...

Ach, achten Sie bitte nicht auf meine Frau, sie war schon immer extrem labil. Sie hat andere Qualitäten. Genießen sie einfach das Bild“, hatte er mich gelobt.

„Und Sie wollen nicht noch ein weiteres Werk? Wo dieses doch so schön ist?“, wollte ich zögernd wissen.

Er hatte die Stirn gerunzelt.

„Nein, wieso? Diese eine Perfektion reicht mir. Fast, als würde das Gemälde nur für mich bestimmt sein...“

Damit war er in sein Arbeitszimmer gerauscht und nicht mehr aufgetaucht.

Seine Frau hatte sich nicht in das Zimmer gewagt, in dem sich mein Kunstwerk befand. Ängstlich wartete sie vor der Tür, während ich mein Bild inspizierte.

„Sind Sie sicher, dass da nichts ist?“, kam es leise von außerhalb des Raumes, als ich meine Entwarnung gab.

„Ja, vollkommen. Nur die Landschaft“, bestätigte ich.

Die Tür öffnete sich. Schleichend wie eine Katze betrat sie den Raum. Warf einen Blick auf das Gemälde.

Ihre Augen weiteten sich. Sie sank in die Knie, zitternd am ganzen Leib.

„Es… sehen Sie es denn nicht? Der Fleck… das… Etwas… das… Etwas“

Damit fiel Sie in Ohnmacht, zuckend.

Ein Arzt wurde gerufen, diagnostizierte allerdings nur einen Schock. Ihr Ehemann bestand darauf, die arme Frau zu Hause zu behalten und bat mich nachdrücklich, nichts an die Öffentlichkeit weiterzugeben.

„Was hat sie nur? Es ist doch wunderschön…“, raunte er traurig und machte sich auf, ihr in ihrem Zimmer beizustehen.

Auch ich konnte die Reaktion seiner Frau nicht verstehen, war so verwirrt wie er.

Die saftigen Wiesen, die Felder und Wälder und dort am Horizont…

Ich stutze.

Blinzelte.

Was… was war dort? Ein dunkler Punkt in der Ferne.

Verschwommen, unscheinbar.

Größer werdend.

Erschrocken stolperte ich zurück. Es sah für einen Moment so aus, als ob ich mich getäuscht hatte. Als ob dort kein Fleck wäre. Im nächsten Augenblick jedoch veränderte sich das Gemälde. Es sah beinahe so aus, als ob jene gemalte Welt verzerren würde, unscharf und beunruhigend kalt.

Dann blickte ich auf andere Bäume. Andere Hügel und andere Himmel. Oder waren das Wesenheiten? Pflanzen? Kreaturen? Mein Kopf brannte und die Umgebung begann, sich zu drehen. Dort kam er, kriechend, schwebend… der Hase. Als würde das gesamte Bild nur er sein, nur ein Teil von ihm, ein Teil von jenem… Hasen.

Ich machte, dass ich fortkam, fort von jenem Haus. Es war mir egal, dass mein Gastgeber enttäuscht sein würde, doch im Anbetracht der Situation musste er verstehen. Auf meinem Heimweg schien etwas an meinen Fersen zu heften, meinen jeden Schritt zu verfolgen.

Mein Atelier verbarrikadierte ich, schloss mich ein und hoffte, dass ich es abhalten konnte, dass jene Präsenz mich in Ruhe lassen würde, doch… wusste ich, das dem nicht so war. Dass ich nie wieder Ruhe haben würde.

Aber ich war nur ein Künstler, ein Maler, der den Leuten Wunder brachte. Niemand würde mich vergessen und mein Name… mein Name würde die Zeiten überdauern.

An diesen frohen Gedanken geklammert war ich eingeschlafen und schaffe es einigermaßen, jener Paranoia zu entkommen, die mich im Griff gehabt hatte.

Am nächsten Morgen bekam ich einen Anruf von der Polizei. Es waren eine Leiche gefunden worden, eine Frau, wohlhabend. Die Dienstboten hätten ausgesagt, dass ich am vorigen Tag bei ihr gewesen war, dass ich sie als einer der Letzten gesehen hätte.

Ob ich etwas wüsste?

Man bat mich auf das Revier und dort gab ich meine Aussage zu Protokoll.

Es wurde nicht gesagt, was passiert war, doch las ich es in den folgenden Tagen in der Zeitung.

Eine Frau war dem Wahnsinn verfallen und habe ein Bild verbrannt. Rasend wütend hatte ihr Mann sie erschlagen.

„Mein Glück! Sie hat mein Glück zerstört! Sie hat mein Glück zerstört!“, habe er immer wieder weinend geschrien, als man ihn abführte.

Als die Zeitung zusammengefaltet auf dem Tisch landete, war ich mit den Nerven am Ende.

Mein Name war nicht gefallen, niemand hatte herausgefunden, dass dort eines meiner Gemälde zu Asche verbrannt war. Irgendwie bereitete mir das Erleichterung. Irgendwie war ich ein bisschen froh, dass die Leute meinen Namen in einem solch negativen Zusammenhang nicht hören würden… Schließlich… sollte er mit Bewunderung gesprochen werden… mit Ehrfurcht…

Kapitel 6

In der Dunkelheit kamen die Geräusche… Waren es Stimmen? Dort draußen in der Nacht? Unmenschliche Stimmen, die berieten, die flüsterten? Ich konnte sie hören, vor dem Fenster, ihre Augen auf mir spüren…

Drei Tage waren seit jenem Unglück vergangen, drei Tage des Horrors, der Angst… als sich langsam aber sicher war eine Ahnung in mir gereift, eine Idee, ein Verdacht.

Die anderen Bilder… was, wenn auch sie… wenn auch sie jene düstere, fremde, abscheuliche Sphäre abbildeten? Langsam und schleichend? Wenn es kommen würde, aus jenen Gemälden? Würde dann ein Teil unserer Welt von ihm… verschlungen werden? So wie jene Hügelkuppe, von der es fast schien, als würde sie niemals existiert haben?

Es wäre vielleicht klug, die Bilder zurückzurufen. Nur, mein Geld würde ich verlieren. All das Geld. Und meine Berühmtheit würde verebben, denn neue Bilder mithilfe von jenen Pillen konnte ich schließlich nicht malen. Doch was war der Preis? Was zahlte ich für meine Suche nach Ruhm? Was würde meine Rasse zahlen? Nein… Ich konnte nicht. Ich konnte sie einfach nicht… da draußen lassen. Das Risiko war zu groß. Doch würde irgendwer mir die Bilder wieder überlassen? So voller Wahn, wie alle schienen?

Wenn ich an jenen armen Mann und seine Frau dachte…

Nein, niemand würde die Gemälde je wieder hergeben.

Es sei denn… Es sei denn, ich würde sie alle unter einem Vorwand zusammenholen. Einem guten Vorwand…

Eine Ausstellung. Ich würde eine Ausstellung organisieren. Für eine einzige Woche, exklusiv. Wer würde schon ablehnen, wenn er so viel Schönheit auf einem Haufen zusammenbringen konnte? Außerdem… vielleicht hatte ich mich getäuscht? Meine Kunst war sicher harmlos, diese labile Frau hatte mich nur angesteckt. Es musste so sein, was würde das sonst für Konsequenzen haben. Für mich? Für meinen Status in der Gesellschaft? Meine Bekanntheit?

Ich redete mir damals ein, dass ich übertrieb, dass ich nur paranoid wurde. Dass das alles nichts mit meinen Werken zu tun hatte. Und schnell vergaß ich mein Zweifel bei dem Gedanken an jene Gemälde

Es dauerte keine zwei Tage, bis ich alle Bilder zusammen hatte. Niemand schien einen Einwand dagegen zu haben, die Leute wirkten sogar begeistert. Es war auch in der Tat eine gute Idee gewesen, sie zu sammeln. Mich ihrer Schönheit hinzugeben. Alle Gemälde wurden in einem gewaltigen Saal ausgestellt. Sie alle zusammen waren wie der Himmel auf Erden, ihre Schönheit, ihre Perfektion… Mir fehlen die Worte, um es genauer zu beschreiben, aber ich bekam ein Gefühl der Vollkommenheit. Des ewigen Glückes.

Und alle Besucher am Abend der Eröffnung waren ähnlich froh. Ähnlich im Rausch. Wir feierten lange die Galerie der Himmel, die Göttlichkeit auf Erden.

Nach und nach gingen die Besucher, zögernd. Einige wollten ihre Bilder nicht alleine lassen, mussten nahezu aus dem Raum gezerrt werden. Doch schließlich war ich alleine. Alleine mit den Bildern. Ich kannte sie alle, liebte sie alle, wollte für immer bei ihnen sein… Sie nie wieder verlassen…

Langsam, schleichend sah ich ihn.

Den Fleck.

Auf jedem der Bilder. Winzig klein und doch seltsam deutlich. Stetig größer werdend.

Er kam! Er kam aus den Bildern!

Ich war aus dem Gebäude gestürzt in die Nacht. Mein Kopf wurde seltsam klar, eine Klarheit, die ich mir bis zum jetzigen Moment bewahrt habe. Draußen dann spürte ich sie… Die Wesen, die mich beobachteten. Die mich überwachten, mich mit ihren Blicken sezierten.

Was hatte ich getan? Wieso hatte ich es so weit kommen lassen, all diese Teufelswerke auf einem Haufen?

Sie würden den Tod bringen, die Auslöschung, das Ende von allem.

Ich musste sie fortbringen, sie auslöschen.

Stehlen musste ich sie. Ich musste sie wegtragen und verbrennen. Die Leute würden schon darüber hinwegkommen. Verflucht sei mein Drang nach Ruhm! Nach Ansehen. Was hatte er mir gebracht? Geld, viel Geld. Nutzlos, vergänglich. Wenn meine Knochen Staub geworden sind, habe ich davon auch nichts mehr. Nichts von irgendetwas. Einzig ewige Ruhe.

Nur… was würde ich sehen auf den Bildern? Wenn ich nun in jenen Raum treten würde? War es dort überhaupt sicher? Kroch, glitt er schon auf dem Boden umher, der… Hase? Real im Hier und Jetzt, außerhalb der Farbenwelt?

Die Pillen! Ich langte in meine Manteltasche. Auf meinen Vorrat war Verlass. Nur ein winziges Stück schluckte ich. Einen kleinen Brocken, der die Welt um mich herum aufhellte.

Wundervoll sahen sie aus, meine Bilder. Genial, einfach genial. Trotzdem musste ich sie mitnehmen, sie entsorgen. Ihre Schönheit war nicht echt, nur eine Maske…

„Bleiben Sie dort stehen!“

Der Wachmann musste es sein. Ja, es war der Wachmann. Eindeutig. So eine prachtvolle Uniform, wie die eines Königs, glitzernd.

„Ach, entschuldigen Sie, ich wusste nicht, dass Sie noch hier sind. Die sind wirklich alle wundervoll. Ich würde wirklich gerne wissen, was Ihre Inspiration ist.“

Meine Inspiration…

Ich wollte ihm etwas erwidern, ihn warnen, ablenken…

Die Farben wurden bleich und entfernten sich. Alles schien verzerrt und unwirklich, als ich ihn dort sah.

Den Hasen.

Er hockte hinter dem Wachmann, keck und mit suchendem Blick.

Nur ein Hase.

Einen Augenblick später flog er schon wieder davon, weg in die Bilder, zusammen mit dem Wachmann, der laute Lieder sang… schrie… gierte, sich in Qualen wand…

Dann waren beide verschwunden. Die Gemälde strahlten weiter schön und anmutig vor sich hin, friedlich…

Der kleine Brocken der Pille, die ich genommen hatte, schien seine Wirkung zu verlieren. Noch sah ich nur die Landschaften, aber…

War dort nicht… der Wachmann… verzerrt, seine Gliedmaßen gekrümmt, den Mund zu einem ewigen Schrei geöffnet. Die Augen wild umhersuchend. Als versuchte er zu verstehen, als versuchte er, zu entrinnen…

Fremdheit zog in die Bilder ein…

Mir wurde unwohl und ich flüchtete in einen anderen Raum, der mir einen Ausweg durch die Hintertür und den Garten bot.

Hier sitze ich nun und versuche, all das Erlebte aufzuschreiben. Ich möchte jeden warnen, der das hier liest, und ihm die Augen öffnen. Sollte je wieder ein Künstler Werke erschaffen, die zu perfekt sind für diese Welt, für unsere Spezies, die einen einspinnen und wie Parasiten Einzug nehmen in die Wohnungen der Menschen, so seid gewarnt…

Vielleicht sind sie dann wirklich nicht von dieser Welt.

Ich habe meinen Namen nicht genannt und werde es auch nicht tun. Niemand soll ihn erfahren. Er ist Gift. Er ist Krankheit. Ich will vergessen werden, vergessen von der Welt. Ich wünschte, ich hätte niemals existiert….

Eine Flasche Alkohol, ein Lappen. Ein Feuerzeug.

Gute Idee.

Brennen werden sie, brennen. Alle neunundvierzig!

Diese Zeilen, diese Zeilen, die mein Leben sind. Vielleicht überleben sie die Flammen, wenn ich sie in eine Kassette lege und dann draußen in den Garten werfe, weit weg vom kommenden Brand…

Sie werden es überstehen. Bestimmt. Es geht nicht anders.

Bestimmt wird jemand sie dort finden, die Feuerwehr? Die Polizei? Ein Passant?

Ich begreife. Ich verstehe jetzt.

Diese Zeilen sind mein Lebenswerk. Diese Warnung. Seid gewarnt vor…

Meine Gedanken verstummen.

Hat sich da nicht etwas vor dem Fenster bewegt, dort in der Finsternis? Draußen ist es pechschwarze Nacht, ich kann nicht wirklich etwas erkennen. Wenn nun etwas auftaucht, jenseits des Fensters? Eine absonderliche Fratze, lauernde Augen, geifernde Schlünde, die sich an das Glas pressen? Ich kann Sie doch hören, wie sie… Worte flüstern, leise…

Eslud esmad…

Nein, Irrsinn.

Es ist, als ob ich bereits aus der Galerie absonderliche Laute höre, als ob ich spüre, wie sie sich nähern. Was habe ich bloß getan? Was habe ich hierhergeholt? Ich muss schnell machen.

Brennen werden sie, brennen.

Ich bete, dass diese Zeilen überleben. Ich hoffe, dass du das jetzt liest und mein Leben nicht umsonst verging.

Brennen werden sie, brennen.

Nur ein Hase…

Was… habe ich gesehen?

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 18.05.2018

Alle Rechte vorbehalten

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