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Prolog



Und dass du nicht hineinfällst, ja Kurzer?“ Die Männer lachten und Angesprochener zog trotzig die Schultern ein. Der schmächtige Junge beeilte sich, zum Abtritt zu kommen und hoffte, dass sein Vorgesetzter sein Fehlen nicht bemerken würde.
Seit der Sichtung des Stiermanns waren Tage vergangen, die Wachen verstärkt und Hauptmann Nasko war ungewöhnlich angespannt. Der Junge konnte sich unmöglich vorstellen, wie ein einzelner der Armee des Großkönigs widerstehen wollte, doch er stellte die Entscheidungen der Spitzen nicht in Frage sondern nahm widerwillig den zusätzlichen Dienst an. Wenn sie ihn nicht immer von seiner Liebsten abhalten würden...
Er machte sich gerade daran, seine Hosen herunterzulassen, als er ein Poltern und Krachen vernahm. Verwirrt hielt er inne und lauschte. Nichts war zu hören und so beschloss er, erst sein Geschäft zu beenden.

Großkönig Askar beugte sich mit weicher Miene über das Bettchen. Darin schlummerte friedvoll der kleine Thronfolger. Er drehte sich nicht um, als er leise Schritte hinter sich hörte. Er erkannte sie sofort. Gaja. Die Großkönigin betrachtete ihn, schweigend. Sie würde warten und dann dem kleinen einen Kuss auf die Stirn drücken, wie jeden Abend und dann in ihre Gemächer zurückkehren.
Askar betrachtete das Kind, seufzte und wandte sich ab. Sein Blick streifte Gajas, die besorgt die Hand nach ihm ausstreckte. Er wich ihr aus und verschwand in den mit Pelzen behängten Gang. Er wollte nicht schwach wirken, nicht vor seinen Männern, nicht mal vor ihr. Sie war schön wie ein Saphir und strahlend wie der Nordstern, sie durfte nicht auch noch seine Last tragen.
Er war hier, ganz nah.
In den letzten Tagen hatten sich Falten in seine Stirn gegraben, schneller, als er es für möglich gehalten hatte. Doch das kümmerte ihn nicht. Was, wenn er sein Versprechen war machen würde, was wenn er sich Gaja und Remin holen würde, sie töten würde. Grübelnd stieß er die Tür zu seinem Arbeitszimmer auf, er würde auch heute nicht schlafen können. Erst wieder, wenn sie ihn gefangen oder getötet hatten, was wohl unmöglich war...
Er seufzte schwer, ließ sich auf seinem hohen Sessel hinter dem massiven Schreibtisch nieder und barg das Gesicht in seinen Händen, als ob er darin den Schlüssel zur Abwendung der Gefahr finden könnte.
Er musste wohl eingenickt sein, den dritten Tag in Folge wach, als er ein Schreien hörte. Ein unmenschlicher Laut. Und doch erkannte er sie, die Stimme. Gaja.
Überhastet sprang er auf und stieß dabei seinen Sessel um, der krachend zu Boden fiel. Er stürmte in Richtung des Zimmers seines Sohnes und rang die wild umherfliegenden Hände. Nicht sein Sohn, nicht Gaja! Nein, das konnte nicht sein!
In der Tür zum Zimmer der Kindes blieb er wie angewurzelt stehen.

Der Stiermann hatte Gaja gepackt, ihr feines Gewand war zerissen und blutbefleckt. Die imposanten Hörner ragten über den Kopf des Wesens, sie ringelten sich wie Schnecken an den Spitzen durch das weiße Haar. Als der Feind Askar sah, packte er die Gemahlin, seine Finger schlossen sich eisern um den Hals der Großkönigin. „Nein!“ Schrie Askar und fiel auf die Knie. „Nein, tut das nicht! Ich kann Euch alles geben, was Ihr wünscht!“ Er bettelte, Tränen rannen aus seinen Augenwinkeln heiß über das eiskalte Gesicht. Die Andeutung eines Lächeln schlich über das Gesicht der Stiermanns, dann setzte er die Frau vorsichtig ab, fasste Askars gequälten Blick und riss mich einem markerschütternden Knacken den Kopf der Großkönigin zur Seite. Noch bevor sie auf den Boden aufschlug, war sie tot.
„Nein, das könnt Ihr nicht... Ihr dürft nicht...!“ Stammelte Askar kopflos und eilte zu Gaja hinüber. Er tätschelte ihr Wange, rief ihren Namen, doch sie regte sich nicht. „Gaja!“ Schrie er in seinem Schmerz und legte den schon kühler werdenden Kopf auf seinen Schoß.
Der Feind beobachtete ihn ungerührt und wandte sich, nachdem er sich satt gesehen hatte, dem Kinderbettchen zu. „Nein, das werdet Ihr nicht...!“ Der Vater sprang auf und hastete auf den Jungen zu, um sich zwischen beide zu werfen.
Da stand er nun, der Feind, die Klauen, die im Licht der offenen Tür vom Flur her gefährlich schimmerten erhoben und wartete, zögerte. Er kostete die Angst in der Luft, die feinen Schweißperlen auf der Stirn des Großkönigs, sah wie sie langsam ihren Weg durch die dichten Brauen fanden und schließlich in seine weit aufgerissenen Augen sickerten.
Dann richtete er sich zu voller Größe auf und verkündete:
„Du und dein Sohn, ihr sollt für immerdar verflucht sein. Deine Kinder und Kindeskinder, ja dein ganzes Haus. Denn du hast Unglück über uns gebracht und so sollst auch du für jetzt auf ewig Unglück erfahren.“
Er wandte sich um, um zu gehen. Und Askar hielt ihn nicht auf.
Der Stiermann beschritt die leeren Gänge, das Blut der getöteten Soldaten, dass noch unter seinen Klauen trocknete, zierte auch die hohen Gänge und Flure.
Doch dann sprang jemand hinter einem Wandbehang hervor. Der Stiermann hatte nicht einmal genug Zeit, sich zu schützen, da sauste schon die Klinge aus feinstem Stahl über sein Antlitz. Und er spürte einen Riss, der ihm die Sicht trübte in grellem Rot. Doch der junge Soldat, der sich ihm todesmutig entgegen geworfen hatte, konnte nicht schnell genug das Schwert heben, da hatte ihm der Stiermann auch schon den Rücken zerfetzt.
Der Junge fiel zu Boden, das Schwert landete scheppernd auf dem harten Stein. Dann setzte der Stiermann seinen Weg fort, als ob nie etwas gewesen war. Zurück an den Ort, von dem er gekommen war.

Der Brunnen




Fünf Jahre später




„...Vor langer Zeit, oh ja, schon lange ist es her, da wurden Schlachten geschlagen, Alte und Junge, Tapfere und Feige, Böse und Gute lebten damals. Und Drachen und Trolle. Und noch viel schrecklichere Wesen.
Doch die Menschen waren schlecht damals, abgrundtief böse. Sie verabscheuten die, die ihnen nicht glichen, sie waren voller Groll und Hass auf die Magischen. Sie fürchteten die Macht dieser Geschöpfe und begriffen nicht, dass ihnen eine eigene unglaubliche Kraft geschenkt ward.
Die acht Fürsten von Kamaldun versammelten sich und besprachen und verhandelten, auf dass man ein Heer los schicken konnte, gegen die Feinde. Doch ein Gerechter namens Szidann versuchte, das Unheil abzuwenden. Mit unglaublicher Redekunst und einem eisernen Willen sprach er Tag und Nacht. Er war stark und weise. Doch es war vergebens.
Und so zogen sie, die Zwerge und Elben auf der einen Seite und die Menschen auf der anderen in den Krieg. Und es war ein schrecklicher Krieg. Nur Tod und Mord und Angst. Ein Schlachten von gigantischen Ausmaß. Von dem Blut der Toten wurde der Boden geschwemmt, und aus diesem blutgeschwängerten Boden erstanden die Omul. Und ihr Hass und ihr Zorn war grenzenlos. Wie Schnitter durchs reife Korn fegten sie durch die Reihen, verschonten weder Mensch noch Zwerg, weder Elb noch Kida. Es schien das Ende gekommen zu sein.
Doch dann erhob sich Szidann, scharrte die Zwerge, Elben und Menschen in einer letzten entscheidenden Schlacht um sich. Und Tage wurden zu Wochen, das Klirren von Schwertern und das Prasseln von Pfeilen war zu hören. Und viele, oh so viele, mussten ihr Leben lassen, doch es war gerecht, der Sinn wieder hergestellt. Und als die Welt wieder im Gleichgewicht war, verschwanden die Omul und mit ihnen Zorn und Furcht.
Doch die Zwerge und Elben vergaben nicht und so verließen sie diese Welt, um nie wieder zurück zu kehren. Man sagt aber, dass eines Tages, wenn sich die Menschen wieder als würdig erweisen, wenn sie ihre Väter an Mut, Ehre und Treue überträffen, dann kehrten sie wieder zurück. Bis heute ist dieser Tag nicht gekommen...“
„Nette Geschichte, Gran, aber jetzt mal was spannendes. Nicht immer deine Märchen.“ Elim kletterte auf den Schoß der alten Frau und sah sie mit großen Augen an. Diese schüttelte den Kopf, als erwachte sie aus einem tiefen Schlaf und meinte aufbrausend: „Kind, die Sagen der Alten als Märchen ab zu tun ist nicht sehr weise. Du wirst schon sehen...“ Sie schob sanft die Enkelin von ihrem Schoß, die daraufhin von ihrem Bruder rüpelhaft gestoßen wurde und erhob sich. „Seid nett zu eurer Großmutter und Elim, wisch dir die Hände ab, bevor du an den Tisch gehst! Die sind ja ganz schmutzig...“ Die alte Frau murmelte etwas davon, dass sie sehr gut selbst auf sich aufpassen konnte und Elim huschte kichernd in den Garten, um ihre Hände am Brunnen zu waschen.
Tiefe Schwärze zog sich in dieser Winternacht um das Haus wie ein dunkles Band und ein Schauer kroch über den Rücken des kleinen Mädchens. Ob aus Furcht vor der Schwärze oder wegen der eisigen Kälte vermochte sie nicht zu sagen. Daher beeilte sie sich, die kurze Strecke vom Hauseingang zum Brunnen im Garten zu überwinden.

Umgeben von Eichen- und Tannenbäumen stand der kleine Steinbrunnen dort, das Licht des Mondes, der zwischen den Bäumen hindurch schien, leuchtete in das dunkle Rund. Hastig machte sich Elim daran, den Eimer, der an einer alten Winde hing hinab zulassen und als er sich unten mit einem dumpfen Geräusch, das von den Wänden des Brunnens hallte, ins Wasser senkte, versuchte sie, ihn wieder hinauf zu ziehen. Doch so sehr sie sich auch abmühte, sie schaffte es nicht. Nach einer Weile spähte Elim verägert in den Brunnen, doch sie war zu klein, um richtig hinein sehen zu können. Also stützte sie sich von Rand ab und spähte hinunter ins Dunkel.
Und dann geschah etwas, was Elim nie vergessen würde. In ihrem Kopf erklang das Geräusch von Glas, das mit einem klirrenden Laut auf Stein zerbarst. Dann gab es in ihren Armen einen Ruck und sie fiel kopfüber in den tiefen Brunnen. Obwohl sie sich im Flug drehte, fiel sie hart auf den Eimer, der noch im Wasser dümpelte. Elims Magen sackte ab, sie holte einen scharfen Atemzug, worauf etwas Wasser ihren Lungen füllte. Hustend und schnaufend versuchte sie, an der Oberfläche zu bleiben, doch ihre schweren Kleider zogen sie hinab. Eisige Tränen liefen ihre Wangen hinab, ihre Glieder fühlten sich immer steifer und kälter an. Mit verzweifelten Mühen versuchte sie, sich an den Mauern des Brunnens hoch zu ziehen, doch ihre Nägel brachen nur blutig. Schluchzend und schreiend rief sie nach ihrer Mutter, doch langsam brach auch ihre Stimme, wurde zu einem Flüstern und verstummte. Bleierne Müdigkeit legte sich über Elims Glieder, zitternd hörten ihre Arme auf zu Schlagen und ihre Beine auf zu Rudern. Flatternd schlossen sich ihre Lider und der Geist des kleinen Mädchens wurde in einem Strudel in die Finsternis gesogen. Ihr Verstand rebellierte, er schrie und kämpfte, in der Leere lauerte die ewige Dunkelheit, doch ihre Herz wollte loslassen, es hatte keine Kraft mehr, kam ins Stocken. Und sie versank ins Schwarze.

Leise Geräusche drangen an Elims Ohren, das feine Gewirr gedämpfter Stimmen. „Akir, reich mir mal einen von den warmen Wickeln, wir müssen sie wärmen!“ Langsam öffnete Elim die Augen. Ihr Körper schmerzte, war kalt wie ein Fisch. „Meine Sternblume, du bist in den Brunnen gefallen. Die Fischer mussten dich mit ihren Haken wieder heraufziehen. Wie fühlst du dich?“ Ihre Mutter legte eine Hand auf ihre schweißkalte Stirn und sah Elim mit einem derart sorgenvollem Blick an, dass diese in dem Versuch, Luft zu holen stockte. Mit einem gepeinigten Seufzer stieß das Mädchen die Luft aus und log: „Ich fühle mich schon ganz gut...“ Sie versuchte, sich auf zu setzten, doch hustend fiel sie wieder auf ihr Lager herunter. Mit einem mal wurde ihr vor Keuchen und Erschöpfung übel und sie drehte sich zu Seite weg und erbrach sich neben das Bett. Akir machte einen Laut des Ekels und wich zurück. Während Elim würgend Brunnenwasser auf den Boden spuckte, strich ihre Mutter ihr gedankenverloren über den Kopf.
Als Elim sich beruhigt hatte, zog die Frau ihr die Decke bis zur Brust und befahl ihr, sich schlafen zu legen. Sie trug dem kleinen Bruder auf, über die Schwester zu wachen, dann verließ sie das Zimmer. Die Großmutter, die selig in einem Sessel neben dem Feuer schlummerte, weckte Fia nicht. Stattdessen nahm sie eine Kerze und entzündete sie an den Flammen. Dann verschwand sie in ihr Arbeitszimmer.
In den darauf folgenden Tagen und Wochen plagte Elim eine schlimme Entzündung der Lunge, sie konnte weder ihrer Mutter bei deren Arbeit als Heilerin helfen, noch war sie in der Lage, ein paar Schritte aus dem Bett zu tun. In dieser Zeit spielte ihr jüngerer Bruder mit ihr und obwohl sie damals noch sehr jung war, wusste sie, dass sie dem Tod nur knapp entronnen war. Das machte sie ein Stück ernster in diesen Tagen.
Oft war Elims Mutter bei ihr, sie blickte häufig gedankenverloren in die Ferne, als würde eine Erinnerung aus der Vergangenheit in ihrem Kopf an die Oberfläche sickern. Nachts arbeitete sie lange, doch selbst Akir konnte Elim nicht verraten, was sie tat. Eines Tages kam der Schmied von Eilstatt und gab der Frau ein Bündel, dass in Tuch eingeschlagen war. Sie lächelte ihn an, und auch in seinem Gesicht spielte ein Lächeln. Sie drückte zum Abschied seinen Arm und eine seltsame Wehmut trat in das Gesicht des Mannes. Dann wandte er sich ab und Fia verschwand mit dem Päckchen in ihr Zimmer. Selbst Elims Großmutter wusste nicht, was es mit dem Verhalten von ihrer Tochter auf sich hatte, sagte sie zu Elim. Doch der wissende Blick in ihren Augen verriet dem Mädchen, dass sie sehr wohl Bescheid wusste. Also verbrachte Elim ihre Zeit damit, zu genesen, mit dem kleinen Akir zu spielen und sich zu wundern, was ihre Mutter vor ihnen verbarg. Schließlich, als Elim ihrer Mutter wieder vorsichtig helfen konnte, versuchte sie ein Bündel Kletterrosen im Hof zu schneiden. Dabei verletzte sie sich wieder schwer an der Hand und Fia brachte sie schweigend ins Haus. Elim hielt weinend ihre Hand und sah ihre Mutter an, die mit verschlossener Miene ins Haus eilte, sie hielt die Hand der Tochter fest umklammert. Dort setzte sie das Mädchen auf den Stuhl neben der Feuerstelle und verband die Hand, dann warf sie dem weinenden Mädchen ein letzten vieldeutigen Blick zu und verschwand für kurze Zeit in ihr Zimmer. Dann kehrte sie mit ihrem Päckchen zurück. Darin war eine Kette, die schönste, die Elim je gesehen hatte. Vorsichtig nahm sie sie aus der Hand der Mutter und betrachtete sie. Sie war aus Silber, mit einem Distelzweig, der sich über den runden Anhänger zog. Sein runder Stiel bildete die Öse für die feingliedrige Kette. Als Elim allerdings die Schließe des Medallions öffnen wollte, hielt ihre Mutter sie ab. Verständnislos sah das Mädchens sie an. Mit einem warmen Lächeln erklärte sie: „In diesem Amulett habe ich die Kräuter, die dafür bekannt sind, Glück und Wohlstand zu bringen, gesammelt. Doch du darfst es nicht öffnen, noch nicht! Erst wenn ihre Wirkung verfliegt, sollst du. Versprichst du mir, dass du es immer tragen wirst?“ Mit wehmütigen und sorgenvollen Blick sah ihre Mutter sie an, und Elims Magen zog sich zusammen. Blinzelnd nickte sie und fragte: „Auch beim Waschen?“ „Immer!“ Meinte Fia mit Nachdruck. Dann umarmte sie die Kleine, damit diese ihre in den Augen glitzernden Tränen nicht sehen konnte. Als sie sich allerdings von dem Kind löste meinte dieses: „Und wenn einer mir es weg nehmen will, dann stell ich ihm ein Bein. Und wenn Akir es nimmt, dann beiss ich ihn wie ein Drache. Wie Grans Drache!“ Sie fauchte und lief hinaus. Kopfschüttelnd doch lächelnd sah Fia ihr nach. Wenn das Kind wüsste, welche Gefahren auf sie lauerten, wäre sie nie so unbekümmert, doch bei Kavend, Fia war froh um die Unbeschwertheit ihrer Tochter. Sie wünschte nur, sie könnte sie teilen...

Seltsame Gäste





Zwölf Jahre später





„Mama, Akir nervt, er soll endlich weg gehen und mich arbeiten lassen!“ „Akir, lass deine Schwester in Ruhe und Elim, du sollst nicht petzen, oder?“ „Aber Mama...!“ Elim warf ihrem kleinen Bruder einen giftigen Blick zu, dann blickte sie wieder die Abbildungen der Pflanzen an, die der Autor des Blumenatlas' als giftig befand. Die Trollkirsche, die Blätter der Eisenbuche... Als sie endlich die Kapitel über die Giftpflanzen durch studiert hatte, ging sie freudig zu den Gewächsen mit heilender Wirkung über. Die Fischersblume, die an ruhigen Gewächsen ihre gelben Blüten öffnet oder die Felsrose, die nur in felsigen kargen, Regionen die Gegend mit leuchtend roten Blüten schmückte.
Fia legte ihrer Tochter eine Hand auf die Schulter und sah in das Buch. „Da bist du aber schon weit gekommen, hast du wieder in der Nacht gelesen?“ Unter dem Tadel zuckte Elim zusammen und meinte: „Na ja, ich finde es nur sehr interessant... Die paar Nächte hol ich in den Nächten zur Kavendfeier wieder herein.“ Sie lächelte ein schelmisches, schiefes Lächeln und sah ihre Mutter entschuldigend an. Die seufzte nur spielerisch und wandte sich ab, um nach draußen zu verschwinden. „Sag mal, haben wir alles für's Fest gesammelt, du weißt schon...“ Elim zwinkerte der Mutter zu, da Akir noch im Raum war und die schüttelte den Kopf. Da erhob sich Elim und meinte: „Dann werde ich mal noch einen Strauß Orankraut und etwas Purpurwurz besorgen, meinst du nicht?“ Sie war schon halb im Garten, als ihre Mutter sie noch anwies, nicht zu weit und zu lange in den Wald zu gehen und Milch vom Bauern Ecko auf ihrem Rückweg zu besorgen. Elim nickte schnell und sauste davon.
Der Weg zum Wald führte durch das idyllisch Dorf Eilstatt, Elims Heimat. Kleine, Teils hölzerne, Teils steinerne Hütten und Häuser säumten den Pfad. Das Haus des Schmieds Krioll lag etwas abseits zwischen zwei Birken und auch der Bauer Ecko bevorzugte die Ruhe. Elims weg führte sie über den bunten Marktplatz. An Markttagen war hier reger Betrieb, die Menschen wimmelten dann zwischen den Ständen, Händler aus dem Umland brachten Tuch mit. Doch erst morgen, mit den Schaustellern des Kavendfests würden die Händler hier eintreffen. Doch jetzt waren nur die Stände nur mit Planen abgedeckt, für den Fall, dass es regnen würde. Bald schon erreichte Elim den Wald und verließ sogleich den Pfad. Sie wusste, dass Orankraut unter morschen Bäumen wuchs, wie eine Grabbeigabe. Also suchte sie ihren bekannten Platz auf und fand nach einer kurzen Suche im Unterholz das seltsame Gewächs. Sie stopfte etwas davon in ihrem Beutel und beeilte sich, noch Purpurwurz zu finden. Es wuchs auf steinigen Lichtungen und auch dafür wusste Elim einen Platz. Sie lief einige Meter durch den dichten Wald, schob einige Äste beiseite und fand sich in einem Rund wieder. Die Lichtung wurde von der strahlenden Sonne beschienen, doch das Mädchen erkannte an ihrem Stand, dass sie nur noch etwa eine Stunde hatte, um zurück zu kehren, bevor es dunkel war und es war gefährlich allein im Wald. Also machte sie sich mit ihrem Schaber daran, die Wurzel, die sich hartnäckig in den Felsen klammerte, zu lösen. Es verging fast eine Stunde, bis sie genug beisammen hatte. Verschwitzt und höchst selbst zufrieden sah sie in den Himmel. Schon waren die Ränder der Sonnenstrahlen rot gefärbt, ein Schatten der Nacht lauerte zwischen den Bäumen. Malerisch beschien das vergehende Licht die Berge am Horizont. Lächelnd betrachtete Elim den Schimmer der auf dem Wipfeln glitzerte und fragte sich zum wiederholten Male, was hinter diesen Gipfeln lag. Ob das Land dort so anders war, als hier. Ob es gefährlicher war, schöner, wilder oder ob es nur Wüste war. Sie wusste, dass Freunde von Gran im Schatten des Berges Gelbor lebten, doch sie hatte sie noch nie besucht. Und eine seltsame Sehnsucht breitete sich in ihrer Brust aus, die sie zu den fernen Gipfeln zog. Sie machte ein paar Schritte auf sie zu, dann schüttelte sie plötzlich den Kopf und lief zurück. Auf dem Rückweg schaute sie noch bei Ecko vorbei und besorgte die gefragte Flasche Milch.
In dieser Nacht schlief Elim unruhig, eine merkwürdige Unruhe hatte sich in ihrem Kopf breit gemacht, das Kavendfest betreffend. Und sie wurde den Eindruck nicht los, dass es nichts mit ihrer Rolle als Unterhalterin zu tun hatte, die sie dieses Jahr das erst Mal von ihrer Mutter übernommen hatte. Wie recht sie hatte!
Denn sie konnte nicht wissen, welche merkwürdige, fremde Truppe sich in diesem Moment dem Dorf näherte.
In den frühen Morgenstunden rüttelte Elims Mutter sie wach und widerwillig schälte das Mädchen sich aus seinen Decken. Als sie nach einem hastigen Frühstück das Haus verließ, sah sie, wie eilig die Gestalten des Dorfes herumwuselten. Wie ein Insektenschwarm... Mit sauertöpfischer Miene half Elim dabei, die Stände des Bauern, der Fischer und des Schmieds aufzubauen. Dabei klopfte ihr wie immer der Fischer Biorn heftig auf die Schulter. Während ihr Tränen in die Augen stiegen, lachte sie den herzlichen Mann an. Aus Erzählungen wusste sie, dass er einer der Männer gewesen war, der sie aus dem Brunnen gezogen hatte. Dafür würde sie ihm ewig dankbar sein, daher gab sie sich bei dem Stand seiner Leute besonders Mühe. Freundlich ging der stämmige Mann ihr zu Hilfe, er schien Elim ins Herz geschlossen zu haben. Er fragte sie nach ihrer Arbeit und nach der Gesundheit ihrer Großmutter, die sich von einer schweren Erkältung erholte. Nachdem alles aufgebaut war, beendetet Elim das Gespräch mit dem Handwerker und eilte zurück nach Hause. Bei Sonnenuntergang würden die Festlichkeiten beginnen und sie musste sich noch von ihrer Mutter herrichten lassen. Ärgerlich rollte Elim mit den Augen. Sie besaß zwar ein gewisses Maß an weiblicher Eitelkeit, doch das zeremonielle Schminken und das kostbare Gewand, dass sie tragen sollte, waren ihr zutiefst Zuwider. Trotzdem ließ sie die Prozedur des Bemalens und Ankleidens fast ohne Klage über sich ergehen und letztendlich sah sie – so fand sie es auch selbst – wunderbar aus, dass musste sie zugeben. Die dunklen Haare zu feinen Zöpfen aus dem Gesicht geflochten, die Augen dramatisch mit schwarzer Farbe umrandet, die Lippen betont mit beerenroter Farbe. Sie trug ein Kleid, aus Seide, das die Farben des Sonnenuntergangs zeigte. Zufrieden packte sie die Kräuter, die sie für die Zeremonie und das Fest danach brauchte in einen schwarzen Beutel und wartete noch die verbliebene Stunde nervös an der Feuerstelle.
„Du bist genau so schön wie eine Elbe und fast noch schöner, als deine Mutter, als sie zum ersten Mal das Feuer eröffnete.“ Meinte Gran und sah mich wehmütig an, „Wenn meine Zeiten nicht schon vorüber wären, würde ich mit dir am Feuer tanzen, doch jetzt ist deine Ära gekommen, Kind!“ Mit einem Seufzer schloss die alte Frau und lehnte sich traurig zurück. „Deine Zeit ist jetzt, Gran. Und ich werde dir einen Stockfisch mitbringen und Blumen und Bergwein. Versprochen!“ Sie drückte der Großmutter einen Kuss auf die Stirn dann eilte sie schließlich zum Marktplatz. Dort war schon das große Feuer entzündet worden. Etwas abseits legte Elim ihren Beutel ab und nahm nur die Kräuter mit sich, dich sie unbedingt benötigte. Sie wartete ab, wie der Platz sich mit Menschen füllte und Akir trat schließlich an sie heran. Er sah sie ungewohnt schüchtern an und sie warf ihm einen ungeduldigen Blick an. „Solltest du nicht bei Krioll sein?“ Fragte Elim genervt, als er sie weiter anstarrte. Seit zwei Jahren lernte er nun schon bei dem freundlichen, aber nicht sehr gesprächigen Krioll, wofür sowohl Elim als auch ihre Mutter dankbar waren. So war der aufgeweckte - Elim bezeichnete ihn eher als Plage – Junge endlich sinnvoll beschäftigt, meinte Fia. Und der raue Schmied schien durch seinen gelehrigen Lehrling geradezu aufgeblüht. Beide verstanden sich prächtig und dass gönnte sie dem manchmal so traurig drein schauenden Schmied von ganzen Herzen. Er hatte ihre Kette geschmiedet, die nun sachte unter ihrem Kleid zwischen ihren Brüsten Platz fand.
„Sag schon, was los ist, damit ich hier weiter arbeiten kann!“ Herrschte Elim ihn unwirsch an er warf ihr einen wütenden Blick zu. „So groß war das Fest noch nie, alle sind gekommen. Sogar die Leute aus Priostatt und das ist doch ein ganzes Stückchen. Und einige Fremde.“ Er hob vielsagend die Brauen und Elims Bauch zog sich vor Aufregung zusammen. Als er einen Blick hinter sie warf, sah sie eine Gruppe von Männern, die mit Krioll sprachen. Doch was gesagt wurde, konnte sie nicht verstehen.
Langsam versammelte sich die Gemeinschaft der Dörfer des Umlands und eine beinahe unheimliche Stille trat ein. Dann trat der Älteste, Kibell, der einst auch Fischer gewesen war, ans Feuer, in seinen Händen eine Schriftrolle. Er las, wie es Brauch war, aus der Sage der Alten. Wie Kavend mit dem Drachen Fierung gerungen hatte um das Land Kamaldun. Dabei hatte er ihm drei Finger abgebissen. Aus einem waren die Zwerge entstanden, aus den anderen beiden Elben und schließlich auch die Menschen. Nach tausend Jahren konnte der Gott das Monster besiegen. Aus dem Blut des Untiers wurden Riesen, Trolle und alle finsteren Anderwesen geboren. Durch seinen Sturz grub der Drache tiefe Täler und häufte hohe Berge auf. Seine Klauen rissen gigantische Schluchten. So wurde das Antlitz der Welt geschaffen. Geschwächt trat Kavend zurück in den Götterhimmel und wurde von seinen Gemahlinnen Ni'koa und Sasala empfangen die ihn pflegten, bis er wieder bei Kräften war. Doch als der Gott wieder auf die Erde sah, sah er viele der Söhne von Fierung und Entsetzen und Enttäuschung blühten in seiner Brust. Er nahm an, dass die Welt schlecht sei und das sein Opfer vergebens war. Er zog sich zurück, auf dass niemand mehr ihn finden würde. Die betrübte seine Gemahlinnen und Kinder und seine erste Frau, Ni'koa, die Göttin der Erde trat zu ihm und zeigte ihm die Kreaturen, die die Niedersten seines Fleisches waren. Ein Dorf, in dem Kinder spielten. Menschliche Kinder. Und dieser Anblick rührte Kavend zu Tränen und er war bereit, diese Welt anzunehmen, wie sie war, mit ihrer Schönheit und ihrer Tücke, ihrer Würde und ihrer Niedertracht. Doch er wandelte nie wieder dort.
Mit angehaltenen Atem wartete Elim auf das Schlusswort von Kibell, sie betrachtete ihn und schöpfte Ruhe aus seiner ruhigen, tragenden Stimme. Trotzdem rollten Wellen der Furcht über ihren Körper. Sie spürte die Blicke der Anwesenden auf sich und das machte sie unheimlich nervös. Schließlich trat der Alte aus dem Kreis, der von den Flammen beleuchtet wurden und warf Elim einen aufmunternden Blick zu.
Das Mädchen drückte den Rücken durch und trat in den Feuerschein. Sie wandte sich nach Norden und warf etwas getrockneten Steinbrech in Pulverform in den Wind. „Kavend, der du im eisigen Nordwind lauscht, ich rufe dich an. Bringe Schutz über uns und unsere Kinder!“ Elim murmelte die Zeilen die sie einstudiert hatte und trat auf den blauen Stein der den Norden symbolisierte. Dann wandte sie sich nach rechts und rief diesmal lauter: „Ni'koa, die du in der Erde ruhst, ich rufe dich. Bringe Fruchtbarkeit über unsere Felder und Flüsse!“ Der Westen war ein grüner Stein, sie bedeckte ihn mit dem Pulver des Steinkrauts.
Schließlich schritt sie nach unten. „Sasala, die du im Feuer tanzt. Schenke unseren Häusern Kinder, wache über die Liebenden!“ Der Staub von Wildrosen regnete über den Pflasterstein. Dann ging Elim schließlich nach links. „Esmier, der du in den Wellen wankst. Spüle hinfort das Leid, behüte die Kranken und die Sterbenden auf ihrem Weg ins Licht, zurück zu ihrem Vater!“ Schließlich streute Elim etwas Wasserhyazinthen-pulver auf den blauen Stein. Sie schluckte schwer und trat nahe an das Feuer, so nahe, dass sie glaubte, ihr Haar würde Feuer fangen. Jetzt kam der schwerste, aber auch aufregendste und schönste Teil. Sie streckte den Arm aus, ganz nah, so eng wie möglich, an die Flammen und warf etwas Orankraut hinein. Zischend verbrannte es zu schwarzen Zweigen. Langsam begann sie, um das Feuer zu gehen, dann immer schneller und schneller, bis ihre Sicht verschwamm und ihr Kopf ganz schwummrig wurde. Und dann hörte sie es: Das Saußen und Pfeifen des Krautes in den Flammen und mit einem Zischen färbte es sich leuchtend blau. Am Rande ihres Bewusstseins hörte Elim jemanden keuchen, das gespenstische Blau machte die staunenden Gesichter der umstehenden Menschen zu seltsam starren Masken, die Schatten wirkten bedrohlich, sodass sich sogar die kleinen Kinder an die Röcke ihrer Mütter klammerten. Dann warf Elim schwungvoll etwas Purpurwurz in das Feuer und ein kräftiges, königliches Rot loderte in den Himmel. Sie warf die Arme zum Himmel und rief mit kräftiger Stimme: „Feiert, Freunde. Die Geburt der Welt!“ Damit wurden um den Platz herum Fackeln entzündet und die Menschenmenge klatschte begeistert. Wie in Trance senkte das Mädchen die Arme und blickte die Leute an, als wären sie gerade erst erschienen. Dann klopfte ihr jemand kräftig auf die Schulter und sie wusste, dass es Biorn war. „Du warst wunderbar, Kind. Fast schon so gut wie deine Mutter und deine Ahnen.“ Elims Mutter gesellte sich zu ihnen und umarmte sie mit Tränen in den Augen. „Du machst mich unglaublich stolz, meine Tochter!“ Sie sah sie mit einem seeligen, aber irgendwie wehmütigen Lächeln an. „Ach, Mama! Wein doch nicht... Du warst immer viel besser!“ „Nein, Kind. Du warst wunderbar. Mach dich niemals kleiner als du bist!“ Beharrt ihre Mutter und winkte Krioll zu, der gerade noch mit Akir sprach. Dieser löste sich von seinem Meister und kam auf Elim zu, er gesellte sich schüchtern zu der Gruppe. „Schwesterchen, dafür, dass du es warst, warst du eigentlich gar nicht mal zu schlecht.“ Er grinste sie frech an und Elim erwiderte gelassen. „Ich fühle mich geehrt, das war ja fast schon ein Lob. Und das von dir, Brüderchen!“ Er lachte und trollte sich zu Krioll, um ihm einen Fisch am Spieß abzuschwatzen.
Elim atmetet auf, er schien, als wäre eine schwere Bürde von ihren Schultern genommen worden, doch plötzlich beugte sich Biorn zu ihr hinab. „Siehst du den Mann dort?,“ er deutete auf einen bärtigen Alten, den Elim noch nie zuvor gesehen hatte, „er ist ein Fremder, ich kenne ihn nicht aus der Gegend. Krioll meinte, er hätte mit ihm gesprochen und wollte wissen, ob Heiler in der Gegend wären. Natürlich hat er nicht über deine Familie oder dich gesprochen, doch nimm dich in Acht. Ich habe gesehen, wie er dich beobachtet hat!“ Ein Schauer lief Elim über den Rücken. In der Tat wirkte der Mann seltsam unpassend für das Kavendfest in dieser Gegend. Er trug ein feines Kettenhemd über eine rohen grauen Gewand, sein Haar war schneeweiß und die Brauen buschig und dicht. Grübelnd blickte er in die Ferne und Elim konnte nur raten, was er wohl denken mochte. Sie nickte und dankte dem Hünen für seine Warnung. Dann nahm am Tisch zur Rechten von Krioll Platz, der ihr ermutigend zugenickt hatte und schnappte sich immer wieder einen Bissen von Akirs Fisch, bis ihr Onie, die feiste Tochter von Biorn mit einem Zwinkern eine ganze Forelle schenkte. Elim bedachte sie mit einem herzlichen Lächeln und machte sich mit einem Bärenhunger über den Fisch her. Es wurde viel gelacht und der Alte Kibell spielte sogar auf seiner Laute Weisen aus seiner Kindheit und nach längerne Bitten und Betteln trug er sogar ein paar Lieder vor. Als die Nacht schon fortgeschrittener war, entschuldigten Elim und ihre Mutter sich und die Tochter ersteigerte noch einen Stockfisch und etwas Bergwein, dann machten sie sich auf den Heimweg.
Gran döste schon vor dem Kamin und Elim legte ihr die Geschenke auf einen kleinen Beistelltisch, dann zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Als sie schließlich todmüde in ihr Bett fiel, musste sie doch noch einmal an die Ereignisse des Festes denken. An ihre erste Kavendzeremonie! Der Gedanke erfüllte sie mit wildem Stolz. Doch das Hochgefühl verebbte bald, als sie daran dachte, wie Biorn ihr von dem Fremden erzählt hatte. Und sie hatte das Gefühl, dass sie ihn schon in nicht allzu ferner Zukunft wiedersehen würde.

In den nächsten Tagen schlich sich wieder Alltag in Eilstatt ein, die Buden wurden abgebaut, die Händler zogen ab. Elim und ihre Mutter mussten bei einer Geburt helfen, wobei es für das Mädchen das erste mal so ein Spektakel mit zu erleben. Sie fand es gleichzeitig unheimlich schön und gleichzeitig irgendwie abstoßend. Ein Mann fiel in den Fluss und schlug sich den Kopf an, sodass Fia ihn verarzten musste.
Alles ging seinem gewohnten Lauf nach. Fast alles.
Leute aus dem Umland berichteten von Fremden, die sich nach einem Heiler erkundigten. Erfahren solle er sein, stark und tapfer. Man wolle eine Unternehmung in die Berge machen und man benötige einen fähigen Heilkundigen, hieß es. Und dass eine üppige Belohnung auf ihn wartete. Wenn er sich anschließen wollte, solle er am dritten Tag nach Vollmond abends in der Schänke zum Bergfass in Eilstatt erscheinen.
Mit Interesse verfolgten Elim, ihre Mutter und ihre Großmutter die Nachrichten von dieser seltsamen Truppe, die sich da ins Land der Statter verirrt hatte. Und das ganze Dorf harrte aus, den man wusste: Die einzigen Heiler, die es im Umkreis eines Bergesschattens gab, waren die Töchter aus dem Hause Areni, Elim und Fia.
Und die Mutter spürte schon, dass die Tochter viel größeres Interesse an diesem Angebot hatte, als sie vorgab. Als schließlich der dritte Tag nach dem Vollmond kam, und Fia spürte wie ihr Kind innerlich zerriss, wie es immer unruhiger wurde und wie sein Blick immer mehr in die Ferne schweifte, zu den Bergen am Horizont da trat sie in ihr Zimmer und meinte: „Du solltest gehen, Kind. Ich weiß schon lange, dass es dich hinaus zieht. Geh hin, überzeuge dich aber, ob es gute Leute sind, diese Fremden! Hörst du!“ Strahlend umarmte Elim ihre Mutter, sie hatte so gehofft, dass jemand ihr bei der Entscheidung helfen würde, denn den Entschluss, ihre Heimat zu verlassen, hatte sie trotz ihrer Sehnsucht nicht über sich gebracht. Schnell schlüpfte sie in ihr schönes blaues Kleid, gab ihrer Mutter einen Kuss und eilte hinaus. Seufzend lehnte die Frau am Türrahmen und sah ihr nach. Sie war wohl die Tochter ihres Vaters. Sie blickte traurig zu Boden, es schmerzte sie, das letzte von ihm gehen zu lassen, doch sie sollte die Gelegenheit haben, die Welt zu sehen. Und wenn sie sich dabei verbrannte, würde Fia immer auf sie warten.

Frohen Mutes betrat Elim das Bergfass und stockte, als darin so viele Menschen zusammengekommen waren. Scheinbar wollten viele wissen, ob sie auftauchen würde und was die Fremden im Schilde führten.
Elim erkannte sie sofort. Sie hatten in einer Ecke, weit entfernt vom Feuer, dass ihre Gesichter frühzeitig enthüllt hätte und weit weg von den Musikern, die ihr Gespräch gestört hätten, Platz genommen.

Langsam näherte sich Elim der Gruppe, es schienen vier Männer zu sein. Sie versuchte ihre Nervosität, die ihr wie ein Klos im Hals steckte herunter zu schlucken, doch es gelang ihr nicht sonderlich gut und sie trat ruckartig an den Tisch, die Arme linkisch hinter dem Rücken verschränkt. „Hier bin ich...“ Sofort wandten sich alle am Tisch Sitzenden nach ihr um. „Was willst du, Mädchen?“ Fragte einer. Noch nie hatte Elim einen so großen und furchteinflößenden Mann gesehen. Seine dunklen Augen fixierten sie wild, das lange Haar war zu einem Zopf aus dem Gesicht gebunden, ein gestutzter Bart umrahmte den wütend verkniffenen Mund. „Ich habe von euch gehört...“ Elim gab sich innerlich einen Ruck, „ich habe gehört, dass Ihr einen Heiler für eine Expedition in die Berge sucht und wollte mich hier melden, naja, weil-“ „Ist das dein Ernst, Mädchen?“ Elim nickte langsam und etwas verunsichert. Ein höhnisches, aber auch frustriertes Lächeln spielte um die Mundwinkel des dunklen Mannes. „Wir brauchen einen Heiler. Kein kleines Mädchen, dass seine Puppen pflegt. Verstanden? Wenn du jemand brauchbares kennst, schick ihn her!“ Total verduzt starrte Elim ihn an, dann hob der Alte, den sie gerade erst bemerkt hatte und den sie auf dem Fest gesehen hatte, die Hand und alle Augen wandten sich an ihn. „Nahkrin, sei nicht so stur. Setze dich doch, mein Kind. Erzähl uns, was du weißt!“ Angesprochener verschränkte die Arme und machte einen schnaubenden Laut und wandte sich ab. Vorsichtig umrundete Elim den Tisch und sah zu dem Alten, dessen Augen schelmisch funkelten wie kleine Käfer. „Ich habe dich beim Fest zu Ehren des Kavends gesehen, sehr beeindruckend. Sag, wie lange bist du schon Heilerin?“ „Etwa ein Jahr, ich helfe oft meiner Mutter. Von ihr habe ich alles gelernt, was ich weiß.“ Antwortete Elim und sah den Alten an, der nur mit unlesbarer Miene nickte. Der Mann namens Nahkrin beugte sich vor und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Ein Jahr, dann flick' ich mich doch lieber selbst zusammen.“ Er lachte trocken in die Runde, doch niemand erwiderte seine Heiterkeit. Er fing sich nur einen finsteren Blick von dem Alten an. Elim sah den Hünen irritiert an und meinte an den alten Mann gewandt. „Ich war unhöflich zu Euch. Meine Name ist Elim aus dem Haus Areni“ Der Alte lächelte und meine: „Oh, jetzt wo du es sagst, Kind. Das ist Nahkrin Bjerch , unser geschätzter Anführer dieser Expedition,“ er wies auf den schlecht gelaunten Mann, der ihn mit einem verschlossenen Blick ansah. Dann deutete er auf einen Mann mit mausgrauen Haar und wässrigen Augen, „das ist Neick Pans, unser Spurenleser,“ er wandte sich an den nächsten, ein jungen Mann mit überraschend blauen Augen und ebenso außergewöhnlichen hellem Haar, „das ist Aren Spriech, ein Krieger. Und ich bin Zuin Kinkel, Berater und Kartenleser. Außerdem bewandert in alten Schriften.“ Er reckte stolz das Kinn und Elim sah ihn bewundernd an. Der Mann namens Nahkrin beugte sich vor, die dichten Brauen zusammengezogen, der Blick finster wie ein Gewittersturm. Und langsam schüttelte er den Kopf und sah Elim schweigend an, dann fragte er: „Wenn ich vom Pferd stürze, und mit den Arm breche, was tust du dann?“ „Ich würde zuerst zwei Stöcke anbringen, zum Schienen, was sich eben finden lässt. Dann muss das ganze umwickelt werden, und es muss ruhig gehalten werden...und bevor man's vergisst, auch etwas Valurkraut muss der Betroffene kauen, das nimmt den Schmerz.“
Beeindruckt wackelte der Alte mit den Augenbrauen und warf seinen Kumpanen viel sagende Blicke zu. Nahkrin lehnte sich mürrisch zurück und verschränkte die Finger, dann meinte er: „Und wenn ich mich vergifte?“ „Kommt auf das Gift an...“ Meinte Elim ausweichend. Sie mochte Giftpflanzen nicht besonders und hatte die Kapitel über sie eher überflogen. Der Mann beugte sich vor und fügte an: „Und wenn ich's dir nicht mehr sagen kann?“ „Dann...ja, ich...ich würde erst mal die Symptome untersuchen, wenn die Haut fahl wird, war es wohl ein Pflanzengift, erbricht er Betroffene oft, eher ein Gift, dass einer Speise beigemengt wurde, aber genau kann man das nie bestimmen...“ Elim wand sich unter den unverwandten Blicken der Truppe. Zuin hatte die Stirn gerunzelt und sah Elim seltsam an, dann räusperte er sich und unterbrach sie. „Das ist aber auch eine schwere Frage, mein Freund,“ Nahkrin warf ihm einen scharfen Blick zu, doch der Alte ließ sich nicht beirren, „also ich finde sie kann das sicher gut machen-“ „Wie kämpfst du?“ Fiel ihm Nahkrin ins Wort und wandte sich wieder Elim zu. Die sah ihn verständnislos an und mit einem frustrierten Seufzer fragte er nochmal. „Hast du Erfahrungen im Kampf?“ „Ich habe einmal meinen Bruder so sehr gebissen, dass er geblutet hat!“ Antwortete sie kopflos und wurde rot. Sie hörte die zwei jüngeren Männer lachen und auch der Alte kicherte in seinen Bart. Doch der Mürrische warf ihnen einen strengen Blick zu und schloss: „Du hattest noch nie ein Schwert in der Hand, oder einen Bogen oder eine Axt?“ Elim schüttelte den Kopf und sah den Mann an, während sich etwas in ihrem Magen schuldbewusst zusammen zog. Etwas in der Stimme des launischen Herren gab ihr das Gefühl, dass es ihre Schuld war, dass sie sich nie zur Wehr hatte setzten müssen und eine leise Wut stieg in ihr hoch. „Nun, da wo ihr herkommt, da ist es wohl anders als hier, denn es hat niemand den Bedarf, sich die Köpfe einzuschlagen. Das ist ja barbarisch!“ Elim verschränkte die Arme, als könne sie so das klägliche Restchen Mut in ihrer Brust gefangen halten. Überrascht hob auch Nahkrin die Brauen, dann verdunkelte sich seine Miene wieder und er warf Zuin einen langen Blick zu, den dieser äußerst Ernst erwiderte, dann schüttelte er den Kopf und ging. Verschwand einfach aus der Schänke. Ihm folgten die Männer Neick und Aren. Nur der Alte blieb zurück und sah so aus, als wüsste er nicht recht, was er tun sollte. Dann machte er Anstalten zu gehen, doch er wandte sich doch wieder Elim zu und machte ein Zeichen, sie solle sich zu ihm hinüberlehnen. Er flüsterte: „Heute in drei Tagen brechen wir auf, pack zusammen, was du brauchst und stoße in der großen Lichtung im Wald auf uns. Wir werden im Morgengrauen aufbrechen. Wenn du nicht kommst, weiß ich, dass du dich anders entschlossen haben wirst.“ „Ich werde daran denken...“ Meinte Elim wage und der Alte warf ihr einen merkwürdig sehnsüchtigen Blick zu und verschwand ohne ein weiteres Wort.

In der darauf folgenden Nacht schlief Elim schlecht, die Fragen, die ihre Mutter und Großmutter über die Fremden gestellt hatten, beantwortete sie ausweichend und einsilbig. Wenn sie wussten, dass eine Gruppe wildfremder Männer angeführt von einem düsteren Griesgram ihre Arbeitgeber werden könnten und sie mit ihnen an einen unbekannten, womöglich gefährlichen Ort aufbrechen könnte, würden sie das Mädchen Tag und Nacht bearbeiten, sie solle sich das Angebot aus dem Kopf schlagen.
Dass Elim überhaupt darüber nachdachte, sich mit diesem seltsamen Haufen allein in die Wildnis zu begeben, grenzte an Wahnsinn. Was wenn es gefährliche Widerlinge waren, die sich an ihr vergangen und sie dann irgendwo liegenließen. Doch warum dann der Aufwand, nach einem Heiler zu suchen? Und wenn dieser Nahkrin, der offentsichtlich nicht gerade Gefallen an ihr gefunden hatte, sie einfach wieder heimschickte, wenn sie am Treffpunkt erschien? Doch wenn alle Versprechen stimmten und sie heimkehrte, wäre sie eine reiche Frau und musste sich nie mehr Gedanken um einen leeren Bauch oder eine zugige Stube machen.
So kreisten Elims Gedanken unaufhörlich in ihrem Kopf herum und sie stand schließlich im Morgengrauen auf, um die letzten Strahlen des Mondes zu genießen. Auf leisen Sohlen schlich sie in die Stube, wo Gran am Feuer wachte. Erschrocken bemerkte Elim, dass die alte Frau sie beobachtete und sie sah ertappt zu Boden. „Ich wollte nur kurz Luft schnappen...mir war übel, schrecklich übel...“ Doch als die Frau nicht auf ihre gestammelten Ausreden reagierte, betrachtete Elim sie genauer. Sie saß auf ihrem gewöhnlichen Sessel neben dem Feuer und sah sie, ohne zu blinzeln an. „Großmutter...Was ist los mit dir?“ Unsicher trat Elim auf die Frau zu und berührte ihre Hand. Sie war eiskalt. Das Mädchen stieß einen schrecklichen Schrei aus und brach dann in Tränen aus.
Akir und ihre Mutter kamen verschlafen heran und fragten sie, was denn passiert war. „Sie ist tot, Großmutter ist tot!“ Schluchzte Elim und auch ihr Mutter keuchte vor Trauer und Entsetzen, dann prüfte sie ob das Mädchen recht hatte. Doch die Alte war wirklich in der Nacht ins Licht gegangen. Akir sah seine Mutter bestürzt an und als sie wie mechanisch den Kopf schüttelte, ließ er sich kreidebleich auf einen Stuhl am Esstisch sinken. Die Mutter presste die Hand vor den Mund und versuchte vergeblich die Tränen zurück zu halten. „Ich werde morgen Kibell Bescheid sagen, dass sie nicht mehr ist und auch Quien benachrichtigen.“ Sagte sie nach langen, Tränen-geschwängerten Schweigen. Dann drückte sie die weinenden Kinder an sich und lief in ihr Zimmer. Und Elim hörte sie noch die ganze Nacht weinen.

Zwei Tage später standen die Menschen des Dorfes im Haus Areni, jeder hatte eine Kleinigkeit zur Totenfeier mitgebracht. Kleine Statuen des Esmier, Blumen oder sogar Fisch von Biorn lagen verstreut herum, Krioll hatte eine besonders schöne Figur des Totengottes angefertigt. Sie lag auf dem Sessel, auf dem immer Gran gesessen hatte. Gestern hatte Elim nur geweint, doch jetzt war sie in eine Art gleichgültige Taubheit verfallen, die Expedition war in unendliche Ferne gerückt, sie verschwendete keinen Gedanken mehr daran. Sie sah den Kummer ihrer Mutter und auch Akir schien der Tod der Großmutter unendlich nahe gegangen zu sein. Krioll versuchte ungeschickt, den Jungen zu trösten. Er blieb noch lange, als die anderen Trauergäste gegangen waren.
Und als Elim ihre Mutter so weinen sah, ihre Trauer, da konnte sie nicht weg gehen. Sie musste bleiben, in Eilstatt.
Sie trat auf Fia zu und nahm sie in den Arm, so fest sie nur konnte und lange verblieben sie so. Dann löste sich die Mutter von ihr und fragte unsicher: „Was tust du denn noch hier, Elim?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf und meinte nur mit brüchiger Stimme: „Ich kann nicht gehen, ihr braucht mich. Akir und du...“ „So ein Blödsinn!,“ rief die Frau aus und sah Elim voller Entrüstung an, worauf diese vor Überraschung verdutzt aufhorchte, „ich weiß schon lange, dass es dich fortzieht,“ fuhr sie in versöhnlicher Stimme fort, „und was wäre ich für eine Mutter, dich nicht ziehen zu lassen, ich weiß du bist bereit. Und wenn du glaubst, dass du es schaffst, dann glaube ich das auch!“ Sie drückte Elims Hände und sah sie eindringlich an. Eine Träne ran über die Wange des Mädchens: „Aber du und Akir...Ich kann nicht-“ „Ich bin gut aufgehoben und Akir, ihm geht es auch gut!“ Bekräftige die Mutter und verstärkte den Druck auf Elims Hände. „Nun sammel deine sieben Sachen und geh hinaus, es wird dir gut tun. Und dass du mir ja wieder kommst und alles erzählst. Ich bin sogar sicher, dass du das was du erleben wirst, deinen Enkeln erzählen kannst. Aber nun spute dich, es ist nicht mehr viel Zeit!“
So half sie Elim, schnürte mit ihr ein Bündel aus Kräutern und Tiegeln, Mörsern und Tinkturen. Verbände packten sie ein und eine Plane. Und ein bisschen getrocknetes Obst. Doch als Elim das Bündel sah, ein großes schweres war es geworden, da fühlte sich ihr Hals ganz trocken an, das Schlucken fiel schwer. „Und wenn ich doch hierbleibe. Im nächsten Winter kommt doch das Kind von Onie und es gibt immer so viel zu tun...“ „Das schaffe ich schon alleine!“ Meinte die Mutter energisch und surrte alle losen Enden zusammen. „Ich war schon Hebamme, bevor es dich gegeben hat, Kind!“ Elim sah sie ratlos an. Es kam ihr so vor, als wolle die Mutter sie los werden, doch das sprach sie nicht laut aus. Stattdessen beobachtete sie, wie die Frau in ihr Zimmer verschwand und ihr etwas in die Hand drückte. „Das war ein Geschenk meiner Großmutter an mich, sie sagte, es sei schon ewig in unserer Familie und dass die Frauen unseres Hauses es schon seit Jahrhunderten immer weitergaben.“
Elim öffnete gespannt das Päckchen und hielt ein kleines Fläschchen in der Hand. Es war weiß und völlig schmucklos, beinahe unauffällig bis auf de hellblauen Verschluss.
„Das ist ein Allheilmittel, das Feuer von Remedion. Man sagt, Elben hätten es einst unserer Familie vermacht.“ „Ach, Mama, du hörst dich an wie Großmutter.“ Elim musste schlucken, als sie den Namen der Verstorbenen aussprach. „Nein, Kind! Hör mir zu: Es gibt kein Gift, wozu es nicht das Gegenmittel ist. Keine Wunde, die es nicht schließt und kein Leiden, das es nicht kuriert. Merk dir das, ja!“ Elim nickte nur und umarmte dann ihre Mutter. Auch wenn sie nicht an solche Zaubermittel glaubte, war sei doch froh, dass Fia ihr etwas anvertraute, das für sie dermaßen wertvoll zu sein schien.
„Wann werdet ihr aufbrechen?“ Wollte Fia wissen und prüfte noch einmal die Stabilität des Bündels. „Im Morgengrauen denke ich...“ Meine Elim und sah die Mutter verunsichert an. „Dann leg dich doch noch etwas hin, ich wecke dich!“
Mit der Gewissheit, dass sie eh nicht schlafen konnte, begab Elim sich in ihr Bett und starrte zur Decke. Sie fand das Verhalten der Mutter seltsam, wollte sie nur tapfer sein? Sie wusste es nicht und war sich auch nicht sicher, ob sie nun morgen mit dieser seltsamen Truppe mitziehen sollte. Seit dem Tod der Großmutter, war die Expedition in die Ferne gerückt, sie war aus Elims Gedanken verschwunden, doch jetzt drängte sie mit Macht wieder nach vorn. Sie wusste, ab dem ersten Tag würde sie die Mutter vermissen, ihre Leute, die ruhige, stille Heimat – sogar Akir. Doch genau diese Stille, diese Ruhe trieb Elim hinaus, sie musste gehen, sonst würde sie sich für immer grämen, diese Gelegenheit nicht ergriffen zu haben. Also stand sie noch eine Stunde vor Sonnenaufgang auf und legte ihr robustestes Gewand an. Sie schulterte ihr Bündel und atmete ein paar mal tief durch, dann trat sie hinaus in die Stube. Sie drückte wortlos die Mutter, ging in Akirs Zimmer und legte einen kleinen Zettel auf den Nachttisch des Schlafenden und trat dann hinein in die kühle Nacht. Der letzte Schein des Mondes beleuchtete das Dorf und ließ es unwirklich erscheinen. Die Hütten und Häuser waren nur fahle Schatten neben dem ausgetretenen Pfad, eine seltsame Stimmung befiel Elim.
Ihr schien auf einmal alles vergebens, man würde sie eh nicht akzeptieren, sie war nicht als Mann geboren und diese Reise war viel zu gefährlich für eine Frau... Und dann fiel es ihr siedend heiß ein und sie blieb wie angewurzelt stehen und überlegte. Sie hatte das Feuer von Remedion auf ihrem Nachttisch vergessen. So schnell sie konnte, sprintete sie nach Hause und beglückwünschte sich dazu, so früh aufgebrochen zu sein. Mit einem Schwung riss sie die Haustür auf und erstarrte bei dem Anblick der sich ihr bot. Wie im Schock sah sie ihre Mutter und Krioll, in einer innigen Umarmung, gerade gelöst von einem langen Kuss. Sofort ließ der Schmied ihre Mutter los und brachte etwas Abstand zwischen die Frau und sich. Fassungslos starrte Elim die beiden an, ihr Blick glitt immer wieder zu ihrer Mutter und dann zu dem Mann. „Was...was ist...was hat das zu bedeuten?“ Stotterte sie, ihre Mutter räusperte sich und bat sie schließlich Platz zu nehmen. „Mein Schatz, ich wollte es dir schon so lange sagen, doch ich durfte – konnte – nicht...“ Sie hielt Elims Hände fest, doch diese erwiderte nicht den Druck der mütterlichen. Sie starrte nur wie gelähmt auf die Tischplatte. „Und warum?“ „Du weißt doch, dass er eine Frau hat, eine liebe Frau und zwei Kinder...Akir, er ist sein Sohn.“
Elim wandte sich Krioll zu, der ihrem Blick auswich. „Seid Ihr auch mein Vater?“ Er schüttelte den Kopf und warf noch Fia einen letzten traurigen und sehnsüchtigen Blick zu, bevor er ging. „Es tut mir Leid...“ „Wer war es?“ Fragte Elim schließlich mit ruhiger Stimme. „Was meinst du, Kind?“ Elim hob den Kopf um ihre Mutter anzusehen und antwortete: „Mein Vater.“ „Ich kann es dir jetzt nicht sagen, du wirst es erfahren, wenn die Zeit reif dafür ist.“ Da sprang Elim auf und ihr Stuhl polterte auf den Boden. Doch sie kümmerte sich nicht darum. In ihrem Körper glühte Zorn, der schon lange in ihr geschlummert hatte. „Immer das selbe. Ich wollte nie fragen, nie! Weil du eh schon genug eigene Sorgen hast, doch du behandelst mich wie ein dummes Kind,“ die Mutter machte Anstalten sie zu unterbrechen, doch Elim ließ sie nicht zu Wort kommen, „immer diese Ausflüchte und Lügen, ich bin es satt!“ Damit packte sie ihr Bündel und stürmte hinaus. Tränen kitzelten in ihren Augenwinkeln, doch sie erlaubte ihnen nicht zu fließen.
Als sie schließlich durch den Wald stapfte war noch immer etwas Wut in ihrem Bauch. Doch als sie sich der Lichtung näherte, sah sie die Fußspuren vieler Stiefel und sie tastete sich vorsichtig heran. Durch Löcher im Laub konnte sie die Truppe sehen. Es waren etwa zwölf Personen, aus allen Himmelsrichtungen Kamalduns. Plötzlich wurde das Gewimmel still. Einer der Kerle, die im Bergfass gewesen waren, Aren horchte auf. „Wer ist da?“ Rief er laut und vernehmlich und Elim warf sich so leise sie konnte flach auf den Boden. Ihr Herz raste, als sie sah, wie sich der Mann auf ihr Versteck zu bewegte.
Mit einem Aufatmen bemerkte Elim, dass er wieder zur Gruppe zurück kehrte. Doch es war nur ein Scheinmanöver. Keinen Augenblick später hechtete der Mann ins Gebüsch und zog die strampelnde und tretende Elim hervor.
„Was willst du hier?“ Herrschte der Mann sie an. „Ich...man sagte mir, dass...dass hier die Abreise statt finden würde....“ Stammelte Elim und Aren ließ sie los. Er entfernte sich von ihr, ließ sie aber nicht aus den Augen. Sogleich scharrten sich die Begleiter um sie und starrten sie neugierig an. Mit Erleichterung sah Elim nur auf wenigen Gesichtern Missfallen oder Abneigung. Dann trat Zuin vor und neigte etwas den Kopf, um sie zu begrüßen. Elim tat es ihm gleich und der Mann meinte. „Ich bin froh, dass Ihr gekommen seid,“ Elim wunderte sich kurz über seine förmlich Anrede, „einige hier hätten Euch allerdings nicht erwartet...“ Dann hörte Elim es auf einmal von hinten rumoren. Ein Heulen erklang und mit einem Satz sprang ein riesiger Wolf vor Elim hin und knurrte sie gefährlich an. Er fletschte die Zähne und seine gelben Augen blickten sie wutentbrannt an. Elim blieb das Herz fast stehen, sie konnte sich nicht bewegen, das Tier lähmte sie mit seinen zornigen Bewegungen. Niemand wagte etwas zu tun, auch die Männer standen regungslos. Dann jedoch teilte sich die Menge und Nahkrin trat hindurch, den Blick nicht minder zornig wie das riesenhafte Ungeheuer. Elim war schon aufgefallen, dass er groß war, sicher zwei Köpfe größer als sie und mindestens einen größer als die Umstehenden. Doch jetzt wirkte er wie ein Gigant aus den alten Geschichten. „Ich habe Euch gesagt, Ihr sollt nicht kommen. Was wollt Ihr bei uns?“ Er rief das Ungetüm, dass scheinbar auf den Namen Ulfur hörte, zu sich. Dann ging er ganz nah an Elim heran, sie wollte zurückweichen, doch er versetzte ihr einen Stoß. Sie taumelte zurück. Einige der Männer schnappten nach Luft, „Nahkrin...“ Stieß Zuin atemlos aus und sah ihn entsetzt an. Er drehte sich allerdings schon um und meinte: „Wäre sie ein Mann gewesen, ihr wärt nicht so entsetzt gewesen. Aber sie ist nicht wie wir!“ Und er wollte davon gehen, doch ein Funke des Zorn der in Elim brannte seit ihre Mutter sie wieder vertröstet hatte, entzündete ein Feuer in ihr und sie machte einen langen Schritt und drückte dem Hünen in den Rücken sodass dieser fast stürzte. Ulfur knurrte drohend, sein Fell stellte sich auf wie bei einer Katze. Erschrocken und entsetzt über sich selbst wich sie zurück und beobachtete die Menge, die ebenso die Luft angehalten hatte. Als Nahkrin wieder festen Boden unter den Füßen spürte, drehte er sich um, ein höhnisches Grinsen spielte um seine Mundwinkel. „Fein, warum eigentlich nicht? Kommt doch mit, doch beim ersten Klagen und dem ersten Anzeichen, dass Ihr uns zur Last fallt, müsst Ihr umkehren...“ Damit stapfte er davon.
Sofort scharrte sich die Menge um sie. Elim erkannte das sie in ihrem kurzen Anfall von Wahnsinn – Mut? - einige Anhänger gewonnen hatte, einige der Männer sahen sie anerkennend an, andere warfen ihr trotzdem reservierte Blicke zu.
„Ich bin Poshki, Niben Poshki!“ Ein untersetzter Mann streckte Elim die Hand hin und sie schüttelte sie freundlich. „Ich bin Elim Areni.“ Antwortete sie. So reichte ihr jeder die Hand. Es waren fünf Krieger, nämlich Aren, Niben, ein Mann namens Olym Kaup, ein sehr kleiner Alter namens Uliem Noch'kem und ein Hüne namens Toro Silberstin, der Elim missmutig musterte und ihre Hand nur kurz nahm. Auch war ein Tierflüsterer aus dem Süden hier, Alachmed dal Hannad. Seine dunkle Haut und der merkwürdige Akzent fielen Elim sofort auf und sie nahm sich vor, den Mann zu bitten, ihr etwas aus seiner Heimat zu berichten. Ihr schwirrte schon der Kopf von den vielen Namen, doch es warteten noch ein paar darauf, sich vorstellen. Einer war ein keckes Kerlchen aus den östlichen Wäldern namens Kinnin Selmi, er schien ein vortrefflicher Späher zu sein. Ein besonders korpulenter Herr stellte sich als der Koch Olo Juin heraus. Als letzter kam ein Mann namens Archo Harby. Er verbeugte sich vor Elim und sie lächelte verlegen. „Ich bin Archo aus dem Hause Harby und bin in meiner Rolle als Bote hier, direkt aus der Burg U'shallach. Zu Diensten!“ Tönte er und sie sah sie mit gewichtiger Miene an. Elim nickte nur irritiert und sah zu, dass sie sich zu den übrigen Männern gesellte. Diese waren daran, ihre Pferde zu satteln und das Lager abzubrechen. Wo sie konnte machte das Mädchen sich nützlich, rollte Planen auf und lockerte Haken im Boden. Als nach einiger Zeit die Sonne schon über die ersten Baumwipfel spähte, waren endlich alle Aufbruch-bereit, Nahkrin bestieg sein Pferd, das Monster Ulfur immer an seiner Seite.
Elim räusperte sich und einige Köpfe wandten sich zu. „Wie soll ich...“ Doch man kam ihrer Frage zuvor, als sie ein robustes mittelgroßes Pferd herbeibrachten. Bis jetzt hatte Elim es gar nicht gesehen, doch sie erinnerte sich noch wage an einige Reitversuche auf Pferden aus dem Umland. Also kletterte sie vorsichtig, darauf bedacht nicht herunter zu fallen auf das Pferd. Als sie sich gewahr wurde, dass alles sie beobachteten, lächelte sie und winkte. Und so setzte sich der Zug in Bewegung.

Nach Norden




Die Männer schienen übermüdet und wenig ausgeruht, es wurde nur manchmal ein Wort gewechselt, kleine Neckerein blieben vorerst aus, doch als sie nach einer Weile die Pferde führen mussten und Elim steifbeinig abstieg und versuchte mit der schnellen Truppe mit zu halten, scharrten sich doch einige der Männer um sich. Darunter Aren, Zuin und Neick, die sie schon zuvor getroffen hatte. „Erzählt uns doch von Eurem Land, bitte.“ Bat der blonde Mann.
„Nun ja, es ist ein friedliches. Die alten Bräuche werden hier sehr streng eingehalten. Die Zunft der Fischer ist hier besonders stark, aber das ist auch nur in Eilstatt so, weil der Fluss Droin direkt an der Ortsgrenze vorbei fließt. Fremde haben wir hier selten,“ und sie hörte einige Murmeln, dass sie von dieser Gegend auch noch nie etwas gehört hätten, „in der Statterregion gibt es noch Priorstatt und Hailsstatt. Doch ich war nur in Priorstatt. Auch gibt es im Umkreis nur meine Mutter und mich, die wir uns Heiler nennen dürfen. Die anderen sind Kräuterfrauen und -männer,“ fügte Elim stolz hinzu, einige der Krieger nickten.
Olo trat einige Zeit später neben sie und meinte: „Meine Heimat sind die sanften Hügel, etwas südlich von hier. Ich komme aus der Seenschlucht Hidran,“ Elim nickte, dieser Ort kam ihr wage bekannt vor. „aus einem kleinen Nest namens Standjar. Dort gibt es den besten Schinken und die besten Würste, die man sich vorstellen kann. Ah, wenn ich daran denke, läuft mir jetzt noch das Wasser im Munde zusammen...“ Einige Männer lachten und Niben rief: „Dass du uns nicht bald Pferdewurst machst, mein Lieber!“ Wieder lachten einige und vergnügt liefen sie weiter. Nur Olo schien verstimmt.
Erst später verwickelte er sie in ein Gespräch über Kräuter, bei denen er sich zu Elims Erstaunen sehr gut aus kannte. Doch nicht die Heil- oder Giftpflanzen hatten es ihm angetan, er schwärmte nur so von Mondsalbei und Kirschkraut, Gewürzen aus aller Herren Länder, wobei der ihr mit viel Geduld auch die unbekannten Gewächse erklärte. Und bei dem vielen Gerede von Essen bekam Elim einen unglaublichen Appetit und erleichtert stellte sie fest, dass sie nach einiger Zeit wirklich rasteten, um etwas zu Essen vorzubereiten.
Neugierig sah sie den Männern zu, die ihr Mahl zubereiteten. Den dunkelhäutigen Mann aus dem Süden – Alachmed- fragte sie nach einem unansehnlichen lederartigen Brocken, dass er mit strenger Miene kaute. „Das ist das Fleisch des Ringelgürteltiers. In meiner Heimat leben viele von diesen seltsamen Tieren.“ Er bot ihr ein Stück an, doch Elim lehnte dankend und etwas erschrocken ab. „Sieht schlimmer aus, als es schmeckt.“ Meinte er und wandte sich ab.
Sobald die Sonne den Zenit erreicht hatte, ritten sie weiter.
Der Waldboden unter den Füßen der Pferde wurde jetzt langsam steiniger, selten lichteten sich die Bäume und große Felsen stacken in den Himmel. Elim beobachtete vorsichtig, wie Ulfur, das Ungetüm sich von seinem Herren entfernte und in den Wald streifte. Erst Stunden später kehrte er zurück, einen toten Hasen im Maul, den sich Nahkrin eilige an den Sattel hängte. Elim schüttelte angewidert den Kopf. Da hatte das Tier noch vor einer Stunde fröhlich und unbeschwert in seinem Bau gehaust und nun hing es würdelos am Sattel eines dahergerittenen Reisenden. Doch sie behielt ihre Kritik bei sich.
Durch die Stunden auf dem Pferd waren ihre Beine schließlich aufgescheuert, sie fühlte, dass sie bluteten. Und als sie abstieg, sog sie scharf Luft ein, denn die Wunden brannten scheußlich. „Am Anfang ist's noch unangenehm, aber man gewöhnt sich dran. Sind ja nicht alle auf dem Rücken der Pferde geboren wie die im Westen.“ Ein Mann mit grünfunkelnden Augen trat neben sie, Olym. Er zwinkerte ihr schelmisch zu und beschleunigte seine Schritte.
Während sie so dahin ritten und liefen, Elims Wunden schmerzten und ihre Beine von dem langen und flotten Marsch immer mehr schmerzten, dachte sie an daheim. An ihre Mutter und Krioll. An Gran und auch an Akir. Und sie musste wieder die Tränen zurück halten. Einmal in ihrem Leben war sie nun fort, und es würde sie nicht umbringen, wunde Beine zu haben oder Durst. Als sie einen der Mitwanderer nach einem Schluck Wasser fragte, gab der ihr bereitwillig etwas aus seinem Schlauch zu trinken. Elim nahm sich vor, von ihrem Reisegeld auch einen zu kaufen und ihn mit Quellwasser zu füllen.
Gegen Abend rasteten sie schließlich und Elim fragte sich nun zum ersten Mal – was ihr selbst höchst wunderlich erschien – wohin sie eigentlich gingen. Sie wandte sich an Zuin der gedankenverloren ins Feuer starrte und Tobakkblätter kaute und fragte leise: „Wo gehen wir eigentlich hin?“
Zuin sah sie ernst an und meinte dann sporadisch: „Wir wissen es nicht.“ Elim sah ihn verwirrt an. Wie konnte man aufbrechen, ohne zu wissen wohin. „Nun ja, nicht ganz,“ fügte er hinzu, „Der Prinz von Kamaldun hat ein Leiden, doch kein Heiler der bekannten Welt kann ihm sagen, was denn mit ihm los ist. So wollen wir aufbrechen, um ein Mittel dagegen zu finden.“ Schloss er und nahm noch ein paar Tobakkblätter.
„Und ihr wandert nur nach Norden...“ Zuin sah sich um und neigte sich dann näher an Elim heran und flüsterte. „Auf dem Berg Gelbor soll es ein Orakel, eine Wahrsagerin geben, die auf jede Frage die Antwort weiß. Der König erhofft sich Hilfe von ihr.“ Er lehnte sich zurück und sah Elim mit gewichtiger Miene an. „Und warum seid Ihr so viele?“ „Das Grenzland von Kamaldun ist gefährlich, danach erstreckt sich unergründete Wildnis. Und die Dörfer, die am Fuße des Gelbor liegen, werden oft von Schrecken heimgesucht, die sie in den Nächten jagen und am Tag wieder in ihren Höhlen harren. Du verstehst?“ Er zog die Augenbrauen hoch und begann, schweigend auf den restlichen Tobakkblättern zu kauen. Elim sah ihn entsetzt an, brachte kein Wort heraus. Was mochten das für Wesen sein, die dort von den Pässen herunterkamen?
Der harte, steinige Boden ließ Elim an ihr Bett denken, doch sie hörte das laute Schnarchen der Männer. Es verriet ihr, dass man sich auch daran gewöhnen konnte.
Nur Toro, der für die Nachtwache eingeteilt war, beobachtete mit Wachen Augen den Rand der Lichtung. Langsam dämmerte auch Elim fort, die Erschöpfung des Tages forderte ihren Tribut. Und so hörte niemand das nächtliche Heulen, und es war auch nicht für menschliche Ohren bestimmt. Nur Ulfur, der Wolf hob schweigend den gewaltigen Kopf. Sie kamen.

Blinzelnd erwachte Elim, die feinen Sonnenstrahlen blinzelten zwischen den Baumwipfeln hindurch. Kurz musste sie sich erinnern, wo sie sich befand und sich den viel zu kurzen Schlaf aus den Augen reiben, dann sah sie die schnarchenden und schlafenden Leiber der anderen um sich herum.
Nur Kinnin schien schon auf zu sein und Elim fiel auf, dass er wohl Toro abgelöst haben musste, der in der Nähe döste.
„Es ist ein wunderbarer, sonderbarer Morgen, oder nicht?“ Fragte der Geck und zwinkerte Elim zu. Sie sah ihn irritiert an und nickte nur. Dann rapelte sie sich auf und streckte die steifen Glieder.
„Weckt sie nicht, noch ist es friedlich,“ Meinte Kinnin und erhob sich ebenso, „ich möchte mit Euch reden.“ Er winkte Elim heran und sie folgte ihm neugierig.
„Nehmt es Herren Bjerch nicht zu übel, er ist nur etwas – wie sagt man? - ruppig. Das sind die alle aus dem Norden, versteht Ihr? Es kann sein, dass er Euch nicht mag, aber es kommt keine Gefahr von ihm, Ihr müsst ihn nicht fürchten.“ Elim nickte und dankte dem seltsamen, kleinen Mann. „Von wo stammt Ihr, wenn ich fragen darf?“ Wollte sie wissen. „Oh, ich komme von weit her, aus den Waldlanden Scog, fern im Osten. Dort lebt man anders als hier, nicht so lang aber dafür ist man besser zueinander, Ihr versteht? Damit die paar Jahre auch gut genutzt sind, ja!“ Er lächelte und zeigte dabei strahlend weiße Zähne. Und Elim konnte nicht anders, als es zu erwidern. Bald kamen sie wieder zurück zum Lager, wo zum Glück noch alle schliefen.
Schon machte sich Kinnin daran, sie alle zu wecken, sein vorwitziger Rotschopf sauste zwischen den liegenden hin und her, stach ihnen in die Seite oder zwickte ihre Nasen. Elim lachte und ging etwas ungeschickt und steif zu ihrem Pferd um es zu satteln.
Der Tag brach ruhig und sonnig an, bald wurde es sogar einigermaßen warm. Doch das Mädchen konnte sich nicht recht gut fühlen. Zu sehr schmerzten ihre Beine, das monotone dahin reiten behagte ihr nicht und auch die Männer waren recht einsilbig zueinander, man ritt wohl schon einige Tage ohne recht viel Schlaf.
Und auch Elim kroch schon die Müdigkeit in die Knochen, sie begann die Größe von Kamaldun zu erahnen. Ihr war, als würden sie nur stundenlang immer durch die selbe eintönige Landschaft reiten, umsäumt von Bäumen, hohen und niedrigen, dicken Stämmen und dünnen. Alles wurde einerlei und sie musste sich konzentrieren, dass sie nicht einnickte und vom Pferd fiel. In der Ferne hörte sie lautes Vogel-gezwitscher, dann sah sie wie ein Schwarm der Tiere in den Himmel brach. Sie rieb sich die Augen und sah genauer hin. Die Vögel schwärmten in den Himmel nach Westen.
Das konnte nichts Gutes bedeuten. Und bald darauf hielt auch die Karawane und Alachmed blickte zum sonnigen Himmel. „Wir werden verfolgt, aber sie zeigen sich nicht...“ Und Neick, der Spurenleser stieg ab und kniete sich auf den Waldboden. Zwischen den Felsen legte er den Kopf auf die harte Erde und lauschte. „Es sind zehn, vielleicht zwölf. Tiere. Wahrscheinlich Wölfe, aber große, den Zeichen nach.“ Er deutete auf einen Pfotenabdruck, der wohl gut die Größe eines menschlichen Fußes maß. Elim ritt näher, um ihn besser sehen zu können. Besorgte Blicken wurden unter den Männern ausgetauscht, das Mädchen konnte auch in ihren Gesichter das Aufblitzen von Furcht erkennen. Nahkrin, der niederkniete und mit der flachen Hand über den Abdruck strich erhob sich und meinte nur kurz, aber in einem Ton der keinen Widerspruch duldete: „Wir reiten weiter, vielleicht verlieren sie das Interesse an uns, wenn sie leichtere Beute finden!“
Er warf einen Blick in die Runde, doch nicht jeder schien so glücklich mit seiner Wahl zu sein.
Angstvoll beobachtete Elim die Gesichter der Truppe, in einigen spiegelte sich Unwillen und Furcht wieder und auch sie selbst wäre lieber umgekehrt, als direkt auf die riesenhaften Raubtiere zu. Ihr schlug rasend und während sie weiter ritten, schreckte sie bei jedem Geräusch auf. Sie behielt die Bäume im Blick, doch als es dunkler wurde, mussten sie schließlich ihr Lager aufschlagen.
„Diesmal übernehme ich die Wache,“ verkündete Nahkrin und setzte sich im Schneidersitz mit dem Rücken zur Gruppe, die Augen auf den Säumen der Waldlichtung, „Zuin kann mich dann ablösen.“
Doch Elim tat kein Auge zu, fremde Geräusche und Laute drangen aus dem Wald, das Knistern und Knacken der Zweige und Stämme beunruhigte sie sehr. Also setzte sie sich auf und sah in ihr Bündel. Bald fand sie, was sie gesucht hatte. Das Feuer von Remedion fest an die Brust gepresst schlief sie ein.
Sie ahnte nicht, dass sie auch in jener Nacht von großen Jägern beobachtet wurde, die nur darauf warteten, dass sie unachtsam waren.

Die nächsten Tage ritten sie schweigend dahin, die Angst saß jeden von ihnen in den Knochen, zermürbte sie und machte sie angespannt. Nahkrin antwortete auf Fragen nach dem Ende des großen Waldes nur mit kurzen Lauten, sonst blieb er stumm. Auch die anderen beobachteten die Bäume ringsum mit äußerster Achtsamkeit, als warteten sie auf einen Sturm, der sie entwurzeln und über ihre Köpfe brechen lassen würde.
Es wurde nur selten mal gelacht und wenn, dann hörte es sich falsch an und verebbte bald darauf wieder.
Und nie wich das Gefühl, beobachtet zu werden aus dem Schatten der Bäume.
Als sie einmal rasteten entfernte sich Ulfur und kam lange nicht zurück. Besorgt blickte Nahkrin immer wieder in den Wald. Doch das Untier kam nicht zurück.
Sie ritten weiter, es erfüllt jeden mit namenlosen Grauen, was denn ein Monster wie Ulfur so lange gefangen halte konnte.
Doch als sie schließlich das Mittagsmahl ein nahmen, trabte er aus den Schatten der Bäume, einige erschraken, glaubten sie doch, dass es die Verfolger waren. Der Wolf blutete schwer und legte sich schnaufend zu seinem Gebieter. Mit Zorn und Angst in den Augen betastete Nahkrin die Verletzung und langsam näherte sich die Truppe, immer darauf bedacht zwischen sich und dem Ungeheuer des Nahkrin einiges an Platz zu lassen.
Schließlich trat Elim vor, es war wohl ihre Aufgabe, nachdem der Wolf schnappend nach den Tierflüsterer Alachmed gebissen hatte, sich die Verletzung einmal anzusehen. Doch auch sie wurde von dem Ungetüm nicht freundlich empfangen. Doch Nahkrin beugte sich hinab und flüsterte ihm etwas in sein zerrissenes Ohr, auf dass er still liegen blieb. Vorsichtig und immer das Maul und die Klauen Ulfurs im Blick haltend, näherte sich Elim ihn. Und sofort erkannte sie, dass eine riesige Pranke die Seite des Tieres aufgeschlitzt hatte. „Ich...äh, habe noch nie ein Tier behandelt...“ Meinte sie, ohne Nahkrin dabei anzusehen. Doch dieser antwortete nicht, sie fühlte nur seine sengende Verachtung neben sich.
„Nun, könnte jemand mir mein Bündel bringen und setzt etwas Wasser auf das Feuer. Und ich brauche Stoff zum verbinden.“ Sofort wurde ihr ihr Päckchen gegeben und Elim kramte etwas darin, bis sie das Atladaschwurz gefunden hatte. Gründlich zerkaute sie das bittere Gewächs, spuckte es in ihre Hände und rieb es um die Wundränder. Dann gab sie ein paar Tropfen zur Blutgerinnung hinzu und legte schließlich ein paar Streifen alte Lumpen in heißen Wasser ein.
„Das ist, damit die Wunde nicht eitert.“ Erklärte sie und nahm den Stoff aus dem Wasser. Knurrend kommentierte Ulfur die Hitze der Bandagen auf seinem Leib. Als das Ungetüm verbunden war, langte sie in ihren Beutel und drückte Nahkrin ein bisschen Valurkraut in die Hand: „Versucht, ihm das unter sein gewöhnliches Futter zu geben, dann hat er weniger Schmerzen.“ Dann wusch sie die Hände im abkühlenden Wasser und packte ihr Zeug. Sie hatte nicht erwartet, von Nahkrin einen Dank zu erhalten. Und so war es auch.
Er starrte das Gewächs in seiner Hand an und zog die Brauen zusammen, dann wandte er sich ab und nahm seinen Platz vor dem Zug wieder ein.
Elim dachte bei sich, solange er nicht gegen sie stichelte, war das der beste Lohn, den er ihr Zahlen konnte.
Derweil versuchte sie den immer wieder neugierigen und anerkennenden Blicke ihrer Mitreisenden auszuweichen. „Sehr interessant, Eure kleine Vorführung,“ meinte Kinnin und sah sie lächelnd an, dann flüsterte er, „es war gut, dass Ihr es ihm nicht mit barer Münze zurück gezahlt habt,“ er nickte Nahkrins breiten Kreuz zu, „so gewinnt Ihr Respekt hier. Manch einer würde das Mistvieh nämlich gern verenden sehen...“ Er lächelte düster und Elim rann ein eisiger Schauer über den Rücken.
„Ich mache keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Ist beides einerlei. Und beide Leben sind gleich wertvoll.“ Meinte Elim streng und sah den Waldmann scharf an. Der hob abwehrend die Hände und zog sich zurück.
Elim schalt sich gleich darauf, den freundlichen Kinnin verprellt zu haben. Sie würde ihn bald um Verzeihung bitten.
Doch was noch viel dringlicher war, war die Gefahr, die zwischen den Bäumen lauerte. Etwas hatte den stattlichen Hund des Nahkrin so schwer verletzt, dass er sich nur mit Mühe zurück zu ihnen hatte flüchten können. Auch jetzt trottete das Tier apathisch neben ihnen her. Und Elim musste an ein altes Sprichwort der Großmutter denken: Wenn Dunkel lauert dir, siehst du es erst am Tier. Es war wohl von ihr selbst erdichtet.
Aber der Gedanke an die tote Gran traf sie mit Wucht und sie musste ein paar mal die die Nase hochziehen. Doch die Alte hätte sicher nicht gewollt, dass Elim traurig war. Also versuchte sie tapfer zu sein und umklammerte die Zügel fester.
Ihr Pferd, eine kaltblütige, ruhige Stute wieherte leise und scheute etwas nach rechts. Sie waren nah. Im geheimen hatte Elim sie Zeo getauft und sie und das Pferd starrten nervös in den dichten Wald.
Je mehr das Licht des Tages wich, desto düsterer wirkten die Stämme der alten Wipfel und Elim wünschte sich, wieder die Sonne sehen zu können, ohne den Schatten der Bäume auf sich zu spüren.
Bald erreichten sie ein Wegstück, an dessen Rand eine steile Klippe ins nirgendwo führte. Elim war stets darauf bedacht, ihr Pferd nicht zu nahe an den Abgrund zu führen. Sie bemerkte die Kurzatmigkeit von Archo und trat nahe an ihn heran, um mit ihm zu sprechen. „Wie geht es Euch? Ist es die Höhe?“ Fragte sie den Mann, dessen Gesicht kalkweiß war und er sah sie nur flüchtig an und erwiderte. „Ach, macht Euch keine Sorgen, meine Dame. Um mein Wohlbefinden solltet Ihr Euch nicht kümmern müssen, die paar Meter...“ Doch als sich Toro an dem Stehengebliebenen vorbei drückte und dieser einen panischen Aufschrei unterdrücken musste, kramte Elim kurz in ihrem Bündel und drückte dem Mann etwas in die Hand. „Einfach kauen, dann werdet Ihr ruhiger.“ Der Mann nickte, presste die Lippen zusammen und ging mit langen Schritten voraus. Elim fragte sich, ob sie nun nicht den Stolz des Boten verletzt hatte, doch es war ihre Aufgabe, für das Wohl der Truppe zu sorgen, dafür war sie hier.
Gegen Mittag rasteten sie auf einer Art Plateau, dass zur linken Hälfte mit Bäumen eingerahmt war. Langsam begann sich die Anspannung zu lösen, schon lange hatte man keine Anzeichen mehr dafür erkennen können, dass sie verfolgt wurden. Die Lage war ruhig, ein frischer Luftzug streifte ober die Lichtung. Elim fragte sich, wo sie wohl waren. Sie beobachtete wie Zuin eine Karte entrollte und Nahkrin und er steckten ihre Köpfe darüber, neugierig trat sie heran und betrachtete sie etwas genauer.
Noch nie hatte sie eine so detailreiche Karte von Kamaldun gesehen. Von den Wüsten in Süden bis zu den schroffen Berghängen im Norden waren alle Städte und Flüsse, alle Wälder und Dörfer verzeichnet. Sie brauchte eine Weile, bis sie schließlich Eilstatt fand. „Und wo genau sind wir?“ Wollte Elim von Zuin wissen, konzentriert mit dem Finger über die Karte fuhr. Stattdessen zeigte Nahkrin auf einen Punkt im tiefsten Wald.
Weit waren sie noch nicht von der Stattergegend gekommen und Elim konnte sich langsam vorstellen, wie riesig Kamaldun nun wirklich war. Sie setzte sich und knabberte ein paar Früchte. Bald würde ihr Vorrat verbraucht sein.
Also trat sie zögerlich an Nahkrin und bat ihn, im Wald etwas suchen gehen zu dürfen. Er nickte nur flüchtig und wies Olym und Ulim an, sie zu begleiten. Elim war froh, dass sie nicht allein in den düsteren Wald musste.
Die drei machten sich auf zwischen die dichten Sträucher und Büsche und Elim entdeckte sogar etwas Valurkraut, das unter einem Cucintastrauch gedieh. Hastig stopfte sie es in ihr Bündel und machte sich daran, Beeren oder andere Gewächse zu finden. Allerdings fand sie nur ein paar wilde Rüben unter einer Eisenbuche. Vorsichtig grub sie das Gemüse aus und steckte es ebenfalls in ihrem Beutel. Die Brüder Olym und Ulim unterhielten sich derweil leise. Plötzlich hörte Elim ein Rascheln und schreckte auf, mit hämmerdem Herzen sah sie zu dem Dickicht hinüber, aus dem es gekommen zu sein schien. Doch dann war es wieder still und Elim gab einem Tier die Schuld.
Doch einen Augenblick später raschelte es wieder, diesmal stärker und sogar die Krieger waren auf die Bewegung aufmerksam geworden. Mit einem Schwung zogen sie ihre Waffen und warteten ab, die Stille zog sich wie die Pfeilsehnen eines lauernden Jägers.
Dann brach auf einmal ein riesenhaftes Untier aus dem Unterholz. Elim sah nur noch lange Reißzähne und struppiges, schmutzig braunes Fell, dann hatte sich das Ungeheuer auf Olym gestürzt. Mit einem Schrei wich Elym zurück, ihre Hand fand einen kleinen Stein und sie warf ihn gedankenlos auf das Tier. Schnauffend ließ die Bestie von dem Mann ab und wandte sich Elim zu. Olym blieb bewusstlos liegen, war er tot?
Elim wich ängstlich zurück, doch ihre Beine verhakten sich in den Wurzeln der Bäume.
Geifernd trat das Wesen auf sie zu, Sabber troff von seinen langen Eckzähnen. Es hatt wohl entfernt Ähnlichkeit mit einer Katze. Einer riesigen, hässlichen Katze.

Ulim stieß einen Schrei aus, er rief um Hilfe. Doch die anderen würden wohl zu lange brauchen, sie waren schon zu tief im Wald. Elym musste Zeit gewinnen. Doch sie fand nichts, was in ihrer Hand eine Waffe sein konnte. Dann stürmte Ulim vor, den Streitkolben erhoben, um ihn auf das Untier niedersaußen zu lassen. Mit einem Krachen traf er auf den Schädel des Monsters, dass mit einem Heulen niederging.
Aus dem Gebüsch, aus dem das Untier gekommen war, drang ein Schaben und Rascheln, ein Knurren und Fauchen. Weitere Ungeheuer sprangen aus dem Dickicht. Sie sammelten sich auf dem Platz und sahen Ulim, der tapfer mit erhobener Waffe vor Elym stand misstrauisch an. Dann griff einer, ein besonders großes Raubtier mit dunklen Flecken auf dem Rücken, den Alten mit einem schnellen Satz an. Elym entfuhr ein Schrei und sie versuchte noch weiter nach hinten zu kriechen, weg von den Kämpfenden. Die anderen Monster, die bestärkt durch die Unterlegenheit des alten Mannes sich näher heranwagten, schnappten nach Ulim. Und dann ging alles ganz schnell. Eines der Monster packte Ulim und schleuderte ihn zu Boden, einige Meter flog er durch die Luft. Keuchend sah Elim, wie er mit einem Knacken zu Boden ging.
Sie wimmerte und zog sich noch weiter zurück, die Füße an den Körper gepresst. Jetzt würde niemand die Bestien davon abhalten, sie zu zerfleischen. Aber auf einmal erklang ein Gepolter und ein Lärm hinter Elim und sie kauerte sich noch kleiner zusammen, wollte verschwinden.
Doch dann brach die Truppe um Nahkrin durch das Unterholz, die Schwerter, Bögen und Messer gezogen zum Kampf. Sie stürzten sich auf die Monster, die mit Hieben ihrer mächtigen Pranken versuchten, die Angreifer abzuwehren. Doch langsam gewannen die Kämpfer die Oberhand und Elim kroch aus ihrem Versteck heraus. Schließlich flohen die Wesen in den Wald und hinterließen eine Schneise der Verwüstung.
Erleichtert und mit zittrigen Knien rapelte Elim sich wieder auf, ihr Magen fühlte sich flau an von der vergangenen Angst. „Danke, dass... dass Ihr mich gerettet habt...“ Stammelte sie und lehnte sich schwer atmend an einen Baum. Nahkrin warf ihr einen kurzen Blick zu, dann beugte er sich zu Olym hinunter. Zuin betrachtete Ulim und schließlich trug man die Männer zurück zum Lager. Während die Männer sie unter den Armen und an den Beinen fassten, zog Elim sich von Nahkrin einen wutentbrannten Blick zu. „Seht nur, was Ihr angerichtet habt. Ihr seid völlig nutzlos. Ihr hättet Hilfe holen, sollen, doch selbst dafür seid Ihr nicht zu gebrauchen!“ Herrschte er sie an und Elim zuckte schuldbewusst zusammen. Sie hatte sich wirklich verkrochen wie ein kleines Kind!
„Ich sollte gehen...“ Murmelte sie und wandte sich ab. Doch Nahkrin machte einen hastigen Schritt auf sie zu, ergriff ihren Arm und sagte laut. „Ihr werdet nirgends hingehen, solange Ihr nicht meine Männer versorgt habt, verstanden?“ Elim nickte eingeschüchtert, dann ließ der große Mann sie los und sie folgte ihm zurück ins Lager. Die Stellen, an denen sich seine groben Finger um ihren Arm geschlossen hatten, schmerzten heiß.
Mit bebender Unterlippe und beschämt trat sie zurück in den Baumkreis und entschied, dass sie zuerst Ulim ansehen musste.
Ein feiner, roter Rinnsal lief über seine Stirn, das weißgraue Haar war dunkel verfärbt. Sie tastete nach seinem Herzschlag und war unendlich erleichtert, als sie ihn schließlich doch kräftig und ausdauernd fand. Sie reinigte und verband die Wunde und schiente auch den gebrochenen Arm. Ein paar Bisswunden musste sie noch säubern, dann ließ sie den Mann schlafen. Auch Olym war wohl glimpflich davon gekommen. Er hatte einen tiefen Riss im Bein doch mit einem festen Verband konnte Elim sogar verhindern, dass er genäht werden musste. Danach verkroch sie sich und schnürte ihr Bündel zusammen.
Sie biss sich strikt auf die Lippe um nicht vor der Truppe in Tränen auszubrechen, sie wollte die Lage nicht noch verschlimmern. Ihre Wangen glühten vor Scham und Wut. Auf sich selbst und auf ihre dumme Idee, diesen Menschen helfen zu können. Sie war wohl doch nur ein dummes Mädchen, dass nie aus seinem kleinen heimeligen Dorf hätte verschwinden sollen. Das für immer die freundliche Hebamme war oder Arbeiter versorgte, die vom Dach gefallen waren.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und Elim drehte sich um. Es war Zuin, sein Blick war weich und ein bisschen traurig. „Es ist schon gut Mädchen,“ meinte er und ein feines, aufmunterndes Lächeln spielte um seine Mundwinkel, „Ihr wusstet es nicht besser, ich weiß, Ihr werdet wachsen. Doch solltet Ihr wirklich schon von uns gehen wollen, bald werden wir Thralin erreichen, von dort könnt Ihr wieder nach Süden aufbrechen...“ Er sah sie mit undeutbarem Blick an, dann wandte er sich ab.
Einige Männer warfen Elim einen mitleidigen Blick zu, doch es waren auf wütende oder missmutige Blicke dabei. Nahkrin hingegen rauchte förmlich vor Zorn, er stierte mit zusammengezogenen Brauen in die Finsternis zwischen den hohen Stämmen.
Nach einer Weile zogen sie weiter, doch Elim blieb zurück, sie schloss erst am Ende der Karawane an. Denn sie wollte sich den Blicken der anderen und ihren freundlich gemeinten Worten entziehen und für sich allein sein. Wegen ihr hätten die Männer fast sterben können, einen Moment hatte sie sogar gedacht, sie wären schon tot.
Bald setzte ein grauer Nieselregen ein, wie feine Schnüre zog sich das Wasser vom Himmel. Es war Elim ganz recht, so wurde sie von niemanden in ihren trüben Gedanken gestört. Nach einiger Zeit, es wurde langsam dunkel, erreichten sie ein Wegkreuz. Es zeigte nach Thralin, aber der Pfeil zurück deutete nach Eilstatt und Elim seufzte schwer. Kinnin ließ sich zurückfallen und sah sie merkwürdig an, dann meinte er, einen Blick auf die zwei Verletzten, die sich mühsam auf dem Pferd hielten. „Gräm Euch nicht, Ihr gehört zu unserer Truppe genau so wie die anderen. Und seid deswegen genau so schützenswert,“ Aren, der vor ihnen ritt drehte sich um und nickte ihr freundlich zu, „Ich denke, Nahkrin wird das genauso sehen, er ist nur besorgt. Etwas bekümmert ihn... Noch nicht oft habe ich Petolaín, Waldkatzen, so weit im Westen gesehen,“ auf Elims verwirrten Blick erklärte er, „ich kenne sie aus meiner Heimat, wobei ich ihnen auch noch nicht oft begegnet bin. Doch Ihr habt nicht verschuldet, dass sie hier sind.“ Er warf Nahkrin einen finsteren Blick zu. Elim wunderte sich, über sein offensichtlich feindseliges Verhalten gegenüber dem Nordmann, doch sie beließ es dabei, erst mal das Verhältnis der beiden zueinander zu erkunden.
In dieser Nacht ritten sie weit, weiter als sonst, denn sie konnten keinen guten Rastplatz finden, bei dem sie nicht bis auf die Knochen durchnässt wurden.
Elim fror elendlich, sie konnte nicht aufhören, an das warme Feuer zu denken, an dem sie immer mit ihrer Großmutter gesessen hatte. Sie vermisste Gran fürchterlich und obwohl sie erst eine Woche unterwegs waren, kam es ihr wie eine Ewigkeit vor. Und der Tag des Todes ihrer Großmutter rückte trotzdem näher. Sie richtete den Blick nach vorne, verbissen durch die grauen Regenschnüre.
Da erblickte sie einen Lichtschimmer, direkt vor der kleinen Truppe. Und sie bewegten sich geradewegs darauf zu. Zeos Hufe klapperten plötzlich auf hartem Stein, nicht mehr auf moosigem Waldboden. Und auch den anderen schien aufzufallen, dass sie wohl bald wieder den Himmel sehen würden. Aufatmend sah man dem schmalen Lichtstreif entgegen.
Elim konnte die Erleichterung in den Gesichtern der Männer sehen und obwohl es noch nicht aufgehört hatte, zu regnen, war man froh um die Aussicht auf etwas mehr Freiheit und nicht die ständige Beengtheit des Waldes.
Schließlich erreichten sie den Rand. Der Schein einer Laterne fiel auf den Schatten der Bäume, der die Ebene reichte. Sie bestrahlte die hügelige Landschaft, doch Bäume waren nicht mehr zu sehen. Das war Elim ganz recht. Zwar liebte sie es, in ihrem Heimatdorf herum zu streunen und die Wälder um das Örtchen unsicher zu machen, doch der düstere Ort, der hinter ihr lag war nicht mit dem lichten Wäldchen ihrer Kindheit zu vergleichen.
Staunend versuchte sie jedes Detail dieser Landschaft in sich aufzunehmen, während sie andächtig auf ihrem Pferd den Kopf wandte. Sie registrierte, dass auch andere Männer erstaunt waren über das fremde Gebiet.
Sanfte, hellgrüne Hügel, durchzogen von felsigen Adern erstreckten sich, so weit das Auge reichte. Inmitten dieser kleinen Anhöhen war in weiter Ferne eine Ansammlung von Lichtern zu sehen, wie ein Bienenstock in einem großen Baum. Die Stadt Thralin.

Bei Nacht waren ihre Türme und Zinnen, ihre Tore und Fenster nicht gerade einladend, die Fassade war dunkel und glatt. Doch sie hielte unaufhörlich darauf zu. Und Elim fragte sich langsam, wann sie halten würden. Sie war hundemüde, die Knochen schmerzten sie von dem langen Marsch und ihr Magen knurrte noch dazu.
Doch es ging immer weiter und weiter. Murrend sahen ihre Mitreisenden in den Himmel, ob nicht Besserung in Sicht war. Elim nickte manchmal sogar ein, sie musste sich konzentrieren, nicht einzuschlafen.
Eine halbe Ewigkeit später, es kam ihr vor wie Jahre, rasteten sie schließlich unter einem Vorsprung und Nahkrin rief alle an, ihm zuzuhören.
„Wir werden einige Tage in Thralin verbringen, ich kenne dort jemanden, der uns Unterschlupf gewähren wird. Es steht jedem frei, zu tun und zu lassen was er will, ich stelle euch allen frei, was ihr tun wollt. Wenn wir allerdings jetzt nicht lange rasten, können wir bei Anbruch des Tages schon dort sein. Was meint ihr?“ Und er warf einen erwartungsvollen Blick in die Runde. Einige seufzten schwer, andere schwiegen, die Lider schwer vom langen Wachen. Doch schließlich stimmten alle zu und man machte sich auf nach Thralin.

„Mein Gott, wie seht ihr denn aus? was hast du mir da ins Haus gebracht, Brüderchen?“ Die kleine Frau lief mit flatternden Händen durch die Stube, sammelte nasse Mäntel und Jacken ein und war im Allgemeinen sehr aufgebracht.
Sie waren durch Thralin geritten, das bei Nacht nur seine Schönheit erahnen ließ. Die war kreisrund aufgebaut, in der Mitte der Fürstenpalast, drumherum die Viertel, absteigend nach dem Reichtum der Bewohner. Hatte Elim noch am Rande der Stadt Bettler in den Hauseingängen huschen sehen, war es leerer geworden. Bis sie zu einem Haus in einem der gehobeneren Viertel gelangt waren und Nahkrin energisch gegen die Tür geklopft hatte.
Eine Frau hatte geöffnet, das selbe dunkle Haar und die gleichen wachen Augen wie der Anführer. Elim wusste sofort, dass sie wohl das gleiche Blut teilten.
Sie hatte die Mannschaft hereingebeten und dann Ulfur eine Schale frisches Fleisch hingestellt. Nun wuselte sie herum wie ein aufgescheuchtes Huhn und stellte Stiefel und Waffen in eine Ecke und Männtel und Schals in eine andere. Derweil tropfte die Gesellschaft ihren Flur voll.
„Alle seid ihr ja ganz schmutzig und durchgefroren. Kommt nur herein in die gute Stube! Ich setzte etwas Suppe auf und dazu etwas Brot!“ Nahkrin seufzte und rollte die Augen. Die Frau stemmte daraufhin die Hände in die Hüften und meinte lautstark: „Nahrkin Bjerch , auf dass du mein Bruder bist, aber du bist ein Sklaventreiber. Schau sie dir doch mal an, alles total übermüdet. Du solltest einmal alles etwas ruhiger vorantreiben.“ Der Hüne warf seiner Schwester nur eine angestrengten Blick zu, dann wieß er auf die zierliche Frau und sagte: „Das ist Deirjé, sie ist, wie man unschwer erkenne kann meine Schwester.“ Dann nickte er der Truppe zu und sie folgten ihm in die Küche. Da am Tisch nicht genug Platz war, setzte Elim sich auf den Boden und Deirjé reichte ihr mit warmen Blick eine Schale Suppe und etwas Brot. Mit neugierigen Augen betrachtete sie das Mädchen, doch zu Elims Erleichterung stellte sie keine Fragen zu ihrem Nutzen oder Zweck.
Erleichtert schaufelte Elim die Parunnasuppe in sich herein und konnte sich sogar einen Nachschlag sichern.
Zufrieden half sie der jungen Frau beim Abwasch und dabei, für zwölf weitere Personen Betten zu errichten. Elim würde bei der Gastgeberin schlafen, aber diese fragte sie sicher dreimal, ob sie damit einverstanden war. Sie war eine so freundliche Frau, dass das Mädchen gar nicht ablehnen konnte.
Doch bevor sie sich mit Deirjé in deren Zimmer zurückziehen konnte, trat Nahkrin auf sie zu, mit seiner undurchdringlichen Miene und die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
„Ihr werdet bei Anbruch des Tage wieder zurück reiten, Deirjé wird Euch genug zu Essen mitgeben. Hier, eine kleine Entlohnung für Eure Mühen.“ Er drückte ihr eine Goldmynt in die Hand, das kirschgroße Geldstück war warm, er hatte es wohl einige Zeit in der Hand gehalten. Daher wusste Elim, dass seine Entscheidung wohl bedacht war und dass es wohl nichts daran zu rütteln gab. Und sie selbst zweifelte schon seit der Verwundung von Olym und Ulim an ihrer notwendigen Anwesenheit bei dieser Expedition. Darum meinte sie schnell, mit einem sanften Lächeln: „Danke, dass ich Euch und Eure Männer kennen lernen durfte, Herr Nahkrin.“ Er sah sie nur nachdenklich an und nickte, dann ging er fort.
Elim vergoss in dieser Nacht stille Tränen, doch ob sie damit Deirjé weckte, wusste sie nicht.

Die Rückkehr




Bei Tag war Thralin wirklich wunderschön, die Häuser waren aus dem harten Fels des Umlands gehauen. Spielende Kinder und Edelleute, aber auch Händler in Karren und Schausteller zog es genau wie Elim auf den nahen Marktplatz. Sie hatte beschlossen, nicht alleine heim zu reiten, der Angriff der Petolaín saß ihr noch in den Knochen.
Mit dem Goldmynt bezahlte sie schließlich einen Bauer, der sie auf seinem Karren in Richtung Eilstatt mitnahm.
Sie kamen viel zügiger voran als ihre behäbige Truppe, vorallem mussten sie wenig rasten und der Mann erzählte Elim viel von seiner Tochter und seiner Frau, die auf ihn wartete. Und er fragte sich, ob sein jüngstes Kind schon auf der Welt war. Elim konnte den Stolz in seinen Augen sehen. Sein Name war Talum.
Elim war sehr froh, dass er nicht zudringlich wurde. In der ersten Nacht unter freien Himmel hatte sie sich noch gefürchtet, doch der Mann war in einen tiefen, schnarchenden Schlaf gefallen. Und so spähte nur sie hinauf in den dunklen Nachthimmel, während das Lagerfeuer knisternd erlosch. Fragte Elim sich, was wohl nun die Truppe tun mochte.
Sie waren zweifelsohne auf dem Weg nach Norden, zum Berg Gelbor, um Beistand vom Orakel zu erbitten. Viele Abenteuer lagen vor ihnen, doch Elim war kein Teil mehr davon. Einerseits war sie unendlich traurig, andererseits war sie froh, der gedrückten Stimmung, dem schlechten Essen, den ewigen Märschen und dem missmutigen Nahkrin entflohen zu sein. Jetzt, wo sie den Ungemach langer Reisen kannte, war es für sie nicht mehr so schwer, sich wieder nach Hause zu wünschen.
Diesmal allerdings nahmen sie eine andere Route, eine fester befestigte und Elim wunderte sich, warum sie nicht auf dieser heran geritten waren. Es wäre auch für die Pferde der Truppe einfacher gewesen, auf diesem geraden Pfad.
Knatternd fuhr der Karren über die befestigte Straße. Talum erzählte dem Mädchen, dass dies der Weg sei, der der Länge nach durch ganz Kamaldun verlief. Es gäbe auch einen, der quer durch das Land zog, doch den hatte er noch nicht bereist. Er kam viel herum, meinte er, oft müsse er fremde Städte und Orte bereisen, um seine Waren, unter anderem Parunnaknollen und Tobakkblätter, die erst selbst anbaute, zu verkaufen. Er konnte davon auch ganz gut leben. Und er hatte Recht. Aus dem was er sagte und wie er lebte, konnte Elim schließen, dass auch sie für so ein Leben wohl bestimmt war. Für Ruhe, ein vorhersehbares Dasein. Und nicht für wilde Kämpfe und lange Reisen. Auch nicht für Schlachten oder Drachen, wie die Helden aus Großmutters Geschichten. Sie war nur eine einfache Heilerin, sie konnte lesen und schreiben, nähen und sticken, sie mochte die einfachen Leute, das gute Essen. Und für die raue Wildniss war sie einfach nicht geschaffen, erkannte sie jetzt. Sie gratulierte sich selbst zu dem Schluss, konnte aber nicht verhindern, dass eine seltsame Wehmut sie ergriff, wenn sie den immer weiter in die Ferne rückenden Gelbor betrachtete. Wie ein mahnender Finger ragte er in die Höhe, der auf Elim zeigte. Sie schauderte und zog den Mantel enger um sich.
Als sich schließlich die Wege von Talum und Elim trennten, war sie sogar ein wenig traurig. Sie drückte den Mann herzlich, was diesen zwar zu überraschen, aber was ihm zumindest nicht unangenehm war. Er bog dann nach Priorstatt ab und wünschte ihr eine gute Weiterreise und alles Gute. Elim winkte noch lange, dann lief sie letztendlich zu Fuß weiter.
Am Abend erreichte sie Eilstatt. Und freute sich wie ein kleines Kind, die gewohnten Hütten und Häuser wiederzusehen, den Fluss Droin, der sanft über die Felsen glitt und doch so reißerisch sein konnte. Und den Wald, der an das Dorf angrenzte und von dem sie nun wusste, dass er doch nicht so klein war, wie sie immer geglaubt hatte.
Elim bog in den Garten zu ihrem Haus ein und sah dort ihre Mutter ein Beet umgraben. Sie beobachtete sie lange schweigend, nahm war, dass einige Falten im Gesicht der Mutter sich vertieft hatten und schließlich sah Fia zu ihr auf. Sie erhob sich langsam, die Schaufel landete mit einem dumpfen Laut auf der aufgeworfenen Erde, dann schloss sie das Mädchen wortlos in die Arme. „Ich bin so froh, dass du wieder hier bist, mein Kind! Ach, ich muss es Akir sagen!“ Rief sie aus und ließ Elim los, doch das Mädchen hielt sie am Ärmel fest, bevor sie den kleinen Bruder suchen konnte. Sie spürte keinen Groll mehr in sich, gegen ihre Mutter. „Es wäre mir lieber, du würdest erst ein mal etwas Eintopf aufsetzen, ich verhungere!“ Meinte sie mit einem herzlichen Lächeln und fröhlich und geschäftig machte Fia sich daran, etwas für Elim aufzuwärmen.
Während das Essen vor sich hin köchelte, wollte die Frau alles von Elims Reise wissen und auch den Grund für ihre frühe Rückkehr.
So erzählte das Mädchen alles, von den Männern, die sie leider nur zu kurz hatte kennen lernen dürfen, über die lange und beschwerliche Reise, über ihr Pferd Zeo, das sie so verlässlich getragen hatte. Sie berichtete, dass sie Waldkatzen getroffen hatte und dass sie Ulfur, Olym und Ulim versorgen hatte müssen. Und sie sprach über ihren Zwist mit Nahkrin, wie er sie immer wieder angefeindet und schließlich klammheimlich zurück nach Eilstatt geschickt hatte.
Beklommen starrte Fia ins Feuer und fragte Elim schließlich, ob sie noch sehr betrübt war. Doch sie schüttelte den Kopf und lächelte ehrlich. Die Woche, die sie fort gewesen war, hatte ihr gezeigt, dass sie wohl doch eher nach Eilstatt gehört, zu ihren Leuten, am Fluss Droin, wo nie etwas seltsames geschah.

Ein paar Tage später wurden sie zu Onie gerufen, das Kind, das erst im Winter hätte da sein sollen, kam schon. Elim und ihre Mutter kämpften und rangen um das Leben des Neugeborenen, aber es war einfach noch zu jung und klein. Weinend hielt die Frau ein in Tücher gewickeltes Bündel in den Armen, sie wiegte es wie einen Säugling und Elim musste den Raum verlassen, damit die Mutter nicht sah, dass auch ihr die Tränen kamen.
„Es ist nie einfach, nichts ist einfach. Aber wenn ich an andere Kinder denke, die gesund und munter durch meine Hände in die Welt gekommen sind, muntert mich das doch immer sehr auf.“ Fia stand neben Elim und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Onie, sie tut mir so leid. Was wird aus ihr?“ Fragte sie und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. „Sie wird viele andere Kinder bekommen, so wie Ni'koa es will und dann wird die Erinnerung an dieses vielleicht irgendwann aufhören zu schmerzen. Mach dir keine Sorgen um sie, sie ist stark.“ Elim nickte und betrat wieder mit Fia das Zimmer, in dem Onie noch immer das tote Kind in den Armen hielt.
Fia wagte nicht, es ihr zu nehmen, doch sie strich der klagenden Frau über den Kopf und flüsterte ihr beruhigende Worte zu.
Dann gab sie Nenowin, dem Mann der Frau, der kalkweiß im Gesicht am Feuer in der Stube saß ein blutungsstillendes Kraut für Onie und einen Schlaftrank für das Paar. Er nickte und sah dann stumpf ins Feuer, der funkelnde Glanz war aus seinem Blick entschwunden, den Elim immer wieder bei seinen Späßen gesehen hatte. Nun sah er aus, als wäre er um so viele Jahre gealtert.
Elim ließ die beiden nur ungern allein, doch sie folgte ihrer Mutter und versprach, am nächsten Morgen wieder vorbei zu kommen, um nach Onie zu sehen.
Sie besuchte das Paar die ganze Woche und jeden Tag schienen die beiden etwas mehr wieder ins Leben zurück zu finden. Fia hatte Recht, sie waren stark.

Ein aufziehender Sturm sorgte schließlich dafür, dass den beiden Heilerinen nicht die Arbeit ausging. Am späten Nachmittag, eine Woche später, fegte eine heftige Böe durchs Dorf und riss einen Arbeiter vom Gerüst, auf einem Dach, dass er winterfest machen wollte. Er brach sich dabei das Bein.
Am nächsten Morgen, als der Himmel begann, sich langsam wieder aufzuklaren, fiel ein Mann, wieder durch einen Windstoß in den Droin und ertrank fast. Als man ihn retten konnte, bekam er durch die schneidende Kälte des Flusses und durch das Wasser, das er eingeatmet hatte, eine Entzündung der Lungen und musste lange versorgt werden. Also war Elim gut beschäftigt und bemerkte gar nicht, dass drei Wochen vergangen waren.
Sie war gerade bei Onie zu Besuch, die ihr vorsichtig Tee kochte, denn sie musste sich noch schonen. Die Frau stellte ihr kleine goldene Plätzchen hin und Elim tadelte sie, sie solle noch nicht so viel arbeiten, auch nicht in der Küche. Da drehte Onie sich um und sah Elim mit einem schiefen Lächeln an, das Mädchen meinte eine Spur der Tränen über das tote Kind zu sehen, und meinte. „Das lenkt mich ab, muss schließlich auch im Kopf wieder gesund werden, verstehst du?“ Elim sah sie lange an, dann nickte sie und griff zu den trockenen Keksen. Sie lobte die Frau für ihre Backkünste und ließ sich noch ein paar schmecken, bis Onie ihr eine Tasse Saruttatee hinstellte. Beinahe verbrühte sie sich an dem heißen Getränk und setzte den Becher auf dem Tisch ab. Sie erkundigte sich nach Onies Gesundheit, nach der Von Nenowin und der ihres Vaters Biorn. Die Frau nahm am Tisch Platz und berichtete Elim ihre Sorgen, um den toten Sohn, den sie beerdigt hatten, über ihren Ausfall im Geschäft und über die tumbe Trauer ihres Mannes. Das Mädchen seufzte und sah ihren Becher schwermütig an, das Schicksal von Onie ging ihr sehr zu Herzen, doch sie hatte keine Möglichkeit gesehen, dass Kind zu retten.
Plötzlich polterte Nenowin herein. Sein Blick glühte und richtete sich auf Elim und sie sah ihn erschrocken an. „Da draußen ist einer, der sucht nach dir. So einen habe ich hier noch nie gesehen!“
Elim sprang auf und folgte dem Mann mit einem seltsamen Gefühl im Bauch. Einer bösen Vorahnung. Und er führte sie zum nördlichen Rand des Dorfes, wo schon einige Männer mit Heugabeln und Messern warteten. Dort lag zusammengekauert auf einen Stock gestützt ein Mann. Elim trat vorsichtig näher. Er hob den Blick und schwarzfunkelnde Augen fixierten sie, mit einem starren Blick eines Wahnsinnigen. Und da erkannte sie ihn.
Es war Nahkrin.

Lichtschimmer




Als der Mann Elim erblickte, stieß er einen tiefen Seufzer aus und fiel einfach um. Mit erhobenem Hammer näherte Krioll sich dem Kerl, stieß ihn mit dem Fuß an und meinte dann. „Er ist wohl tot.“
Hastig eilte Elim zu ihm und tastete nach seinem Herzschlag. Es schlug, doch nicht sehr kräftig. Sie schüttelte den Kopf und rief laut: „Holt meine Mutter und helft mir, ihn nach Hause zu tragen.“ Langsam näherten sich auch die anderen Männer und als sie sahen, dass er sich nicht regte, fassten sie ihn unter den Armen und Beinen und folgten Elim zum Haus der Mutter. Die kam ihnen schon entgegen gerannt und betrachtete den Patienten. Urplötzlich verdüsterte sich ihr Blick und sie ging wortlos voraus.
Sie legten den bewusstlosen Mann notgedrungen auf Elims Bett, bis sie eine bessere Liegemöglichkeit für ihn fanden. Dann verscheuchte Fia die Männer und wandte sich an Elim. „Er hat nach dir gesucht. Wer ist er?“ Und sie musterte Elim mit einem strengen Blick. „Das ist Nahkrin.“ Antwortete sie schlicht. Dann kniete sie sich neben ihn und versuchte heraus zu finden, was denn dem Verwundeten fehlte. Auch Fia half ihr, den schweren Mann auf zu heben. Seine Haut war unglaublich heiß, und ein feiner, nasser Schweißfilm lag auf ihr. Er hatte wohl hohes Fieber. Fia schickte Elim an, einen Sud aus Laydunnblättern herzustellen und hastig setzte Elim Wasser auf und warf einige Blätter hinein. Sie fühlte sich seltsam kribbelig, konnte nicht erwarten, dass der Trank fertig wurde und sie ihn dem Verletzten geben konnte. Was wenn er wirklich starb?
Schließlich betrat sie wieder das Zimmer. Inzwischen hatte Fia Nahkrin das Hemd und den Pelzmantel ausgezogen, sie hingen lose über einen Stuhl. Sie waren verschlissen und schmutzig, ein großes Loch klaffte bei beiden am linken Ärmel.
Scheu trat Elim heran. Oft schon hatte sie Männer behandelt, sie waren dabei sogar ganz nackt gewesen, doch sie wusste, dass es dem ruppigen Kerl gar nicht recht wäre, wenn sie ihn nun so einfach anschauen konnte, ohne dass er etwas tun konnte. Also konzentrierte sie sich auf die Wunde, die Nahkrin am Arm hatte.
Sie war seltsam angeschwollen und eitrig nässend. Noch nie hatte Elim etwas derartig schlimmes gesehen. Ihr wurde von dem Geruch sogar übel. Doch Fia presste fachkundig auf die Wunde um zu sehen, ob schon alle Säfte aus gedrungen waren. Sie trug Elim erneut auf, heißes Wasser und ein Tuch zu bringen. Damit säuberte sie den Schnitt, rieb etwas Nimhblatt um die fasrigen Schnitte und verschloss alles mit einem Verband. Dann flöste sie, so gut es eben ging, dem Bewusstlosen den Sud aus Laydunnblättern ein und bereitete kalte Wickel für seine Beine vor. Zu Elims zog sie ihm nur die schweren Stiefel aus und krempelte die Hosenbeine hoch.
Als er endlich versorgt war, war die Nacht schon lange hereingebrochen und Fia hatte eine Kerze neben Elims Bett gestellt. So wachte sie die Nacht neben dem Lager des Nahkrin, wechselte seinen Verband, wickelte seine Beine frisch ein und zwang ihn, wenn er denn mal aufwachte, etwas von dem Laydunnsud zu trinken. Doch reden konnte sie nicht mit ihm, meist verdrehte er wie toll die Augen und sackte in sich zusammen.

Elim musste wohl eingenickt sein, denn sie wachte von einem lauten Geräusch auf. Nahkrin warf sich wild auf seiner Matraze herum, die Augen zuckten wirr unter den Lidern.
Das Mädchen fürchtete, dass er von Bett fallen könnte und versuchte, ihn festzuhalten. Doch sie hätte genauso gut probieren können, einen fallenden Baum zu fangen. Also tat sie das einzige, was ihr einfiel. Sie strich sanft über die verschwitzen Locken, die Nahkrin wirr ins Gesicht und über das Kopfkissen fielen und murmelte aufmunternde Worte.
Der Mann stieß einige markerschütternde Schrei aus, dann wurde er ruhig. Seine Glieder erschlafften und Elim deckte ihn wieder bis zu den Schultern zu.
Im Morgengrauen kam Fia und löste Elim ab. Diese wankte in das Zimmer der Mutter und schlief noch in ihren Kleidern ein.
Erst am Mittag erwachte sie wieder, nahm ein Stück Brot in ihr Zimmer und aß es schweigend, während sie die Mutter beim Nähen beobachtete. Sie flickte die Löcher in Nahkrins Jacke und Hemd. Also hatte sie ihn noch nicht aufgegeben.
Leise trat Elim an das Bett des Kranken. Er war unheimlich fahl im Gesicht, und ein kalter Film zog sich über seine Haut. „Ist...ist er tot?“ Fragte Elim ihre Mutter und diese legte ihr Nähzeug weg. Tränen stiegen in die Augen des Mädchens. „Noch nicht.“ Antwortete die Frau, doch ihr Blick trübte sich. „Doch es geht ihm wirklich schlecht, ich kann nicht sagen, ob er diesen Tag überleben wird. Er hat hohes Fieber und in seinem Blut ist ein Gift, das ihn langsam zugrunde richtet. Aber er ist zäh, vielleicht schafft er es ja.“ Doch die Miene, die sie bei Gesagten aufsetzte machte Elim klar, dass sie nicht so recht daran glaubte.
Elim setzte sich auf den Boden und berührte die Stirn des Kriegers. Sie war glühend heiß, sie legte einen kalten Lappen nach.
„Ich wundere mich nur, was er hier zu suchen hat. Ich meine, wenn er einen Heiler gesucht hat, dann konnte er doch genauso gut in Thralin einen finden. Ich verstehe nicht, warum er sich den langen Weg wieder hierher geschleppt hatte.“ Sagte Elim mehr zu sich selbst und erhob sich dann. Sie trug ihrer Mutter auf, ihr zu sagen, wenn etwas geschehen war und machte sich dann zu Onie auf.
Die junge Frau war unheimlich neugierig und dafür bedankt, Tratsch zu lieben, also erzählte ihr Elim, dass der Mann ein Freund der Familie sei, der versehentlich eine Trollkirsche verschluckt hatte, die nun mal sehr giftig war.
Onie nickte wissend, einmal hatte ihr kleiner Bruder, Indo, eine Beere der dunklen Pflanze gegessen, da war er noch sehr klein gewesen und war darauf sehr krank geworden. Lange musste Fia damals bei ihm bleiben und Elim begleitete sie manchmal bei ihren Besuchen und spielte mit dem Jungen. Doch das war lange her.
Sie verbrachten einen sonnigen Nachmittag im Garten vor dem Haus, Biorn kam vorbei und Elim erzählte ihm die selbe Geschichte um Nahkrin. Er machte ein seltsames Gesicht und meinte, er habe den Mann noch nie hier in dieser Gegend gesehen.
Später, als Elim wieder daheim war, löste sie die Mutter von der Krankenwache ab und setzte sich mit brennenden, müden Augen an ihr Bett. Sie fragte, ob der Mann denn nun einmal aufgewacht war, doch ihre Mutter meine, er wäre nur kurz zu Bewusstsein gekommen, doch sie hatte ihm keine Fragen stellen können.
Seufzend sah Elim Nahkrin an, sein bleiches, eingefallenes Gesicht leuchtete fast im Dunkeln wie eine Totenmaske. Was er nur hier zu suchen hatte?
Sie wechselte wieder alle Verbände und Wickel und blieb dann einfach für lange, lange Zeit nur dort sitzen. Sie richtete ihn manchmal auf und einmal fiel ihr sogar eine widerliche, lange violette Narbe auf seinem Rücken auf, die noch nicht zu alt sein konnte.
Ab und an flösste sie ihm Wasser ein, sie versuchte sogar etwas Suppe, doch sie rann in seinen struppigen Bart und hastig wischte sie ihm das Essen aus dem Gesicht. Und sie wartete.
Zwei Tage später kam plötzlich ein großer, pelziger Hund durch den Garten getrottet, Fia erschrak fürchterlich, als sie das Untier sah. Doch Elim konnte sie beruhigen. Es war Ulfur. Vorsichtig lockte sie ihn herein und er rollte sich neben Nahkrin auf dem Fußboden zusammen und wich seinem Herren nicht von der Seite. Manchmal schob er seine Nase unter die klamme Hand seines Meisters, doch die Trauer des Tieres vermochte nicht, ihn zu wecken. Er blieb in einem Zustand des Schlafes, während sein Körper immer mehr von einem seltsamen, inneren Feuer verzehrt wurde. Und nicht der Sud aus Laydunnblättern, die Wickel oder das Trinken halfen.
An einem Nachmittag entkleidete Fia ihn und wusch in sogar den alten Schweiß vom Körper, damit er nicht auskühlen konnte. Mit rotem Kopf wartete Elim im Nebenzimmer und kam erst viel später wieder herein. Doch es half nichts, er blieb wie tot liegen.
Einige Nächte später, Fia wachte gerade neben dem Kranken, da regte er sich, schlug um sich, schrie wie im Kampf und war nicht mehr zu beruhigen. Krämpfe schüttelten seinen ausgezehrten Körper, Ulfur lag winselnd in einer Ecke, die Anfälle seines Meisters ängstigten ihn zutiefst.
Als Elim hereinstürmte, noch benebelt vom vorigen Schlaf, beruhigte sich der zuckende Leib langsam wieder und Fia trat nahe an ihn heran. „Er stirbt.“ Meinte sie schlicht und legte ihre Hand auf sein Herz. Es schlug immer schwächer.
Elim biss sich auf die Unterlippe, denn obwohl er so tyrannisch zu ihr gewesen war, war er wohl ein guter Mensch gewesen und es lohnt immer, um einen guten Menschen zu trauern. Doch Fia wandte sich mit eisernen Blick zu Elim. In ihrer Miene spielten Angst und Zweifel und Elim sah sie verwundert an, die Wangen feucht von Tränen. Dann legte Fia ihr den Arm um die Schulter umarmte sie kurz und führte sie dann hinaus aus dem Zimmer. „Sag mir, Elim. Wo hast du das Feuer von Remidion aufbewahrt? Ich denke, du solltest es mir bringen.“ Sofort nickte das Mädchen und suchte hastig in ihren Zimmer nach dem Mittel. Dann gab sie es der Mutter.
Diese gab einige Tropfen in einen Becher Wasser, schwenkte die Mischung andächtig und flöste dann dem Mann so gut es ging die Flüssigkeit ein. Elim legte ein Ohr auf seine Brust. Das Herz stolperte, stockte, schlug. Dann war es still.
Wie betäubt erhob sich das Mädchen und sah die Mutter verzweifelt an. „Es hat nicht geholfen. Er ist tot.“ Dann ging sie hinaus, nur Fia blieb stehen, den Blick auf den Krieger geheftet. Das konnte nicht sein, es musste wirken.
Doch erst einen Augenblick später tat Nahkrin einen keuchenden Atemzug und entspannte die verkrampften Glieder. Sofort eilte die Mutter zu Elim und zeigte ihr den Zustand des Mannes. Ungläubig starrte sie den friedlich schlummerden Nahkrin an und meinte. „Das ist nicht möglich, er müsste schon fort sein. Ich schwöre, sein Herz hörte unter meinem Ohr auf, zu schlagen.“ Sie warf ihrer Mutter einen misstrauischen Blick zu, doch diese lächelte nur herzlich und etwas erschöpft und nahm das Kind in die Arme. „Lass uns nun schlafen gehen, er ist außer Gefahr.“ Elim löste sich aus ihrer Umarmung und fragte mit zusammengekniffenen Augen. „Warum hast du gezögert?“ Doch sie fing sich nur einen unverständlichen Blick ihrer Mutter ein. „Warum hast du ihm das Mittel nicht gleich gegeben?“
Fia trat einen Schritt zurück und sah die Tochter mit eindringlichen Blick an. „Das Feuer ist ein Geschenk, das schon seit ewigen Zeiten in unserer Familie ist. Ich darf es nicht leichtfertig verwenden. Und du auch nicht.“ Mit diesen Worten ging sie in ihr Zimmer und nach einem Blick auf den schlafenden Mann, folgte Elim ihr.
Ulfur leckte die Hand des Meisters ab, die raue Zunge hätte wohl sehr gekitzelt, hätte Nahkrin es spüren können. Doch es kam dem Tier vor, als bewege sich ein Finger, ganz leicht unter seinem Blick und schwanzwedelnd legte es sich an die Seite des Mannes.

Die Zauberin Zirza


Am nächsten Tag prüfte Elim den Zustand von Nahkrin und obwohl er noch nicht aufgewacht war, war sein Fieber stark zurückgegangen. Erst zwei Tage später erwachte Nahkrin, doch er fiel mit einem Rumps aus seinem Bett, weil er noch zu schwach war, um zu Stehen, geschweige denn ein paar Schritt zu laufen. Doch als Elim ihm aufhelfen wollte, schüttelte er ihren Arm ab und hob sich wortlos und umständlich zurück in sein Bett.
Er war noch immer genauso unfreundlichen und unnahbar wie bei ihrem ersten Treffen. Ohne etwas zu sagen setzte Elim sich ihm gegenüber und er richtete sich ein Kissen in den Rücken und zog die Decke über das zu kleine Hemd, das sie ihm von Biorn besorgt hatten . Er starrte sie finster an, dann wurden die Linien in seinem Gesicht etwas weicher. „Ich danke Euch.“ Murmelte er schlicht und richtete dann laut atmend den Blick auf die Decke. Hastig sprang Elim auf und meinte. „Ihr müsst hungrig sein, ich besorge Euch etwas Suppe!“ Sie fühlte sich unwohl in einem Zimmer mit diesem Mann, seine Präsenz schien sie zu erdrücken und sie fühlte sich dabei wie ein kleines Kind.
Also nahm sie etwas Parunnasuppe in eine Schüssel und reichte ein bisschen Brot dazu. Langsam und vorsichtig kaute Nahkrin das Mahl und stellte schließlich die Schüsseln neben das Bett. Dann kraulte er Ulfur hinter dem Ohren und lächelte leicht. Der Anblick des Tieres schien ihn zu erfreuen, doch allzu bald wurde seine Miene wieder finster und er sog plötzlich scharf Luft zwischen den Zähnen ein. Elim eilte erschrocken und besorgt zu ihm , doch er wehrte sie wieder ab. Doch als er ihren verständnislosen Blick sah, seufzte er und bedeutete ihr sich zu setzen. „Es geht mir gut, Ihr braucht nicht mehr um mich zu fürchten.“ Er sah aus, als wolle er noch etwas sagen, doch dann schloss er den Mund.
„Warum seid Ihr hier? Ihr hättet doch auch in Thralin Hilfe finden können. Und was ist überhaupt mit Euch geschehen, und warum seid Ihr allein? Und-“ Doch Nahkrin hob die Hand und Elim verstummte sofort. Er rieb sich die Stirn dann berichtete er, mit längeren Pausen in denen er nur leise atmend ausruhte, was geschehen war.

„Wir blieben noch eine Weile in Thralin, vielleicht zwei Tage. Dann zogen wir weiter nach Norden.
Über den Marsch gibt es nicht besonders viel zu berichten. Wir kamen gut voran, es lauerten keine Gefahren. Es war fast zu ruhig. Wir überquerten die Ebene von Kamaldun und näherten uns schnell dem Teoranngebirge, jeden Morgen rückte es näher.
An der Grenze zum Bergland beschlossen wir, zu rasten. Wir kamen bei einem Bauern unter, der uns aber erst nicht einlassen wollte, da wir des nachts ankamen.
Ich war von Anfang an skeptisch, der Ort kam mir unheilvoll vor. Kein Hund auf der Straße, keine Betrunkenen aus den Kneipen, alle Fensterläden fest verschlossen.
Doch Zuin konnte mich überreden, ich Narr. Also überzeugten wir den Bauern, uns für eine Silbermynt eine Nacht zu beherbergen. Doch er konnte die Tür nicht schnell genug hinter uns schließen, er stank vor Angst,“ Nahkrin spuckte das Wort verächtlich aus und Elim sah ihn mit skeptischen Blick an, der ihm allerdings entging,
„Als ich ihn jedoch fragte was in Ciems, so hieß der Ort, los sei, schüttelte er nur den Kopf und ging. Ich sprach noch einmal mit Zuin, dass ich der Sache nicht recht traute, doch er wollte meine Einwände nicht hören.
Ich muss allerdings sagen, dass das Bauernhaus nur allzu verlockend war, endlich gutes Essen und ein warmes Feuer.
Am nächsten Morgen trafen wir ein Mädchen, sie war wohl die Tochter des Mannes, der uns so großzügig aufgenommen hatte. Ich konnte sie sogar dazu bringen, uns zu berichten, was denn nun in dem Dorf vorgefallen war,“ Ein verschlagener Ausdruck huschte über sein Gesicht und Elim schauderte, bei dem Versucht, sich vorzustellen, was der Mann mit dem armen Kind angestellt haben mochte, doch Nahkrin fuhr ungerührt fort,
„Es schien, als ob die Bewohner von einer merkwürdigen Krankheit des Geistes befallen waren: Sie bildeten sich ein, das große geflügelte Wesen aus den Bergen nachts in ihre Dörfer einfielen und sie aus ihren Betten raubten. Das Kind behauptete auch, sie kenne viele, die die Kreaturen schon so mit sich genommen hatten. Ihr Vater wäre schon lange fort gegangen, wie so viele, wenn er nur das Geld dazu hatte.
Ich muss sagen, dass ich das alles für einen riesigen Unfug oder einen Spuk einer Räuberbande hielt, doch fiel mir tatsächlich auf, das einige der nahen Häuser leer standen. Ich nahm mir vor, dem Großkönig von den Vorkommnissen in Kenntnis zu setzten und beschloss dann, weiter in Richtung des Gelbor zu reiten.
Der Aufstieg gestaltete sich schwieriger als ich gedacht hatte. Ihr müsst wissen, es gibt nur einen Pfad den Berg hinauf und der ist unglaublich schmal. Wir mussten ständig acht geben, dass wir nicht verschüttet wurden, den wäre jemand gestolpert, wäre in eine unermessliche Tiefe gefallen. Drei Tage lang marschierten wir unermüdlich gen Gipfel, dichter Nebel machte es uns allerdings immer schwerer, voran zu kommen.
Die Nächte waren ungemütlich, oft hörten wir Schreie von fremden Tieren, manche haben sich gefürchtet, doch ich weiß aus meiner Heimat, dass man Tiere nicht so fürchten muss wie den Menschen. Es waren wohl bloß Wölfe oder Bergkatzen, wer weiß das schon.
Bald konnten wir jedoch schon die Spitze des Berges erkennen. Und mit neuem Mut arbeiteten wir uns weiter hinauf.
Wir sahen ein schmales Plateau, das den Vorraum für den Eingang einer Höhle bildete. Ich ging voraus, die anderen blieben zurück, doch folgten sie mir mit etwas Abstand. Es war mir ganz recht, ich musste das Orakel allein befragen.
Und ich sage Euch, eine solche Höhle habt Ihr noch nie gesehen. Es war nicht ein einfaches Loch im Felsenm, oh nein. Die Wände waren aus purem Elfenbein, Adern aus Gold und Silber zogen sich durch den Stein. Überall standen Tische und Stühle herum, Karaffen mit den exquisitesten Weinen und Likören waren auf ihnen verteilt. Doch ich verbot den Männer, aus ihnen zu trinken. Ich wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte.
Wir wagten uns also weiter vor, bis wir auf eine Kammer stießen, die mit einem feinen Vorhang verschlossen war. Es erschien mir unhöflich, einfach so hinein zustürmen, also kniete ich mich vor den Schrein und rief nach der Seherin.
Es dauerte eine Weile und heraus kam die schönste Frau, die Ihr je gesehen habt. Stellt euch das schönste Mädchen vor, das Ihr kennt und dann noch viel wunderbarer. Haar wie silbrige Seide und Haut fein wie Marmor. Und einen Blick wie ein Winterwald aus der Heimat. Oh, wie wundervoll sie doch war,“

er geriet ins Schwärmerische, sein Blick rückte in weite Ferne und Elim musste ihn bitten, weiter zu sprechen, da er ganz entrückt zu sein schien, „Nun ich forderte ihren Rat und sie stieg herab und berührte mein Gesicht. Ich fragte das, was ich immer wissen wollte, seid ich los gezogen bin, auf das immer schon eine Antwort finden wollte, doch sie lachte nur. Ein glockenklares Lachen, doch irgendwie kalt. Aber in dem Moment spürte ich nicht einmal das. Ihr Zauber hatte mich gefangen. Sie hob mich in ihre Arme, flüsterte mir etwas ins Ohr, dass sie mir nicht helfen könne und wollte mir mit ihren vollkommenen Lippen einen Kuss abringen. Und ich muss gestehen, da ich auch kein Stein bin, war ich nicht abgeneigt. Die anderen scharrten sich um uns, jeder wollte das Orakel berühren, niemand konnte sich erklären, ob sie echt war oder nur ein Trugbild. Sie war zu perfekt, zu wunderbar.
Plötzlich spürte ich einen Schmerz an der Hand, nur leicht. Ich hätte ihn fast verdrängt und mich der Zauberin hingegeben, doch etwas hielt mich zurück. Irgendetwas in meinen Geist warnte mich, schrie fast. Doch ich wollte es zuerst nicht hören, Ihr hättet sie sehen müssen, dann hättet Ihr verstanden,“ er rieb sich gedankenverloren die Handfläche und erst jetzt fiel Elim ein leuchtend roter Streifen auf, den sie wohl in der Hektik um Nahkrin nicht bemerkt hatte, doch er schien schon einigermaßen gut verheilt zu sein, weswegen sie ihn nicht unterbrach,
„nun, ich war gefangen, so musste ich im Nachhinein feststellen, in ihrem Schein. Was mich jedoch aufrüttelte, war, wie meine Männer, Menschen, die ich meine Freunde nannte, denen ich vertraute, begannen, mich weg zu stoßen, einer zog sogar sein Schwert. Und ich begann, Furcht in mir zu spüren. Auf einmal war alles falsch, der Wände wurden grau und farblos, die Stühle und Tische verschwanden, nur Moder blieb. Und ich wandte mich um und sah sie.
Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was für ein Schrecken mit in die Glieder gefahren war. Sie war uralt, hässlich wie ein Vogelkind und ihr zahnloser Mund wollte sich gerade auf meinen legen. Sofort stieß ich sie von mir und da wurde sie wild. Mit erhobenen Klauen ging sie auf mich los, wollte mir die Augen auskratzen. Und langsam lösten sich die Männer aus ihrer Starre und zogen ihre Schwerter, auch sie hatten den Zauber durchschaut. Doch so sehr sie auch auf das Monster einhieben, es war als schnitten sie durch Luft. Die Zauberin blieb unberührt. Sie ging in Rauch und Nebel auf und verschwand.
Wir, die wir nun aufatmeten, da wir vermuteten, sie wäre verschwunden, suchten den Raum ab. Überall lagen Knochen von Bittstellern herum, es war ein grausiger Anblick. Der ganze Raum widerte mich an, doch ich wollte herausfinden, ob die Zauberin mich belogen hatte, also schlug ich den verschlissenen Vorhang zurück. Und dahinter lauert sie, einen Dolch gezogen und sie erwischte mich am Ärmel, noch bevor ich mein Schwert ziehen konnte. Doch die Wunde war klein und so schlug ich ihr den Kopf ab, diesem Scheusal.
Ich beachtete den Schnitt nicht und sah mich noch etwas um. Ich fand eine seltsame Karte dort, die ich nun Zuin zeigte. Er vermutete, dass es sich um die Lande hinter dem Grenzgebirge handelten und war ganz aufgeregt, denn sie galten als unerforscht, weil die riesige Wüste Oyghear zwischen ihnen lag, die noch nie jemand lebend passiert hatte. Ich schob sie in meinen Mantel und verließ dann eiligst diese widerliche Behausung.
Wir machten uns also wieder auf, ins Tal hinab zu steigen, um dort zu beraten, was zu tun sei. Doch es wurde sehr bald Nacht und wir rasteten am Steilhang des Berges. Ich meinte, ich könnte doch voraus schauen, ob wir nicht einen besseren Schlafplatz fänden und man stimmte mir zu. Ich fühlte mich unheimlich müde und mein Arm schmerzte schon etwas.
Darum ging ich freudig voran, um einen bequemeren Platz zu finden. Mein Freund,“ er strich Ulfur über das dichte Fell, „folgte mir auf dem Fuß. Hinter mir die Männer. Und da hörte ich es. Ein fernes Grollen, wie ein Sturm fegte über den Hang und plötzlich rauschte eine unendliche Steinlawine an den Flanken des Berges hinab. Ich konnte mich gerade noch unter einen Vorsprung retten, doch mein treues Tier glaubte ich verloren. Als das Tosen ein Ende nahm, lugte ich aus meinem Versteck hervor, doch der Weg war verschüttet, ich konnte nicht mehr zurück zu meinen Männern, der Steinschlag musste sie vom Pfad in die Tiefe gerissen haben. Und doch versuchte ich, so gut es ging, nach ihnen zu suchen. Aber sie waren alle fort, tot, denke ich,“ er fuhr sich mit der Hand grob und resigniert über die Augen und Elim rieselte eine Träne über die Wange, sie konnte nicht glauben, dass all diese grundguten Menschen nun für immer weg sein konnten, „ich hoffe bloß, dass Esmier sie sanft ins Reich des Lichts geführt hat.
Als ich erkannte, dass die Lage aussichtslos war stieg ich allein hinab.
Nachts am Feuer war mir so bang, denn seltsame Tiere spukten um den Flammenschein, wie Ihr sie noch nie gesehen haben mögt. Mit Blicken wie Rubinen, doch nicht schön sondern schaurig. Doch sie fürchteten das Licht und ich war sicher, obgleich ich nie besonders viel Schlaf bekam.
Ich rastete nicht in Ziems sondern bewegte mich rasch auf Thralin zu, denn ich spürte etwas, dass in meinen Adern wütete, es muss wohl ein vergifteter Dolch gewesen sein, den die feige Zauberin mir in den Arm gestoßen hat. Jede Stunde wurde ich schwächer, hätte ich die Petolaín vom großen Wald wieder getroffen, wäre es wohl mein Ende gewesen.
Doch ich kam ohne Schwierigkeiten in Thralin an. Ich kam wieder bei Deirjé unter, die mir allerdings nicht helfen konnte. Und sie berichtete, dass der Fürst krank sei und dass alle Heiler der Stadt sich um ihn kümmerten, denn eine merkwürdige Krankheit hatte ihn befallen.
Es gab niemanden, der mir helfen konnte, auch nicht für Geld. Also suchte ich Euch auf, mit Mühe schleppte ich mich durch den großen Wald und hoffte wieder, nicht angegriffen zu werden. Ich stolperte oft, manchmal drohten die Schmerzen überhand zu nehmen. Doch ich schaffte es, wie Ihr seht, doch noch zu Euch. Und ich danke Euch für Eure Hilfe! Doch nun muss ich so schnell wie möglich zur Burg U'shallach zurück, um...“ Er zögerte und schluckte dann schwer. „Um König Askar vom Scheitern der Expedition zu berichten, vom Tod geschätzter Veteranen und Soldaten.“ Und er versuchte erneut aufzustehen, doch Elim konnte es gerade noch verhindern, denn er wäre wieder gestürzt. „Ihr müsst noch etwas ausruhen, fast wärt Ihr gestorben, vergesst das nicht,“ meinte Elim hastig und zog sich wieder zurück, „wenn Ihr so aufbrecht, schafft Ihr es nie bis zum Land des Königs!“
Nahkrin warf ihr einen kurzen Blick zu, dann lehnte er sich zurück in die Kissen.
Elim biss sich auf die Lippe, eine Frage brannte auf ihrer Zunge. Sie fragte sich, ob Nahkrin wohl noch bereit war, sie zu beantworten, denn er atmete ruhig, die Augen geschlossen. Sie nahm einfach ihren Mut zusammen und fragte:
„Und warum das ganze? Wieso die lange Reise, wofür lohnte es sich, das Leben Eurer Gefährten aufs Spiel zu setzten?“
Nahkrin warf ihr einen ärgerlichen Blick zu und schwieg einfach. Doch so einfach ließ Elim sich nicht abwimmeln. „Was habt Ihr sie gefragt?“
„Strapaziert meine Geduld nicht, Mädchen.“ Meinte Nahkrin barsch und beachtete sie nicht weiter. „Ihr schuldet mir etwas, dafür, dass ich Euch gerettet habe. Ich hätte Euch auch sterben lassen können, wisst Ihr das?“ Schleuderte Elim ihm unverblümt entgegen.
„Doch Ihr habt es nicht, also was soll der Radau? Ich denke, in der rechten Tasche meines Mantels findet Ihr ein paar Münzen, schönes Klimpergeld. Kauft Euch davon ein paar hübsche Kleider, meinetwegen.“
„Ich will Euer Geld nicht, ich will wissen, was Ihr gefordert habt.“ Schrie Elim wütend und stürmte auf den Krieger zu. Er drehte nur langsam den Kopf ein Ausdruck von unendlicher Bosheit trat in seine Augen und er meinte: „Woher soll ich wissen, dass ich Euch trauen kann? Ihr wisst nichts von der Welt, es ist nicht alles so einfach, wie es hier zu sein scheint!“
Elim wich zurück, erschreckt über ihren plötzlichen Ausfall von Mut gegen den Mann und sie verließ schließlich, da sie wusste, dass er ihr kein Wort sagen würde, das Haus.
Ihre Mutter warf ihr einen besorgten Blick zu, doch sie ließ das Mädchen unbehelligt passieren. Sie kannte den Schlag Mann, der Nahkrin war. Er brachte nur Schwierigkeit, egal was man mit ihm zu schaffen haben mochte. Sie hoffte, dass er bald verschwinden würde und mit ihm der Kummer ihrer Tochter. Doch sie verstand, dass Elim ihm hatte helfen wollen, sie hätte das Selbe getan. Fia beobachtete wie das Mädchen Richtung Wald lief. Sie würde sich wieder sammeln, die Mutter wusste es.

Mit langen Schritten durchmaß Elim den lichteren Waldrand und ließ sich schließlich in einer Lichtung nieder. Erst als sie ein paar Mal durch geatmet hatte, erkannte sie, dass es der Ort war, wo sie vor so langer Zeit, so kam es ihr vor, aufgebrochen waren. Hier hatte sie sich mit Zuin getroffen, dort hatte sie Nahkrin gestoßen, dass er fast gefallen wäre. Ein fieses Lächeln trat auf ihre Lippen, als sie daran dachte.
Doch dann verging es zu Kummer, wie Wolken im Wind. Und sie vergoss ein paar ehrliche und bittere Tränen. Um den gutmütigen Olo, dem verschmitzten Kinnin, den umständlichen Archo und um Zuin, der immer etwas in ihr gesehen hatte, das sie nicht verstand.
Als die Tränen langsam versiegten, nahm sie etwas im Schatten der Bäume war, etwas, das sie beobachtete. Furcht stieg in ihr auf und ihr Atem wurde flach. Sie kam sich vor, wie ein Kaninchen im Auge des Falken.
Doch aus dem Schatten trat nicht etwa ein Petolaín, sondern Ulfur, der sie vorsichtig umrundete. Elim beobachtet ihn, ihr Herz schlug immer noch viel zu schnell. Sie erinnerte sich an die riesigen Zähne und die unheimliche Schnelligkeit und Stärke des Tieres, sie traute ihm nicht über dem Weg. Wenn er seinem Herren nur etwas ähnlich war, musste er wohl gefährlich sein, sonst würde er diesen launischen Nordmann nicht ertragen.
Aber zu ihrem Erstaunen kam der Wolf nahe an Elim heran. Sie sah in seinem Blick eine Herausforderung und sie brachte all ihren Mut zusammen und berührte das Fell des Tieres. Es war überraschend weich und warm.
Sie tastete vorsichtig nach den Ohren des riesenhaften Wesens und kraulte ihn dann leicht wie sie es bei den Hunden des Dorfes tat. Ulfur legte den Kopf schief und ermöglichte ihr so, besser seinen Hals zu streicheln. Leise sprach Elim mit ihm, sie fühlte immer noch eine gewisse Scheu vor dem Tier. Sie sprach zu ihm, dass er wunderschön war und stark und gut. Was sie auch alles meinte.
Schließlich schüttelte sich der Wolf, als wolle er die wohlige Berührung abstreifen und Elim zog erschrocken die Hand zurück. Doch er trottete nur zurück ins Dorf. Das Mädchen hoffte, dass er nicht allzu viel Schrecken verursachen würde.
Nach einiger Zeit merkte sie, dass sie schon etwas ruhiger geworden war. Das Tier hatte ihren Zorn und ihre Trauer davongetragen.

Am Abend kam Elim wieder zurück ins Haus. Und war völlig überrascht, ihre Mutter und Nahkrin am Tisch sitzen zu sehen. Sie aßen friedlich neben einander und es stand auch ein Teller Eintopf für Elim bereit. Das Mädchen wunderte sich, dass es dem Mann schon gelang, so lange hier zu bleiben. Er musste noch sehr schwach sein.
Doch er sah schon um einiges besser aus, die Wangen waren nicht mehr so eingefallen wie vor ein paar Tagen und er atmete auch nicht mehr so schwer. Und gegen ihren Willen war Elim sogar etwas erleichtert. Sie nahm am Tisch Platz und warf ihrer Mutter einen vielsagenden Blick zu, den Nahkrin aber ignorierte.
Als sie zu Ende gegessen hatten, setzte Fia ihren Löffel geräuschvoll ab und fragte mit einem plötzlich finsteren Blick an Nahkrin: „Nun, mein Herr. Was führt Euch hierher? Es ist schon äußert ungewöhnlich, hier in dieser Gegend einfach so einen ungebetenen Hausgast zu bekommen, der nebenbei noch so viele Umstände macht!“ Sie fixierte Nahkrin strend und dieser streckte die Beine aus, verschränckte die Finger über dem Bauch und antwortete stoisch: „Ich habe Eurer Tochter schon gesagt, dass ich darüber nicht sprechen kann, will oder darf. Das ist alles!“
„Ihr seid ein undankbarer, gemeiner, fieser...!“ Brauste Fia auf und erhob sich von ihrem Platz, ihre Augen sprühten Funken, doch Elim unterbrach sie, bevor sie etwas noch viel Schlimmeres sagen konnte. „Herr Nahkrin wird uns bald verlassen, Mama. Das ist nicht unsere Sache.“ Überrascht warf Besagter Elim einen verwirrten Blick zu, dann stand er auf und verließ das Haus. Das Mädchen sah allerdings, dass er sehr schwerfällig ging und war froh, dass Ulfur ihn begleitete.
Als Elim allerdings bemerkte, dass ihre Mutter sie mit zusammengekniffenen Augen ansah, zog sie gedanklich den Kopf ein. „Er schuldet uns zumindest eine Antwort, haben wir ihn doch gerettet. Ich bereue schon jetzt, das Feuer an ihn verschwendet zu haben!“ Meinte die Frau kalt und verschwand ohne ein weiteres Wort in ihr Zimmer. Verwirrt starrte Elim ihr nach, sie wunderte sich, wie ein einzelnder Mensch so viel Unruhe erzeugen konnte.

In den folgenden Tagen genas Nahkrin auffallend schnell. Er half Krioll bei seinen Schmiedearbeiten und stellte sich darin als nicht zu ungeschickt heraus. Manchmal hörte Elim den lauten Schlag des Hammers, als der Mann den Stahl bearbeitete.
Das Leben ging einfach wie gewohnt weiter, doch Elim hatte, das Gefühl, dass Nahkrin es gar nicht eilig hatte, das friedliche Dorf zu verlassen. Doch sie konnte sich nicht erklären, warum er seine Abreise derart verzögerte.
Nach der zweiten Woche fragte sie schließlich danach. „Wieso seid Ihr noch hier?“
Nahkrin der gerade friedlich vor dem Haus ein paar Tobakkblätter kaute, verschluckte sich und sah Elim mit überraschten Blick an. Dann beruhigte er sich und meinte: „Ihr kennt Askar nicht so, wie ich. Eine Niederlage wird er mir nicht eingestehen. Und ich weiß, nun ja, dass er nicht immer sehr gemütlich sein kann, sagen wir's doch mal so.“ Dann schwieg er und kaute seelenruhig weiter.
„Und würde es Euch eine Zacke aus der Krone brechen, wenn Ihr mir denn Euer Geheimnis verraten würdet? Vielleicht kann ich Euch helfen...“ Doch Elim verstummte, denn der Hüne brach in schallendes, zynisches Gelächter aus. „Ihr, mir helfen? Das halt ich für sehr unwahrscheinlich! Nehmt es mir nicht übel, aber Ihr seid weder ein Kämpfer noch ein Held und so etwas würde mir unheimlich nützen. Ihr seid nur eine Frau.“
Damit erhob er sich und wollte in das Haus verschwinden doch Elim folgte ihm einfach, was er scheinbar nicht erwartet hatte. Grummelnd fluchte er vor sich hin und ignorierte Elims strengen Blick.
„Lasst es doch einfach darauf ankommen? Was habt Ihr denn zu verlieren?“ Da drehte sich der Mann zornig um, seine Augen sprühten Funken. „Ihr wisst gar nichts, überhaupt nichts. Es geht hier um etwas viel Wichtigeres als um Euch, oder mich, oder die Leute hier. Und Ihr seid zu laut, wenn Ihr es ausschwätzt, dann wird man mich des Hochverrats bezichtigen. Versteht das doch. Es ist doch eh besser für Euch und Eure Leute, wenn Ihr so wenig wie möglich davon wisst. Lasst das ganze doch meine Sache sein.“
Ängstlich fuhr Elim zurück, der große Mann hatte sich in Rage geredet, die Hände abwehrend vor der Brust erhoben. Doch sie schüttelte trotzdem den Kopf. Verzweifelt warf Nahkrin die Arme in die Luft und meinte: „Glaubt mir, es ist besser für Euch.“ Und er setzte sich kraftlos an den Küchentisch und starrte ins lodernde Feuer. Doch als sein Rücken hart gegen die Lehne schlug, zuckte er merklich zusammen und lehnte sich auf die Arme gestützt nach vorne. Fachkundig trat Elim hinter ihn und fragte mit verschränkten Armen: „Ich wollte es eh schon wissen. Was habt Ihr da für eine riesige Wunde auf dem Rücken? Woher stammt sie?“
„Ihr fragt zu viel!“ Murmelte Nahkrin nur mürrisch und fügte halblaut etwas von anstrengenden Frauenzimmern hinzu.
Schon bald erkannte Elim, dass sie so nicht weiterkam. Sie musste sich eine List einfallen lassen, um an das Geheimnis des Mannes heranzukommen.

Die Täuschung


Und so begann die List der Elim.
Sie weihte nur ihre Mutter, Akir und den Wirt Nonor ein, der bei ihrem Spiel eine wichtige Rolle tragen würde.
Und er half ihr nur allzu gern, den damals, als er sich recht übel an einem Gemüsemesser geschnitten hatte und die Heilerin nicht hatte bezahlen können, hatten diese sich nur versichern lassen, dass sie einmal bei ihm speisen konnten.
Doch Elim hatte Zweifel ob so ein einfacher und durchschaubarer Plan bei einem erfahrenen und viel herum gekommenen Krieger wirken würde, doch sie musste es versuchen. Denn das was er ihr vor enthielt brannte ihr unter den Nägeln, Tag und Nacht. Und Sie wollte ihm zudem noch beweisen, dass auch sie aus einem anderen Holz geschnitzt war, als er es vermutete.
Es kam das Fest zu Ehren von Ni'koa und Elims Familie bot dem Verwundeten Nahkrin an, dass er mit ihnen eine kleine Feier im Baumfass zu seiner schnellen Genesung begehen sollte. Erst wollte der Mann sich weigern, doch Elim versicherte, dass es allein auf seine Kosten laufen würde und ein schiefes Lächeln trat auf das Gesicht des grimmigen Kriegers.
Elim schlüpfte in ihr schönstes, grünes Kleid und ließ sogar zur Feier des Tages ihr Haar offen über die Schultern fallen. Es sollte alles so aussehen, als wären sie wirklich darauf aus, ein großes Fest zu begehen.
Nahkrin wartete murrend in der Küche, die Frauen des Hauses ließen ihn lange dort stehen, bis sie aus ihren Zimmern traten.
Nahkrin verbeugte sich nun vor beiden, wobei er zuerst das Haupt vor Fia neigte und Elim nur ein kurzen Ruck mit dem Kopf schenkte.
Sie war ihm wirklich schrecklich auf den Nerv gefallen in letzter Zeit.
Doch sie ließ sich von seiner gewohnt schlechten Stimmung nicht aus dem Konzept bringen und setzte sogar ein freundliches Lächeln auf.
Das ganze Dorf war an diesem Abend auf den Beinen, man setzte sich zu gemütlichen Runden ans Feuer beim Marktplatz oder fand sich im Baumfass zu einer geselligem Treffen ein.
Auch Elims Familie und Nahkrin steuerten auf das gemütliche Gasthaus zu und als sie eintraten drang ihnen der Schwall von vielen Stimmen entgegen, das Gemurmel surrte wie ein Bienenschwarm durch den Raum.
Doch einige Köpfe wandten sich auch dem fremden Nahkrin zu, der dies aber ebenfalls geflissentlich zu ignorieren wusste.
Zum Glück hatte Nonor ihnen einen Tisch nah am Feuer frei gehalten und man setzte sich hastig auf die Plätze. Dann brachte der Wirt die traditionellen Speisen zum Feier, nämlich Kartoffeln in Met oder frischen Hasen aus dem großen Wald. Denn sie war die Göttin der Erde, des Feldes und der Tiere und so musste man ihr auch mit den Gerichten danken.
Und zu jedem Gericht wurde natürlich der feine Liceorschnaps gereicht.
Doch Elim signalisierte dem Wirt, dass sie es bei nur einem Glas bewenden lassen wollte. Und so stellte er auch Akir und Fia nur ein Glas zu Anfang hin. Doch Nahkrin goss er immer reichlich nach und als dieser nach dem dritten Mal seine Hand über seinen Becher hielt, brachte Nonor einfach einen neuen Becher.
Elim hätte fast gelacht, als sie das fassungslose Gesicht des Kriegers sah, das langsam einen roten Schimmer annahm. Sie erklärte ihm auch, dass es in dieser Gegend Sitte sei, die Gäste reichlich zu bewirten und ihnen immer wieder den Becher zu füllen. Was natürlich gelogen war, niemand hier drängte sich einem Fremden derart auf.
Doch sie hatte auch nicht mit der Trinkfestigkeit der Nordmänner gerechnet. Erst nach dem sechsten Glas schwankte Nahkrin des öfteren und griff auch mal daneben. Sie wunderte sich, warum er nicht einfach den Schnaps verweigerte, doch da kannte sie den Krieger schlecht. Auf Etikette war er stets bedacht und er wollte nie die Sitten eines Landes oder eines Volkes verletzten. Also nahm er an, dass er wohl das Richtige tat.
Schließlich, als der Mann vergnügt mit der Fußspitze im Takt der Fidel eines Spielers mitwippte, sah Elim die Gelegenheit als günstig. „Na, Herr Nahkrin, wie fühlt Ihr Euch?“ Dieser lächelte matt zurück und meinte: „Hätt' ich nicht geglaubt, dass hier, ich mein in so 'nem kleinen Nest, dass es hier so gut sich feiern lässt. Und einen Schnaps habt ihr hier, wunderbar, sag ich, wunderbar!“ Er schlug mit seinem Humpen auf den Tisch und der Wirt füllte hastig nach, ein verschwörerisches Lächeln trat auf seine Züge. Dann zog er sich zurück und ließ die Gruppe allein.
„Ich sag Euch was, aber hört gut zu: Ich glaub', ich bleib einfach da! Nicht zurück zur Burg, dieser U'shallat...U'salzach...dieser König kann mir gestohlen bleiben. Dann muss er halt Pech haben, er und sein Zögling da. Ach Remin, ein prächtiger Bursche, das sag ich Euch, ein prächtiger. Würde Euch sicher gefallen!“ Und er nahm einen weiteren Zug aus seinem Humpen. Dann fuhr er selig fort, vom Schnaps schon ganz benebelt: „Wenn da nicht diese Sache wär, darf ich aber nich' sagen. Ist geheim – streng geheim! Sag ich Euch!“
„Was ist streng geheim?“ Hakte Elim nach und beugte sich etwas näher an den lallenden Mann heran. „Seid Ihr taub?,“ brauste der Krieger auf und meinte dann: „wenn ich's Euch jetzt sage, dann ist es doch nicht mehr geheim. Außerdem fragt Ihr immer so viel! Was ist das denn da für eine Narbe? Wo seid Ihr gewesen? Habt Ihr etwa das aufgehoben? Und das gegessen? Schlimmer als meine Mutter!“ Akir kicherte leise und Elim warf ihm einen scharfen Blick zu, dann wandte sie sich wieder Nahkrin zu.
„Aber nur eine Ausnahme, ich sag's auch nicht weiter. Kommt schon!“ Beharrte Elim und versuchte, den sturen Mann dazu zu bewegen, dass er mit ihr sprach.
„Ihr seid verdammt neugierig. Aber das würde dem armen Remin gar nicht gefallen. Ich mein, wenn man immer Unglück hat, egal was man macht, das is' nicht so gut. Der Kerl wäre einmal fast drauf gegangen, hab ich aber verhindern können.“ Er klopfte sich stolz auf die Brust und Elim hatte das Gefühl, dass sie dem Kern der Geheimniskrämerei näher kam. „Und warum hat der Prinz immer Pech. Erzählt es uns doch, geschätzter Herr Nahkrin.“
„Na wegen dem Fluch, ganz einfach. Ihr seid schon ein besonderes nervtötendes Frauenzimmer!“
„Und was hat das ganze mit Euch zu tun?“ Elim fragte hastig weiter, bevor der Betrunkene bemerken konnte, dass er ihr etwas Wichtiges verraten hatte.
„Das sag ich Euch nicht.“ Meinte dieser nur schlicht und Elim musste sehr an sich halten, um ihm nicht einmal ordentlich auf den sturen Kopf zu schlagen.
Sie versuchte er mit einer anderen Methode.
„Ich weiß es. Der König glaubt, dass Ihr weise genug seid, diesen Fluch zu brechen, was Ihr zweifelsohne natürlich auch seid!“ Schmeichelte sie und Akir streckte angewidert die Zunge aus, was allerdings weder von Elim noch von Nahkrin bemerkt wurde.
„Bin ich aber nicht, nein.“ Meinte Nahkrin und summte wieder vergnügt mit dem Spiel der Fideln mit.
Elim biss frustriert die Zähne zusammen, es war, als würde man auf Granit kauen. Doch sie würde sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.
„Aber Ihr sucht jemanden, der es für Euch erledigen kann! Hab ich recht?“ Triumphierend lehnte Elim sich zurück und verschränkte die Finger vor der Brust.
„Ihr seid ein schlaues Weib, verdammt schlau,“ meinte Nahkrin, dann schaute er sie mit glasigen Blick an und fiel mit einem Rumps auf die Tischplatte.
Als sie den schnarchenden Nahkrin mit Hilfe von Akir nach Hause schleppten, berichtete Elim ihrer Mutter von dem Plan des Mannes und diese wurde bleich. Doch als Elim sie fragte, was denn los war, schüttelte sie nur den Kopf.
Skeptisch betrachtete Elim sie, aber sie war nicht in der Verfassung, auch ihrer Mutter eine Geheimnis zu entlocken, dass sie zweifelsohne gerade hütete.

Am nächsten Morgen war Nahkrin extrem schlecht gelaunt, er rieb sich oft die Stirn und Elim spürte förmlich seinen Kater.
Doch sie freute sich darum umso mehr, dass sie ihn endlich hatte befragen können.
Der Mann war zweifelsohne der schwierigste Mensch, den sie je getroffen hatte.
Aber Elim wagte nicht, ihn nach weiteren Schritten in seiner Unternehmung zu fragen. Würde er wirklich aufgeben und zu Askar zurückkehren oder wusste er sich anders zu helfen, gab es noch einen Plan, den er verfolgte.
Dass er nämlich hierbleiben konnte- das war ihm und auch Elim klar- war strikt unmöglich. Er gehörte nicht in ein kleines Dorf, in dem nie etwas Seltsames oder Gefährliches geschah.
Also näherte sich Elim ihm erst am zweiten Tag, nachdem sie das Fest gefeiert hatten und fragte ganz unschuldig: „Was habt Ihr also jetzt vor?“ Er sah sie wild an und erwiderte. „Nachdem ihr mich ausgequetscht habt wie einen toten Fisch? Aber ich muss Euch eines lassen, der Einfall war nicht schlecht. Ihr hattet es doch geplant, habe ich Recht?“ Elim nickte schüchtern und er schlug ihr anerkennend auf den Arm, dass sie schwankte.
„Aber ich muss trotzdem zurück zu Askar, um ihm zu berichten, dass ich gescheitert bin. Daran kann Eure unheimliche Neugier nichts ändern.“ Er wandte sich ab, langsam gewannen seine Bewegungen die alte Schärfe zurück. „Ich raste schon viel zu lange hier und muss zugeben, davon wird der Geist träge und das Fleisch fett. Ich muss weiterziehen...“ Panisch warf Elim ein, denn ihr fiel nichts besser ein: „Kann ich die Karte, die Ihr erbeutet habt einmal sehen?“ Nahkrin sah sie kurz nachdenklich an, dann überreichte er Ihr das Schriftstück. Es war eine vergilbte, kaum noch erkennbare Karte einer Region, die Elim gänzlich unbekannt war. Sie trat ans Fenster um bessere Sicht zu bekommen, doch wie sehr sie auch die Augen zusammenkniff, sie konnte nicht erkennen, was denn dort abgebildet war. Sie erkannte zwar das Gebirge Teorann, doch das Land, dass sich im Norden daran anschloss, war in so feiner Tinte gezeichnet, dass es nun nicht mehr zu sehen war. Enttäuscht gab sie Nahkrin das Papier zurück und fragte ihn noch: „Und Ihr kennt niemanden, der Euch hier weiterhelfen kann? Der dieses Schriftstück wiederherstellen oder zu deuten vermag?“
Lange zögerte der Krieger, dann antwortete er: „Doch das tue ich, doch ich würde nicht einmal für Remin diesen Mann aufsuchen!“ Er spuckte die Worte förmlich aus, Elim fühlte Zorn in ihnen mitschwingen.
„Wieso nicht? Ist er ein Verbrecher, ein Mörder oder ein Dieb?“
„Keins von alle dem. Er ist ein ehrenvoller Fürst, nämlich der des Gebiets Tasso im Nordosten. Doch ich kann ihn nicht ausstehen!“
Elim sah ihn fassungslos an. Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Als sie ihn weiter wortlos anstarrte, zuckte er mit den Schultern und meinte: „Ja, ich weiß, was Ihr sagen wollt: Ich solle trotzdem gehen, weil ob mich der König nun bei lebendigem Leib häutet oder Ullar meinen Verstand mit seinem wertlosen Gewäsch beleidigt, sei dann auch gleich.“ Elim nickte langsam und sah den Krieger mit wartender Miene an. „Also?“
„Ihr seid mitunter das lästigste Weib, das ich je getroffen habe.“ Meinte Nahkrin und schüttelte den Kopf. „Aber ich werde darüber nachdenken.“ Mit diesen Worten verließ er die Küche und Elim sah ihm fassungslos nach. Er hatte manchmal das Gemüt eines kleinen Kindes...

Das Schlangennest


„Ihr hattet Recht,“ Ohne jeden Zusammenhang sprach Nahkrin die Worte und sah dabei Elim anerkennend an, „aber ich werde Euch nicht mitnehmen.“
Das Mädchen, das ihn erst verwirrt angesehen hatte, schnappte wütend nach Luft, doch Nahkrin fuhr fort, ohne dass sie die Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern.
„Der Weg nach Tasso ist lang und führt durch gefährliches Wildland. Da Ihr mir das Leben gerettet habt, schulde auch ich Euch etwas. Nämlich für meinen Kopf für Euren einzusetzten und das heißt, dass ich Euch sagen muss, dass Ihr hierhergehört. An einen Herd mit drei vier Kindern und einem lieben Mann – mit Nerven aus feinsten Stahl.“
Damit erhob er sich von der sonnigen Bank und lief hinein.
Völlig überrumpelt blieb Elim im warmen Licht sitzen, dann folgte sie Nahkrin. Dieser hatte sein Messer gezogen und fuhrwerkte damit in seinem Gesicht herum.
Neugierig geworden betrachtete Elim ihn. Er ließ das fallende Haar in eine Schüssel rieseln und sah so anders aus, jetzt wo er wieder frei von dem wilden Gestrüpp in seinem Antlitz war.
„Ich kann sehr wohl auf mich aufpassen!“ Rief Elim laut aus, als Nahkrin sich seelenruhig erhob und mit einem Tuch das Kinn abrieb. Er wandte ihr das Gesicht zu und das Mädchen fuhr erschrocken zurück. Eine schmale wulstige Narbe schlängelte sich vom Mundwinkel bis fast hinauf zum Wangenknochen. Doch sie war durch den dichten Bart verborgen geblieben.
Mit einem zynischen Stirnrunzeln kommentierte der Krieger Elims Blick und sie fragte vorsichtig: „Woher habt Ihr diese...Verletzung?“ Nach kurzen Zögern erwiderte Nahkrin mit grimmiger Miene und scharfer Stimme: „Ich musste nur einen Freund von mir darauf hinweisen, dass man nicht Hand an meine Schwester legen solle! Und wie Ihr seht, kam ich dabei nicht allzu weg.“ Mit wütenden Bewegungen stopfte er das Messer zurück an den Gürtel und wollte sein Hab und Gut zusammen sammeln, doch Elim traute sich trotz seiner finsteren Miene, wieder auf zu begehren. „Gebt mir doch nur eine Chance!“
Langsam erhob sich Nahkrin und musterte sie. „Habt Ihr ein Schwert oder ein Messer? Eine Axt oder eine Keule?“ Verlegen schüttelte Elim den Kopf und seufzend drückte Nahkrin ihr einen schmucklosen, schwarzen Dolch in die Hand. Stammelnd bedankte sich Elim und der Krieger meinte mit hämischen Lächeln. „Der gehörte der Zauberin. Gebt gut acht, dass Ihr Euch nicht schneidet, sonst ergeht es Euch wie mir!“
Fast hätte Elim die Waffe fallen gelassen, doch sie zwang sich, das kalt schimmernde Messer noch fester in die Faust zu nehmen.
Nahkrin sah sie nachdenklich an, dann meinte er resigniert: „Wenn Euch so viel daran liegt, geschlagen zu werden, dann folgt mir hinaus!“
Und er führte sie auf den Waldweg bis sie im Schatten der Bäume vor den neugierigen Blicken der Dorfbewohner geschützt waren. Dann kniete er sich kurz hin und warf Elim dann einen langen, sehr schweren Ast zu. Mit Mühe und einem hörbaren Keuchen fing sie das Holz auf und Nahkrin erklärte: „Wir kämpfen nicht mit echten Waffen. Einerseits würde mich Eure Mutter mehr beschädigen, als ich es bei Euch je fertig brächte ,andererseits sind die hier nicht so schwer, wie echte Schwerter.“
Elim versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie seine Aussage anzweifelte.
Man konnte doch unmöglich etwas noch gewaltigeres ständig mit sich führen, geschweige denn überhaupt heben.
„Nun, Ihr versucht zuerst, das Schwert am Ende zu fassen. Entweder mit beiden Händen, oder mit einer. Beides hat seine Vorteile. So könnt Ihr, wenn Ihr es nur mit einer fasst noch ein Schild benutzen oder den Gegner weg stoßen. Doch tragt Ihr es in zwei Händen, werden Eure Schläge heftiger.“
Elim war es allerdings möglich, das Holzstück in nur eine Hand zu nehmen, da ihr Arm davon schmerzte und zitterte und sie nicht in der Lage war, es länger als ein paar Augenblicke über dem Boden zu halten.
„Stellt Euch breitbeinig hin, ein wenig in die Knie, ja so. Damit habt Ihr einen sicheren Stand. Und jetzt stellt Euch vor, ich wäre Ein Straßenräuber, der Euch eure Börse stehlen will!“ Er stellte sich wartend vor Ihr auf und Elim nahm all ihren Mut zusammen und schleuderte den Ast nach dem Krieger. Er glitt ihr aus der Hand und Nahkrin konnte ihm gerade noch ausweichen. Während der Hüne lachend das Holzstück aufklaubte und meinte, sie könne auch eine Schleuder bekommen, wenn ihr das lieber war, fühlte Elim wie ihr Gesicht heiß wurde, vor Scham und Zorn.
„Seid Ihr wütend?“ Fragte Nahkrin sie unvermittelt und Elim sah nur zu Boden.
„Das ist gut! Nur aus großem Zorn, kann große Kraft und Gewalt geboren werden!“ Damit reichte er ihr wieder den Ast und forderte sie auf, ihn wieder anzugreifen.
Diesmal versuchte sie, ihn am Arm zu treffen, doch er blockte ihren Schlag mühelos ab und versetzte ihr einen leichten Schwinger gegen den ausgestreckten Unterarm. Die Stelle brannte heiß und schmerzte fürchterlich, sodass Elim den Halt verlor, doch sie fand ihn mit eiserner Entschlossenheit wieder.
„Strengt Euch an, Ihr seid unkonzentriert!“ Eigentlich war Elim nur zum Weinen zu Mute, doch sie biss die Zähne nur energisch zusammen und baute sich wieder auf.
Dann attackierte sie den Kerl wieder, doch sie hätte genau so gut in die Luft schlagen können.
Er wich jedem weiteren Angriff mühelos aus und langsam machten sich die vielen blauen Flecken und Schläge bemerkbar.
Als sie keuchend am Waldboden zusammensackte meinte Nahkrin nur herablassend: „Ihr habt zwar länger durchgehalten, als ich geglaubt habe. Aber sogar die jungen Söhne meiner Schwester kämpfen besser mit dem Schwert als Ihr. Lasst Euch dies eine Lehre sein und verzichtet auf die Abenteuer.“
Mit diesen Worten verschwand Herr Nahkrin zwischen den Bäumen und am selben Abend aus Eilstatt.

Und wieder ging es durch den großen Wald nach Thralin. Denn Nahkrin wollte zuerst zu seiner Schwester zurückkehren. Er wusste, dass sie sich unendlich große Sorgen gemacht hatte, um ihn und seine Verfassung, als er nach Ziems zu ihr gekommen war.
Und so lief er frohen Mutes und mit wenig Schmerzen durch den lichten Wald, sein Bündel geschultert, die Lebensmittel, die er zuvor in Priorstatt besorgt hatte, fest verschnürt.
Doch nach einer Weile spürte er es, jemand oder etwas folgte ihm. Ulfur witterte die Person zuerst, doch er geriet nicht in Aufregung, was in Nahkrin einen Verdacht aufkeimen ließ.
Und es dauerte nicht lange, da wusste er auch wer da im Schutz der Bäume herumschlich.
Doch er ließ sie schmoren und sich nicht anmerken, dass er sie gesehen hatte, die junge Heilerin.
Obgleich er ihre Sturheit bis zu einem gewissen Grad anerkennend zur Kenntnis nahm, genoss er es doch, sie in den Nächten allein da draußen zu wissen.
Denn langsam wurden diese kühler und allerlei Getier streifte durch die Wildnis auf der Suche nach Fressen für den Winter.
Sie musste wohl schreckliche Angst haben, aber sie wagte nicht, ein Feuer zu entzünden, damit er sie nicht sah. Doch sie unterschätze Nahkrin, dessen Augen sie schon an den Tagen erspäht hatten. Dieser hielt sich in stiller Freude zurück, tat so, als wäre nichts und wanderte weiter.
Was ihm allerdings Gedanken machte, waren die Petolaìn. Wenn sie angriffen – so dachte er zumindest – musste er das Mädchen schützen, den er stand nie in der Schuld eines anderen. Vorallem nicht von Frauen.
Es kam ihm immer noch schal hoch, wenn er daran dachte, dass er es so weit kommen hatte lassen. Sein Onkel Findoran hätte gesagt, er habe keinen Funken Anstand im Körper, sich auf eine nichtsnutzige Frau zu verlassen. Doch bei dem Gedanken an den Mann spuckte Nahkrin angewidert aus und verzog grimmig die Miene. Findoran hatte Glück, der Bruder seiner Mutter zu sein, sonst wäre er schon lange an einem Messer erstickt! Zornig stapfte Nahkrin weiter und verfluchte sich dafür, alten Gedanken nach zu hängen.
Der Abend wurde ungewöhnlich kalt und Nahkrin zog seinen Pelzumhang, den er umständlich in sein Bündel gepackt hatte, fester um sich. Er war nun froh, das schwere Ding aus U'shallach mitgebracht zu haben.
Plötzlich hörte er ein lautes Geraschel, ganz nah seinem Feuer und zog hastig sein Messer.
Auch Ulfur sprang ruckartig auf, die Lefzen grimmig verzogen.
Doch es war nur das Mädchen, das wie ein wild gewordener Hornissenschwarm durch das Unterholz brach. Ärgerlich steckte er das Messer weg und meinte ironisch: „Wie schön, Euch wieder zu treffen!“
Elim sah verlegen drein und er setzte nach, diesmal schon deutlich wütender: „Wieso könnt Ihr nicht hören, habt Ihr denn den Verstand eines Schafes? Ihr seid nicht für die Wildnis gemacht! Warum liegt Euch soviel daran, mir ständig und überall hin zu folgen!“
Plötzlich sah Elim auf und fasste seinen Blick, dann meinte sie mit leiser Stimme: „Es ist wegen Zuin und Olo und Neick, Alachmed und Archo, Kinnin und Aren, Niben und Ulim und Olym und Toro! Weil Ihr nun allein seid! Sie waren der Meinung, dass die Reise, die sie taten wichtig und richtig war! Und es waren gute Männer mit noch besseren Herzen! Ich fühle, dass ich Euch helfen muss, schon wegen ihnen!“
Damit trat sie in den Schein des Feuer und ihre Augen strahlten hell. Gegen seinen Willen war Nahkrin beeindruckt und überrascht. Das hätte er nie von dem jungen Hüpfer geglaubt!
„Ob Ihr mir helfen könnt, bleibt abzuwarten. Aber geht mir nicht im Weg um und redet nicht zu viel, ich kann unsinniges Geschwätz nicht ausstehen!“ Meinte er nur barsch und wickelte sich wieder fest ein.
„Und Euer Leben ist nur einmal sicher, ich bin niemand, der eine Frau retten würde. Seht zu, dass Ihr Euch selbst wehrt, ja?!“ Elim nickte und ließ sich an dem warmen Feuer nieder, das fröhlich flackernd niederbrannte.
„Da wir nun zu zweit sind, können wir ja wieder Wachen schieben, oder?“ Fragte sie zaghaft und Nahkrin murmelte: „Dann fangt gleich damit an! Weckt mich in ein paar Stunden!“
Er rollte sich in den dicken Umhang und schlief bald geräuschlos ein. Müde blinzelte Elim ins Feuer. Sie hatte in den letzten Nächten nicht viel Schlaf bekommen und Nahkrin war wie immer gelaufen als hätte er eine Hundemeute auf den Fersen. Und die Nächte waren empfindlich kalt geworden. Doch sie hatte sich nicht getraut, ein Feuer zu entzünden, da man sie sonst weit in den Wald hinein hätte sehen können. So war sie vor Angst schlotternd und mit eiskalten, starrem Körper in der Dunkelheit gelegen und hatte auf die Geräusche des Waldes gelauscht. Ein Brummen und Knarren war das gewesen, einmal hatte sie sich sogar eingebildet, eine Maus sei über ihre Hand gelaufen.
Doch nun, da sie nicht mehr allein war, wurde ihr Herz etwas leichter.
Sie hatte sich noch in der selben Nacht, als Nahkrin aufgebrochen war, davongestohlen, nur ein Zettel, der ihrer Mutter verriet, wohin sie gegangen war und dass sie ihr Schreiben würde, hatte sie hinterlassen. Zwar zupfte ihr Gewissen immer wieder leise an ihren Gedanken, aufgrund des überhasteten Aufbruchs ohne Abschied, doch war sie froh, dass sie nicht im Streit gegangen war, wie letztes Mal. Doch sie musste heimlich verschwinde, denn sie spürte die deutlich Abneigung der Mutter gegen den Krieger und sie gab ihr Recht. Auch Elim mochte den selbstsüchtigen und groben Mann nicht besonders, doch wenn die anderen ihm vertraut hatten und ihm gefolgt waren, dann konnte er nicht so schlecht sein!
Sie starrte hinaus ins Dunkel und drehte ein kleines Steinchen in der Hand, das sie gefunden hatte, auf ihrem Weg. Es hatte entfernt die Form eines Wolfskopfes.
Und sie sah Ulfur an. Er war wohl kein guter Wachhund.
Er hatte die Gruppe nicht vor den Petolaín gewarnt, oder vor der Zauberin oder dem Steinschlag. Doch er schien sich immer um das Wohl seines Meisters zu sorgen.
Er war wohl seinem Herren nicht zu unähnlich. Niemand auf den man sich verlassen sollte und niemand, dem man vertrauen konnte und der trotzdem das tat, was für ihn richtig war.

Der Morgen brach klar und warm herein und sie kamen gut voran.
Die Reise nach Thralin gestaltete sich als ruhig, die Petolaín schienen aus dem Landstrich verschwunden zu sein, oder sie hielten sich ruhig, weil sie nun den Krieger fürchteten.
Nach einigen Tagen erreichten sie schließlich die große Stadt, wieder wurde sich Elim der unglaublichen Größe der Anlage bewusst.
Sie marschierten in die belebten Gassen ein und kehrten auch wieder Deirjé zurück.
Mit einem Freudenschrei schloss sie den verloren geglaubten Bruder in die Arme. Auch Elim bedachte sie mit einer kurzen Umarmung, dann fegte sie eilig durch das Haus, deckte den Tisch, schniegelte ihre zwei Jungen, die ohne Zweifel ganz nach ihrer Mutter kamen, denn sie stürmten sofort auf den Krieger zu und befragten ihn stürmisch: „Onkel Nahkrin, Onkel! Habt Ihr etwas mitgebracht, habt Ihr? Erzählt eine Geschichte, Onkel!“
„Lasst doch mal euren Onkel in Ruhe essen, dann erzählt er euch sicher etwas!“
Elim beobachtete erstaunt, wie der Blick des grimmigen Kriegers weich wurde und er den jüngeren der beiden Neffen sanft mit einem Ruck auf die Bank hob.
Und die Kinder sahen sie mit großen Augen an und blieben dabei, während das Mädchen heimelig Suppe in sich hinein schauffelte.
„Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft. Das Essen war köstlich.“ Meinte Elim schüchtern und bedachte Deirjé mit einem kurzen Lächeln.
Diese lächelte warm und meinte, es sei alles nicht der Rede wert. Sie täte es ja gerne. Dann verkündete sie, dass sie sicher sehr müde vom langen Fußmarsch waren und schickte Elim ins Bett. Die Gastgeberin unterhielt sich noch lange leise mit Nahkrin in der Küche und Elim schlüpfte in eines der Gästezimmer, das die Frau ihr zuvor zugewiesen hatte.
Und in der Tat dämmerte sie bald dahin, ihre schmerzenden Knochen vergaß sie schnell.

Nach einem ruhigen Frühstück, bei dem Nahkrin immer wieder einen seiner Neffen hochnehmen musste, schlug Deirjé vor, sie sollten doch einmal den Marktplatz besuchen, es gäbe dort eine wunderbare Truppe von Schaustellern, die zur Zeit dort auftraten.
Während Nahkrin lautstark seine abwertende Meinung zu reisendem Volk – er nannte es schlicht Gesindel – kund tat, war Elim ganz begeistert.
Und so gingen sie – Deirjé und ihre beiden Söhne Nino und Imar- auf den Markt. Sie wusste nicht, welche düsteren Gedanken Nahkrin daheim bei seiner Schwester nach hing, aber diese meinte, er warte nur auf ihren Mann, mit dem er leidenschaftlich gern würfelte.
Währenddessen konnte Elim sich nicht an dem gebotenen sattsehen.
Der Platz war brechend voll von Ständen und Buden, es wimmelte von Menschen, die mal geschäftig, mal schlendernd durch die Gassen lustwandelten. Kleine Kinder liefen zwischen den Passanten herum, die Stimmung war heiter.
Die grauen Häuser, die aus dem Felsen der Umgebung gemeißelt zu sein schiene, waren mit bunten Fahnen und Wimpeln behängt, das Stimmengewirr war unheimlich.
Deirjé schärfte ihren Jungen einen Treffpunkt ein, wo sie wieder aufeinander stoßen würden, dann ließ sie sie laufen. Mit freudigem Johlen spurteten sie die Straße entlang, auf einen Stand voller bunter Luftschlangen und Drachen, die im Wind spielten.
Wie ein trockenes Tuch das Wasser, so nahm Elim die vielen bunten Eindrücke in sich auf. Dieser Markt war nicht mit dem zu vergleichen, den sie in Eilstatt kannte.
Alles war größer, lauter und viel farbenfroher. Sie sah Menschen aus dem Süden, die sie im Gebaren und in Aussehen an Alachmed dal Hannad erinnerten. Und wiederum eine Gruppe Reisende, die augenscheinlich aus dem Norden stammten, sie trugen dicke Pelz und schauten grimmig drein. Sie musste lachen. Denn auch Nahkrin betrachtete sie immer mit so einem Blick, es musste wohl das raue Wetter dort oben sein, die Kälte, einen solchen Grimm in die Gesichter schnitzte.
Die beiden Frauen machten an einem Stand halt und kauften sich kandierte Früchte am Spieß und Elim ließ sich die Leckerei genüsslich schmecken und wischte die klebrigen Finger ganz frei an ihrem Umhang ab. Niemand war hier, der sie tadeln wollte, nur die freundliche und kluge Deirjé und sie selbst. Elim genoss ihre neue Freiheit schon sehr.
Bald kam eine Truppe Gaukler in Sicht, die mit allerlei Kunststücken und Kniffen die Menge verzauberten. Deirjé flüsterte Elim zwar zu, sie solle auf ihre Taschen Acht geben, doch die starrte nur gebannt auf das Spektakel. Und konnte sich glücklich schätzen, dass ihr nicht abhanden kam, den an diesen Tag fanden viele fremde Hände in Börsen, wo sie eigentlich nichts verloren hatten.
Staunend beobachtete Elim derweil die Fertigkeiten der Schausteller. Sie machten Handstände und liefen auf ihren Händen einige Schritte, dann sprangen sie wild umeinander, klatschten und sangen ausgelassen. Und voller Freude tat Elim es ihnen gleich, ließ ihre Stimme schief und herzhaft mitklingen.
Doch plötzlich brach ein Tumult aus, einige Reiter bahnten sich ihren Weg durch die Gauklertruppe und man stellte sich gebieterisch vor der Menge auf. Der Banner, den einer trug, zeigte das Emblem des Fürsten von Thralin und so verstummte die murrende Menge schnell und man lauschte angespannt dem Herold, der hervortrat:
„Hört, Ihr Leute von Thralin,“ Rief er mit wohlklingender, durchdringender Stimme und hob ein Pergament in die Höhe, auf dem wohl die wichtige Nachricht zu lesen war, „der Fürst ist krank, ein unbekanntes Leiden rafft ihn dahin. Sein Sohn, Norkin der Zweite, wird mit Hilfe seines Beraters das gewichtige Erbe des Herrschers übernehmen. Ihn sollt Ihr von nun an Fürst Norkin nennen!“ Mit diesen Worten wandte sich der zierliche Mann ab und seine Gefährten folgten ihm.
Unsichere Blicke flogen über die Menge, dann setzte aufgeregtes Gemurmel ein. Elim wandte sich an Deirjé, die tief in Gedanken versunken zu sein schien, von ihrer Unbeschwertheit war nicht mehr viel zu erkennen. Nach kurzer Zeit schafften sich die Akrobaten wieder Platz und machten Scherze über die Gesandten und so nahmen sie die Verunsicherung von der Menge und bald herrschte wieder fröhliche Stimmung.
Doch die Schwester des Nahkrin blieb unruhig, bald fing sie ihre zwei wilden Söhne ein und meinte, Elim könne sich noch etwas auf dem Markt umsehen.
Da diese das Aufheben um die Krankheit des Fürsten nicht begriff, blieb sie dort.
Es kam ihr wie ein Wunderland vor.
Hier konnte man Schätze aus dem Süden bestaunen, gewebtes Tuch und seidige Schals in allen Farben und bestickt mit Mustern, die Elim noch nie zuvor gesehen hatte.
Dort gab es Schmiedearbeiten aus dem Norden, an denen sicher Akir oder Krioll gefallen gefunden hätten. Ob ihr Bruder wusste, dass der Schmied sein Vater war?
Elim blieb nachdenklich stehen und ließ die Menschen an sich vorbeilaufen, wie an einem Fels im Flusslauf.
Später erstand sie bei einer Kräuterfrau einige Ingredienzien und Tinkturen, die sie nur mühselig selbst hätte herstellen können. Und sie leistete sich ein leicht fehlerhaftes Paar Ohrringe, die golden funkelten. Diese steckte sie aber sofort in ihren Beutel, denn sie wollte nicht Diebe oder anderes Gesindel auf sich aufmerksam machen.
Langsam zog es sie zu einer Menge, die einer Bardin lauschte. Ihre klare, wunderbare Stimme erfüllte die Luft wie ein Vogelschwarm, die Lautenklänge dienten dem Klang wie eine Leinwand dem Maler.
Mitgerissen lauschte Elim ihrer Weise über den großen Wald, seine Unendlichkeit und seine Gefahren. Seine Schönheit und seine unerschöpfliche Kraft, die wohl schon seit den Anfängen bestanden haben musste.
Dann stimmte sie ein fröhliche Melodie an und berichtete über Hidran, seine tapferen Männer und Frauen, die die Seeschlange von Noshkem bezwungen hatten.
Nach einer Weile packte die Frau allerdings ihr Instrument ein – unter dem enttäuschten Gemurre der Menge – und verkündete, sie müsse nun ihre Stimme etwas schonen.
Nachdem sich das Volk verstreut hatte, trat Elim nach langem Zögern an die Frau heran, die ihr langes, schwarzes Haar unter einem Tuch verbarg und fragte schüchtern: „Ihr...seid wohl schon viel herumgekommen, oder?“
Die Bardin sah sie mit hochgezogenen Brauen an. „Das kann man wohl sagen.“ Meinte sie und blickte Elim mit einer strengen Miene an, sodass sie sich noch linkischer vorkam.
„Könnt Ihr mir etwas über die Provinz Tasso erzählen?“ Fragte Elim und bemerkte, wie sich die Miene der Sängerin auf hellte und sie Elim bat, mit ihr in das nächste Wirtshaus zu kommen.
Ganz wohl war dem Mädchen nicht dabei, sich mit dieser Fremden von der Menschenmenge zu entfernen, doch sie konnte nichts schlechtes an ihr sehen und sie war immer noch zu beeindruckt von dem wundervollen Gesang der Bardin.
„Nun, was wollt Ihr hören? Tasso ist meine Heimat, ich stamme aus dem kleinen Nest Thir, es ist etwa eine Tagesreise südlich von Gut Safyras.
Als Kind kam ich zur Lehre in die Burg der Leute Safyras, und ich muss sagen, es gibt keine besseren Mensch als Fürst Ullar, er ist gütig und gerecht. Und das Land blüht und gedeiht unter seiner Herrschaft. Nach einiger Zeit kam nun auch Fürstin Alina zu ihm und ich kann Euch versichern, ein schöneres und sanftmütigeres Geschöpf als sie werdet ihr innerhalb der Grenzen von Kamaldun nicht finden.
Ach, Tasso!“
Elim hatte sich mit der Frau an einen Tisch gesetzt und sah ihr dabei zu, wie ihre Hände in der Luft schwebten und Muster beim Sprechen woben. Die Sängerin seufzte und richtete ihren Blick träumerisch in die Ferne.
„Nun, es ist jung und grün. Das Land ist wunderbar schon seit Anbeginn der Zeit. Und schlechte oder verderbte werdet Ihr dort nicht so leicht finde.
Doch der Straße nach Tasso ist gefährlich, der öfteren entschwinden Wanderer und Reisende auf dem Königsweg. Sagt, wollt Ihr dorthin?“
Elim nickte und log: „Ich und meine Schwester...Deirjé wollen Verwandte dort besuchen.“
Meinte das Mädchen und wich dem Blick der weisen Frau aus.
„Wohin zieht es Euch denn?“ Hakte die Bardin nach und beäugte Elim neugierig.
„Nun, ich denke, nach zur Burg des Fürsten.“
Die Frau klatschte begeistert in die Hände und rief aufgeregt: „Dann habe wir ja den selben Weg!“
Entgeistert starrte Elim sie an, doch sie blieb eine Antwort schuldig, denn der Ober, ein hagerer, missmutiger Kerl, brachte ihnen zwei Honigbier.
„Ich heiße übrigens Nahra Somlin,“ sie streckte Elim die Hand hin und blickte sie mit freundlicher Miene an, „und bin erfreut, Eure Bekanntschaft gemacht zu haben...Und Ihr seid?“
„Elim...Juin. Ja, freut mich auch.“ Sie ergriff steif die ihr dargebotene Hand und schalt sich, dass sie den Namen des verstorbenen Kochs so missbrauchte.
Sie tranken noch eine Weile miteinander, dann verabschiedete sich Elim mit einem gestammelten Vorwand und verschwand so schnell wie möglich aus der Taverne.
Das war gerade noch gut gegangen. Sie hatte nämlich das unbestimmte Gefühl, dass Nahkrin ihr die Haut langsam abziehen würde, wenn sie zu viel über ihre Reise verraten würde. Und Elim war keine gute Lügnerin, sogar eine Miserable war sie.
Sie blickte sich ein paar mal um, ob auch niemand ihr folgte, dann streunte sie noch eine Weile über den Markt und kehrte schließlich zu Deirjés Haus zurück.
Als sie eintrat, bemerkte sie ein äußerst merkwürdiges Spektakel. Nahkrin stritt mit einem jungen Mann, sein Kopf war hoch rot. Vor ihnen auf dem Tisch lagen zwei Würfel und es schien sich alles um eine angeblich zu niedrige Augenzahl zu drehen. Deirjé, die daneben saß, und eine Hose eines ihrer Kinder nähte, warf immer wieder Bemerkungen zum Sinn des Spiels ein.
Als Elim eintrat blickte der fremde Mann auf und stellte sich sofort als Conor Nunbai vor, er war wohl Deirjés Gemahl. Das Mädchen fand ihn auf Anhieb sehr vertrauenswürdig, seine hellen Augen funkelten schelmisch, als er ihr die Hand reichte, die Lippen zu einem herzlichen Lächeln verzogen.
Er lud sie ein, den beiden noch ein wenig beim Spielen zu zu sehen, nachdem Elim kund getan hatte, dass sie vom Würfelspiel nicht die geringste Ahnung hatte. Auch wollte sie nicht gegen Nahkrin oder den wie ihr auffiel äußert gewieften Conor antreten, da Ersterem noch eine gewisse Mordlust im Blick stand und Zweiterer sie wohl ziemlich schnell geschlagen hätte.
Und sie war sich sicher, dass sie ihrem Begleiter nicht von der Begegnung mit Nahra Somlin erzählen sollte, das hätte erneut Missfallen seinerseits erregt.
Doch trotz der ausgelassenen Stimmung im Hause Nunbai nahm Elim eine gewisse unterschwellige Stimmung war, ein unausgesprochenes Schweigen, das aber nicht angenehm oder gut war.
Am Abend sprach Nahkrin noch einmal lange mit Deirjé, doch Elim schlossen die beiden sorgsam aus, was sie sehr verärgerte. Sie spielte noch ein bisschen mit Imar, dem jüngeren Sohn Conors, der ihr voller Stolz einige von Hand geschnitzte Figuren zeigte, ein Geschenk seines Vaters. Sie bewunderte sie ausgiebig, war allerdings eher abwesend und brachte das Kind bald darauf ins Bett.
Dann beschloss sie schließlich, das warnende Gefühl in ihrem Inneren ignorierend, in die Küche zu gehen und das vertrauliche Gespräch zu stören. Wenn es etwas war, dass nur Bruder und Schwester zu bereden hatten, dann mussten sie das Elim doch sagen!
Als sie eintrat, verstummte beide sofort und zwei absolut gleiche Augenpaare richteten sich auf Elim. Nahkrin schenkte ihr nur einen verärgerten Blick und meinte: „Geht ins Bett, das hier ist nicht für Eure Ohren bestimmt, hört Ihr?“
Wie üblich beachtete Elim seine barschen Worte nicht weiter und blickte stattdessen Deirjé fragend an, die wiederum kurz ihren Bruder ansah und dann das Mädchen bat, sich zu setzen. Nahkrin sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, äußerte allerdings seinen Unmut nicht.
„Ich meine schon lange, dass man Euch einweihen sollte, doch mein Bruder hatte nun mal seine Bedenken,“ Sie fing sich darauf ein entrüstetes Schnauben als Erwiderung ein, doch Deirjé fuhr ungerührt fort, „nun, etwas Merkwürdiges geschieht in Thralin. Wie Ihr vernommen habt, ist Fürst Norkin plötzlich erkrankt. Ich bin kein Heiler,“ sie warf Elim einen wissen Blick zu und sprach weiter, „aber etwas ist hier nicht richtig! Niemand kann ihm helfen, niemand weiß ein Heilmittel! Langsam siecht er dahin, und wenn Ihr mich fragt, hört sich das nach einem seltenen Gift an, doch ich kann es weder beweisen, noch bin ich mit Giften und schädlichen Substanzen sehr vertraut...“ Deirjé endete kurz und Elim nickte unsicher. Auch sie war nicht gerade so bewandert in den abseitigen Pfaden der Kräuterkunde. Nahkrin lächelte hämisch und beugte sich vor, um zu bemerken: „Siehst du, ich hatte Recht. Es bringt absolut gar nichts, sie damit zu behelligen, das übersteigt ihren Horizont!“
„Bruder, sei nicht so gemein!“ Meinte Deirjé scharf und wandte sich dann mit sanfterer Miene an Elim, die sich ganz klein gemacht hatte, einen feinen Schmerz in der Brust spürend, „Ihr seid noch jung. Und wenn die erfahrensten Heiler von Thralin kein Mittel wissen, wie wollt Ihr dann den Schlüssel in Händen halten?“
Elim riskierte einen Seitenblick auf Nahkrin, der sich mit gleichmütigem Gesichtsausdruck zurück gelehnt hatte, doch sobald er sein Rücken die Stuhllehne berührte, zuckte er merklich zusammen und versteifte sich.
Deirjé, der dies auch aufgefallen zu sein schien, bedachte ihn mit einem mitleidigen und besorgten Blick. Blitzartig verdüsterten sich die Augen des Kriegers, ein unglaublich zorniger Ausdruck überschattete sein Gesicht. Einen Moment fürchtete sich Elim vor ihm, eine glutheiße Angst schoss in ihre Knochen, wie vor einem Schmerz, den man nicht abwenden konnte.
Mit einem Rumpeln warf er den Stuhl auf dem er gesessen hatte um und verkündete steif, mit einer unterschwelligen Wut in der Stimme, dass er jetzt zu Bett ginge.
Verwirrt und ängstlich schaute Elim ihm nach und sah dann Deirjé fragend an. Diese zuckte nur mit den Schultern und murmelte etwas von alten Wunden und dass Nahkrin es ihr selbst erzählen müsse. Zwar war das Mädchen nicht mit dieser fadenscheinigen Antwort zufrieden, doch erkannte sie doch, dass die Schwester Recht mit ihrer Aussage hatte.
Ungeachtete des gerade geschehenen Wutausbruchs erzählte Deirjé flüsternd weiter:
„Es gibt einige Fürstentümer in Kamaldun, wie Ihr sicher wisst! Vor einiger Zeit bereiste auch ich eines, nämlich das östliche Hidran. Und mir kam durch Zufall zu Ohren, dass dort eine unbekannte Krankheit den Fürsten dahinraffte. Nun kann dies nur ein Gerücht sein, denn um den Thron wurde dort schon lange gestritten, doch angesichts der Vorfälle hier, glaube ich nicht so recht daran. Und aus einigermaßen verlässlichen Quellen habe ich erfahren, dass auch in anderen Fürstenhäusern plötzlich gesunde Männer erkranken, dass ihr Geist schwach wird, sowie ihre Körper. Nun ist das nicht das Thema einer einfachen Köchin, doch finde ich es höchst beunruhigend.
Ihr müsst wissen, dass mein Bruder beim König höchstpersönlich lebt und dass dort die Vorkommnisse schon lange bekannt sind. Aber entweder weiß König Askar nicht, wie in einer solchen Situation vorgegangen werden sollte oder er hat die Entscheidung getroffen, diese Vorfälle nicht zu beachten. Ihr versteht, warum mir dies Kopfzerbrechen bereitet?“ Elim nickte und fragte sich zum wiederholten Male, was dieser Askar, von dem sie noch nicht viel gehört hatte, wohl für ein Mensch war. Wahrscheinlich kein guter! Und auch kein weiser König!
Doch sie konnte zu dem Gesagten nicht viel beitragen, Nahkrin hatte wieder Recht! Sie murmelte nur, dass es auch Zufall sein könnte und Deirjé gab ihr nur leise zu verstehen, dass wohl die Sache noch überdachte werden müsse. Dann begaben sich beide zu Bett.

Elim blieb noch einige Tage bei der Schwester des Nahkrin und fühlte sich von Tag zu Tag wohler und gestärkter dort. Die zwei Jungen fand sie einfach nur unendlich niedlich, Conor brachte ihr langsam das Würfeln bei, was Nahkrin äußert missbilligend zu Kenntnis nahm und sie bekam sogar von dem kleinen Imar eine Holzfigur geschenkt. Er meinte stolz, er habe sie selbst gemacht und Elim war froh, dass Deirjé den Jüngsten dann zum Waschen schickte, denn sie konnte beim besten Willen nicht sagen, um was für ein Tier es sich handelte. Trotzdem packte sie es in ihr Bündel und nahm sich vor, es bei ihrer Rückkehr auf ihr Nachtkästchen zu stellen.
Nach etwa einer Woche brachen sie auf, der Morgen war noch frisch und klar und nur ein paar Kaufleute strebten auf den nahen Markt. Doch sie verließen die Stadt nicht im Süden sondern durchquerten das Osttor.
Die samtene frühe Sonne bestrahlte die Ebene von Kamaldun, die sich rings um Thralin in alle Richtungen des Himmels erstreckte. Sie war durchschnitten von einem breiten, hellen Band, dem Königsweg, der sowohl der Länge nach, als auch dem Horizont folgend das Land durchmaß. Sanfte Hügel zogen sich wie Wellen auf ruhigem Wasser über das Land, nur vereinzelte Baumgruppen säumten den Pfad. In der Ferne konnte man einige Bergspitzen ausmachen, die wie Speere in den Himmel ragten. Sonst waren nur die saftigen Weiten und kleinen Weiler des Umlands zu sehen.
Nahkrin schritt schnell aus, sie ließen bald die ersten Karawanen der Händler, die nach Thuaith unterwegs waren oder ebenso nach Tasso gelangen wollten, hinter sich. Nur selten begegneten sie anderen Reisenden danach.
Glitzernd legte sich Raureif auf die Halme der Schilfwälder nahe der Straße, denn ein Fluss, der Ewar zog sich wie eine träge Schlange durch das Land. Staunend betrachtete Elim seine Schönheit, vereinzelt erhoben sich Reiher aus dem Wasser oder Frösche sprangen mit einem lauten Spritzer in die Wellen.
Doch Nahkrin war nicht empfänglich für solche Naturschauspiele. Er stapfte mit äußerst schlechter Laune voraus und Elim wagte nicht, ihn auch nur zu fragen, wie weit es denn eigentlich nach Tasso sei und ob der Fürst der Region sie – zwei einfache Wanderer – ohne Bedenken zu sich hereinbitten würde.
Grübelnd folgte sie dem Mann also und spürte bald wieder ein schmerzhaftes Ziehen in den Sohlen, das ihr verriet, dass sie nicht ohne weiteres mit den langen, trainierten Beinen des Kriegers mithalten konnte.
Sie trafen auf dem Weg auf die Gaucklertruppe vom Markt, sie machten Scherze auf ihrem Wagen und winkten den Vorbeiziehenden fröhlich zu. Nur Elim winkte zurück. Doch sie wusste, dass sie sie unmöglich erkannt haben konnten.
Zu Elims Erleichterung war wohl die Bardin Nahra schon lange vor ihnen aufgebrochen, oder sie hatte noch vor, zu verschwinden, denn sie trafen sie nicht auf der Strecke.
Ulfur streunte oft vom Pfad ab und brachte seinem Herren Wildhühner aus den kleinen Waldgruppen oder Hasen von den Feldern. Elim fragte sich ernsthaft, warum das riesenhaft Tier nicht seine Beute bei sich behielt und sie verspeiste, aber vermutlich verhielt er sich in der Weise wie ein Katze, die ihren Fang beloben lassen will.
Sie fürchtete sich nicht mehr sehr vor Ulfur. Auch wenn der Wolf sie nicht sonderlich mochte, tat er ihr doch kein Leid zu, weil er auf eine sonderbare Art und Weise verstanden hatte, dass sie seinem Herren geholfen hatte.
Gegen Mittag rasteten sie auf einer kleinen Anhöhe nahe der Straße und Elim kaute ihr hartes Brot, dass sie aus Thralin mitgenommen hatte, während Nahkrin an einem Streifen Trockenfleisch herum biss. Sein Blick schweifte immer wieder zu den Hügeln, die vorraus lagen und feine Sorgenfalten gruben sich in seine Stirn.
„Man sagte mir, dass der Pfad hier gefährlich sei... Wisst Ihr etwas über ihn?“ Traute Elim schließlich zu fragen. Sie erinnerte sich an die Worte von Nahra, die ihr unangenehm im Gedächtnis geblieben waren.
„Nicht gefährlicher als jeder anderer Weg in Kamaldun. Wenn man ein Schwert und einen einigermaßen klaren Kopf hat.“ Bemerkte Nahkrin bissig, beachtete sie aber nicht weiter. Elim schluckte schwer und dachte daran, wie schlecht sie doch in der Lage war, sich vor körperlichen Angriffen zu schützen. Sie hatte wohl auch zu viel Angst, um sich richtig wehren zu können...
Die Nächte auf der Ebene waren kalt, Elim fühlte sich merkwürdig einsam, wenn sie am Feuer wachte. Zum wiederholten Male fragte sie sich, was sie hier tat und ob ihre Anwesenheit überhaupt irgendetwas bewirkte. Doch tief in ihrem Inneren spürte sie, dass sie vielleicht doch noch eine tragende Rolle zu spielen hatte.

Sie wanderten nun schon vier Tage nur dahin, langsam kamen die Hügel, die anderen als die Kolméhügel bekannt sind, immer näher und die Nächte wurden klarer, aber auch noch frostiger.
Eines Nachmittags ruhten sie sich gerade von einen besonders langen Marsch aus, als Ulfur zu knurren begann. Er sprang auf und erschrocken bemerkte auf Elim einige Sekunden später. Das sich in den nahen Büschen etwas regte.
Plötzlich brachen Männer aus den Sträuchern und das Mädchen machte mit weit aufgerissenen Augen einen Satz nach hinten. Nahkrin zog sofort sein Schwert und stellte sich demonstrativ auf.
„Wer seid Ihr und was wollt Ihr, das Ihr Euch so an zwei Reisenden heranmacht?“ Rief er laut und deutlich und sie stürmten plötzlich auf ihn los.
Nahkrin schlug sich gut mit seinem Schwert, doch die Männer waren keine Narren. An der Art, wie sie sich bewegten, konnte man erkennen, das auch sie nicht ganz unerfahren waren und so konnten sie Nahkrin schnell überwältigen. Elim, die vor Furcht wie gelähmt dalag, starrte die Fremden nur mit vor Schrecken geweiteten Augen an, ihr Herz schlug in unangenehm starker Weise gegen ihr Rippen.
Einer der Männer näherte sich ihr und zog sie grob hoch, ihr Arm schmerzte davon. Eigentlich wollte sie sich wehren, doch ihr Kopf war leer. So stierte sie nur geradeaus und dachte kurz an den Dolch, der in ihrem Bündel Platz fand. Doch er könnte genau so gut in Eilstatt sein, so unmöglich war es ihr jetzt, ihn zu erreichen. Und sie wusste wohl, dass es keinen Sinn machte, sich gegen die Räuber – und das waren sie ohne jeden Zweifel – aufzulehnen.
„Da wird sich Boss aber freuen! Schau dir mal die zwei Vögelchen an!“
Sie stießen den vor Wut schier rauchenden Nahkrin vor sich her, der aus einem kleinen Schnitt am Bein blutete, Elim wurde hinter ihm hergeschoben.
Von Ulfur, diesem untreuen Tier, war keine Spur, er musste sich davongestohlen haben, dachte Elim verächtlich.
Man drängelte und stieß sie voran, einige Zeit, es kam ihr vor wie Tage, doch waren es höchstens ein paar Stunden. Doch bevor sie ihr Ziel erreichten, wurden ihnen muffige Säcke über den Kopf gestülpt. Panisch versuchte Elim nun doch weg zu kommen, das stinkende Leinen nahm ihr die Luft zum Atmen, doch man hielt sie eisern fest.
Ihr ganzer Körper zitterte heftig, sie stolperte mehr, als das sie ging. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst gehabt.
Alles war dunkel und ihre Arme und Beine schmerzten von Schlägen und Tritten. Manchmal hörte sie Nahkrin zwischen zusammengebissenen Zähnen dumpf Stöhnen. Er war wohl noch bei ihr, doch auch seine Stimme klang gedämpft, vermutlich steckte auch sein Kopf in einen Sack.
Der Untergrund wandelte sich nach einer schieren Ewigkeit, sie traten nicht mehr auf der weichen Erde, die neben der Straße war sondern auf harten, unebenen Stein. Elim versuchte panisch, nicht zu fallen, doch sie kam mehr schlecht als recht mit den anderen mit. Sie vernahm das Schnaufen und Fluchen der Männer um sich, sie hatten wohl Schwierigkeiten mit Nahkrin. Das er sich niemals fürchtete?
Elim für ihren Teil war nur zu sehr von Furcht erfüllt, ihr Herz war heiß vom unablässigen Trommeln in ihrem Brustkorb, ein feiner Rinnsal von Schweiß und Tränen benetzte die Wangen des Mädchens.
Jäh wurde den beiden die Kapuzen heruntergezogen und sie fanden sich in einer eigentümlich widerlichen Höhle wieder. Roher Stein zierte die Felswände, die nur von dem gelegentlichen Schein von Fackeln erleuchtet wurden. Eine Horde von schmutzigen, wild aussehenden Männern scharrten sich um einen grob zusammengezimmerten Stuhl, auf dem eine Frau saß. Aus boshaften, schmal zusammengekniffenen Augen blickte sie Elim und Nahkrin an und nickte dann zufrieden, ein höhnisches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

„Oh große Bareba, hier der Aufrührer! Wie Ihr es gewünscht habt!“ Ein Schurke, der Elim gepackt hatte, trat vor und verneigte sich vor der Frau namens Bareba. Ihr glatzköpfiges Haupt senkte sich kurz, dann lachte sie aus vollem Hals. Sie stieg von ihrem Thron herab und schlenderte auf Nahkrin zu.
Mit forschenden Blicken maß sie den Krieger, dann wisperte sie: „Schon lange ist es her, mein lieber Nahkrin. Ihr habt Euch verändert, und nicht zum Besseren, wie ich meine!“
Sie hob die Hand, um seine Wange zu berühren, doch er wehrte sie harsch ab und erwiderte mit zornerfüllter Stimme: „Das selbe kann ich von Euch behaupten, Bareba. Oder sollte ich sagen, Finda?“
Seine Gesicht war zu einer gehässigen Maske verzogen und Elim erkannte sofort, das hier ein alter Groll schwelte. Sie duckte sich und machte sich darauf gefasst, dass die Frau gleich einen von ihnen beiden bestrafen würde. In der Tat zuckte ihr Mundwinkel gefährlich in die Tiefe, doch sie überspielte ihren Ärger mit einer spitzen Bemerkung. „Ich denke, es ist jemand hier, der Euch gerne einmal wieder sehen wollte...“
Mit diesen Worten winkte sie einem ihrer Schergen zu, der daraufhin für kurze Zeit in einen Nebenraum verschwand und dann in Begleitung eines ältlichen Ehepaars zurückkehrte.
„Du bist zurückgekehrt, Sohn meiner Schwester!“ Ein Mann trat vor. Er hatte warme braune Augen, ein bisschen wie Nahkrin. Doch trotz seiner liebevollen Miene nahm Elim einen gewissen grausamen Zug um seinen Mundwinkel war.
Der Fremde breitete die Arme aus und ging auf Nahkrin zu, doch der beugte sich nur vor und spuckte dem Mann ins Gesicht. Irritiert blieb dieser stehen, zog ein Stofftaschentuch aus seiner Jackentasche und wischte sich sorgsam über das Gesicht. Dann holte er aus und schlug dem Krieger mit voller Wucht ins Gesicht.
Mit einem entsetzten Aufschrei schlug Elim die Hand vor den Mund und starrte den Fremden an.
„Noch immer so störrisch wie damals, wie? Warst ein widerlicher Bastard, du und deine liederliche kleine Hure von Schwester! Aber das macht gar nichts! Ich bin mir sicher, wir können uns einigen, was mein Angebot dir gegenüber angeht!“ Er trat auf Elim zu, die erschrocken zusammenzuckte und sich vor dem Mann duckte.
„Sie ist jünger, als die, die du sonst immer hattest!“ Er nahm Elims Kinn grob in die Hand und musterte sie abschätzig, dann ließ er sie los und meinte im weg gehen: „Schneidet ihr etwas ab, ich will das sie blutet! Und lasst ihn zu sehen!“
Mit angstgeweiteten Augen sah Elim ihm nach. Hatte sie sich verhört? Doch als die Männer der Bareba auf sie zu traten, fühlte sie sich, als hätte jemand ihr in den Magen geschlagen. Sie wand sich und kratzte und versuchte sogar todesmutig einen der Angreifer zu beißen, doch sie hatten sie schnell im Griff.
Elim schrie und flehte, Tränen rannen ihr unkontrolliert über die Wangen, sie musste sich fast übergeben, so sehr geriet sie in Panik. Doch nichts half. Ihr Blick wanderte hinüber zu Nahkrin, der allerdings nur teilnahmslos die Szene beobachtete. Seine Augen schienen zu sagen, dass er auch jetzt froh gewesen wäre, wenn sie daheim geblieben wäre. Doch er war nicht bereit nachzugeben, ihr zu helfen!
Das Mädchen rief ihm trotzdem verzweifelt zu, er solle ihr helfen, doch er wandte nur den Blick ab und starrte den Fremden mit glühenden Augen an.
Einer der Männer, die Elim festhielten, zückte ein altes Messer. Ein anderer hielt ihr Hand umklammert.
Voll Grauen sah Elim, wie er es langsam an ihrem Finger ansetzte und sie versuche erneut mit Leibeskräften, frei zu kommen. Der Mann mit dem Messer warf Bareba einen fragenden Blick zu, die dann nickte.
Ohne viel Federlesen trennte der Bandit das vorderste Glied ihres kleinen Fingers ab. Mit grauenvoller Langsamkeit nahm Elim war, wie er erst Haut, dann Muskeln und dann Knochen zerschnitt. Sie biss sich auf die Lippe, bis sie blutet um nicht zu schreien. Doch als das abgetrennte Stück zu Boden fiel, hallten ihre Klagelaute durch die Halle.
Mann warf das greinende Mädchen zu Boden und alle Blicke richteten sich wieder auf Nahkrin, der allerdings beharrlich schwieg.
„Du bist ein verdammt harter Bastard!“ Verkündete Findoran, denn so hieß er. Er überlegte kurz, dann meinte er. „Schließt die beiden ein! Aber getrennt voneinander, ja? Ich werde beide noch einmal brauchen, bringt sie also nicht zu weit weg!“

Es hätten Monate, Jahre oder eine schiere Ewigkeit vergehen können, Elim hätte davon nicht besonders viel mitbekommen.
Sie lag in einer schmutzigen Zelle am Boden, nicht einmal in der Lage, sich aufzusetzen. Die linke Hand hielt sie die ganze Zeit schützend in der rechten, der Blutstrom des fehlenden Fingerstücks ebbte nur langsam ab.
Sie weinte bittere Tränen um ihren Verlust, gab sich ohne jede Gedanken ihrem Selbstmitleid hin. Sie rief oft nach ihrer Mutter, es kam ihr vor, als müsse sie über all diesen Schmerz verrückt werden. Sie vergaß alles, was sie über Wundheilung wusste, drückte nur immer den verbliebenen Stummel ihres Fingers an die Brust.
Sie fror erbärmlich und hatte unheimlichen Hunger. Niemand kam und gab ihr etwas zu Essen, erst nach einem – oder konnten es zwei gewesen sein – Tag erschien einer der Männer, die sie festgehalten hatten und brachte ihr eine Schale unansehnlichem Eintopf. Die Hälfte des Essens verschüttete er ins Stroh und Elim hasste sich dafür, aber sie grabbelte sogar mit den bloßen Fingern nach dem schmutzigen Brocken, die dort im Dreck lagen.
Zitternd saß sie in einer Ecke und wartete.
Sie konnte nicht die Sonne sehen, wusste nicht ob es Tag oder Nacht war. Nur ihr Schmerz war real, alles andere war absurd weit weg. Manchmal nickte das Mädchen ein, um dann schweißüberströmt einige Augenblicke später völlig orientierungslos wieder zu erwachen.
Sie konnte nicht ahnen, dass Nahkrin in der Zelle gegenüber noch unvorstellbarere Qualen litt.
Man geiselte und folterte ihn, bis er blutend und halb tot im Schmutz dalag. Denn er besaß etwas auf das seine Pflegeeltern aus waren. Und Findoran und Snoja waren durch und durch böse Menschen, denen nichts am Leben des Mannes lag. Dem Bruder der Mutter des Nahkrin waren schon immer Gold und Wein die liebsten Begleiter gewesen und auch seine Gemahlin, die arglistige Snoja, fand Gefallen an Geschmeiden und dem Luxus eines geräumigen Hauses und einer großen Dienerschaft. Doch ihr Reichtum war begrenzt und so nahmen sie der Kinder der Mutter bereitwillig auf, um sie nach ihrem Willen zu formen.
„Du bist ein dreckiger, kleiner Aasfresser! Redet, oder ich brech' dir jeden einzelnen Knochen!“ Doch Nahkrin schwieg, ein völlig humorloses Lächeln huschte über seine Lippen. Ein weitere Tritt in seine Rippen folgte. Man hörte gut das Knacken der brechenden Knochen, das schauerlich von den Wänden der Folterstätte widerhallte.
An sich waren die Banditen ehemalige Bauern und Händler gewesen, ganz einfache Leute, doch ihr Hunger nach dem elenden Klimpergeld hatte sie in die Kolméhügel getrieben, wo sie Reisenden auflauerten.
Doch eines Tages hatte jemand an Bareba eine Nachricht herangetragen, dass der, den sie schon lange suchte durch ihre Lande ziehen würde und so hatte sie Späher ausgesandt.
„Was hättet Ihr denn mit mir vor, wenn Ihr habt, was Ihr wollt?“ Nahkrin hustete und spuckte etwas Blut aus. Man hatte ihn an einen Stuhl gebunden, er war vollkommen nackt. Es gab kaum Stellen der Haut, die nicht zerschunden oder gequält waren, trotzdem starrten unheimlich zornig funkelnde Augen unter den dichten Brauen hervor.
„Nun, wenn ich dich nicht mehr gebrauchen kann, müssen wir dich natürlich beseitigen. Aber sieh es mal so: Du ersparst mir einige große Mühen und dir einiges an Schmerz, wenn du kooperierst!“ Findoran wischte sich das Blut an einem bestickten Taschentuch ab, dann steckte er es zurück in sein feines Wams und beugte sich zu dem Gefolterten hinab.
„Du bist weniger wert als deine dumme Schwester. Beide wart ihr uns eine unendliche Plage, ich bin froh, dass dir Korvo dieses kleine Andenken verpasst hat. So kannst du immerzu an uns denken, oder?,“ er strich über die Narbe in Nahkrins Gesicht, dem Mordlust in den Augen stand. Doch er sagte kein Wort, bot dem grausamen Onkel keine weitere Angriffsfläche, was dessen Zorn nur noch weiter schürte.
Es folgten ein paar heftige Schläge und der Kopf des Kriegers sackte schließlich nach vorne. Auf Findorans Befehl brachte man schließlich einen Eimer Wasser, um den Bewusstlosen wieder zu neuem Leben zu erwecken.
Jemand betrat Elims Zelle und mit Grauen drückte sie sich in eine der hinteren Ecken, doch man packte sie nur am Arm und zerrte sie hinaus. Sie folgte bloß, wie ein räudiger Hund und ein kleiner Funken ihrer selbst wollte rebellieren, doch die Pein und die Furcht waren zu gewaltig und so schwieg sie und richtete gebrochen den Blick zu Boden.
Durch unzählige Windungen folgte sie einem dunklen Tunnel, die festgetretene Erde verriet Elim, dass er wohl unterirdisch angelegt worden war. So tief waren sie nun schon im Erdreich, dass die Wände feucht und kalt wurden, manchmal stieß Elim, schwach und entkräftet wie sie war gegen die Felsen.
Schließlich betraten sie einen weitläufigen Raum und der grobschlächtige Mann stieß Elim vor. In der Mitte des riesigen Zimmers stand ein Stuhl, doch er wurde verdeckt von dem Fremden, der angeordnet hatte, ihr einen Finger abzuschneiden. Glühender Zorn breitete sich in Elims Herz aus wie ein Geschwür, doch wurde er sogleich von einer eisige, lähmenden Furcht erstickt, die aus ihrem Geist zu stammen schien. Sie fühlte sie dumm und feige, doch sie duckte sich auch jetzt wieder angesichts des Feindes.
Der Mann wandte sich ihr zu und lächelte gewinnend. Dann meinte er mit einem eisigen Glitzern in den Augen: „Bringt das Mädchen zu mir!“ Und Elim wurde nach vorn gedrängt, auch wenn sie sich sehr dagegen sträubte.
Mit sanften Fingern ergriff der Mann Elims Kinn, er hielt sie als wäre sie eine Eierschale, die so leicht zu brechen war. Sie wand sich unter seinem Griff, doch er drückte nur unerbittlicher zu und sie hielt still.
„Du hast sehr Angst, oder Mädchen? Wie lautet dein Name?“ Erschrocken zuckte das Mädchen zusammen und antwortet sofort heiser.
„Elim Areni? Elim ist schon ein sonderbarer Name, aber nicht unschön!“ Er strich ihr fürsorglich übers Haar und blickte sie gedankenverloren an. Dann hob er ihren Kopf an, dass sie ihm in die Augen sehen konnte und meinte mit fast liebevoller Stimme:
„Tötet sie!“
Dann ließ er Elim los und wandte sich zum gehen. Erste jetzt bemerkte sie Nahkrin, der mit gesenkten Haupt auf dem Stuhl vor ihnen saß und alles mitangehört hatte. Bei den letzten Worten hob er das verwundete Haupt und blickte sie starr und wild an. Elim erschrack, als sie sah, wie übel sie dem Mann mitgespielt hatten. Sein Körper war übersät mit Schnitten und Prellungen.
Sie wollte zum ihm eilen, doch man hielt sie wiederum auf und setzte ihr eine Klinge an die Kehle. Als Elim den kalten Stahl an ihrer Kehle spürte und die kalten Augen der Banditen und Mörder, da wurde sie sich der plötzlichen Unabwendbarkeit ihres Schicksals schmerzlich bewusst und sie zitterte wie eine junge Birke im Wind. Doch ihre flehenden Blicke an die umstehenden Männer blieben ohne jede Wirkung und sie wimmerte ängstlich.
Schließlich schloss das Mädchen die Augen, fast vorbereitet auf das Unvermeidliche.
Doch eine Stimme durchbrach die eiserne Stille wie ein fliegender Speer, alle Blicke richteten sich auf Nahkrin: „Lasst sie gehen! Ich bin bereit zu verhandeln, einverstanden!“ Und man ließ Elim los, die einen entsetzten Blick auf den Krieger erhaschte, der sich mühsam erhob. Doch sie konnte ihn nicht lange ansehen, geschweige denn etwas über dieses makabere Spiel erfahren, da wurde sie schon grob hinausgeführt aus dem Folterzimmer, in die engen Gänge und Windungen des Schlangennests.
Nach einiger Zeit verband man ihr wieder die Augen und es ging weiter bergauf. Bald konnte Elim wieder die reine kalte Luft auf ihrem Gesicht spüren und Tränen der Erleichterung rannen aus ihren geröteten Augen.
Man stieß sie unwirsch schließlich ab, sodass sie in den Dreck fiel, ohne überhaupt irgendetwas wahrzunehmen und nach einer Weile nahm das Mädchen mit zitternden Fingern die Augenbinde ab.
Das kühle Licht des Mondes fiel auf sie herab und ein kalter Wind zauste ihr verdrecktes Haar. Sie strich gedankenverloren und unendlich erleichtert über die trockene Erde und kippte dann ohne viel Federlesen einfach in den Staub, schlafend.

Tasso


Einige Zeit später erwachte das Mädchen aus einem unruhigen Schlaf und rappelte sich umständlich auf. Sie war voller Schmutz, ihre Hand schmerzte und der Hunger nagte an ihrem Magen wie ein wildes Tier.
Alles, was sie hörte, das Zwitschern der Vögel, alles was sie sah, die scharfen Kolméhügel hinter sich, war gedämpft wie durch einen undurchdringlichen Schleier.
Schwach und müde taumelte sie einfach immer weiter, weg von den Bergen in ihrem Rücken, die wie anklagende Finger in die Höhe ragten.
Ihr Gewissen regte sich in diesem Moment nicht, Nahkrin einfach so zurück zu lassen, denn er hatte nicht verhindert, dass man Elim so schwer verletzte. Ein Wort hätte genügt, und sie wäre nie so sehr versehrt worden, dachte das Mädchen und stapfte grimmig weiter. Natürlich war von vornherein klar gewesen, dass der Krieger nur eine Lebensschuld ihr gegenüber abzuleisten hatte, aber die Einsicht, dass ihr körperliches Wohl ihm überhaupt nichts bedeutete, schmerzte Elim zu ihrem eigenen Erstaunen doch sehr.
Elend und ausgehungert wanderte sie weiter, immer hoffend, dass sie Tasso erreichen würde, bevor sie zusammenbrach und nie wieder aufstand.
Der Tag tröpfelte leise dahin, ein graues Einerlei. Und als es schließlich fein zu nieseln begann, fing Elim leise an, zu weinen. Kraftlos ließ sie die Tränen über ihr schmutziges Gesicht laufen, verfluchte alles und jeden. Zuin, weil er sie ermutigt hatte, mitzukommen, Nahkrin, weil er ihr nicht geholfen hatte, sogar ihre Mutter, die sie nicht von dieser schwachsinnigen und gefährlichen Unternehmung abgehalten hatte.
Natürlich wusste sie, dass sie damit teilweise ungerecht war, aber das war ihr in diesem furchtbaren Moment egal.
Sie rief leise nach ihrer Mutter, wusste, dass sie elend und erbärmlich war, doch sie fand nicht mehr die Stärke, aufrecht zu sein, tapfer zu sein.
Am nächsten Morgen lag sie im Straßengraben, der Hunger und der Durst hatten sie langsam dahingerafft.
Und so spürte Elim nicht, wie sie von einer reisenden Bardin, die auf dem Karren eines Bauern daher gefahren kam, aufgelesen wurde.
„Sackerlot, was ist das?“ Rief der beherzte Mann und stieg vorsichtig ab. Auch die Sängerin folgte ihm, um zu sehen, was für ein seltsames Bündel da neben der Straße lag.
„Oh Gott, es ist Elim Juin. Ich kenne das Mädchen, hab' sie in Thralin getroffen!“ Aufgeregt beugte sich die Frau zu Elim hinab. Der Bauer sah sich das Bündel genau an, dann nickt er und meinte: „Ich kenn' sie auch, hab' sie mit nach Eilstatt genommen. Noch gar nicht so lange her. Vielleicht 'nen Monat. Was die wohl jetzt in dem Graben macht. Armes Ding!“
Er wollte wieder auf seinen Karren steigen, doch Nahra hielt ihn ab. Sie deutete auf das Mädchen und verkündete, dass sie sie mitnehmen wolle. Nach einigen widerwilligen Worten und einem langen Abwegen der Fürs und Widers, half der gutherzige Talum der Bardin dabei, Elim auf den Wagen zu laden.
Dabei murmelte die Verletzte unverständliche Satzfetzen und Nahra strich ihr das verklebte Haar aus dem Gesicht. Sie musterte das schlafende Antlitz genauer, fand einige Prellungen und Schnitte, die sie zuvor nicht erkannt hatte. Auch die aufgeplatzten Lippen waren ihr neu. Also flößte sie dem Mädchen vorsichtig etwas Wasser ein und wiegte sanft den zerschundenen Körper. Dabei fiel ihr auch auf, dass vor kurzem ein Stück ihres Finger abgetrennt worden war. Und die Wunde war nur schlecht verheilt, sie war schwarz und unansehnlich.
Nachdenklich sah Nahra in die Ferne, es würde wohl einige Geschichten dauern, bis sie verstand, was wohl vorgefallen war. Und alles hing davon ab, ob das Mädchen überlebte. Doch die Bardin sah es als ihre heimliche Pflicht, Elim nach Gut Safyras zu bringen. Schon wegen dem Liedgut, dass sie dadurch vielleicht neu erlernen könnte.

Das leichte Schaukeln und Wippen eines Wagens, Tageslicht das durch eine rote Plane fiel. Das Klappern von Hufen.
Als Elim erwachte, konnte sie sich nicht erklären, wo sie war oder was geschehen war. Ihr Kopf schmerzte fürchterlich, sie war auch nicht einmal in der Lage, sich zu erheben. Also ließ sie noch eine Weile die Augen geschlossen, genoss die weiche Decke, die sie unter ihren Fingern spürte und versuchte die Bilder der Gefangenschaft und das nun doch aufkeimende Gewissen mit Gewalt zu verdrängen. Doch immer schneller zogen Erinnerungen vor ihr geistiges Auge und sie schauderte.
„Ihr seid wach, stimmt's?“ Eine ihr vage bekannt vorkommende Stimme drang langsam zu Elim durch und sie öffnete die Augen. Es war die Bardin, Nahra Somlin.
Das Mädchen starrte die Frau verdutzt an, noch vor einem kurzen Augenblick hatte sie noch auf der Straße gelegen, nun war sie auf einem merkwürdigen Karren.
„Ach, Ihr seid endlich wieder da. Hab' schon gedacht, Euer letztes Stündlein hätt' geschlagen!“ Brummte eine Stimme von Kutschbock und Elim erkannte darin den Bauer Talum. Freudig setzte sie sich auf und sah sich um.
Sie waren in dem selben Karren, mit dem sie nach Eilstatt gezogen war. Umgeben von Parunnaknollen und anderem Gemüse, Säcken voller Getreide und inmitten des Durcheinanders saß Nahra, die sie freundlich anlächelte. Seufzend lehnte das Mädchen sich wieder zurück, es würde wohl doch alles wieder gut werden.
„Nun, da Ihr wieder bei uns seid. Berichtet doch, was Euch widerfahren ist!“ Forderte die Bardin Elim auf und diese schwieg kurz. Sie wog ab, ob sie nun den Mund halten sollte oder ihr Schicksal teilen sollte. Doch sei fühlte sich im Moment der Sängerin eher verpflichtet, die ihr das Leben gerettet hatte als diesem eingebildeten Kerl, der zugelassen hatte, dass man sie folterte.
Also begann sie damit, der Bardin ihren wahren Namen zu nennen, was diese allerdings nicht zu sehr zu überraschen schien. Sie erzählte Elim, dass sie eine Wahrheitsfinderin sei, jemand, der den Menschen ansah, wenn sie etwas Unwahres sagten.
Das Mädchen fuhr fort, berichtete von ihrer Gefangennahme und ihrer Folter, wobei sei mehrmals stockte und die Tränen zurückdrängen musste. Ihr Verlust schmerzte sie sehr.
Nachdem sie geendet hatte, schwieg Nahra lange, sie schien in sich gekehrt. Sie stellte keine Fragen, grübelte nur – so schien es Elim – über ihre Geschichte. Und das Mädchen empfand die Stille als angenehm, so konnte sie mit ihren wirren Gefühlen allein sein.
„Wohin fahren wir eigentlich?“ Wollte das Mädchen allerdings nach einiger Zeit wissen, die Sonne stand hoch am Himmel und sendete senkrecht ihre warmen Strahlen zu Boden.
„Ursprünglich wollte ich in mein Heimatdorf, nach Thir. Da aber Gut Safyras nicht zu weit davon entfernt liegt und ich schon lange nicht mehr mit dem alten Ullar gesungen habe, habe ich beschlossen, Euch dorthin zu begleiten. Außerdem ist dies der Weg, denn auch mein geschätzter Freund Talum einschlagen wollte.“
Wortlos und voller Erleichterung umarmte Elim die Frau, dann hielt sie inne. Warum fuhr sie nicht wieder heim? Was wollte sie in Tasso? Vielleicht konnte jemand dort noch Nahkrin helfen... Ob er überhaupt noch lebte?
Als Elim Nahra diese Frage stellte, schwieg sie lange, dann fragte sie: „Was denkt Ihr?“
Überrascht horchte das Mädchen auf, dann überlegte sie kurz und meinte zögernd: „Ich denke, ich hätte es gespürt, wenn er tot wäre. Ich kann es nicht erklären, ich denke...ich wüsste es!“ Begann die junge Heilerin zaghaft und warf der Bardin einen scheuen Blick zu. „Ihr seid verbunden, das sehe ich. Und auch wenn ich solch große Worte ungern in den Mund nehme, haftet dem ganzen doch ein Hauch von Schicksalhaftigkeit an, wenn Ihr mich fragt!“
„Wenn's Kavend will, dann is' es so. Das denk' ich!“ Rief Talum aus und führte die Pferde auf einen holprigen, schmalen Pfad. Er hatte wohl recht, dachte Elim und blickte hinaus.
Die Landschaft hatte sich gewandelt, kleine Bäche aus dem Gebirge durchzogen das Land, doch es war nicht steinig und karg wie die Ebenen vor dem Gelbor, sondern fruchtbar und grün. Vereinzelte Hügel und Weiler lagen vor ihnen, ihm Hintergrund immer das Teorangebirge mit seinen schroffen Kämmen und Gipfeln. Streuobstwiesen säumten die Wege, der Duft von Rubinjasäpfeln lag in der Luft. Als sie rasteten, pflückten Elim und Nahra einige von den nahestehenden Bäumen, unter dem missbilligenden Blick von Talum, der dies als Bauer nicht gutheißen konnte. Doch er schwieg.
Und so schaukelten sie weiter und Elim musste der Bardin zustimmen, Tasso war ein wunderschönes Land, nicht zu vergleichen mit dem wilden Land, dass die Stattergegend auszeichnete. Es war sanft und schön wie ein Frühlingsmorgen und die Menschen, denen sie begegneten, strahlten und winkten ihnen fröhlich nach. Sie kannten Talum und Nahra und begrüßten auch die ihnen fremde Elim herzlich.
Und so kam es, dass sie am nächsten Morgen Gut Safyras erreichten. Steif kletterte Elim aus dem Planenwagen und sah sich ungelenk um. Das Gut war nicht nur ein einziger Herrschaftssitz, sondern ein kleine Dorf, dass viele Bewohner zählte. Malerisch breitete sich der große See Vandua vor dem Weiler aus, das kristallklare Wasser war auch jetzt noch rege besucht, einige unerschrockene Dörfler badeten sogar in dem kühlen Wasser.
Große Plantagen von Rubinjasäpflen säumten auch hier den Pfad. Die wunderbaren Früchte lockten zum Kosten und Verweilen ein. Doch die staunende Elim blieb, wo sie war und nahm nur alle Eindrücke in sich auf. Nie hatte sie so eine wunderbare und reiche Gegend gesehen und sie war – auch wenn sie etwas aufgeregt war – neugierig darauf, den Fürsten Ullar kennenzulernen.
Nahra sang einige Lieder aus ihrer Heimat und eine Schar Kinder begleitete den Karren und Talum schmunzelte die ganze Fahrt, vermutlich dachte er an seine Töchter. Denn er hatte berichtet, dass nun endlich seine zweite Tochter gesund auf die Welt gekommen war, was Elim unbändig für den treuen Bauern freute.
Langsam begann die Last des erlebten von Elim zu fallen, sie begann, sich wieder in Ruhe mit ihrer Reise auseinander zu setzen. Und sie entschied, erst einmal vor dem Fürsten Ullar vor zu sprechen, wenn man sie denn anhören würde.

Sie fuhren in das kleine Dorf ein, dass das Gut umgab und auch hier folgten einige kleine Kinder dem Wagen, sie winkten frenetisch. Nahra lächelte dabei ganz verträumt und Elim fragte sich, ob die Bardin denn eine Familie, Kinder hatte. Eher nicht, bei dieser umtriebigen Lebensweise, aber vielleicht würde das Mädchen sie einmal danach fragen.
Auf dem Hauptplatz verabschiedeten die zwei Frauen sich von Talum, der lieber im Dorf blieb und sie nicht zum Gut begleiten wollte, das etwas weiter Westlich direkt am See lag.
Also marschierten Elim und Nahra zu zweit weiter, während die Bardin dem Mädchen Geschichten aus ihrer Heimat berichtete. Elim konnte sie verstehen, ihre Schwärmerei war nur allzu nachvollziehbar. Selbst im Herbst war Tasso wunderschön, seine Menschen freundlich und es war warm und sonnig.
Bald schon trat ein beachtliches Herrenhaus in den Vordergrund, die bedrohlichen Bergwipfel im Hintergrund bildeten eine eherne Mauer, wie ein Talkessel.

Das Anwesen war in hellem Blau gehalten wie der See, der friedlich vor ihm lag und Elim staunte nicht schlecht, als sie die riesigen Stallungen vor dem Prachtbau sah.
Warm- und Kaltblüter, helle und dunkle Pferde standen dort, ordentlich aufgereiht. Zottelige Ponnies und große Ackergäule, neben rassigen Jagd- und Reitpferden.
„Das Gut züchtet Pferde. Sie sind berühmt in ganz Kamaldun!“ Kommentierte Nahra Elims verdutzten Blick. Sie lachte das Mädchen an und mit frohen Herzen erwiderte diese ihre Fröhlichkeit.
Vor dem Gut standen zwei gepanzerte, riesige Wachen. Die Speere lehnten lässig an der Wänden zum großen Einlasstor, doch Elim hegte keinerlei Zweifel, dass sie sie in einem Lid schlag durchbohrt haben würden, wenn sie irgendwelche Probleme machen würden.
Doch Nahra trat mit einem souveränen Lächeln an die beiden Männer heran und als sie sie sahen, trat auch auf ihre Gesichter eine freundliche Miene. Sie begrüßten die Bardin überschwänglich, beglückwünschten sie zu ihrem Entschluss, wider die Hallen des Ullar mit ihrem Gesang zu ehren, doch betrachteten sie Elim misstrauisch. Als Nahra ihnen allerdings versicherte, dass von dem jungen Mädchen keine Gefahr ausging, ließen sie die beiden zögerlich ein.
Das Gut Safyras hatte die Form eines Hufeisens, und in der ausgesparten Mitte dieser Form war ein wunderbarer Garten, der Duft unzähliger Blume, Büsche und Sträucher erfüllte die Luft. Kiesige Wege führten zum Haupttor des Anwesens, kleine Brunnen sprudelten fröhlich vor sich hin und Elim wunderte sich, wie etwas so Aufwendiges und Schönes nahe dem Gebirge überhaupt möglich war. Überwältigt sah sie sich um, wendete den Kopf zu allen Seiten. Sie konnte nicht genug bekommen von der Pracht und der Schönheit dieses Ortes. Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas so Wunderbares gesehen.
Nahra beobachtete sie schweigend, ein feines Ziehen in ihren Mundwinkeln verriet Elim, dass sie amüsiert war.
„Es ist wunderschön hier, habe ich nicht Recht?“ Verkündete sie ehrfürchtig und sah das Mädchen dabei mit gewichtiger Miene an, sodass diese nur stumm und mit großen Augen nickte.
Aus einem der geöffneten Fenster einer der Seitenflügel erklang das leise harmonische Spiel einer Harfe und Elim versuchte die Quelle der Musik zu erspähen, doch sie hatte keinen Blick auf den Spielenden werfen können.
Mit ehrfürchtig gesenkten Häuptern betraten die zwei Frauen das Hauptgebäude, sie wurden sofort von dem unheimlichen Gewusel an Menschen herum gedrängt, dass dort herrschte.
Diener und Pagen, Zofen und Mägde eilten geschäftig herum, man trug Wasser aus dem Brunnen und dem See in die Bäder, schmutzige und saubere Leintüchter fanden begeisterte und weniger begeisterte Abnehmer.
Das rege Treiben verursachte Elim Kopfschmerzen und sie wünschte sich endlich etwas Ruhe und Frieden. Nahra geleitete das müde Mädchen in die Vorhalle zur Fürstentafel, wo aufgereiht jede Menge feine Herrschaften saßen. Und die junge Heilerin kam sich in ihren abgerissenen, verschmutzten Kleidern noch elender vor. Doch sie konnte sich keinen Aufschub leisten, in jedem Augenblick verrann das Leben des Nahkrin noch schneller als zuvor.
Schüchtern und mit einem kalten Gefühl der Furcht im Bauch hielt Elim sich hinter Nahra, die zur Spitze der Tafel wanderte, die ebenso wie das Gut die Form eines Hufeisens hatte. Die Wände waren geschmückt mit aufwendigen Teppichen, die Szenen aus Jagden und Schlachten zeigten, doch das Mädchen hielt den Kopf gesenkt und riskierte nicht mehr als einen flüchtigen Blick auf die Kostbarkeiten. Sie wünschte, sie könne Nahras Schatten werden, dass niemand sie bemerkte oder gar ansah. Denn sie fühlte sich, als würden alle Augen im Saal wie glühende Punkte auf sie gerichtet. Doch die Bardin schritt selbstbewusst wie eh und je voran, und die junge Heilerin bewunderte sie über alle Maße dafür.
Also versuchte sie den Rücken durchzustrecken und ging erhobenen Hauptes hinter Nahra her.
„Edler Ullar, aus dem Hause Safyras, ich bringe Neuigkeit. Dieses Mädchen, Elim aus dem Hause Areni, berichtet, dass ein Mittler des Königshauses, Nahkrin aus dem Hause Bjerch von Verbrechern bei den Kolméhügeln gefangen genommen worden war.“
Nahra sah den Fürsten direkt an, der mittig an der Tafel saß und mit wachen Blick aus seinen stahlgrauen Augen die beiden musterte. Sein schwarzes Haar, das von feinen grauen Adern durchzogen war und sein gepflegter Bart wiesen auf sein fortgeschrittenes Alter hin und Elim duckte sich willkürlich unter seinem strengen Blick.
„Seid gegrüßt, Frau Somlin. Schon lange habe ich Eure wohlklingende Stimme nicht mehr in meinen Hallen vernommen! Es wird längst Zeit, das Ihr uns einmal wieder mit Euren Liedern beehrt. Doch zuerst möchte ich hören, was das Mädchen zu sagen hat! Tretet vor!“
Mit einer ungeschickten Verbeugung stellte Elim sich vor dem Fürsten und griff Nahras Begrüßungsformel auf: „Edler Fürst Ullar, aus dem Hause Safyras, in der Tat reisten der Herr Nahkrin und ich, Elim Areni, über den Königsweg, als wir angegriffen wurden.“ Mit einem Stirnrunzeln und einer äußerst besorgten Miene lauschte Ullar dem Bericht des Mädchens, doch Elim konnte nicht erkennen, ob er ihr nun überhaupt glaubte oder gedachte, etwas zu unternehmen.
Er deutete an, dass er sich zurückziehen wolle und als er ging, begleiteten zwei Männer ihn.
Ratlos blickte Elim Nahra an, doch auch sie schien die Lage nicht zu begreifen. Also warteten die Frauen darauf, was geschehen würde. Doch als der Fürst nach einer halben Stunde immer noch nicht erschien, führte man die zwei Reisenden in die Bäder, damit sie sich säubern und erholen konnten.
Besorgt wusch sich Elim hastig ab, der Schmutz des Weges färbte das Wasser dunkel und sie schämte sich sogar ein wenig. Sie vermied es tunlichst den immer noch schmerzenden Finger zu beachten, ihr graute zu sehr vor dem Augenblick, bei dem sie die Überreste dessen, was davon noch übrig war, näher in Augenschein nehmen musste.
Schließlich fanden sich Nahra und die junge Heilerin wieder in der Halle wieder und man tischte ihnen reichlich an den köstlichsten Speisen auf, die Elim je gegessen hatte. Einige der Männer an der Runde – es waren wohl nicht alle Adelige – forderten die Bardin auf, sie solle etwas vortragen. Doch sie ließ sich nicht zur Eile treiben und beendete erst ihr ausführliches Mahl, bevor sie sich erhob und eine Elim unbekannte Weise vortrug. Das lied handelte von der Liebe einer Wüstenprinzessin zu einem Nordmann und hatte, wie so oft, ein tragisches Ende.
Immer wieder war das Mädchen überrascht, wie viel Nahra wusste und von wie vielen Sagen, Legenden und Erzählungen sie zu berichten wusste. Aber sie konnte sicher nicht älter als Nahkrin sein, aber auf jeden Fall war sie jünger als Elims Mutter. Bei dem Gedanken an Fia fühlte die junge Heilerin ein feines Stechen in der Herzgegend, das schlechte Gewissen nagte an ihr. Noch immer grämte sie sich dafür, so überhastet aufgebrochen zu sein, ohne sich wirklich zu verabschieden.
Für die Nacht wurden ihnen kleine, nicht zu weit voneinander entfernte Zimmer zugewiesen. Den Fürsten sahen sie nicht mehr und so fiel Elim todmüde aber unbefriedigt in das unheimlich weiche Federbett. Nach den Tagen auf der Straße war das einfache Leinen wie Seide unter ihrer Haut und so dämmerte sie bald weg.

Der neue Tag brach klar und kalt an, die Winde des Winters wehten zum ersten Mal über die Hügel.
Blinzelnd und orientierungslos erwachte Elim und brauchte erst einige Augenblicke, bis sie wusste, wo sie sich befand.
Dann allerdings krabbelte sie um so schneller aus dem Bett und machte sich auf dem Weg, Nahra zu finden. Doch die Bardin war nicht mehr auf ihrem Zimmer und so irrte das Mädchen zurück in die Haupthalle, wobei sie sich einige Male verlief. Dies ist kein Gut sonder ein Schloss, dachte sie missmutig, als sie schon zum fünften Mal einen Diener nach dem Weg fragen musste.
Die Gänge der Anlage waren schlicht aber edel eingerichtet und auch die Blicke in die Räume, deren Türen offen standen, verrieten Elim, dass auch hier jemand einen hervor rangenden Geschmack besessen hatte. Erdfarbene Läufer, helle Möbel aus einem dem Mädchen unbekannten Holz und viel Glas schufen eine klare Atmosphäre, Elim fühlte sich sofort frei und dazu ermuntert, sich in den Garten zu setzen und der unbekannten Harfenspielerin zu lauschen.
Doch sie ließ sich nicht hinreißen und fand schließlich den großen Saal nach einigen misslungenen Versuchen wieder.
Nahra unterhielt sich gerade mit einem Mann, aber Elim konnte nicht erkennen, wer es war. Doch sein farbloses Haar und die Art, wie er gebückt lauschte kamen der jungen Heilerin so dermaßen bekannt vor, dass sie sich langsam mit einem mulmigen Gefühl näherte.
Sie hatte die beiden Redenden halb umrundet, als ihr der Atem stockte. Abrupt blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte den Alten an. Dieser lächelte sie mit einem gewinnenden Zug in den Augen an.
Es war Zuin.
In Sekundenschnelle überwand Elim die Distanz und fiel dem alten Mann in die Arme, eine vereinzelte Träne rann über ihre Wange.
„Na, na!“ Zuin tätschelte väterlich ihren Rücken und erschrocken und verlegen löste das Mädchen sich von dem Kartenleser. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie sehr sie der angebliche Tod des Mannes bewegt hatte und ihn nun hier sehen zu können!
Mit einem wahrscheinlich ziemlich dümmlich anmutenden Blick starrte Elim den Herren einfach nur an, bis er sie mit einem fingierten Räuspern zum Tisch geleitete und so das Mädchen aus seiner Schockstarre löste.
Ohne eine Aufforderung – denn er las es aus dem Augen des Mädchens, dass ihn ungläubig und erstaunt musterte – begann Zuin zu erzählen, was ihm und der Truppe widerfahren war:
„Nach dem Steinschlag, sind wir getrennt worden, Archo und Neick waren in die Tiefe gerissen worden. Nahkrin konnten wir nicht mehr finden, auch auf unsere Rufe hatte er nicht beantwortet. Also hatte man beschlossen, zuerst die Verletzten zu bergen und die zu stützen, die nicht mehr laufen konnten. So begannen wir, die Felsen aus dem Weg zu schaffen. Doch es dauerte lang und ich fürchtete, dass die Versehrten ihren Wunden erlegen könnten.
Trotzdem schaffte es unsere Truppe rechtzeitig ins Tal, sodass die Männer versorgt werden konnten und wir anderen, die wir mehr Glück gehabt hatten, zogen aus ins Gebirge, um die zwei Abgestürzten zu finden.
Aber nach zwei Tagen, als man schon die Hoffnung aufgegeben hatte, fand man die Leichen der Männer. Betroffen waren wir vor den zerschmetterten Körper gestanden und so wurden die sterblichen Überreste nach Ziems gebracht und man bestatte sowohl Neick als auch Archo dort. Etwas so Schreckliches ist mir schon lange nicht mehr widerfahren, das könnt ihr mir glauben! Ich kannte beide schon so lange, es waren gute Männer!
Die Tage waren voller Trauer, man glaubte auch, dass man Nahkrin ebenso verloren hatte. Doch wir fanden ihn nicht. Selbst die langen Märsche durch die steilen Täler und Schluchten um den Gelbor ergaben nichts.
Nach einigen Wochen wollte wir weiterreisen, doch die Bewohner von Ziems baten um Beistand. Sie meinten, zum Vollmond würden sie jedes Mal von geflügelten Dämonen angegriffen, die ihre Kinder raubten und fraßen. Zuerst glaubte ich an einen Spuk, doch da man uns so bereitwillig geholfen hatte, beschloss ich, dass wir noch etwas länger bleiben sollten.
Zwar war ich wirklich fest davon überzeugt, dass es eine besonders findige Verbrecherbande oder ein dummer Scherz sein könnte, doch konnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen, was die Bewohner von Ziems so in Schrecken versetzte.
Doch etwa zwei Wochen später erfuhren wir, wer oder besser was den Leuten dort zu schaffen machte:
Schon seit einiger Zeit waren die Menschen unruhig geworden, ein kleines Mädchen, das wir bevor wir zum Berg aufgebrochen waren, getroffen hatten, berichtete, dass sie bald kommen würden. Ich hielt es für das Geschwätz eines Kindes, groß aber nicht zu berücksichtigen. Trotzdem mahnte ich die anderen zur Vorsicht, man konnte nie wissen.
Dann eines Nachts, der helle Mond leuchtete über dem Gebirge wie ein bleicher Teller, da vernahm man ein Brausen und Brummen von den Hängen. Wir versammelten uns und blickten die Hänge hinauf, eine seltsame Furcht ergriff mich. Noch nie haben sich mir die Haare so schnell aufgestellt wie in jener Nacht. Seht, ich fühle es jetzt noch!
Also standen wir dort, der Lärm schwoll an und ab und wir blickten nur bange hinauf, die schroffen Felsen boten allerdings auch beste Verstecke für die Feinde. Die Sekunden verstrichen, und eine unheimliche Ruhe kehrte ein, sie war seltsam nach dem Krach, den wir ausgesetzt waren. Dann schossen sie los.
Riesige Fledermäuse, mit vielen Beinen, überzogen mit ranzigen, schwarzen Fell sausten die Bergflanken hinab, ihre Schreie hallten ins Tal und die Fensterläden wurden mit einem Krachen zugeschlagen.
Ganz allein wachten wir draußen, sahen uns den schrecklichen Ungeheuern gegenüber und ich muss sagen, ich habe selten so um mein Leben gefürchtet.
Doch wir schlugen uns gut, einige der Flederwesen konnten wir aus der Luft holen, aber manche durchbrachen unsere Verteidigung und fügten uns große Schäden zu. So mancher erlitt schlimme Wunden oder Verletzungen. Sie waren uns zu Boden und versuchten, uns mit ihren vielen Beinen zu fasse und in die Luft zu schleudern und obwohl es schlecht für uns aussah, gelang es uns, sie zurück zu treiben.
Wir waren müde und schon sag ich unser Ende gekommen, als der Tag graute. Mit einem letzten gemeinsamen Aufschrei flohen die Ungeheuer wieder hinauf zu den Berggipfeln und ließen uns verletzt und erschöpft zurück. Doch da wir keine Verluste einzuklagen hatten und die ihren umso zahlreicher waren, gaben wir uns damit zufrieden, im Tal zu bleiben.
Wieder musste man die Hilfe der Dörfler in Anspruch nehmen, doch sie behandelten uns wie Helden, die gegen die Geschöpfe der Nacht selbst gesiegt hatten.
Aber als ich vorschlug, diese lästigen Monster in ihren Höhlen aus zu räuchern, wenn die Mittagssonne es ihnen unmöglich machte, zu entkommen, wurden sie still und meinten, sie hätten auch überall nach den Verstecken der Wesen gesucht, doch es war ihnen unmöglich diese auf zu finden.


Impressum

Texte: S.B.
Bildmaterialien: S.B.
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2013

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