Cover





Ryver

An mein Leben kann ich mich wohl kaum erinnern. Nur daran, wie ich es zu beenden versuchte.
Wie ich mich in den Tod stürzen wollte.



Schwarz und Grau hing der triste Himmel über mir. Tobend und wild, zischend und grollend. Stürmisch schossen dunkle Wellen gegen die Felsen der Brandung.
Durch den eisigen Regen war ich durchnässt, zerzaust und schwach.
Gut!
Wenn ich mich der Wille verließ, so würde ich anstatt meines Vorhabens anders zu Grunde gehen.
Welch amüsanter Gedanke brachte mich da nur zum Schmunzel?
Oh. Wie lange ich nicht mehr gelacht hatte…
Der raue Wind preschte gegen meine Beine, er schob mich weiter und weiter der Klippe entgegen. Ja, sogar der Wind wollte es!
Entschlossen trat ich einen Schritt voran. Und noch einen.
Warum tust du das?, fragte mich mein Gewissen.
Hah!, lachte mein Herz bitter, Du spürtest nie diesen Schmerz!
Und so plötzlich teilte eine Böe die Wolken, sodass die Nacht preisgegeben wurde. Funkelnde Sterne, schimmernder Mond. Diesen Anblick werde ich für immer hinter mir lassen. Doch ich liebte den blassen Schein des Mondes, das Summen der Insekten, den Ruf der Eulen. Und ich liebte das Meer bei Nacht.
Es war das Rauschen, ja, es war das beruhigende Rauschen, das mich Nacht für Nacht zum Meer stehlen ließ.
Gierig sog ich nach der salzigen Luft. Berauschen suchte mich heim, es fraß meine verzweifelten Vorhaben fast gänzlich.
Wollte ich wirklich?
Wollte ich all dies hinter mir lassen!?
Die Nacht, die Sterne, das Meer? Oder sogar den verwunschenen Wald, durch den ich auch in tiefster Dunkelheit hierher finden würde?
Geschoben von Sturmböen stand ich nun mit den Zehen über dem Rand. Etwas Stein bröckelte ab und tanze durch die Luft. Bis er schließlich auf den Steinen der Brandung zersplitterte. Wundervoller Tod, schneller Tod! Hah!
Seht ihr das, Vater und Mutter?
Seht ihr, was aus dem Leben wird, das ihr geschaffen habt? Etwas Fleisch an einem Stein wird es sein, Fischfutter!
Soll euer Wasser das ihr trink nach meinem Blut schmecken, sollt ihr euch das Leid eurer Tochter auf der Zunge zergehen lassen… Bittersüß… und ein scheußlicher Nachgeschmack, welcher nie aus eurem Gedächtnis weichen mag.
Soll ihr Gewissen vergiftet sein von Vorwürfen… soll es das sein bis zu eurem Tode.
Ich lächelte schadenfroh. Ich lächelte!
Wie absurd es war. Und wie richtig es war. Mein Lächeln wurde zum Grinsen, das Grinsen zu schallendem Gelächter.
Die Wände der Klippen und das Rauschen verschluckten die Laute der Verzückung nicht. Nein, sie trieben sie an, sie ließen sie im Echo erklingen. Boshaft und giftig.
Dem Mond und der Nacht mit ihrem Sternenhimmel schickte ich wild Küsse entgegen. Abschiedsküsse, wohlgemerkt.
Meine nassen Haare wirbelten herum und schlugen wie Peitschen gegen mich ein. Wie auch der Stoff meines weißen Kleides, dünn, an meinem Körper klebend vor Nässe.
Ein Schluchzen ließ mich erbeben.
Warum wurde ich jetzt weinerlich, wo es doch so schön werden würde?
Oh bitte, nicht. Doch Tränen ließen mich nur noch verschwommen sehen.
Sie rannen kalt meine Wangen entlang und verflüchtigten sich mit den Schwingen des Windes.
Und dann, dann erfasste ich schließlich einen Entschluss:
Mit ausgebreiteten Armen verlagerte ich mein Gewicht nach vorne. Ungestüm flatterte der weiße Stoff meines Kleides. Wild, wilder.
Bis ich schließlich vornüberkippte.
„Seht ihr das!? Das werde ich sein! Fleisch und Blut!“ schrie ich tränenreich gegen die Felsen. Vater, Mutter, schmeckt euer Fleisch und Blutes Tod.
Spürt meinen Schmerz...
Und ich segelte nieder.
Man sagt: Kurz bevor man stirbt, erscheinen einem das Leben vor dem inneren Auge.
Es ist wahr.
Ich sah Leid und Grausamkeit, gebrochenen Willen und Tränen, Schreie und Schläge.
Und ich sah die Liebe, die man mir auszutreiben versuchte. Wie man mir das Herz aus der Brust zu reißen versuchte.
Mein Herz, das nun brannte. Nein, dort wo mein Herz hätte sein sollen, dort auf der Haut!
Es war ein Feuer, welches dort aufloderte!
Mir wurde warm ums Herz?
Jedoch war das mein letzter Gedanke in diesem Leben gewesen. Als ich fiel, wurde das Rauschen lauter, der Gesang der Wälder immer leiser.
Bis alles in Stille getaucht war.
Totenstille.

Der Tod schmeckte bitter und salzig.
Ach süßes Leben, vergib mir.




Ophelia

Mutig kletterte ich das Brückengeländer hinauf, rappelte mich auf meine Beine, fand Halt mit meinen Füßen. Dort oben stand ich nun.
Ach, ich würde mich doch sowieso nicht trauen...
Autos zischten an mir vorbei, einige hupten, einige taten gar nichts, fuhren einfach weiter. Aber niemand blieb stehen. Niemand, der mich im letzten Moment wegziehen könnte. Dieser Gedanke machte mich traurig, lies sich mein tobendes Herz zusammenziehen. Ich begriff, dass ein Menschenleben nicht sehr viel wert war. Ein einzelnes nicht. Und schon gar nicht meines, mein furchtbares Leben, in dem ich bis jetzt immer nur Unglück gehabt hatte.
Mein Vater hatte mich mit Stöcken geschlagen, mich mit seinem Gürtel grob ausgepeitscht. Meine Mutter hatte nichts dagegen tun können. Wäre sie dazuwischen gegangen, hätte ihr das gleiche geblüht. Sie hat immer heimlich geweint und zu Gott gebetet. Aber nur, wenn mein Vater es nicht gesehen hatte. Tränen waren bei ihm verboten. Einmal hatte er sie schlagen wollen. Ich wusste noch, dass ich dazwischen gehen wollte. Ich habe mich vor meinen Vater, das Monster, gestellt. Habe auf ihn eingeschlagen, mit meinen kleinen Händen. Habe geschrien. Habe mich vor meine Mutter gestellt.
Doch es hatte nichts genützt. Alles nicht. Er hatte mich wieder verletzt.
Seit diesem Tag vor acht Jahren hatte ich ständig an den Tod denken müssen. Ob ich nicht besser dran wäre, wenn ich starb. Wenn ich nie wieder kommen würde. Weg wäre auf Ewig...
Tränen bildeten sich in meinen Augen, liefen über, überfluteten mein Gesicht, tropften in das weite, tobende Meer unter mir. Verschleierten mir die Sicht...
Ich schaute in die Ferne.
Die Aussicht von der Golden Gate war märchenhaft, dass hätte ich so nie vermutet.
Die goldenrötliche Sonne sank nieder, immer tiefer, mit jedenm Wimpernschlag. Sie berührte fast das Wasser, so schien es, als wolle sie darin untergehen.
Untergehen in dem ewigen, weiten Meer...
Auch die Sonne würde sterben. Ertrinken. Und am nächsten Morgen wiedergeboren werden.
Die Sonne, unsterblich und der hellste Stern, den die Menschheit kannte.
Ich war kein unsterblicher, heller Stern. Ich war Nichts...
Trauer schnürte mir die Kehle zu, unendlich starke Trauer. Schluchzer kamen mir über die zitternden Lippen, immer wieder.
Der wunderschöne, atemberaubende Sonnenuntergang machte mich verzweifelt, bereitete mir Kummer, stimmte mich noch trauriger...
Strähnen wurden mir vom Winde ins feuchte Gesicht geweht, meine Haare züngelten und tanzten um mein Gesicht wie Feuer.
Unter mir tosten und rauschten die Wellen, überschlugen sich, rollten meterweit, verschwanden. Immer und immer wieder, neu. Golden und rot lang das Licht der Sonne auf ihnen, lies sie schimmern und glänzen, so verführerisch, als riefen sie nach mir.
Und was war das? Bildete ich mir das nur ein oder hörte ich eine Melodie? Eine wunderbare, traurige Melodie?
Eine Flöte... Sie hatte einen wunderschönen Klang.
Ich blickte in den Himmel, breite meine Arme aus, schloss die Augen.
Kühler Wind schlug mir entgegen, lies mein dünnes Sommerkleid gegen meine Beine flattern.
Ich roch den süßen Meeresduft, eine Mischung aus Algen, Wasser, Salz...
Meine Tränen wurden nach hinten über meine Wangen gezogen, und dort, wo die nassen Spuren waren, bildete sich schon bald eine hauchdünne, feine Schicht Salzkruste.
Tränen waren Salzwasser.
Mein linker Fuß tappte einen Zentimeter weiter nach vorne.
Sollte ich springen? Jetzt?
Oder traute ich mich doch nicht?
Würde mich vielleicht noch Schönes in meinem Leben erwarten?
Gab es einen Hoffnungsschimmer? Einen winzig kleinen?
Ich könnte abhauen. Vor meinem Vater fliehen.
Sicherlich würden sich die Zeiten auch für mich ändern. Alles würde gut werden. Ich würde wegziehen, weit, weit weg. Und mein Glück finden.
Ja, so musste es sein. Ein Lächeln umspielte meine Lippen.
Natürlich würde alles gut werden.
Und wenn nicht... Dann würde die Brücke noch genau hier sein, wo sie jetzt auch noch war. Brücken gab es viele.
Eine geschockte Frauenstimme ertönte. Doch ehe ich verstehen konnte, was sie schrie, war sie auch schon wieder verschwunden. Hier würde niemand anhalten, um ein verrücktes, sechzehnjähriges Mädchen zu retten. Sich dabei möglicherweise selbst noch umbringen...
Ich hatte meine Entscheidung getroffen. Ich würde es nicht tun. Noch nicht...
Vorsichtig wollte ich meinen Fuß wieder auf den Boden setzen.
In diesem Moment kam eine starke Windböe. Ausgerechnet in diesem einen, kleinen Moment...
Der Wind wollte mich umstoßen, als hege er tiefen Hass gegen mich. Mit aller Kraft hielt ich mich auf den Füßen, um nicht zu stürzen, stämmte mich gegen den Wind, ängstlich, panisch...
Gerade, als ich dachte, ich hätte es geschafft, mich zu retten, geschah es.
Ich verlor das Gleichgewicht.
Ruderte wild mit den Armen wie ein Vogeljunges, in der Hoffnung, wieder auf die Beine zu kommen, nicht fallen zu müssen.
Keine Chance.
Ein Auto hupte laut und lange. Der Ton hielt an, während ich vollkommen in die Luft stürzte.Unter mir war nichts, kein Grund, einfach nichts. Luft. Ehe ich begreifen durfte, fiel ich.
Fiel. Fiel, fiel, fiel...
Der Hupton wurde leiser, zog vorbei, bis er nicht mehr zu hören war. Er hatte traurig, verzweifelt, rufend geklungen.
Jetzt begleitete mich diese seltsame Melodie.
Ich hatte es nicht gewollt. Hatte mich doch nicht umbringen wollen. Und nun...
Nun hatte mein Schicksal über mich bestimmt.
Das Schicksal, welches das Leben leitete. Es hatte über mich, für mich entschieden.
Dies war meine Bestimmung.
Es tut mir so Leid, Mama... Es tut mir so furchtbar leid... Verzeih mir...
Der Tod war für mich bestimmt worden, jetzt, genau in diesem Augenblick.
Aufeinmal war ich nicht mehr traurig, denn ich spürte, dass es richtig so war.
Das Leben würde mir genommen werden, der Tod würde mir geschenkt werden.
Meine kalten Lippen formten sich zu einem Lächeln, voller Glück und Erleichterung.
Mir wurde die Erlösung geschenkt. Der Tod war meine Bestimmung. Ich hatte keine Angst mehr, keine Schuldgefühle.
Der Wind und mein Gleichgewichtssinn hatten ihre Entscheidung für mich getroffen. Mein Schicksal...
Gleich würde ich erlöst sein...
Ich konnte das Salzwasser schon förmlich schmecken, als meine Schläfe anfing, zu glühen und zu brennen, wie Säure, die meine Haut fraß, mich aufzehrte.
Es schmerzte schrecklich, fast so sehr wie die bösartigen Hiebe meines Vaters.
Gleich würde es vorbei sein...
Das kleine Feuer, das in meinem Gesicht brannte.
Ich konnte das Wasser riechen, das Salz, die Algen, das Nass...
Die Wellen griffen nach mir, ihre kühlen, formlosen Finger wollten mich.
So sollte es geschehen.
Jetzt war mir die heiße Stelle egal. Denn ich tauchte ins Wasser ein, hart und knallend, wurde von dem kühlen, harten Nass verschluckt, sank tiefer.
Das war es gewesen, dachte ich. Mein Leben war vorbei. Ja, es war an mir vorbeigezogen. Fast. Noch war ich nicht tot. Noch...
Es wurde dunkler, je tiefer ich fiel, sank.
Und mit der Helligkeit schwand auch mein Bewusstsein...

Endlich...
Erlöst...
Für immer...
Der Tod schmeckte wunderbar, viel besser als das Leben...



Impressum

Texte: © Text by Paulina-Chevonne und Lynn Hayden © Cover und Bilder by Lynn Hayden Hath
Tag der Veröffentlichung: 02.08.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /