Cover

Prolog

 

Mein Name ist Matthias Schwarz, geboren in Köln, zweiundzwanzigster Juni 1915. Gestorben irgendwann 1940, im Schützengraben, und von diesem Tag an immer wieder.

Käme nun, in diesem Moment, jemand in diesen Raum hinein, sähe er einen Mann, der diese Zeilen mit Tränen in den Augen niederschreibt- einen 165 Jahre alten Mann, denn wir schreiben das Jahr 2080.

Hätte mich in meinem ersten Leben jemand gefragt, ob ich sehr religiös bin, ob ich an Wunder glaube, an übernatürliche Dinge- ich hätte es verneint. Aber mein Schicksal hat mich definitiv eines Besseren belehrt.

Dass jemand das hier nach meinem Tod noch lesen wird, ist vielleicht nicht unmöglich, allerdings sehr unwahrscheinlich. Denn die Menschheit, wie ich sie kannte, existiert nicht mehr wirklich- oder zumindest hat sie sich stark verändert. Ich kenne kaum jemanden, der noch Bücher aus Papier besitzt, oder vielmehr, der sich überhaupt noch der Anstrengung hingibt, etwas zu lesen. Mit diesem Wissen sitze ich hier, scheinbar als eines der letzten normal denkenden Wesen, wahrscheinlich eines der letzten Wesen, die überhaupt noch imstande sind, ihre Hände dafür zu verwenden, wozu sie eigentlich gedacht sind, und schreibe diese Zeilen für den Fall, dass sich die Dinge eines Tages wieder zum Besseren wenden.

Was es allerdings vor allem unwahrscheinlich macht, dass jemand nach meinem Tod dieses Buch lesen wird, ist die Tatsache, dass es einen Zustand nach meinem Tod nicht gibt- zumindest gab es diesen die letzten 165 Jahre nicht.

Ich wurde geboren, bin gestorben, kehrte zurück. Ein Kreislauf, der sich ständig wiederholte. Bis zu diesem Tag bin ich nie in den Genuss der Erlösung gekommen, durfte nie erfahren, ob es nach dem Tod ein Paradies gibt, wo die Verstorbenen aufgenommen werden, oder ob einfach alles vorbei ist- zugegeben, ich habe mir schon so oft gewünscht, einfach nicht mehr da zu sein. Denn irgendwann hat man alles gesehen, alles erlebt, alles gespürt, was diese Welt nur zu bieten hat- und trotzdem, sollte ich tatsächlich für immer wiederkehren, niemals ein endgültiges Ende erleben dürfen, bin ich noch ganz am Anfang. Am Anfang der Unendlichkeit.

Doch ich weiß, dass auch du existierst, Caren. Und da du, ebenso wie ich, ewig leben wirst, ist es nahezu unmöglich, dass du das hier nicht zu Gesicht bekommen wirst, irgendwann. Deswegen schreibe ich diese Geschichte- oder diesen langen Brief, wahrscheinlich der längste, der je geschrieben wurde- für dich, in der Hoffnung, dass es eines Tages ein Wiedersehen gibt.

 

Mein erster Tod

 

 

Ein eisiger, wie scharfe Klingen stechender Wind zauste mein schweißnasses Haar und kroch unter meine schlammverkrustete Kleidung wie kalte Hände, und der faule Gestank nach Blut, Schweiß und Tod drohte einen gewaltigen Anflug von Übelkeit in mir hervorzurufen.

Schmerzerfüllte Schreie hallten durch das Tal, das überall widerhallende Geräusch von Kugeln, die in alles Lebendige drangen und es leblos in sich zusammensacken ließen, erzeugten eine schreckliche Melodie des Horrors.

Ich lag in einem Graben voller Schlamm und Steine, meine Kleidung trug die Farbe der Erde und das einzige, was sich von dem schmutzigen Braun abhob, waren meine geweiteten, durch die Schlammkruste hindurchstarrenden Augen.

Mein Gewehr hatte ich fest an meinen Körper gepresst, bereit, es jeden Augenblick hochzureißen und zu schießen, sobald mich jemand angreifen würde. Der Wall aus Erde vor mir bot mir ein wenig Schutz, ebenso die leblosen Körper, die überall verstreut lagen, zum Teil zu großen Haufen in den Gräben aufeinandergestapelt.

Noch ragten auf allen Seiten dicke, hohe Bäume über mir und meinen Kameraden auf, aber wir hatten nicht mehr lange Zeit, ehe wir aus unseren Verstecken kommen mussten- wenn wir nicht vorher gefunden würden. Auf der Lichtung lagen bereits unzählige Leichen, doch wir hatten den Befehl, erst dann einzugreifen, wenn die unsrigen in der Unterzahl wären, und noch schien dies nicht der Fall zu sein. Obwohl ich keinen von ihnen besonders gut kannte, spürte ich jedes Mal einen stechenden Schmerz, wenn ich sah, wie jemand von einer Kugel getroffen wurde und zu Boden sackte, manche waren direkt tot, manche wanden sich noch einige Zeit und schrien schmerzerfüllt, ehe sie erlöst wurden.

Meine Finger kribbelten. Ich wollte nicht töten. Mitlerweile wusste ich zwar, dass ich es konnte, aber ich wollte es nicht. Einige sagen, man gewöhnt sich daran, je öfter man kämpft und je mehr Männer man tötet, desto mehr stumpft man ab. Bisher habe ich davon noch nichts gemerkt, und ich will es auch nicht.

"Habt ihr noch den Überblick?", fragte jemand neben mir.

"Ich gebe ein Zeichen, wenn es soweit ist", antwortete jemand anders, und ich drehte leicht den Kopf.

Der Mann, oder besser Junge, er konnte nicht viel älter als zwanzig sein, der neben mir im Schlamm lag, sah genauso verzweifelt aus, wie ich mich fühlte. Als er sah, dass ich mich in seine Richtung gedreht hatte, blickte er mich an. "Wie heißt du?", flüsterte er.

"Matthias."

"Christian. Schön, dich kennenzulernen." Seine Stimme war heiser, und er versuchte, zu lächeln, aber in seinen Augen glänzte pure Angst.

"Ebenso."

"Zumindest will ich wissen, an wessen Seite ich gestorben bin, wenn es soweit ist."

Ich wollte antworten, brachte aber kein Wort heraus. Also nickte ich nur und zwang mich dazu, seinem verzweifelten Blick noch eine Zeit lang standzuhalten. Irgendwann fand ich meine Stimme wieder und murmelte: "Es stirbt nicht jeder."

Vielleicht war es keine besonders nette Antwort, aber es war wohl die einzige, die nicht gelogen war. Hätte ich gesagt, keine Sorge, du wirst schon nicht sterben, hätten wir beide gewusst, dass es Heuchlerei gewesen wäre. In einem Moment wie diesem war Ehrlichkeit wohl das einzig Richtige.

"Mein Sohn...", ertönte plötzlich eine andere Stimme, "er hatte vorgestern Geburtstag. Ein Jahr."

Stille.

Es hatte vorher schon Stille geherrscht, aber irgendwie war diese Stille noch bedrückender, noch entsetzlicher. Dann wurde sie von einem unterdrückten Schluchzen unterbrochen, und der junge Mann, der gesprochen hatte, hielt sich die Hände vor das Gesicht. Ich sah, wie auch einigen anderen Männern Tränen in die Augen traten, manche senkten voller Entsetzen den Kopf. Schließlich wisperte einer:

"Glückwunsch."

Ich biss meine Zähne zusammen, zwang mich dazu, überhaupt einen Ton herauszubringen, ohne wie ein Schlosshund zu heulen, und fragte dann mit zitternder Stimme: "Wie heißt er?"

Der junge Mann sah mich an, fast schon ungläubig, dass jemand diese Frage überhaupt gestellt hatte, und lächelte beinahe glücklich. "Peter."

"Schöner Name", wisperte ich. "Wie sieht er aus?"

Der Mann begann, im Flüsterton von seinem Sohn zu erzählen, zwar nur wenige Worte, aber in dem Moment schien die Todesangst ein klein wenig aus seinen Augen zu weichen.

"Ich habe zwei Töchter", meldete sich ein anderer, "Anna und Helena. Sie sind drei."

Ich lächelte, hörte zu, während sich die anderen kaum hörbar über ihre Kinder zu unterhalten begannen, und begann, in meiner Tasche herumzukramen. Leise und vorsichtig zog ich ein kleines, rechteckiges Stück Papier heraus und versuchte, es nicht mit Schlamm zu beschmieren. Das Foto war selbstverständlich schwarz-weiß, aber in dem Moment sah ich Susannahs feuerrote Locken und ihre leuchtend braunen Augen, ihre vollen, roten Lippen... Sie lächelte so schön, sah so fröhlich aus, wie immer.

Ich werde zurückkommen, versprach ich ihr in Gedanken, ich werde für dich kämpfen. Mit tränenden Augen und zitternden Händen küsste ich das Bild kurz und wollte es gerade zurück in meine Tasche stecken, als der junge Mann neben mir fragte: "Deine Frau?"

"Wir sind nicht verheiratet", entgegnete ich, "aber..." Ich lächelte hoffnungsvoll. "...Wir haben es noch vor."

Kurze Zeit herrschte schweigen, dann klopfte er mir auf die Schulter und murmelte, mir fest in die Augen blickend, "viel Glück."

Dann kamen die Geräusche von Schreien und Schüssen näher, und ich wusste, uns blieb nicht mehr viel Zeit.

Das einzige, was mir Hoffnung gab- nein, Hoffnung war es nicht, sondern eher ein kaum wahrnehmbares Gefühl von Erleichterung- war die pure Angst, die den jungen Männern neben mir in den Gesichtern stand. Keiner von uns war freiwillig hier. Keiner hatte sein Schicksal gewählt, hatte Spaß daran, andere Menschen zu töten. Aber wir alle wollten überleben, zurück zu unseren Familien, unseren Frauen, zum Teil Kindern, unseren Eltern- und so erschossen wir jeden, bevor wir selbst erschossen wurden.

Einige Meter vor mir sprang ein Mann mit verbissenem Blick hinter einem schmalen Hügel hervor und rannte in unsere Richtung, doch ehe einer von uns reagieren konnte, ertönte der Knall.

Die Kugel traf seinen Kopf, dieser schnellte zurück und der Mann stürzte zu Boden wie ein lebloser, durchnässter Sack.

"Mein Gott!" Der verzweifelte, angsterfüllte Schrei ertönte unmittelbar neben mir, und ich riss den Kopf zu der hageren, inmitten der aufgeweichten Erde nur schwer zu erkennenden Gestalt herum. Durch die dicke, dunkelbraune Kruste aus Schlamm und Dreck in dem ängstlichen Gesicht funkelten mich geweitete Augen an, riesige Kreise erfüllt von einem Meer der Trauer, und ich spürte tiefstes Mitleid in mir aufsteigen.

Der Junge links neben mir war gerade siebzehn, seine Mutter war erst kürzlich gestorben und er kämpfte schon seit einiger Zeit an meiner Seite. Anfangs war er beinahe enthusiastisch gewesen, redete die ganze Zeit davon, für sein Land kämpfen zu wollen, für die Ehre seiner Familie. Bis er den ersten Mann erschossen hat. Von dem Tag an schien er mit jedem Mal, wenn vor seinen Augen jemand starb, in diesen verzweifelten, traumatisierten Zustand hineinzugeraten, das unsichtbare Gefängnis um ihn herum schien immer enger zu werden.

Wie gebannt starrte er auf die unzähligen leblosen Körper, die die gewaltige Lichtung bedeckten, und aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich abermals einige dunkle Gestalten mit erhobenen Köpfen und kampfbereiten, aber auch bedauernden Ausdrücken in den blutverschmierten Gesichtern näherten.

"He, nimm' den Kopf runter!", zischte ich an den Jungen gewandt, doch der blieb regungslos, meine Worte nicht gehört zu haben scheinend.

"Schnell, bück dich!", wisperte ich wieder, "du verrätst uns noch!". Der Junge rührte sich nicht. Die Männer sahen uns.

"Jetzt!"

Mit einem wütenden, verzweifelten Knurren sprangen wir alle gleichzeitig aus dem Graben heraus, meine Kleidung von Schlamm verklebt, und rannte mit erhobenem Gewehr auf die Angreifer zu. Ich konnte in diesem Augenblick nicht sagen, wie viele Soldaten um mich herum kämpften und wie viele von denen, die eben noch mit mir im Graben gelegen hatten, bereits gefallen waren, doch ich schoss auf alles, was sich mit verbissenem Gesicht und jeden Augenblick abzufeuern drohender Waffe auf mich zubewegte- ich spürte jedes Mal einen schmerzhaften Stich, wenn meine Waffe jemanden zu Boden gehen lies, doch ich wusste, entweder sie würden sterben, oder ich.

Schmerzerfüllte Schreie hallten über die Lichtung, doch ich nahm sie nur am Rande wahr, während ich durch die unzähligen Menschen rannte und unzählige durchlöcherte, die dann reglos zu Boden krachten.

"Vorsicht!", hörte ich plötzlich eine schrille Stimme und fuhr blitzartig zu dem Jungen herum, der mich mit einem warnenden, angsterfüllten Blick anstarrte.

Dann sah ich den Mann. Ziellos schoss er um sich, ohne darauf zu achten, ob er einen Feind oder einen Kameraden traf, von Entsetzen, Angst und dem verzweifelten Willen, zu überleben, geleitet.

Ich wollte ausweichen, mich schnellstmöglich von ihm entfernen, doch nur wenige Meter hinter mir stürzte im selben Augenblick ein weiterer Soldat zu Boden und versperrte meinen Weg. Mit geweiteten Augen sprang ich zur Seite und wollte gerade erneut zu dem Jungen eilen, doch dann ertönte neben mir ein lauter Knall. Der lauteste Knall, den ich je gehört hatte.

Ich sah das klaffende Loch in meinem Bauch, das zu Boden tropfende Blut, noch ehe mich der stechende, alles um mich herum in eine tiefe Schwärze verwandelnde Schmerz durchfuhr.

Mit einem Mal verschwamm das Bild um mich herum, die Stimmen wurden undeutlich und waren schließlich völlig verschwunden. Entsetzt und verwirrt taumelte ich rückwärts, presste beide meiner blutüberströmten Hände auf die Wunde und spürte, wie sich meine gesamte Kleidung rot verfärbte, ehe meine Beine schließlich unter meinem Gewicht nachgaben.

Ich sackte zu Boden, rollte in einen Graben hinein, mein Körper kam unsanft mit einem geräuschvollen Klatschen auf dem schlammigen Boden auf und mein Blick richtete sich in den Himmel, wo ich plötzlich glaubte, vereinzelte, zwitschernde Spatzen freudig umherflatttern zu sehen, als unscharfe Silhouetten vor dem grauen Himmel.

Dann verschwamm auch dieses Bild, ich schloss die Augen und sah Susannahs hübsches Gesicht vor mir, sah, wie sie mich mit leuchtenden Augen anblickte und mir ein liebevolles Lächeln schenkte. An meinen Wangen rannen warme Tränen hinab. Ich würde sie nie wieder sehen.

"Susannah!", schrie ich verzweifelt, presste die Worte zwischen meinen fest zusammengebissenen Zähnen hindurch, ballte die Hände zu Fäusten. Sie war nicht in der Nähe, sie konnte mich nicht hören, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sie bei mir war. "Sus..." Meine Stimme brach ab, ich wollte weiterschreien, aber es war unmöglich.

Ich hatte mein Versprechen gebrochen.

 

Der Fuchs

 

Als ich meine Augen blinzelnd öffnete, nahm ich nichts als Dunkelheit wahr, und die Schreie der Sterbenden hallten noch immer in meinem Kopf nach. Ich wollte aufstehen, mich nicht länger in dem Schlamm und meiner eigenen Blutlache wälzen, doch mein gesamter Körper war zu sehr geschwächt. Mich instinktiv darauf vorbereitend, abermals beschossen, dieses Mal völlig durchlöchert zu werden, stellte ich erstaunt fest, dass jedes Anzeichen von dem Schmerz, der soeben noch in der klaffenden Wunde in meinem Bauch gepocht hatte, verschwunden war.

Bin ich tot?, dachte ich, unwissend, dass dies in gewisser Weise der Wahrheit entsprach. Ich war tot- irgendwann 1940 hatte ein Mann namens Matthias Schwarz im Kampf sein Leben gelassen, war erschossen worden. Doch ich lebte. Irgendwie.

Als ich mit den Fingern vorsichtig über die Stelle fahren wollte, wo die Kugel in meinen Körper gedrungen war, zuckte ich zusammen und spürte Entsetzen in mir aufsteigen- sie fehlten. Ich stieß ein erschrecktes Zischen aus, hielt die Augen fest geschlossen und versuchte abermals, meine Finger zu bewegen, doch sie waren nicht da. Ich hatte verloren, so vermutete ich, und vermochte in dem jetzigen Zustand, auf extremste Weise verstümmelt, keinen Schmerz mehr zu spüren- als ich mich jedoch mühsam auf den Bauch wälzte und meinen Blick auf das richtete, was einst meine Hand gewesen war, packte mich die Panik. Ich wollte aufschreien, als ich die winzige, pelzige Pfote sah, doch meiner Kehle entrang sich bloß ein schrilles, heiseres Krächzen- ein Bellen. Das Bellen eines jungen Fuchses.

Blitzartig sprang ich auf, wollte mich aufrichten, mich auf die Hinterläufe erheben, doch ich verlor sofort das Gleichgewicht und kippte nach vorne. Meine Arme- nein, meine Vorderbeine- von mir gestreckt landete ich unsanft auf dem Bauch und die Luft wurde mit einem grotesken Stöhnen aus meinem Körper gepresst. Panik überkam mich abermals, und als ich auf meinem flauschigen Hinterteil kauernd herumfuhr, blickte ich in unzählige dunkle, mich neugierig anfunkelnde Augenpaare. Fünf tiefblaue junger Welpen sowie das bernsteinfarbene, mich beinahe besorgt anblickende der Mutter- meiner Mutter.

Ich stieß ein Bellen aus, sprang von Entsetzen erfüllt auf und rannte durch den dunklen Gang, so schnell meine winzigen Füße mich zu tragen vermochten, blickte panisch von einer Seite zur anderen. Dunkelheit, überall Dunkelheit, enge Wände, nur ein winziger Lichtschimmer, der irgendwo am Ende des Ganges hineindrang. Meine Füße donnerten über die Erde, die Wände schienen mich immer mehr einzuschließen, flankierten mich zu beiden Seiten- dann sah ich das Licht. Dort war das Ende des Baus, der Ausgang, mein Fluchtweg, und ich sah die Silhouetten der sich vor dem Sonnenlicht abzeichnenden Bäume immer deutlicher. Ich beschleunigte mein Tempo, rannte auf das Licht zu, setzte freudig zum Sprung an und... Mächtige Kiefer schlossen sich um meinen Nacken, hielten mich fest und zerrten mich aus dem Licht, zurück in die Dunkelheit.

Panik drohte mich abermals zu überkommen; ich begann, mit allen meinen Gliedern zu zappeln, doch der Druck um meinen Nacken verstärkte sich bloß. Er war nicht schmerzhaft, aber fest, so fest, dass es keine Möglichkeit sich zu entreißen gab.

Von Angst, Unsicherheit und Trauer erfüllt zwang ich mich zur Ruhe und schloss meine Augen, während die Fähe mich tiefer in den Bau hineintrug, ehe sie schließlich unter den verwirrten Blicken der übrigen Welpen zum Stehen kam. Sanft legte sie mich auf der Erde ab und fuhr mir mit der Zunge über das Gesicht, was ich verstört über mich ergehen ließ.

Ich war gestorben und wiedergeboren worden, in dem Körper eines jungen Fuchses. War das möglich?

Natürlich, sprach ich in Gedanken zu mir selbst, sonst wärst du jetzt nicht hier, oder?

Ich schloss die Augen und spürte, wie die kleinen Füchse mich umringten und sich mit ihren flauschigen Pelzen an mich pressten, als wollten sie mich schützen oder sogar trösten. Es war ein seltsames Gefühl. Vor etwa drei Minuten, so schien es, hatte ich noch sterbend im Schlamm gelegen, eingehüllt in eine Wolke aus Todesschreien, und nun lag ich in der Gestalt eines Fuchswelpen in einem dunklen Bau, umzingelt von fünf weiteren jungen Füchsen. Ich wusste, es war kein Traum, ich konnte es spüren, doch ich konnte es nicht glauben. Wie viel Zeit war wohl seit meinem Tod vergangen? Tatsächlich nur drei Minuten? Drei Jahre? Oder drei Jahrhunderte? Ich wusste es nicht, und es gab nichts, was mich darauf hätte hinweisen können.

Während ich Stunde um Stunde in dem dunklen Bau lag, ständig von meinen neuen Geschwistern zum Spielen aufgefordert, ertappte ich mich unzählige Male dabei, wie ich mich am liebsten bei der Fähe erkundigt hätte: Ist der Krieg vorüber? Welches Jahr schreiben wir? Was ist aus Hitler geworden?

Idiot, zischte ich im Stillen, du bist ein Fuchs. Ist das jetzt wirklich deine größte Sorge?

Nein. Meine größte Sorge, stellte ich fest, war meine Familie. Mein Vater war verstorben, meine Mutter nicht sonderlich reich, mein Bruder ebenfalls im Krieg. Sie würde niemals über meinen Tod hinwegkommen. Genau wie Susannah. Ich war gerade siebzehn, als ich sie kennengelernt hatte, und ich sehe die Bilder in meinem Kopf, als stünde sie unmittelbar vor mir. Mit elegantem, durch die ausladende Kleidung jedoch etwas verwahrlost wirkenden Gang war sie die Straße entlanggeschritten, der wundervolle Glanz ihrer braunen Augen strahlte unter den feuerroten Locken hervor, die ihr sanft ins Gesicht fielen. Diese fein geschnittene Gesicht, dieses freundliche Lächeln war mir nie aus dem Kopf gegangen.

Und nun war sie fort- nun ja, ich war fort.

Neben der tiefen Trauer spürte ich einen leisen Funken von Belustigung in mir aufsteigen, und ich hätte vermutlich ein kaum wahrnehmbares Grinsen zustande gebracht, wäre ich ein Mensch gewesen- ein kleiner, verunsicherter Fuchswelpe, der an die leuchtenden Augen und die vollen Lippen eines siebzehnjährigen Mädchens dachte.

Vielleicht würde ich sie wiedersehen, irgendwann... Mich an jenen Gedanken klammernd spürte ich nach einiger Zeit, wie meine Augenlider langsam schwer wurden und ich in einen leichten Schlaf fiel.

 

Meine neue Familie

 

 

 

 

 

Blitzartig fuhr ich aus dem Schlaf auf, mein Kopf schnellte nach oben, doch ich wagte zunächst nicht, meine Augen zu öffnen. Es war ein Traum, dachte ich, dachte es so fest, dass ich meine Zähne zusammenbiss, nur ein Traum!

Ein leises Knurren. Ich seufzte. Vielleicht doch kein Traum. Unmittelbar neben mir ertönte ein kaum wahrnehmbares Winseln, das meine an einer ungewohnten Stelle auf dem Kopf sitzenden Ohren unwillkürlich zucken ließ, und als ich langsam die Augen öffnete, sah ich zunächst abermals nichts als tiefe Dunkelheit, ehe die Silhouetten der Füchse an Schärfe zunahmen.

Find' dich damit ab. Kein Mensch träumt so lange. Und ein Fuchs auch nicht.

Vorsichtig stand ich auf, konnte ein von Müdigkeit sowie Erschöpfung erfülltes Gähnen nicht unterdrücken und streckte meine Glieder, ehe ich meinen Blick durch den Bau gleiten ließ- Beinahe undurchdringliche Dunkelheit erfüllte ihn, doch ich konnte die Umrisse der hereinleuchtenden Sonne angestrahlten, sich langsam heben- und senkenden Körper der übrigen Füchse deutlich ausmachen. Unzählige neue, jedoch in grotesker Weise vertraut wirkende Gerüche, die ich am Vortag in meiner tiefen Panik verdrängt zu haben schien, drangen an meine Nase, und ich sog einmal tief die feuchte Luft ein. Es roch nach feuchter Erde, frischem Morgentau und satten Blättern, und mit diesen wohltuenden Gerüchen der Natur mischten sich die unverkennbaren der Füchse- ich war zwar noch immer ich selbst, mit meinen Gedanken, doch mein Körper war der eines Fuchses, und diesem Fuchs waren alle hier wahrnehmbaren Gerüche vertraut. Und obgleich ich den Geruch wahrnahm, obgleich ich wusste, dass ich ihn in Gestalt eines Menschen vermutlich als abartig empfunden hätte, fand ich ihn nun beinahe beruhigend, vertraut.

Wie viel Fuchsdung lag hier wohl verstreut, wie viele tote Kleintiere waren hier womöglich verwest?

Kaum war mir der Gedanke gekommen- ein seltsamer Zufall- hörte ich ein lautes Geräusch aus meinem Inneren dringen und spürte plötzlich, dass ich mich hungrig und völlig leer fühlte, ein schmerzendes Stechen, das ich zuvor ebenfalls unterdrückt zu haben schien. Wie lange hatte dieser Fuchs nichts gefressen?

Unwillkürlich stieß ich ein langes, leidvolles Knurren aus und blickte zu Boden, wo meine tapsigen Pfoten in der feuchten Erde scharrten, dann schlenderte ich mit hängendem Kopf durch den dunklen Bau. Ich brauche etwas Essbares!

Ich war ein Fuchs, ein Fleischfresser. War ich hungrig, musste ich jagen. Der Gedanke daran, ein lebendiges Tier, eine Maus etwa, mit meinen eigenen Zähnen zu erlegen, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken, und ich schluckte angewiedert.

Fuchsmama, ich hätte gerne etwas zu essen!, dachte ich, hätte ich am liebsten gerufen, und musste wiederum grinsen- soweit sich das hübsche, jedoch nicht annähernd menschliche Gesicht eines Fuchses zu einem Grinsen verziehen ließ.

Mit tapsigen, unbeholfenen Schritten - wie ich mit derartiger Unbeholfenheit ein Tier zu jagen fähig sein sollte, war mir ein Rätsel- bewegte ich mich auf den durch den Eingang hineindringenden Lichtschimmer zu und blinzelte leicht, bis ich plötzlich leise Schritte hinter mir vernahm. Die Fähe war aufgestanden, presste sich an mir vorüber und versperrte meinen Weg mit ihrem schlanken Körper, ehe sie mich energisch in den Bau zurückdrängte. Ist ja schon gut!

Ich kam mir vor wie ein kleiner Junge, der von einer strengen, konsequenten, jedoch fürsorglichen Mutter davon abgehalten wird, etwas Dummes oder Gefährliches anzustellen. Unsicher taumelte ich rückwärts und ließ mich dann seufzend auf mein Hinterteil sinken, während mein leerer, hungriger Magen abermals ein lautes Knurren von sich gab. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, stieß die Fähe ein kaum wahrnehmbares, an ein mitfühlendes Seufzen erinnernden Geräusch aus und legte sich langsam auf dem Boden ab, woraufhin die Jungen sich mit neugierigen Blicken zu regen begannen. Skeptisch sowie unsicher, was ich tun sollte, legte ich den Kopf schief, als die jungen Füchse plötzlich von Energie erfüllt aufsprangen und auf die Mutter zueilten, jeder den anderen zurückzudrängen versuchend. Sie drängten sich um sie, steckten die Köpfe eng zusammen, bis sich irgendwann unter dem Gewusel am Bauch der Füchsin ein lautes Schmatzen erhob, und ich verstand.

Wie meine neuen Geschwister war ich wohl noch nicht fähig zu jagen und musste mich von der Muttermilch der Füchsin ernähren- jetzt konnte ich mir wenigstens ansatzweise ein Bild davon machen, wie alt ich war.

Der Gedanke, die warme Milch einer Füchsin zu trinken, ließ ein seltsames, beinahe angewidertes Gefühl in mir aufsteigen, doch ich wusste, ich hatte keine Wahl. Lange Zeit hielt ich inne und blickte unsicher von einer Seite zur anderen, mich plötzlich hilflos und verwirrt fühlen. Dann drang erneut ein lautes Knurren aus meinem Inneren, gefolgt von einem schmerzenden Stich, und schließlich gab ich meinen Bedürfnissen nach. Hechelnd zwängte ich mich zwischen meine Geschwister und begann meinerseits, an einer Zitze zu saugen; die warme, wohlriechende Milch trug den vertrauten Geschmack von unberührter Natur und Wildnis, und sie vermochte das stechende Gefühl von Leere in meinem Magen ein wenig zu verringern. Ich saugte heftiger und heftiger, nahm hin und wieder mehr in den Mund, als ich zu schlucken vermochte, doch nach nur wenig Zeit war bereits ein großer Teil meines Hungers gestillt. Jedes Mal, wenn ich einen Schluck der köstlichen Milch meinen Hals hinabrinnen spürte, bemerkte ich, wie sich ein wohliges Gefühl in mir breitmachte, und von diesem Augenblick an begann ich mit dem Gedanken zu spielen, mein neues Leben irgendwann akzeptieren zu können.

Gierig schluckte ich noch ein maulvoll Milch hinunter, dann ließ ich schließlich mit einem wohligen Seufzen von der Zitze ab und tapste mit unbeholfenen Schritten sowie gefülltem Magen zur Seite, als ich beinahe beschämt bemerkte, dass sich meine Geschwister längst in eine andere Ecke des Baus begeben hatten- erst jetzt fielen mir einige weitere Gänge auf, die von jenem geräumigeren Hohlraum abzweigten und noch tiefer in die Erde hineinzuführen schienen.

Wie viele Füchse leben hier wohl?, fragte ich mich und blickte mich kurz um, als wollte ich in dem Bau jegliche meine Frage beantwortende Spuren finden, konnte jedoch nichts dergleichen entdecken- nur meine sich übereinanderwerfenden Geschwister und die Mutter, die gerade auf den Ausgang zuschlenderte. Drei weitere Gänge zweigten in unterschiedliche Richtungen ab, und ich tapste beinahe unwillkürlich auf den mittleren zu, obwohl die dort noch undurchdringlicher wirkende Dunkelheit ein unangenehmes Gefühl in mir aufsteigen ließ.

Die warme Milch in meinem Magen gluckerte bei jedem Schritt, und ich fühlte mich plötzlich so schwerfällig, dass ich glaubte, meine pelzigen Pfoten könnten meinem Gewicht nicht standhalten. Einen Augenblick hielt ich inne und kniff die Augen zusammen, um in der aus den Gängen dringenden Dunkelheit etwas erkennen zu können, doch ich nahm nichts als Schwärze wahr. Das Gefühl von Völle in meinem Bauch machte mich träge und das Verlangen, mich in der dunkelsten Ecke des Baus zu einer winzigen Kugel zusammenzurollen und den Rest des Tages mit Schlafen zu verbringen wuchs stetig, doch ebenso die Neugier. Ich wollte wissen, was sich in den Tunneln befand, wohin sie führen mochten.

Verdammt! Ein heftiges Ziehen in meinem buschigen Schwanz. Ich fuhr herum, bleckte unwillkürlich die Zähne und blickte dann in die mich spielerisch anfunkelnden Augen eines der Fuchswelpen, der mit angriffslustiger Haltung und einem beinahe höhnischen Grinsen, so schien es, um mich herumsprang. Lass mich in Ruhe, dachte ich belustigt, du musst doch genauso vollgefressen sein wie ich!

Verwirrt blickte ich von einer Seite zur anderen, unsicher, was ich tun sollte, bis der Fuchs plötzlich zum Sprung ansetzte und sich mit seinem gesamten Gewicht auf mich warf. Ich bellte verstört, meine Füße rutschten unter meinem Körper weg und ich kam unsanft auf der feuchten Erde auf, der Fuchswelpe landete mit einem verspielten Knurren auf meinem gesamten Oberkörper. Runter von mir!, rief ich innerlich, als die Luft aus mir hinausgepresst wurde und sich mein Mund mit dem flaumigen Pelz meines Angreifers füllte. Ich wollte aufstehen, doch das auf mir lastende Gewicht hinderte mich an jeder Bewegung, meine Gliedmaßen wurden zu Boden gepresst und vor meinen Augen befand sich nur ein dichter, roter Pelz. Sofort reckte ich den Kopf dorthin, wo ich das Hinterteil des Welpen vermutete, öffnete den Mund zu einem triumphierenden Knurren und biss zu. Ein lautes Quietschen drang aus seiner Kehle, er fuhr erschreckt herum und sprang mit geweiteten Augen von mir herab, sodass ich erleichtert ausatmete und mich langsam erhob. Ich sog tief die Luft ein und spürte plötzlich ein unangenehmes Gefühl auf meiner Zunge, als hätte sich dort ebenfalls ein flauschiger Pelz gebildet. Verstört schüttelte ich heftig den Kopf, dann sah ich die an meinen Mundwinkeln wie ein Beutetier herabbaumelnden Fellfetzen und spuckte mit einem angewiderten Knurren aus, eine klebrige Masse aus Fell und Speichel troff auf den Boden.

Habe ich gerade wirklich einem Fuchs in den Hintern gebissen?

Beschämt hob ich den Kopf und blickte auf, wo ich den mich beinahe vorwurfsvoll anstarrenden, blauen Augen des Fuchses begegnete. Mein Biss schien ihm keine Schmerzen zu bereiten, er erinnerte vielmehr an einen kleinen Jungen, der sich darüber empört, dass sich sein Spielkamerad beim Versteckspielen herumdreht, ehe er bis einhundert gezählt hat.

Sieh mich nicht so an. Du hast mich beinahe zerquetscht, und das Fell an deinem Hintern wächst schon noch nach.

Einen kurzen Augenblick zögerte der Welpe, dann sprang er erneut mit ausgestreckten Vorderbeinen auf mich zu, doch ich wich blitzschnell zur Seite aus und warf mich dann seinerseits auf ihn. Er knurrte spielerisch, während wir durch den gesamten Bau rollten, und es wurde unzählige Male in Schwänze, Pfoten und Ohren gekniffen. Lautes Quietschen ertönte, und plötzlich donnerte das Gewicht unzähliger anderer Füchse auf mich herab- zwanzig Pfoten wirbelten durch die Luft, pressten alles sich Bewegende zu Boden und fuhren sich gegenseitig durch die Gesichter. Einige Male lag ich nach Luft ringend unter dem gewaltigen Haufen, wand mich unter dem Gewicht der Tiere und kämpfte mich durch die Menge, bis die jungen Füchse irgendwann nach und nach zur Ruhe kamen.

Das Blut schoss durch meinen gesamten Körper, Adrenalin kribbelte in meinen Pfoten und an den Stellen, wo vereinzelte Füchse in der Hitze des Kampfes etwas fester zugetreten hatten, machte sich ein unangenehmes Pochen breit, doch ich spürte die unbändige Freude, die mit einem Mal in mir aufgestiegen war. Keuchend kam ich zum Stehen, meine winzigen Pfoten bearbeiteten die weiche Erde und aus meiner spitzen Schnauze troff Speichel, während meine Geschwister sich hechelnd auf den Boden sinken ließen.

Gebt ihr etwa schon auf?, dachte ich, und als ich sie nacheinander anblickte, bemerkte ich, dass ihnen sowohl die Erschöpfung als auch die Überraschung ins Gesicht geschrieben stand- vor allem der Welpe, der den Kampf begonnen hatte und den ich anhand seiner nur unter dem Kinn von weißem Fell gesäumten Schnauze zu erkennen vermochte, blickte mich mit beinahe verwirrtem Gesichtsausdruck an und leckte sich dann verstört über die Brust, als ich abermals eine kampfbereite Haltung einnahm.

Dieser spielerische Kampf war so kindlich, so unbeschwert gewesen, wie ich es seit langer Zeit nicht mehr verspürt hatte- jeden Tag, wenn ich als Soldat zum Kampf aufgebrochen war und nicht wusste, ob ich den nächsten Sonnenaufgang noch betrachten dürfte, war ich von einer mich zu fesseln scheinenden Angst und tiefer Trauer erfüllt gewesen, die mit einem Mal verschwunden war.

Vielleicht hat das Leben eines Fuchses ja mehr positive Seiten als das eines Menschen, dachte ich, unwissend, wie lange ich mich wohl noch in dem Körper eines Fuchses befinden würde. Und danach, dachte ich dann, was geschieht dann?

 

Wieder ein Kind sein

 

 

Angewidert starrte ich auf den leblosen Regenwurm, den der Fuchs, der offensichtlich der Vater des gesamten Wurfes war, auf der Erde abgelegt hatte- es war ein recht großer Haufen einiger Würmer sowie Käfer gewesen, der jedoch schnell geschrumpft war, als meine Geschwister ihn erblickt hatten. Seit etwa einer Woche lebte ich nun in dem Fuchsbau, hatte mich nur selten und in Begleitung meiner gesamten Familie aus dem Bau begeben und in der Zeit nichts als Muttermilch zu mir genommen, doch nun schien es an der Zeit, sich an bissfeste Nahrung zu gewöhnen- vielleicht würde ich bald das Jagen erlernen und somit eine Gelegenheit bekommen, die Gegend auszukundschaften. Doch so weit schienen meine Geschwister und ich noch nicht zu sein; ich schätzte unser Alter gerade auf wenige Wochen.

Wieso muss es ein Regenwurm sein?, dachte ich mit verzweifeltem Blick auf meine fröhlich umhertollenden Geschwister, die die Panzer einiger Käfer zwischen ihren Zähnen zerknackten, und entschied dann, dass deren Nahrung ebenfalls keine besonders verlockende Alternative war.

Wieso kein Schnitzel? Hühnchen? Wieso müsst ihr euch von Würmern, Käfern und Mäusen ernähren?

Bewegungslos stand ich in der Mitte des Baus und starrte wie gebannt auf den Wurm, während meine Geschwister einen riesigen Käfer immer wieder in die Luft warfen und sich gegenseitig wegstießen, sobald einer von ihnen das Beutestück herunterzuschlingen versuchte.

Die Fähe, die den Beutehaufen auf ihre gierigen Jungen- und mich- aufzuteilen versucht hatte, tauchte plötzlich neben mir auf und stieß mich sanft mit der Schnauze an, als würde sie sich Sorgen um mich machen. Mein Magen knurrte geräuschvoll, und ich sehnte mich nach dem milden, wohltuenden Geschmack der warmen Milch, an die ich mich inzwischen bereits als Grundnahrungsmittel gewöhnt hatte, doch dem beinahe strengen Blick der Fähe entnahm ich, dass die Zeit des Säugens nun vorüber war und ich den Regenwurm früher oder später würde fressen müssen.

Ich weiß, du kennst mich nur als gierigen, verfressenen Fuchswelpen, dachte ich beinahe amüsiert, als sie die Pfote hob und den nunmehr mit Erde überzogenen Wurm näher an mich heranschob, aber es ist ein Wurm!

Ich tat einen Schritt zurück und stieß plötzlich gegen etwas Weiches, Felliges, und als ich mich langsam herumdrehte, blickte ich in die neugierigen Augen meiner "Schwester". Der Wurf bestand aus drei Rüden und zwei Weibchen, und ich hatte festgestellt, dass sie alle auf den zweiten Blick sehr gut voneinander zu unterscheiden waren- dieses Weibchen, dessen Augen um einiges heller waren als die der übrigen, war sehr verspielt, neugierig und mutig, während sich das andere hingegen eher ängstlich und zurückhaltend zeigte. Zwischen den beiden Rüden war ebenfalls ein deutlicher Unterschied erkennbar- derjenige, mit dem ich einige Tage zuvor im Spaß gekämpft hatte, war der mit Abstand Verspielteste und nutzte jede sich ihm bietende Gelegenheit, seine Geschwister zu provozieren, wobei der andere, recht rundliche Welpe zumeist in einer Ecke des Baus lag und sich nur dann am Spiel beteiligte, wenn er gerade ausgiebig gespeist hatte- dann war er jedoch stets sehr träge und verlor schnell die Lust daran, mit seinen Geschwistern zu kämpfen.

Die junge Füchsin musterte mich mit ihren aufgeweckten, von beinahe menschlich wirkender Klugheit zeugenden Augen, und kaum schien sie meine unsichere, verwirrte Gefühlslage studiert zu haben, wanderte ihr neugieriger Blick auf den zu meinen Füßen liegenden Wurm.

"Willst du den nicht?", sagte ihr Gesichtsausdruck, und ich senkte bestätigend den Kopf. Tu dir keinen Zwang an und iss ihn. Heiter sprang die Füchsin mit vor Freude glimmenden Augen auf mich zu, senkte den Kopf und öffnete gerade ihr Maul, um den in trockener Erde panierten Wurm genüsslich hinunterzuschlingen, als sich die Fähe mit einem energischen Knurren dazwischenschob und das junge Weibchen mahnend mit ihrer wohlgeformten, spitzen Scchnauze ein wenig nach hinten schob.

"Du hattest dein Essen", bedeutete dieses Knurren womöglich, "dieser Wurm gehört Matthias."

Ich lachte innerlich, als mir die Befremdlichkeit dieses Gedanken bewusst wurde- abgesehen davon, dass ich nicht sonderlich erpicht darauf war, der "Besitzer" dieses Beutestücks zu sein, bezweifelte ich, dass die Fähe mich bei meinem echten Namen nennen würde. Ob sie mir wohl einen Namen gegeben hatte? Ob sie die leiseste Ahnung hatte, dass ich nicht der Fuchs war, den sie zur Welt gebracht hatte?

Ein weiteres Knurren riss mich aus meinen Gedanken, als ich sah, wie die Fähe mit strengem, jedoch auch besorgten Glänzen in den Augen auf mich herabblickte, ihre schlanken, von weißem Fell gesäumten Pfoten bearbeiteten ungeduldig die weiche Erde unter ihr.

Ich schluckte heftig und biss mit langsam in mir aufsteigender Übelkeit die Zähne zusammen, dann zwang ich mich dazu, meinen Kopf zu neigen und zunächst zaghaft an dem leblosen, keinerlei Gerüche verströmenden Wurm zu schnuppern- plötzlich nahmen die wagen Umrisse einer ewig zurückzuliegen scheinenden, verschwommenen Kindheitserinnerung in meinem Gedächtnis Gestalt an, und ich spürte abermals einen Anflug von Belustigung in mir aufsteigen.

"Anna, ich wette, du traust dich nicht, diesen toten Regenwurm in den Mund zu nehmen!"

"Das ist so eklig, das mache ich nicht!"

"Dann bist du ein feiges Huhn! He, seht mal, Anna ist ein feiges Huhn!"

Wie alt war ich wohl gewesen? Sieben, höchstens acht Jahre alt, im Vergleich womöglich genauso alt wie dieser Fuchs, in dessen Körper ich gefangen war. Nun war ich es, der die Mutprobe zu bestehen hatte, denn wenn ich es nicht tat, würde ich vermutlich einige Zeit nichts zu essen bekommen.

Blitzschnell packte ich das von Erde überzogene, schleimige Tier mit den Zähnen, zog es wie eine lange Nudel in meinen Mund und schluckte es sofort hinunter, ehe sich der abartige, an ein rohes Schnitzel erinnernde Geschmack auf meiner Zunge festzusetzen vermochte. Ein angeekeltes Zucken durchfuhr mich, ich schüttelte den Kopf, um den Geschmack schnellstmöglich aus meinem Gedächtnis zu verbannen, und unterdrückte ein geräuschvolles Husten sowie ein Würgen. Ich hatte es geschafft, ich hatte den Wurm hinuntergeschlungen, doch das winzige, dünne Tier war nicht gerade sättigend gewesen, obgleich ich erleichtert war, dass ich zunächst nicht noch weitere Regenwürmer würde fressen müssen.

Ich wusste, dass der Fuchs- also mein Körper- diesen Geschmack als angenehm empfunden hätte, doch es war mein Bewusstsein, es waren meine Gedanken sowie Empfindungen, und allein der Gedanke daran, einen Regenwurm zu verspeisen, sorgten in meinem Kopf dafür, dass ich es als abartig empfand- ebenso wie die Gerüche, von denen ich wusste, dass ich sie in Gestalt eines Menschen abstoßend gefunden hätte.

Das Knurren meines Magens riss mich aus meinen Gedanken, und ich spürte noch immer jene unangenehme Leere in meinem Inneren, die mich dazu zwang, mit zu Boden gerichteter Nase nach weiterer Nahrung zu schnüffeln, doch das Einzige, was ich wahrnahm, war der vertraute, in jeder Ecke des Baus festgesetzte Geruch der Füchse.

Meine Geschwister balgten sich noch immer um den Käfer, und jedes Mal, wenn ein Fuchs ihn gerade verspeisen wollte, stießen die übrigen ein beinahe wütendes Knurren aus, ehe die Fähe sich elegant dazwischenschob. Sie bedachte die verspielte der beiden Füchsinnen mit einem langen, mahnenden Blick, woraufhin diese nach einem kurzen Zögern den Käfer auf die Erde fallen ließ und sich verunsichert umblickte, als glaubte sie, jeden Augenblick könnte einer ihrer Spielkameraden das Tier blitzschnell schnappen und verschlingen.

Die Fähe hob ihren Kopf in meine Richtung, blickte mir einen flüchtigen Moment lang in die Augen und neigte die spitze Schnauze dann in die Richtung des Käfers, der größer zu sein schien als meine eigene Pfote. Dennoch, ein Käfer würde wohl nicht annähernd so glitschig und ekelerregend schmecken wie ein Regenwurm, und zum einen wollte ich nicht noch einmal die gleiche Situation wie vorhin aufkommen lassen, da die Füchsin mich beinahe zum Essen des Wurms zwingen musste, zum anderen wusste ich, dass ich mich an derartige Nahrung würde gewöhnen müssen.

Schnellen Schrittes zwängte ich mich durch meine mich erstaunt anstarrenden Geschwister, schloss die Augen und packte den Käfer blitzschnell mit den Zähnen, ohne vorher daran zu riechen. Ich spürte den harten Panzer und die sechs dünnen Beine auf meiner Zunge, als ich das Insekt in den Mund nahm, und vermutete zunächst, mich daran zu verschlucken, wenn ich es nicht kauen würde, doch das Gefühl der meinen Gaumen kitzelnden Fühler löste genug Ekel in mir aus, dass ich den Käfer sofort problemlos hinunterschlang. Abermals konnte ich ein unwohles Zusammenzucken, ein Schaudern nicht unterdrücken, doch die beinahe von Eifersucht erfüllten, erwartungsvoll auf mir ruhenden Blicke der Füchse ließen ein leises Gefühl der Schadenfreude in mir aufsteigen. Wenn zwei sich streiten..., dachte ich, vernahm plötzlich ein verspieltes Knurren und fuhr herum, als sich die mutigere Füchsin schwungvoll auf mich warf und mich mit ihren kräftigen Pfoten zu Boden drückte. Ihre spitzen, winzigen Zähne waren gebleckt, doch in ihren klaren Augen glommen Freude sowie eine seltsame Art von Zuneigung.

Es ist eine Familie, dachte ich, nicht einfach irgendwelche Tiere. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie fürsorglich und respektvoll die Tiere miteinander umgingen, auch wenn es hin und wieder Streit um Nahrung unter den jungen Fuchswelpen gab- doch das war bei Menschen nicht anders, oder?

Die Füchsin presste mich zu Boden, blickte triumphierend von einer Seite zur anderen und schnappte dann im Spaß nach meinem Ohr, biss jedoch nicht zu und stupste stattdessen sanft mit der Schnauze gegen meine Wange, als wollte sie sagen: "He, steh' auf!"

Ich sog einmal tief die Luft ein, nahm meine ganze Kraft zusammen und sprang blitzschnell vom Boden auf, wobei eine dichte, mir einen Augenblick die Sicht raubende Staubwolke aufwirbelte. Die Füchsin riss die Augen auf, als mein plötzliches Aufspringen ihr das Gleichgewicht raubte, stieß ein erschrecktes Bellen aus und taumelte mit unbeholfen über die Erde rutschenden Pfoten rückwärts. Ich machte mit spielerischem Funkeln in den Augen einen gewaltigen Satz nach vorne, streckte die Pfote aus und tippte sie so leicht an, als bestünde sie aus hauchdünnem Glas, doch es reichte völlig, um ihr den letzten Funken von Gleichgewicht zu nehmen. Ihre Füße rutschten langsam unter ihrem Körper weg, und ich schien in Zeitlupe sehen zu können, wie sie empört knurrend zur Seite kippte und mit einem plumpsenden Geräusch auf der Erde aufkam.

"Das gibt Rache!", sagte ihr angriffslustiges Knurren, als sie geschickt aufsprang und sich abermals mit aller Kraft gegen mich warf. Sofort wich ich aus, rollte mich blitzschnell ab und sprang mit einem belustigten Bellen zur Seite, als die Füchsin mit ihrer schlanken Pfote in meine Richtung schlug. Sie knurrte verärgert und eilte auf mich zu, doch ich fuhr schnell herum und rannte davon, mich durch meine verwirrt um sich blickenden Geschwister zwängend.

Eine Ewigkeit rannten wir durch den Bau, jagten uns gegenseitig und verstrickten uns hin und wieder in spielerische Kämpfe, bis die Füchsin nach einiger Zeit inne hielt, ein langes Seufzen ausstieß und schließlich mit erschöpftem Hecheln zu Boden sank, obgleich in ihrem Blick noch immer Angriffslust glomm.

Auch ich hechelte angestrengt, meine Vorderbeine zitterten leicht und an meinen Pfoten klebte die Erde, die ich während der spielerischen, stürmischen Jagd durch den Bau aufgewühlt hatte. Noch immer verspürte ich ein leises Gefühl des Hungers, doch der widerwärtige Regenwurm und der riesenhafte Käfer hatten das Loch, das ich in meinem Inneren zu fühlen geglaubt hatte, größtenteils gestopft- es bedarf offenbar nicht allzu viel, um einen Fuchswelpen zu sättigen; womöglich lag das schnelle Stillen meines Hungers auch an meinem Appetit, den der Anblick eines toten Regenwurms nicht gerade vergrößerte, denn als etwas später an diesem Tag ein weiterer Haufen an Würmern in den Bau gebracht wurde und meine Geschwister sich gierig darüber hermachten, wurde mir klar, dass ein Fuchs mehr Nahrung brauchte als nur einen Wurm und einen Käfer...

 

 

Neugier ist der Tod des Fuchses

 

 

 

 

 

 

4. Kapitel

 

Ich sollte mich noch einige Zeit von Würmern, Käfern und jeglichen anderen Arten von Insekten ernähren, bis die Fähe uns irgendwann das Jagen lehrte, und ich wunderte mich über die Effizienz der Methoden, mit welchen sie dies tat. Nachdem wir an einem lauen, von frischem Morgenwind gestreichelten Tag kurz durch den von unzähligen Geräuschen und einer Vielfalt an Gerüchen erfüllten Wald getapst waren und die modernden Blätter aufgewirbelt hatten, war sie vor einem vollen, gelb-grünen Grasbüschel zum Stehen gekommen und hatte jedes ihrer Jungen mahnend angesehen. Sie hatte mich an eine meiner damaligen Lehrerinnen erinnert, die jedes Mal, wenn sie einen Raum betrat, zunächst ihren strengen Blick durch die Reihen gleiten ließ, um sicherzustellen, dass ihr die Aufmerksamkeit jedes einzelnen Schülers galt.

Als die neugierig funkelnden, von Lebensfreude sowie Energie erfüllten Augen aller Welpen auf sie gerichtet waren, war die Fähe auf das Gras zugetreten und hatte ihren Kopf geneigt, als wolle sie auf etwas horchen. Sie tut so, als würde sie nach Mäusen horchen, hatte ich gedacht und war von Erstaunen erfüllt gewesen- Erstaunen darüber, wie sehr ich die Fürsorge sowie die Intelligenz dieser und vermutlich einiger anderer Tiere unterschätzt hatte.

Unter dem im gleißenden Sonnenlicht golden glänzenden Pelz der Fähe hatten sich die kräftigen Muskeln angespannt, sie war abgesprungen und nach einem Herzschlag, so schien es, auf dem Büschel gelandet- alles war so schnell gegangen, dass ich keiner ihrer Bewegungen hatte folgen können und mit verwirrt auf die Füchsin gerichtetem Blick unbeweglich dagestanden hatte.

Sie hatte einen kurzen Blick zu uns herübergeworfen, war dann einen Schritt zurückgetreten und hatte abermals zum Sprung angesetzt, nachdem ihr unsere verwirrten Ausdrücke offenbar aufgefallen waren.

Entschlossen, jede ihrer Bewegungen mit meinem Blick einzufrieren und sofort nachahmen zu können, hatte ich die Augen zusammengekniffen, als sie abermals kraftvoll abgesprungen war- senkrecht wie ein in die Höhe schießender Pfeil war sie in die Luft geschossen und nach einer geschickten Drehung elegant mit auf das Grasbüschel gepressten Pfoten auf dem Boden gelandet, ehe sie nach einem kurzen Zögern ihre tödlichen Zähne darin vergraben hatte.

Beeindruckend. Und jetzt komme ich mit meiner Unbeholfenheit.

Ich war einige Zeit sitzen geblieben, um meinen Geschwistern bei ihren Versuchen, das Grasbüschel zu erlegen, zuzuschauen, ehe die Fähe mich mit einem beinahe herausfordernden Blick bedacht hatte. Los. Du bist an der Reihe, und du wirst nicht kneifen. Womöglich schätzte ich den Charakter der Füchsin falsch ein und das, was ich jedes Mal aus ihrem klugen Gesichtsausdruck herauszulesen glaubte, war der reinste Unsinn, doch das geduldige, dennoch strenge Funkeln in ihren bernsteinfarbenen Augen schien genau dies sagen zu wollen.

Somit war ich zögernd an das Grasbüschel herangeschlichen, mir den Ablauf des seltsamen, jedoch geschickten Sprungs noch einmal ins Gedächtnis rufend, und hatte dann einmal tief die Luft eingesogen.

Senkrecht in die Höhe, drehen, in den Büschel beißen.

Ich hatte all das getan- mich kraftvoll mit den Hinterläufen abgedrückt, in der Luft gedreht und in das Gras gebissen, doch vermutlich nicht auf die Art, wie die Fuchsmutter es erwartet hatte. Irgendwie hatte ich mich mit zu viel Schwung gedreht, meine Hinterläufe so stark in die Höhe geschleudert, dass sie über meinen Kopf hinweggekippt waren, und hatte nach einem dumpfen Aufprall nichts als das feuchte Gras in meinem Gesicht gespürt.

Die Füchse hatten mich mit derartiger Überraschung angesehen, dass ich zunächst glaubte, unter ihnen würde mit einem Mal schallendes Gelächter ausbrechen, doch sie waren zunächst unbeweglich sitzen geblieben. Vielleicht sah das, was ich gerade zustande gebracht hatte, in ihren Augen nach einer komplizierten, Unmengen an Talent und Sportlichkeit erfordernden Turnübung aus, und somit hatte ich beschlossen, mich meinen Geschwistern möglichst selbstsicher und stolz zu präsentieren.

Nach einigen Versuchen war mir der Sprung irgendwann gelungen, und in den folgenden Tagen nahm die Fähe uns noch einige Male mit, um uns das Jagen zu lehren- meine erste Maus zu erlegen war selbstverständlich abartig, und ich will nicht den Gedanken aufkommen lassen, dass mir das Jagen gefällt, doch in gewisser Weise- erst jetzt, da ich diese Worte schreibe, fällt mir auf, wie grotesk es erscheinen muss- habe ich tatsächlich ein Gefühl des Stolzes verspürt, als es mir zum ersten Mal gelungen war, und jedes Mal, wenn ich mich auf ein Beutetier zu stürzen versuchte, spürte ich das Adrenalin bis in die Spitzen meiner kräftigen Pfoten schießen.

So verbrachte ich einige Tage, und es schien beinahe, als wäre ich schon immer ein Fuchs gewesen. Ich weiß nicht, was es war, dass mich alle Erinnerungen an mein altes Leben krampfhaft in den Hintergrund drängen ließ, doch es geschah. Nur selten dachte ich an meine Familie, an meine Freunde oder an Susannah, und jedes Mal, wenn ihr wunderschönes Gesicht vor meinem geistigen Auge Gestalt annahm, begann ich sofort, mich mit etwas anderem zu beschäftigen. Vermutlich wusste ich, dass ich sie nie wiedersehen würde, und ich hatte Angst, in Heimweh, Trauer und Verzweiflung zu versinken, wenn ich mich den Erinnerungen hingab.

An diesem einen Tag, diesem besonderen Tag jedoch war etwas anders. Ich erwachte plötzlich, blinzelte mir schnell den Schlaf aus den Augen und stieß ein kurzes Gähnen aus, dann stand ich sofort auf. Das goldene, sanfte Licht der gerade am Himmel emporgekrochenen Sonne drang in den Bau und glänzte auf meinem Pelz, und ich wusste instinktiv, dass es noch sehr früh war.

Du solltest müde sein, dachte ich, so lange, wie du gestern jagen warst.

Doch der Gedanke daran, dass alle Tiere um diese Zeit vermutlich schliefen und erst viel Später auf Nahrungssuche gehen würden, jagte ein seltsames, aufgeregtes Kribbeln in meine mitlerweile kräftigen Pfoten. Niemand wird mich bemerken. Der Wald gehört mir!

Ich wollte nach draußen, den Wald erkunden, sehen, was in der anderen Richtung liegt, die die Fuchsmutter mit ihren Jungen bisher nicht eingeschlagen hatte.

Mit verspieltem, beinahe hinterhältigen Gesichtsausdruck warf ich einen kurzen Blick auf meine Geschwister und stellte erleichtert fest, dass sie noch immer reglos und dicht aneinandergepresst in der dunkelsten Ecke des Baus lagen, in der Nähe der schlafenden Mutter, und ihre Augen waren fest geschlossen.

Leises, wohliges Brummen drang aus ihren Kehlen, ihre Brustkörbe hoben und senkten sich gleichmäßig, und ich vermutete, sie würden nicht allzu leicht aus ihrem tiefen Schlaf zu reißen sein. Leichtfüßig eilte ich aus dem Bau hinaus- der Drang, die Gegend zu erkunden, laufen zu dürfen, wohin ich wollte, ohne meine Familie um mich herum, hatte sich seit einiger Zeit in mir breitgemacht, bis ich nun endlich die Gelegenheit dazu bekommen hatte.

Ich lief aus dem Bau hinaus, sprang ins Freie und sog tief den süßen Morgenduft ein. Die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel, sie war gerade am tiefsten Rand des Horizonts zu sehen, und der von harmonischem Blätterrauschen erfüllte Wald war in ein goldenes Licht getaucht, als hätten die Engel die Baumwipfel von den Wolken aus mit Honig übergossen. In dem Moment war mir dies nicht allzu sehr aufgefallen, ich war viel mehr daran interessiert, schnellstmöglich tiefer in den Wald einzudringen, doch nun erinnere ich mich deutlich an das sanfte Leuchten und die edlen Farben, von welchen die Landschaft an diesem Morgen erfüllt gewesen war.

Schnell eilte ich über die feuchten, unter meinen schlanken Pfoten kaum einen Laut erzeugenden Blätter, arbeitete mich einen kleinen Hügel hinauf und sprang dann geschickt in die Schatten einiger niedriger Büsche, sodass ich aus dem Blickfeld der Füchse im Bau verschwunden war. Erleichtert atmete ich aus, blickte noch einmal von einer Seite zur anderen, um sicherzugehen, dass auch tatsächlich niemand in meiner Nähe war, niemand, der mich sehen konnte, dann trat ich aus dem dichten Geäst des Strauchs hinaus. Sei nicht so ängstlich! Niemand sieht dich.

Leichtfüßig setzte ich meinen Weg fort, meine schlanken Pfoten erzeugten kaum einen Laut auf dem trockenen Laub und mein Körper glitt geschmeidig durch die dicht aneinanderstehenden Bäume, die von sanftem Gras gesäumt waren. Zunächst hatte ich nur winzigen Kies unter meinen Pfoten gespürt, doch nun lagen vereinzelte Gesteinsbrocken in meinem Weg, die mich vermuten ließen, mich womöglich einer Art Klippe zu nähern. Die alten, knorrigen Eichen wichen einigen eleganten Birken, deren winzige Blätter im Wind sanft raschelten, und ich sog mit einem wohligen Seufzen die süße Luft ein. Dieser Abschnitt des Waldes war viel schöner als der, in den die Mutter uns in den vergangenen Tagen geführt hatte, und ich wunderte mich plötzlich, ob Fuchsjungen nicht eigentlich die gesamte Gegend um ihren Bau kennenlernen sollten.

Mit in den Wind gehaltener Schnauze schlenderte ich durch die Bäume, meine spitzen Ohren zuckten bei jedem Geräusch und ich blickte mich einige Male wachsam nach allen Seiten hin um. Es war ein seltsamer Gedanke, doch irgendwie war es eine Herausforderung für mich- eine Maus ganz ohne die Hilfe und sogar das Beisein meiner Mutter zu fangen, wäre sicher ein großes Erfolgserlebnis, und ich bemerkte, dass ich mit jedem verstrichenen Tag mehr und mehr zum Fuchs geworden war.

Warte. Du findest es abartig, Mäuse zu fangen, richtig? Du bist nämlich kein Fuchs. Dein Körper ist es. Aber du bist ein Mensch.

Eben. Mein Körper war der eines Fuchses, obgleich meine Seele- glaubte ich an so etwas überhaupt?- sich nicht verändert hatte. Doch das Bedürfnis zu Fressen, der Jagdtrieb, kam schließlich von meinem Körper, und somit müsste ich kein schlechtes Gewissen haben, diesem Bedürfnis nachzugeben, oder? Mir fiel auf, dass diese Geschichte, dieser seltsame Vorfall meine gesamte Einstellung und meinen Glauben verändert hatte- nun ja, verändert war wohl das falsche Wort, vielmehr hatte es meinen Glauben durcheinandergeworfen.

Mein Kopf dröhnte. All diese Gedanken würden nirgendwo hinführen, ich könnte ohnehin nichts ändern. Schnell schüttelte ich den Kopf, um jene Fragen zu verdrängen, und konzentrierte mich wieder auf meinen Weg. Unwillkürlich hatte ich begonnen, einem sich durch Gesteinsbrocken schlängelnden Pfad zu folgen, und ich fragte mich, wo er mich hinführen würde.

Ein leises Rascheln. Ich stoppte schnell, fuhr herum und ließ meine Augen wachsam zu der Stelle gleiten, wo das Geräusch hergekommen war. Durch das mich deutlich überragende, dicht wachsende Gras konnte ich nicht allzu viel sehen, doch hinter einigen sattgrünen Stängeln bewegte sich eine dunkle Silhouette.

Eine Maus, dachte ich sofort und zuckte verspielt mit den Ohren. Schnell ließ ich mich in eine Kauerhaltung fallen- ob Füchse dies überhaupt taten oder ich es mir bloß bei den Katzen, die ich in meiner Kindheit gehabt hatte, abgeschaut hatte, wusste ich in dem Moment nicht sicher-, sprang in die Luft und schoss mit ausgestreckten Pfoten auf die Stelle zu, wo sich die Silhouette bewegt hatte, meine Zähne waren angriffslustig gefletscht. Ich warf mich mit meinem ganzen Gewicht auf meine Pfoten und holte gerade aus, um in das, was sich dazwischen befand, hineinzubeißen, als unmittelbar neben mir ein kleiner Vogel mit erschrecktem Zwitschern und wild schlagenden Flügeln aufstob. Ich fuhr herum, blickte dem Vogel hinterher. Meine Jagdinstinkte wurden geweckt, als das Tier blitzschnell davonflatterte, als ich seine Angst wahrnahm, doch die Silhouette des Vogels vor dem sanften Leuchten der Sonne war so schön, dass diese Instinkte in den Hintergrund gedrängt wurden. Es war nicht gerecht, ein Vogel war schließlich genauso ein Tier- ein Beutetier- wie eine Maus auch. Doch Mäuse waren nicht schön, und Mäuse machten Probleme im Haus. Meine Katze, die ich als Kind gehabt hatte, hat unzählige Mäuse ins Haus gebracht, und jedes Mal haben sie uns Kartoffeln und Brot angeknabbert. Das rief ich mir jedes Mal ins Gedächtnis, wenn ich nun, als Fuchs, eine Maus erlegte; Sie- nun ja, eine ihrer Artgenossen- hatte unser Essen weggenommen, also würde ich sie essen. Nicht ganz gerecht. Doch ich war ein Fuchs, Füchse mussten nicht gerecht sein, wenn es um Nahrung ging, die noch dazu sehr rar sein konnte.

Ich hielt noch einmal kurz inne, lauschte, schnupperte, doch nichts wies auf eine Maus hin- kein Rascheln, kein Getrappel winzigster Füße, kein Geruch. Wie gesagt: Der Wald gehört mir, ich bin allein, kein Tier ist auf den Beinen. Das schließt die verdammten Mäuse wohl mit ein, dachte ich, stieß ein langgezogenes Seufzen aus und setzte meinen Weg fort. Wohin wollte ich eigentlich? Die Bäume um mich herum standen weniger spärlich, und einige Meter vor mir konnte ich einen schmalen Lichtstreifen durch das Geäst dringen sehen, als wäre der Wald an dieser Stelle plötzlich zuende. Unwillkürlich beschleunigte ich mein Tempo, der Streifen wurde größer, und nach einiger Zeit nahmen die Umrisse einer kleinen, sich an den Waldrand schmiegenden Hütte Gestalt an.

Menschen!, dachte ich voller Erleichterung, endlich! Irgendwo in meinem Inneren nagte die Hoffnung, dass ich in der Nähe von Menschen Informationen erhalten würde, Informationen darüber, in welcher Zeit und welchem Land ich mich befand, und womöglich sogar über meine Familie.

Der Pfad führte genau auf die Hütte zu, und ich hielt am Rand des Waldes einen kurzen Augenblick inne, um mich umzublicken. Vor mir erstreckte sich ein weites, im lauen Morgenwind sanft wogendes Getreidefeld, dahinter der leuchtende Horizont, und es waren keine weiteren Häuser oder Hütten sichtbar.

Wer auch immer hier lebte, hatte zwar eine schöne Aussicht, war jedoch vermutlich ziemlich einsam. Gerade wollte ich aus den Schatten der Bäume hinaustreten, auf die Hütte zueilen, vernahm dann jedoch leise Schritte. Nervöse Schritte, und viele. Mindestens zwanzig kleine Füße, die hastig über den Boden eilten. Ein Gackern folgte.

Hühner. Schnell tat ich einen Schritt zurück und duckte mich unter einem Ast. Menschen, in deren Garten Hühner lebten, mochten keine Füchse, die sich ihrem Grundstück näherten. Ich musste also vorsichtig sein, wenn ich tatsächlich versuchen wollte, einen Blick in das Innere der Hütte zu erhaschen.

Ich reckte meine Schnauze in die Höhe und schnupperte noch einmal, doch nichts deutete darauf hin, dass sich ein Mensch in meiner Nähe befand, zumindest nicht außerhalb der Hütte- nun ja, ich wusste nicht wirklich, wie Menschen rochen, doch der Geruch um mich herum hatte sich nicht verändert. Gebückt kroch ich unter dem Ast hervor, blickte nach rechts, nach links, dann rannte ich auf die Hütte zu. Das Blut pochte in meinen Adern, meine Pfoten kribbelten, und die Neugier darauf, was ich in dieser Hütte würde herausfinden können, mischte sich mit Angst. Leichtfüßig, darauf bedacht, nicht den geringsten Laut zu erzeugen, bewegte ich mich um die Hütte herum und entfernte mich schnellstmöglich von der Eingangstür, dann sah ich plötzlich den Hühnerstall.

Ich schlich weiter und sah, dass sich die Hütte auf der Rückseite noch weiter erstreckte, als es auf den ersten Blick aufgefallen wäre. Lebten hier womöglich noch mehr Tiere? Hinter dem Hühnerstall befand sich eine weitere Tür, aus dunklem, morsch wirkenden Holz erbaut, und ich vermutete, dass sie in eine Art Scheune hineinführte. Noch einmal sog ich die Luft ein, doch der intensive, undurchdringliche Geruch der Hühner überdeckte alle anderen Gerüche und rief ein angewiedertes Husten in mir hervor.

Das Gras wurde niedriger, mein buschiger Pelz ragte womöglich längst darüber hinaus, also ging ich tiefer in die Knie und verfiel in einen raschen Trab, doch die Hühner schienen mit jedem Schritt, den ich näher an sie herantat, unruhiger zu werden. Eine fette Henne warf zackig den Kopf von einer Seite zur anderen, und als unsere erschreckten Blicke sich begegneten, meiner voller Verwirrung, der ihre voller Panik sowie Todesangst, eilte sie mit aufgeregtem Gackern in die Menge.

Blitzartig fuhr ich herum, rannte auf die Scheune zu, so schnell meine Pfoten mich zu tragen vermochten, und presste mich fest an die rissige, hölzerne Wand. Ein paar der Hühner schienen mich bemerkt zu haben und liefen mit aufgeregten, grotesken Lauten im Kreis, als versuchten sie, die übrigen zu warnen- würden noch mehr der Tiere auf mich aufmerksam und somit unruhig werden, würde derjenige, der in dieser Hütte lebte, es zweifellos bemerken.

Ich eilte mit gesenktem Kopf und wachsam zusammengekniffenen Augen an der Wand entlang und suchte sie nach irgendeiner Öffnung ab, einem Loch oder einer geöffneten Tür, durch die ich hineingelangen könnte, doch ich fand nichts. Vielleicht führt der Hühnerstall hinein... Vergiss es!, dachte ich und schüttelte sofort den Kopf, um diesen Gedanken zu verdrängen, als ich plötzlich glaubte, ein kaum wahrnehmbares Rascheln hinter mir zu hören. Instinktiv wusste ich zwar, dass es für einen Menschen viel zu leise gewesen war, doch ich wagte nicht, mich herumzudrehen. Meine Ohren stellten sich auf, als die Hühner abermals unruhiger wurden, und meine Füße gruben sich in die weiche Erde. Ich lauschte. Stille.

Plötzlich packten mich spitze Zähne am Nackenfell, ich jaulte entsetzt auf, die Hühner hörten mich, wurden in Panik versetzt, rannten krächzend durch den Käfig.

Ich fuhr herum, sah meine Mutter, die mir mit einem erschreckten Knurren bedeutete, ihr zu folgen, und eilte sofort hinter ihr her. So schnell wir konnten, rannten wir auf den Wald zu, entfernten uns von der Hütte, die Bäume kamen näher und näher.

Gleich sind wir sicher, nur noch ein Stück...!

Dann ertönte der Knall, die Kugel schlug unmittelbar neben der Fähe in den Boden ein. Sie wich aus, warf sich zur Seite und rannte sofort weiter, ich riskierte einen kurzen Blick über die Schulter zurück und sah einen alten Mann, der mit erhobenem Gewehr vor der Tür stand und direkt auf mich und die Fähe zielte. Panik überkam mich, zusammen mit jenem undefinierbaren Gefühl, dass mir so vertraut war; ich war wieder im Krieg, rannte über das Schlachtfeld, jeden Moment getötet zu werden vermutend.

Die Fähe jaulte geräuschvoll, als wolle sie mich zu mehr Eile auffordern, und beschleunigte ihr Tempo. Gerade wollte sie zum Sprung ansetzen, um in den Schutz der Bäume einzutauchen, als ein weiterer Schuss fiel. Eine dichte Staubwolke wurde aufgewirbelt, die Fähe machte prompt halt, zuckte zusammen und fuhr herum, ihre Augen waren weit aufgerissen.

Ich blickte sie entsetzt an, stieß ein heiseres, von Trauer erfülltes Krächzen aus, dann sackte ich zusammen und sah stumm zu, wie sich der Boden um mich herum rot färbte. Die Fähe blieb entsetzt stehen, reglos, blankes Entsetzen glomm in ihren weit aufgerissenen Augen. Ich bellte, so laut ich konnte, und nickte in Richtung Wald. Lauf! Lass mich allein und geh zu deinen Jungen!

Ihre schlanken Beine zitterten, sie blickte abwechselnd zu der Hütte, dem Wald und zu mir, ihr Blick war voller Bedauern und Mitgefühl. Sie senkte den Kopf, presste ihre Schnauze gegen meine Wange und fuhr mir sanft mit der Zunge über das Gesicht, ein stiller, vielsagender Abschied.

Ein von tiefer Trauer zeugendes, liebevolles Winseln drang aus ihrer Kehle, sie schenkte mir einen letzten langen Blick und machte dann kehrt, nach einem ewigen Zögern. Ich sah ihr nach, wie sie inmitten der Birken immer kleiner, immer undeutlicher wurde, dann war sie irgendwann völlig aus meinem Blickfeld verschwunden. Hinter mir ertönten Schritte, die sich schnell näherten, doch bevor sie mich erreicht hatten, war alles um mich herum längst in einer tiefen Schwärze versunken. Kurz bevor ich gar nichts mehr spürte, machte sich in meinem Gehirn eine stechende Frage breit: Was kommt jetzt?

 

 

Die nächsten Leben

 

 

Hätte ich vorher gewusst, was jetzt kommen würde, wäre ich wahrscheinlich um einiges vorsichtiger gewesen. Bei meiner zweiten Wiedergeburt stellte sich mein Bewusstsein zwar erst nach einiger Zeit richtig ein- ich vermute, es waren mehrere Tage, ich kann es aber nicht genau sagen- doch ich nahm bereits am Anfang verschwommen wahr, wie ich aus einem Ei schlüpfte.

Schön, dachte ich, du bist ein Huhn. Vielleicht, weil Hühner die letzten Tiere waren, die mir vor meinem Tod begegnet waren. Mir gefiel der Gedanke nicht, ein Huhn zu sein. Ein Huhn zu sein bedeutete, ich würde entweder Unmengen an Eiern legen müssen, oder jeden Morgen viel zu früh aufstehen, auf einen stinkenden Misthaufen klettern und in den Himmel krähen, um den neuen Tag anzukündigen.

Ein Huhn zu sein bedeutete, ich würde- unter Umständen- Menschen als Nahrung dienen; ich würde geschlachtet werden und bei irgendjemandem als Hähnchenkeule auf dem Teller liegen, und die Überreste würden in irgendeiner Weise entsorgt oder von hungrigen Ratten gefressen werden. Eine sehr würdevolle Art, zu sterben.

Als ich mich aber mühsam aus der Eierschale presste, schon in Panik war, weil ich zuerst glaubte, nicht aus dem Ei herauszukommen, traf mich der Schock. Zuerst dachte ich, vor lauter Entsetzen an einem Herzinfarkt zu sterben, dann redete ich mir ein, alles wäre ein Traum, da es verschwommen, undeutlich und unwirklich wirkte. War es aber nicht.

Unmengen an Wasser umspülten mich von allen Seiten, drückten auf mich hinunter, und unmittelbar über mir lag der riesige, glitschige, von Saugnäpfen überzogene Arm eines Tintenfisches. Ich weiß nicht, ob es eine riesige Krake war oder mir bloß derartig groß vorkam, da ich mich in dem Körper eines winzigen- wie nennt man es überhaupt? Vergib mir, Caren, oder wer immer du bist, der das hier gerade liest, doch ich habe nicht viel Ahnung von Meerestieren und außerdem momentan keinerlei Möglichkeiten, mich näher darüber zu informieren- Tintenfisch- Babys befand, doch das gewaltige, auf den ersten Blick an ein außerirdisches Wesen erinnernde Tier überragte mich um einiges.

Es war furchtbar. Alles war dunkel, ich konnte nich viel sehen, keinen Lichtschimmer, und überall um mich herum strömte kaltes, schwer auf mir zu lasten scheinendes Wasser. Meine Augen blickten von einer Seite zur anderen, fanden dort nur graue, porös wirkende Steinwände, und der Gedanke daran, keinen Ausweg zu haben, jagte ein nervöses, aufgeregtes Kribbeln in meine... Tentakeln.

Wie tief mochte ich mich wohl unterhalb der Wasseroberfläche befinden? Wollte ich es überhaupt wissen?

Unbeholfen bewegte ich mich mit unkontrolliert im Wasser umherwabernden Tentakeln an den Rand der Felsspalte, in die sich die Tintenfischmutter hineingequetscht und ihre Eier dort abgelegt hatte, und sah mich verunsichert um. Meine Augen wanderten nach Oben, sahen dort nichts als Wasser, das irgendwo in weiter Ferne von einem schwachen Lichtschimmer aufgehellt zu werden schien, dann wanderten sie nach unten, und ich zuckte zusammen- nicht etwa vor Entsetzen, sondern vor tiefer Bewunderung und Erstaunen. Einige Meter unter mir bot sich mir wohl das wunderschönste, bezauberndste Bild, das ich je zu Gesicht bekommen hatte; jede von der Natur zustande gebracht zu werden vermögende Farbe glitzerte in den seichten Wellen, die das dunkle, jedoch klare Wasser bildete, die in allen erdenklichen Formen an glatte Steine geschmiegten Pflanzen neigten sich sanft hin und her.

Es war, als hätte man einen Regenbogen in unzählige winziger Stücke geteilt und auf den bläulichen Sand des Meeresbodens herabrieseln lassen, wo sich die unzähligen Farben miteinander vermischten und ein funkelndes, harmonisches Spiel von Mustern erzeugten.

Unglaublich, dachte ich, und was ich danach alles dachte, daran kann ich mich nicht sehr gut erinnern. In der nächsten Zeit folgte ich irgendwie meinen Instinkten, ernährte mich, schwamm ein wenig umher und versuchte, möglichst wenig nachzudenken. Denn ich wusste, würde ich nachdenken, käme mir mein altes, mein erstes Leben wieder in den Sinn, und das wollte ich verhindern.

In den ersten Tagen fiel es mir leicht, denn ich musste mich auf einige andere Dinge konzentrieren- wie ich an Nahrung kam und wie ich verhinderte, selbst zu solcher zu werden. Als all dies jedoch zu einer Art Alltag geworden war und ich mit jedem Tag mehr untätig sowie gelangweilt im Wasser umherschwebte, als die leuchtenden Farben mich immer weniger beeindrucken konnten, spürte ich, wie sich einige Bilder und Fragen in meinem Inneren breitzumachen begannen: Was geschieht hier? Warum stecke ausgerechnet ich hier im Körper eines Tieres? Warum sterbe ich nicht? Was ist mit meiner Familie? Wo ist Susannah?

So lange werden Kraken sicher nicht leben, dachte ich, doch die Zeit schien sich ewig zu erstrecken. Am liebsten hätte ich es zugelassen, dass mich irgendein Meerestier fraß, doch dazu hatte ich nicht den Mut- jedes Mal, wenn sich ein potentieller Fressfeind näherte, tarnte ich mich inmitten der ineinander verschlungenen Farben des Meeresgrundes oder versteckte mich in einer Felsspalte. Mein Alltag bestand also aus fressen, umherschwimmen und in Felsspalten quetschen, und somit krochen die Tage, Wochen, Monate dahin, wie ein langsames, kurz vor dem Tode stehendes Tier.

Nicht einmal mein Tod war spektakulär, denn wie sich- nach beinahe zwei Jahren, vermutete ich- herausstellte, war ich ein weibicher Tintenfisch. Obwohl ich mich die ganze Zeit über nicht besonders darum bemüht hatte, Kontakte mit anderen Tintenfischen zu knüpfen- wir wären geistig ohnehin nicht auf einer Ebene gewesen- fand mich irgendwann ein Exemplar besonders interressant und... Nun ja, ich will nicht sagen, dass ich vergewaltigt wurde, doch das würde es wohl am ehesten treffen. Somit bekam ich schließlich Junge; der Weg dorthin war alles andere als angenehm, und ich habe alles zu sehr verdrängt, um es genau beschreiben zu können, doch ich erinnere mich, dass sich das Eierlegen sehr befremdlich angefühlt hatte. Während des Brütens hatte ich kaum etwas gefressen, den ganzen Tag lang in einer Felsspalte gelegen und war mit jedem Tag schwächer geworden, bis ich irgendwann gestorben war. Nicht einmal das Schlüpfen jedes meiner Kinder hatte ich miterlebt, doch leider war es mir auch nicht gelungen, sie tatsächlich als meine Kinder anzusehen... Obwohl ich zu Susannah immer gesagt hatte, dass ich, wenn wir irgendwann einmal ein Kind bekommen sollten, es lieben würde, egal, wie es auch aussähe.

Da hatte ich allerdings nicht an junge Tintenfische gedacht.

Ich weiß nicht, wie viele Jahre anschließend vergingen, denn irgendwann verlor ich jegliches Zeitgefühl. Unzählige Male wurde ich wiedergeboren, und jedes Mal, wenn ich starb, starb auch ein Teil meiner Hoffnung, dass ich irgendwann mein Leben auf der Erde komplett hinter mir lassen und ins Jenseits übergehen würde, denn an dieses glaubte ich inzwischen fest.

Ich wurde als Spinne, als Elefant, als Frosch, als Hirsch und als verschiedene Vögel wiedergeboren, doch keines dieser Leben dauerte so lange an, dass ich an Altersschwäche gestorben wäre, denn meine Instinkte schienen nie sonderlich gut ausgeprägt zu sein- oder ich vermochte ihnen nicht zu gehorchen. Entweder starb ich, weil es mir irgendwann nicht mehr gelang, Nahrung zu finden, oder ich konnte mich nicht gegen jegliche Fressfeinde verteidigen. Das Seltsame jedoch war, dass ich mich nicht immer im Körper eines gerade geborenen Tieres wiederfand, sondern hin und wieder bereits ausgewachsen war, jedoch in diesen Fällen stets entweder stark verletzt oder durch eine Krankheit geschwächt erwachte.

Einmal erwachte ich in einer leeren, nach abgestandenem Regenwasser und kargem Asphalt riechenden Gasse, die von hohen Wänden eingerahmt war. Unmittelbar vor mir stand ein riesiger, silbern glänzender Klotz, aus dem ein modriger, saurer Gestank drang. Abfälle, Essensreste, die Straße schien erfüllt von den unangenehmen Gerüchen. Alles war grau, der Container- ich vermutete jedenfalls, dass es einer war- die Wand und die Straße, die ich durch eine schmale Lücke zwischen dem Asphalt sowie dem Klotz zu sehen vermochte. Reglos lag ich dort, eingepfercht von dem Container und der rauen Wand, unfähig, mich zu bewegen, mit einem stechenden Schmerz, der sich meinen ganzen Körper hinaufzog.

Der steinerne Boden unter mir war feucht, hin und wieder vernahm ich das Prasseln winziger Regentropfen, die auf mich herabrieselten, und der säuerliche Geruch des Containers drang immer wieder zu mir heran und rief ein leises Gefühl des Ekels in mir hervor. Warum lag ich ausgerechnet hinter einem riesigen Behälter voller Müll?

Was war ich überhaupt? Ich wollte mich aufrichten und an meinem offenbar sehr kleinen Körper herabblicken, herausfinden, in welchem Tier ich dieses Mal gefangen war, doch als ich mich nur um einen Millimeter bewegte, durchfuhr mich ein heftiges Stechen. Aus den Augenwinkeln sah ich einen schmalen Streifen dunklen, getrockneten Blutes neben mir, und ich vermutete, dass es mein eigenes war, aber der Schmerz zog sich von meinem Kopf bis in die Füße, sodass ich nicht sagen konnte, an welcher Stelle sich die Wunde befand.

Ich wollte wissen, was ich war, wo ich war, doch ich konnte mich nicht rühren, alles in mir war völlig kraftlos und meine Glieder schmerzten. Und ich war müde. Mein Körper war müde, vermutlich deshalb, weil er stark angegriffen und für einen kurzen Augenblick sogar leblos gewesen war, und mein Inneres, meine Gedanken waren müde- müde davon, immer wieder zu erwachen, immer in einer anderen Umgebung, einem anderen Körper...

Mach' das Beste daraus, du kannst sowieso nichts daran ändern, sagte ich im Stillen zu mir selbst, hielt dann jedoch einen Augenblick inne. Vielleicht doch... Irgendwie.

Vielleicht gäbe es eine Möglichkeit, herauszufinden, wieso all dies geschah, und wenn ich einmal eine Ursache gefunden hätte, würde ich sie womöglich auch beseitigen können... Doch nicht in diesem Zustand.

Mein Kopf dröhnte, mein Körper schmerzte und meine Gedanken hatten sich zu einem verschlungenen, festen Knoten verworren. Irgendwann kniff ich die Augen zusammen, spannte meinen gesamten Körper an, in der Hoffnung, so weniger Schmerzen zu spüren, und hob blitzschnell den Kopf, um einen kurzen Blick auf mich selbst zu erhaschen, doch sofort durchfuhr mich wieder jenes unerträgliche Brennen, als hätte man mir einen Hieb mit einer brennenden Klinge versetzt.

Ich trug ein hellgraues, an der Seite von verkrustetem Blut dunkelrot gefärbtes Federkleid, dort, wo ich früher meine Arme zu liegen erwartet hätte, pressten sich nun zwei schmale Flügel an mich und mein dünner, geschmeidiger Hals schien sehr gelenkig zu sein.

Eine Taube?

Vermutlich war ich eine Taube, doch momentan kümmerte es mich nicht, welche Art von Vogel ich genau war, denn ich konnte ohnehin nicht fliegen, nicht einmal aufstehen.

Unzählige Stunden lag ich hinter dem silbrigen Klotz, vernahm hin und wieder Geräusche von irgendwo in meiner Nähe vorrüberziehenden Fahrzeugen oder Stimmen, doch jedes Mal, wenn ich unter dem Container hervorspähte, war die Gasse leer.

Irgendwann wurde aus dem tristen Grau, das mich von allen Seiten umgab, ein undurchdringliches, tiefes Schwarz, als das Sonnenlicht schließlich schwand und der Himmel mit jedem verstreichenden Augenblick dunkler zu werden schien. Der Regen hatte nachgelassen, vereinzelte Sterne waren am Himmel emporgeklettert und warfen ihr mattes Licht durch die Nebelschwaden, die ich durch die schmalen Lücken zwischen der Wand und dem Container sehen konnte, auf die Straßen.

Überall herrschte Stille, die Stimmen waren verklungen, kein Fahrzeug bahnte sich mehr seinen Weg durch die von hoch in den Himmel ragenden Häusern umgebenen Straßen, und plötzlich spürte ich, wie sich in meinem Inneren ein Gefühl von Einsamkeit breitmachte.

Ich war allein, die Straßen waren verlassen, und obwohl ich wusste, dass hinter der neben mir aufragenden Wand vermutlich einige Menschen schliefen, kam es mir vor, als wäre ich das einzige Lebewesen in dieser Stadt.

Einige Zeit lag ich noch hinter dem Container, zuckte bei jedem leisesten, aus irgendeiner undefinierbaren Richtung dringenden Geräusch zusammen und blickte hin und wieder von einer Seite zur anderen, um mich zu vergewissern, dass auch tatsächlich niemand in meiner Nähe war. Stunden vergingen, und nichts geschah. Gar nichts. Nicht einmal ein hungriger Vogel verirrte sich hierher, kein streunender Hund suchte in dem mit Abfällen gefüllten Klotz nach etwas Essbarem.

Als ich mich mit dem Gedanken abgefunden hatte, den Rest meines Lebens, das ich zwar gerade erst begonnen hatte, jedoch vermutlich nicht allzu lange behalten würde- der Schmerz hatte nach einigen Stunden kaum merklich nachgelassen, doch ich fühlte mich noch immer kraftlos und zu stark verletzt, um mich so weit zu bewegen, dass ich mir Nahrung suchen könnte- ertönte ein lautes Krachen, als wäre etwas Schweres plötzlich auf den Container herabgefallen. Ich schreckte auf und riss den Kopf in die Höhe, es ertönten leise Schritte, und durch die schmale Lücke konnte ich vier geschmeidige, von getigertem Pelz überzogene Beine sehen, die sich in meine Richtung bewegten.

Verschwinde!, dachte ich entsetzt, und Panik stieg in mir auf. Ich glaubte beinahe zu hören, wie die Katze schnupperte und bei dem Geruch einer verletzten, sich kaum zu wehren fähige Taube genüsslich die Lippen leckte.

Die Schritte kamen näher, meine Angst wuchs, und plötzlich lugte ein hungrig blitzendes, smaragdgrünes Augenpaar zwischen Wand und Container hervor und schien mich nur mit seinem gierigen Blick packen zu wollen.

Ich hab' dich gefunden, schien der beinahe hinterhältige Gesichtsausdruck der Katze sagen zu wollen, ich begann, wild mit den Füßen über den Boden zu scharren und versuchte verzweifelt, mich unter die Tonne zu schieben.

Die Katze quetschte ihre kräftige, mit messerscharfen Krallen versehene Pfote in die Lücke und holte nach mir aus, doch mir gelang es irgendwie, mich an der Wand abzudrücken und zwängte mich mit erschrecktem Gurren unter den Container.

Ein wütendes Zischen ertönte, als die Katze kehrtmachte, einmal um den Klotz herumlief und ihre Pfote auf der anderen Seite darunterschob. Sie fuhr die Krallen aus und schlug nach mir, verfehlte mich nur knapp, als ich mich so klein machte, wie ich konnte, doch die Krallen hatten bereits mein dünnes Federkleid gestrichen.

Plötzlich schob die Katze ihr Vorderbein noch weiter unter die Lücke, mitsamt ihrer kräftigen Schulter, dann ihren Kopf, dann ihr zweites Vorderbein. Verdammt!

Von Panik erfüllt holte ich aus, hakte mit meinem kurzen Schnabel nach ihrer Pfote, fuhr dann unter dem verstörten Fauchen der Katze herum und arbeitete mich unter dem Container hervor. Ich musste schnell sein, ehe die Katze begriff, dass ich nun sehr leichte Beute war.

So schnell ich konnte sprang ich auf, unterdrückte den Schmerz, der dabei in meiner Seite pochte, und rannte auf meinen winzigen Taubenfüßen hinter dem Container hervor. Regen prasselte auf mich herab, meine stumpfen Krallen schabten über den feuchten Asphalt, und kaum hatte ich den Schutz des großen Containers verlassen, hörte ich abermals Pfotenschritte. Lauf schneller!, schrie ich innerlich an mich selbst gewandt, versuchte, mein Tempo zu beschleunigen, doch mehr konnte eine kleine, nicht für das Laufen geschaffene Taube an Geschwindigkeit nicht aufbringen.

Die Schritte näherten sich, wurden schneller, hektischer, und ich glaubte bereits den heißen Atem der Katze in meinem Nacken zu spüren. Gleich hat sie dich! Blitzschnell sah ich nach hinten, sah die nach vorne schnellenden, tödlichen Krallen der Katze und...

Ich weiß nicht, wieso ich es getan habe, ob ich innerlich darauf vorbereitet gewesen war oder meine Instinkte mich dazu verleitet hatten, doch plötzlich fand ich mich wild mit den Flügeln schlagend in der Luft wieder, gerade so hoch, dass die Katze in die Luft sprang und mich um wenige Zentimeter verfehlte.

Eine neue Kraft hatte mich plötzlich durchfahren, die Schwäche sowie der Schmerz waren in den Hintergrund getreten, und ich spürte nur den heftigen, alles andere übermannenden Willen, zu Überleben.

Einige Augenblicke verharrte die Katze noch mit in den Himmel gerichtetem Blick in der Gasse, wartete offenbar darauf, dass ich wieder hinunterfiel, dann peitschte sie genervt mit dem Schwanz und machte kehrt.

Ich schlug mit den Flügeln und gewann an Höhe, sodass ich schließlich über einige Dächer hinwegblicken konnte. Die Stadt schien groß zu sein, viel größer als alle, die ich in meiner Zeit als Mensch gesehen hatte- ich weiß nicht genau, wie groß Köln gewesen war, doch ich vermutete, dass diese Stadt hier auf keinen Fall kleiner war. War es womöglich sogar Köln?

Ich drehte mich im Kreis und sah mich nach den vertrauten zwei Spitzen des Doms um, fand sie jedoch nirgends, stattdessen einige andere hoch in den Himmel ragende Gebäude, die ich definitiv nie zuvor gesehen hatte.

Riesige, glänzende Gebäude, ganz anders als die, die ich in meinem Leben als Mensch gekannt hatte.

Unbeholfen mit den Flügeln schlagend flog ich über die Straßen, durch die Häuser hindurch, und bewegte mich irgendwann wieder in die Nähe des Bodens.

Unmengen an Fahrzeugen schlängelten sich durch die Straßen, viel flacher und eleganter geformt als jene, die ich zu meinen Lebzeiten- nun ja, zu meinen ersten Lebzeiten- zu Gesicht bekommen hatte, und jeder kleinste Fleck schien mit allen erdenklichen Farben erfüllt zu sein, alles war viel bunter. Auch die Menschen.

Nach einiger Zeit hörte ich mit dem Flügelschlagen auf, lenkte ungeschickt an den Häuern und Autos vorüber und landete in einer gepflasterten, nicht befahrenen Straße, wo ich zunächst keine Menschen entdecken konnte.

Mit einem leisen Gurren schlenderte ich über den steinernen Grund, meine Krallen scharrten unangenehm darüber, und ließ meinen Blick unwillkürlich von einer Seite zur anderen schweifen, auf der Suche nach jeglichen Signalen, die mir etwas über den Ort sowie die Zeit, in der ich mich befand, mitteilen würde.

Es sind höchstens vierzig Jahre vergangen, dachte ich, so oft bist du noch nicht gestorben.

Das bedeutete, ich könnte mich maximal im Jahr 1980 befinden, doch ich vermutete, dass es etwas weniger war- irgendwann hatte ich aufgehört, die Tage und Wochen zu zählen, und ich wusste zudem, dass in einigen der Leben zwei Jahre wie ganze zehn Jahre gewirkt hatten.

Irgendwann blickte ich bei dem Klang leiser Stimmen auf und sah die Silhouetten einiger junger Frauen, die in gleicher Richtung vorausschlenderten und sich mit fröhlichem Lachen in einer Sprache unterhielten, die ich nicht verstand. Englisch?

Ich beschleunigte mein Tempo, bemühte mich darum, möglichst keinen Lärm zu erzeugen, und suchte die Frauen mit den Augen nach jeglichen Informationen über diesen Ort ab- dann sah ich, dass zwei der Frauen gar keine Frauen waren.

Wie sehen die denn aus?, dachte ich, als ich die auffällige, groteske Kleidung und das verfilzt wirkende, wie herabbaumelnde Schlangen auf ihren Schultern liegende Haar der beiden Männer betrachtete, und konnte ein verstörtes Gurren nur schwer unterdrücken.

Ihre Hosen sahen aus, als hätte man zwei ausladende, wallende Waschlappen an die Knöchel genäht, um die nicht sonderlich elegant über den Boden schleifenden Schuhe zu verbergen.

Gedankenverloren und verwirrt folgte ich der Gruppe, unzählige Male versuchend, ihnen etwas zuzurufen, Fragen zu stellen, doch aus meiner Kehle drang jedesmal nur ein heiseres Gurren. Und jedesmal drehte sich eine der beiden Frauen in meine Richtung um, ihr Blick wurde mit jedem Mal, da sie sich umblickte und feststellte, dass ich ihnen noch immer folgte, verstörter. Abermals gurrte ich, sie drehte sich beinahe erschreckt herum, warf einen kurzen Blick auf mich und zog dann an dem ausladenden Ärmel des neben ihr herschlendernden Mannes. Dieser drehte sich verwirrt zu ihr herum, und mit teils belustigtem, teils nervösen Ausdruck in ihrem hübschen Gesicht redete sie in jener mir fremden Sprache auf ihn ein, zeigte einige Male auf mich - ich vermutete, sie sagte etwas wie "Sieh mal, diese verrückte Taube verfolgt uns schon die ganze Zeit!"- und beschleunigte dann ihr Tempo.

Der junge Mann blickte mich kurz an, grinste belustigt und besah die Frau kopfschüttelnd mit einem Blick, der sagen wollte: "Du hast nicht wirklich Angst vor einer kleinen Taube, oder?", und ging schließlich weiter.

Einige Zeit blieb ich still, die Frau hatte sich seitdem nicht mehr umgedreht und glaubte vermutlich, ich sei fort.

Lass sie in Ruhe, riet ich mir selbst im Stillen, gleich wird sie sauer und wirft etwas nach dir. Andererseits... Insgeheim hoffte ich, einer dieser Menschen würde mir helfen, mich mit sich nehmen und an einen Ort bringen, wo ich Informationen erhalten würde, doch in meinem Inneren wusste ich, dass dieser Gedanke unsinnig war.

Somit blieb ich still, folgte der Gruppe noch eine Weile und bemerkte nach einiger Zeit, dass ich an einer Kreuzung angelangt war, die in eine weitaus belebtere Umgebung führte- wahrscheinlich das Zentrum, der Kern der Stadt.

Zögernd blieb ich an der Kreuzung stehen, blickte nach links, nach rechts. Keine Autos, nur Unmengen an Menschen, die in unzähligen kleinen Gruppen umherschlenderten. Sie alle wirkten so anders as die Menschen, an die ich gewöhnt war, obwohl seit meinem ersten Tod sicher nicht allzu viel Zeit vergangen war- dreißig, vierzig Jahre vielleicht, doch wie viel ist das schon?

Ich fühlte mich wie in einer anderen Welt. Eine Welt, die ganz anders zu sein schien als diese, in der ich gelebt hatte- keine Spuren von dem Krieg und der Zerstörung, in der ich mein Leben gelassen hatte, man sah nicht überall verzweifelte Gesichter, wo man auch hinblickte.

Unwillkürlich bog ich nach rechts ab und eilte auf die nächste Hauswand zu, um mich nicht durch das Getümmel zwängen zu müssen, wo ich zweifellos früher oder später unter die verstörenden Schuhe eines dieser langhaarigen, grinsend umherstolpernden Jungen geraten würde.

Nicht alle Menschen, die ich sah, sahen derartig grotesk aus, doch sie alle trugen seltsame Kleidung, die zu meinen Lebzeiten definitiv für einige verstörte Blicke gesorgt hätte- doch es waren nicht nur die Menschen, die gesamte Umgebung wirkte in einer undefinierbaren Art und Weise anders.

Langsam bewegte ich mich an der Wand entlang, achtete auf meine Umgebung und versuchte, wenigstens Bruchstücke aus dem unverständlichen Gemurmel der Menge herauszuhören, doch sie unterhielten sich in einer Sprache, die ich nicht kannte und nicht verstand. Irgendwie musste- wollte- ich herausfinden, in welcher Zeit und welchem Land ich mich befand. Obgleich ich insgeheim wusste, dass es mir nichts bringen würde. Würde ich nun irgendwo die lesen: Sie befinden sich in England, im Jahr 1970- dann würde ich mich eben in England im Jahre 1970 befinden. Und dann? Dann wäre ich noch immer eine Taube, oder? Könnte nicht reden, nicht schreiben, nicht einkaufen, nicht arbeiten, und würde dann irgendwann sterben, nur um wieder aufzuwachen, wahrscheinlich in Gestalt eines Wurms oder einer Schnecke, noch wehrloser und unfähiger als jetzt.

 

In meine Gedanken versunken schlenderte ich weiter, die Straße schien sich ewig zu erstrecken, bis ich plötzlich sah, wie sich nur wenige Meter vor mir eine Tür öffnete. Eine alte Frau wankte mit unbeholfenen Schritten heraus und hielt die Tür geöffnet, worauf ich unwillkürlich mein Tempo beschleunigte. Schnell versuchte ich, einen Blick in das gläserne Schaufenster zu erhaschen, und sah aus den Augenwinkeln einige staubig wirkende Bücherregale.

Eine Bücherei, perfekt!, dachte ich freudig, rannte- so schnell eine Taube rennen konnte- darauf zu und schlüpfte blitzschnell an der Frau vorüber durch die Tür, ehe sie mich bemerken konnte.

Der typische Stadtgeruch, den ich in meinen späteren Leben immer öfter wahrnehmen würde- Kühle Luft vermischt mit Autoabgasen und dem Duft unterschiedlichster Parfums- wich dem angenehmen Geruch von Papier und mit einer winzigen Staubschicht bedeckten Büchern.

Nervös und in der Hoffnung, von niemandem bemerkt zu werden, presste ich mich an die Wand und blickte mich um: Zu meiner Linken befand sich eine geöffnete Tür, die in das geräumige Zimmer mit den Büchern hineinführte, und vor mir erstrecke sich eine Treppe, die mich vermutlich zu der Wohnung des Besitzers jener Bücherei bringen würde.

Vorsichtig spähte ich um die Ecke, sah eine junge Frau, die in ein Buch vertieft hinter der Kasse saß, und hielt einen Augenblick inne. Wäre ich leise genug und würde mich direkt an der Kasse entlangbewegen, könnte ich mich vielleicht an der Frau vorüberstehlen, aber dann...?

Meine Augen wanderten über die Regale, die die unterschiedlichsten Bücher bargen: Dicke, dünne, verschiedenfarbige Einbände und verschiedene Kategorien, wie die über den Regalen angebrachten Schilder vermuten ließen. Doch auf den Schildern standen Worte, die ich nicht verstand, eine andere Sprache.

Genervt schüttelte ich den Kopf und wollte kehrtmachen, entsann mich dann aber eines anderen. Leise, nicht das geringste Geräusch von mir zu geben versuchend schlich ich in das Zimmer, mein gesamter Körper spannte sich vor Nervosität an, und eilte schnellen Schrittes auf die Kasse zu. Meine Füße erzeugten ein kaum wahrnehmbares Trappeln auf dem hölzernen Boden, und aus den Augenwinkeln sah ich die Frau kurz aufblicken, doch ich presste mich so fest an den hölzernen, die Kasse darstellenden Schreibtisch, dass sie mich nicht ausmachen konnte.

Glück gehabt!

Hektisch warf ich den Kopf von einer Seite zur anderen, sog einmal tief die Luft ein und eilte dann weiter, aus dem Schutz des Tisches, der mich von den Blicken der Frau bewahrte, hinaus. Ich fühlte mich nackt, ungeschützt, so winzig inmitten der hoch über mir aufragenden Regale, während ich schnell auf eines zurannte und mich sofort fest dagegenpresste.

Die Frau fixierte noch immer das Buch oder die Zeitung, irgendetwas, was sie völlig in seinen Bann zu ziehen schien, und kaute mit abwesendem Blick auf einem Stift herum.

Bei meinen ehemaligen Lehrern hätte sie sich das nicht erlauben dürfen!, dachte ich mit einem leisen Anflug von Belustigung, ehe ich mich erneut den Büchern zuwandte.

Ich würde zwar nicht verstehen, was darin stand, doch womöglich könnte ich irgendwo eine Jahreszahl finden- in welchem Jahr das Buch veröffentlicht oder wann der Autor geboren wurde, könnte mich zumindest grob schätzen lassen, in welcher Zeit ich mich nun befand.

Vorsichtig reckte ich den Kopf und griff ein beliebiges, recht dünnes Buch zaghaft mit dem Schnabel, ehe ich es vorsichtig aus dem Regal zog. Langsam!, ermahnte ich mich in Gedanken, ganz vorsichtig!

Das Buch glitt langsam aus dem Regal hinaus, und als ich gerade glaubte, erfolgreich und ohne aufzufallen gehandelt zu haben, fiel das nebenstehende Buch geräuschvoll um. Rums! Unzählige weitere folgten, wie Dominosteine, die man hintereinander aufgereiht hatte. Krachend fielen sieben oder acht dicke, mit harten Umschlägen versehene Bücher um und erzeugten ein lautes Echo in dem geräumigen Zimmer, und ich wurde von Angst überkommen. Ein lauter, erschreckter Ruf ertönte, ich fuhr herum und sah die Frau, die sich blitzschnell aus ihrem Stuhl erhob, sich kurz bückte und plötzlich einen hölzernen Besen in der Hand hielt, mit dem sie auf mich zurannte.

Ich gurrte panisch, flatterte wild mit den Flügeln und erhob mich in die Luft, doch die Decke war so niedrig, dass die Frau mich auch ohne Besen mühelös schlagen könnte.

So schnell mich meine Flügel tragen konnten flog ich durch den Raum, wich mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen dem Besen aus und entwischte einige Male nur knapp.

Sofort zwängte ich mich durch die noch immer geöffnete Tür, die kühle Stadtluft hämmerte plötzlich auf mich ein und ich zischte über die Köpfe der Menschen hinweg, unwissend, ob die Frau mir noch immer folgte.

Von plötzlicher Neugier erfüllt verlangsamte ich mein Tempo, blickte über die Schulter zurück und verlor dabei unwillkürlich an Höhe, was ich jedoch nur unbewusst bemerkte. Ich sah die Frau, die gerade kehrtmachte und die Tür hinter sich schloss, wollte mich gerade erneut herumdrehen, dann hörte ich ein Geräusch; Das Quietschen von Reifen auf dem Asphalt, ein lautes Hupen, dann traf mich das Fahrzeug. Ein heftiger Schlag, ich sah noch kurz, wie ich zu Boden stürzte, und alles wurde schwarz.

 

 

 

 

Straßenhund

 

Dunkelheit und Kälte umgaben mich, als ich blitzartig die Augen aufschlug, ich lag in einer seichten Pfütze schmutzigen Regenwassers und mein blonder Pelz war durchnässt. Ein kaum wahrnehmbarer Blick in das Wasser genügte, um einen kurzen Blick auf mein Spiegelbild zu erhaschen und festzustellen, dass ich ein Schäferhund war. Über mir ertönte ein Geräusch, ein höhnisches Lachen, woraufhin ich blinzelte und einige hoch über mir aufragende Gestalten sah, die mit schadenfrohen, beinahe mordlustigen Blicken auf mich herabsahen.

Es waren vier Jungen, womöglich fünfzehn, sechzehn Jahre alt, die mich umkreisten und nicht gehen lassen zu wollen schienen. Angst überkam mich, ich wollte mich aufrichten, doch ein pochender Schmerz ging von meinem Hinterbein aus und ich sah, dass es in einem erschreckenden Winkel von meinem Körper abstand; das andere fehlte.

Immer wieder riefen sich die Jungen gegenseitig etwas zu, damals hatte ich noch nicht alles verstanden, doch inzwischen beherrschte ich die englische Sprache gut genug, um mich daran erinnern und es übersetzen zu können.

"Los, mach' ihn kalt!"

"Tritt ihm in den Arsch!"

"Haut ab, lasst mich in Ruhe!", wollte ich schreien, brachte jedoch nur ein heiseres Bellen zustande. Einer der Jungen tat einen Schritt vorwärts, ballte seine Hand zu einer kräftigen Faust und erhob sie zum Schlag, woraufhin ich panisch zurückzuweichen versuchte. Wie konnten Menschen so grausam sein? Sahen sie nicht, dass ich ein hilfloses, wehrloses Tier war, wahrscheinlich dem Tode nah?

Ein zweiter Junge trat auf mich zu, stieß den anderen energisch zur Seite, und ehe ich einen klaren Gedanken zu fassen imstande war, versetzte er mir einen gewaltigen Tritt in die Seite. Ich ächzte schmerzerfüllt auf, die Luft wurde aus meinem Körper gepresst, doch ich durfte keine Schwäche zeigen. Mit einem einen Ausdruck von Wut, Angst und Schmerz in sich bergenden Knurren fletschte ich die Zähne und erhob eines meiner Vorderbeine beinahe herausfordernd, als der erste Junge abermals auf mich zutrat, in die Knie ging und mir fest in die Augen blickte.

"Du dringst nicht noch einmal in meinen Garten ein, Straßenköter", wisperte er, dann hob er abermals die Hand. Alles ging so schnell, doch die Bruchteile einer Sekunde reichten mir, um zu sehen, dass der Junge mich umbringen wollte; ich sah, wie er die Augen zusammenkniff, die Zähne zusammenbiss und seine geballte Faust so hoch über meinen Kopf hob, wie er konnte. Ich blinzelte ein letztes Mal, schloss die Augen und...

"Hey!"

Ein lautes Rufen ertönte, ich riss die Augen auf und sah, wie jemand plötzlich in die Gruppe der Jungen sprang, aus einer undefinierbaren Richtung kommend, und den einen so heftig von mir wegzerrte, dass er mit einem geräuschvollen Krachen auf der Straße landete.

"Los, verschwindet!"

Eine weitere Person eilte herbei, stürzte sich in das Getümmel der verwirrt in alle Richtungen zu rennen versuchenden Jungen und hob warnend die Faust- ich konnte durch die nur vom matten Licht des nur als Sichel am Himmel stehenden Mondes erhellte Dunkel nicht genau erkennen, ob meine Retter männlich oder weiblich waren, wie alt sie etwa waren, doch ihre Silhouetten ließen darauf schließen, dass sie männlich waren- obgleich einer von ihnen einen Pferdeschwanz trug.

Die zweite Person trat vorsichtig auf mich zu, ließ sich langsam auf die Knie sinken und blickte mich lange Zeit schweigend an- es war ein junger Mann, vermutlich ein wenig jünger als ich selbst gewesen war, der mich mit einem mitfühlenden Funkeln in den blauen Augen betrachtete.

"Hey, alles in Ordnung, Junge? Du siehst ganz schön mitgenommen aus. Wenn ich wüsste, dass du mir nicht die Hand abbeißt, würde ich..." Er beugte sich leicht nach vorne, vermutlich um nachzusehen, wie stark ich verletzt war, und riss dann erschreckt die Augen auf.

"Verdammt, sein Bein ist gebrochen!", rief er an seinen Begleiter gewandt, der lange Zeit den davonrennenden Jungen hinterhergeblickt hatte, sich schließlich herumdrehte und seinerseits herbeieilte.

"Oh Gott, du armer Köter!", rief dieser entsetzt aus, ließ sich seinerseits auf die Knie sinken und strich mir mitfühlend über den Kopf, woraufhin der andere mit einem leisen, ironischen Grinsen sagte: "Genau, du kannst das mit dem Streicheln übernehmen, du brauchst deine Finger nicht so dringend wie ich."

"Hey, wer von uns beiden..." er stockte und ein beinahe empörtes Schweigen kehrte ein, und ich spürte einen leisen Anflug von Belustigung in mir aufsteigen, ehe sich der blauäugige Junge aufrichtete und murmelte: "Okay, am besten, einer von uns besorgt ein Auto. Wir können den nicht hier liegen lassen."

Der Langhaarige warf einen kurzen Blick auf mich und drehte sich dann zu dem anderen herum. "Dann fahr du mit deinem Motorrad schnell rüber zu meiner Schwester, die wohnt am nächsten."

"Denkst du, ich kann da einfach so klingeln und fragen, ob sie mir mal ihr Auto leiht? Es ist mitten in der Nacht".

"Dann fahr zu mir. Auf die paar Minuten kommt es nicht an."

Er kramte in seiner Jackentasche herum, entnahm etwas ein leises Klimpern von sich Gebendes- ich konnte nichts erkennen, doch es war offensichtlich, dass es Autoschlüssel sein mussten- und warf es seinem Begleiter zu, der es geschickt auffing.

"Danke. Ich bin gleich wieder bei euch, dauert nicht lange!", rief er, drehte sich herum und eilte davon.

Bitte mach schnell!, dachte ich und biss unter dem heftigen Pochen, das in schmerzenden Schüben von meinem Hinterbein ausging, die Zähne zusammen- neben der Angst, was mit mir geschehen würde, spürte ich auch eine Flamme der Erleichterung in meinem Inneren lodern, denn der unverkennbare Ausdruck von Mitgefühl in den Gesichtern der beiden jungen Männer sagte mir, dass ich ihnen vertrauen konnte- und vertrauen musste.

"Also, wenn er sagt, er ist gleich wieder da, kann man darauf vertrauen, dass es stimmt", murmelte der, der bei mir geblieben war, undd fügte mit einem Grinsen hinzu: "Wir können nur hoffen, dass er mein Auto nicht zu Schrott fährt."

 

 

Ich winselte leise, dann legte ich meinen Kopf auf die Pfoten und stieß ein langgezogenes Seufzen aus.

Es vergingen nur wenige Minuten, doch sie zogen so langsam vorüber wie eine Wolke an einem beinahe windstillen Tag. Der pochende Schmerz in meinem Hinterbein schien immer größer zu werden, und neben der Angst davor, was mit mir geschehen würde, spürte ich eine brennende Wut in meinem Inneren.

Hätten diese vier Feiglinge zusammengehalten, wären sie problemlos gegen die beiden angekommen- stattdessen waren sie davongerannt, hatten Angst gehabt, nachdem sie ein hilfloses, ihnen unterlegenes Tier verletzt hatten.

Hätte ich in meinem ersten Leben etwas Ähnliches getan, wüsste ich nun, wieso ich mich im Körper eines Hundes befand- um eines Besseren belehrt zu werden, um das zu bereuen, was ich getan hatte. Doch ich hatte nichts getan.

Also, wieso?

Irgendwann hörte ich ein sich rasch näherndes Motorengeräusch, das plötzlich stockte, dann ertönten kaum wahrnehmbare Schritte, und schließlich sah ich eine dunkle Silhouette leichtfüßig in die Straße hineinlaufen.

"In Ordnung, ich hab' direkt um die Ecke geparkt, lass uns ihn ins Auto tragen", rief der junge Mann mit einem nicht zu überhörenden Keuchen in der Stimme- er war vermutlich so schnell zu seinem Motorrad und von dem geparkten Auto aus wieder hierhergesprintet, wie es in seiner Macht stand- und eilte dann zu mir hinüber, woraufhin ich mit einem dankbaren Winseln aufblickte.

Wo immer ihr mich hinbringt, lasst mich bitte nicht sterben, dachte ich, jetzt kann ich endlich in der Nähe von Menschen sein, endlich herausfinden, wo ich bin...

Beide beugten sich zu mir herunter, packten mich und hoben mich in die Höhe, einer der beiden hielt mein gebrochenes Bein fest, damit es nicht unkontrolliert in der Luft herumbaumelte, doch das Pochen verstärkte sich bei jedem Schritt, den sie taten.

Ich schloss krampfhaft die Augen und biss die Zähne zusammen, ein geräuschvolles, schmerzerfülltes Krächzen unterdrückend, während ich über die vom feuchten Nebel benetzte Straße getragen und mein Gesicht an den ausladenden Ärmel einer Lederjacke- ich glaube, sie gehörte dem, der das Auto geholt hatte- gepresst wurde.

Schließlich vernahm ich, wie sich eine Autotür öffnete, dann ein amüsiertes Lachen: "Wenn er auf deine Sitze pinkelt, hast du morgen schön was zu schrubben."

"Dann haben wir morgen was zu schrubben."

Ich brachte unter dem stechenden Schmerz in meinem Bein nur ein kaum wahrnehmbares Grinsen zustande- wie das in dem Gesicht eines Schäferhundes wohl ausgesehen haben mochte, wollte ich nicht wissen- und biss erneut die Zähne zusammen, als ich unter einem angestrengten Stöhnen in das Fahrzeug hineingehievt und auf den ledernen Sitzen abgelegt wurde.

"Wie kann ein dreibeiniger, kleiner Hund so schwer sein?"

"So klein ist er nicht."

Undeutlich hörte ich, wie die Türen geschlossen wurden, und als die Sitze unter mir bei dem Anspringen des Motors zu vibrieren begannen, verstärkte sich das Brennen in meinem Hinterbein.

Der überall in meinem Körper pochende Schmerz schien mir alle noch verbliebene Kraft zu nehmen, über meinen Sinnen schien ein dunkler, nur schwer zu durchdringender Schleier zu liegen und in meinen Gliedern hatte sich eine Schwäche breitgemacht, die in mir das Bedürfnis weckte, mich nicht mehr zu regen und bloß in einen langen, tiefen Schlaf zu verfallen.

Mit geräuschvollem Dröhnen rollte das Fahrzeug durch die Straßen, das Licht der nur schwach durch den Nebel dringenden Sterne sowie der matt schimmernden Laternen drang zu mir herein und ich kämpfte gegen das Verlangen an, mich meiner Müdigkeit hinzugeben, während ich kramphaft meine Aufmerksamkeit den Gesprächen meiner beiden Retter zu widmen versuchte.

Zunächst redeten sie darüber, was mit mir geschehen würde- mir wurde schnell klar, dass sie mich zu einem Tierarzt zu bringen planten-, dann über jegliche Personen, die ich selbstverständlich nicht kannte und die mich in jenem Moment auch nicht sonderlich interessierten, und das Letzte, was ich hörte, war irgendetwas Unverständliches über Musikinstrumente. Dann schlief ich ein.

 

"Sei vorsichtig, Mariko, geh' nicht zu dicht ran!" Eine flüsternde, einen warnenden Ton mit sich tragende Stimme weckte mich auf, und als ich träge blinzelte, sah ich einen silbrig glänzenden Käfig direkt vor meinen Augen, der mich von allen Seiten einzuschließen schien.

"Er schläft noch immer, keine Sorge. Er..." Schwerfällig hob ich den Kopf, blickte mich kurz um, wodurch sich meine Vermutung bestätigte, und sah dann zwei Gestalten außerhalb des Käfigs stehen- eine Frau mittleren Alters, schlank, sportlicher Körperbau und dunkelblondes, zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar, und ein asiatisch aussehendes Mädchen mit langem, schwarzem Haar sowie tiefbraun funkelnden Augen; sie schien höchstens dreizehn oder vierzehn Jahre alt zu sein.

"Nein, warte, er ist wach!", zischte die Frau, und als ich bei dem drängenden Ton in ihrer Stimme erschreckt zusammenzuckte, wich das Mädchen blitzartig zurück.

Beide regten sich nicht, betrachteten mich bloß mit starrenden, beinahe neugierigen Blicken, als erwarteten sie meine plötzliche, gefährliche Reaktion. Ich blieb jedoch still, erwiderte ihren Blick, und einige Zeit schien es, als hätte mein erschrecktes Zusammenzucken die gesamte Umgebung um mich herum eingefroren.

Stille, ein angespanntes Knistern in der Luft, und das einzige sich Bewegende waren die mandelförmigen Augen des Mädchens, die abwechselnd zu mir und in die Richtung der Frau wanderten.

Ich hielt meinen ebenfalls erwartungsvollen Blick auf die beiden gerichtet, meine Ohren waren gespitzt und ich bemühte mich, meinem pelzigen Gesicht einen möglichst freundlichen Ausdruck zu verleihen- aus der zierlichen Hand des Mädchens baumelte ein fettes, saftig wirkendes Schnitzel, das zweifellos für mich bestimmt war, doch das unsichere Funkeln in ihren Augen verriet, dass sie es mir nicht ohne weiteres in den Käfig legen würde.

"Er knurrt nicht."

"Er ist immer noch benommen von der Operation."

"Ja, aber..." Das Mädchen tat einen Schritt nach vorne und schien vorsichtig die Hand- die das den Speichel aus meinem Maul triefen lassende Schnitzel trug- in meine Richtung strecken zu wollen, doch sofort schoss die Frau nach vorne und ergriff ihren Arm.

"Hör auf, Mariko! Wir warten, bis er wieder eingeschlafen ist und legen es dann in den Käfig."

"Aber er hat jetzt Hunger, siehst du das nicht?"

"Ja, auf dich!", zischte die Frau, blickte kurz zu Boden und fuhr dann fort: "Du weißt selbst, wie gefährlich er ist. Meiner Meinung nach hätte er schon längst in ein Tierheim gebracht werden müssen."

"Gefährlich?", wiederholte das Mädchen mit ruhiger Stimme, doch ihre dunklen Augen waren voller Empörung. "Er knurrt Leute an, gut. Aber er hat nie jemandem etwas getan. Gar nichts. Lass mich... Ich bleibe hier sitzen und warte, bis er eingeschlafen ist, in Ordnung?"

Die Frau stieß ein langgezogenes Seufzen aus, als wäre jene Art von Diskussionen ihr nicht unbekannt, und nickte schließlich langsam.

"In Ordnung. Aber tu nichts Unüberlegtes. Straßenhunde können unberechenbar sein. Zuerst sieht er dich mit seinem süßen Hundeblick an und kommt plötzlich auf die Idee, zu beißen."

"Schon gut. Ich werde vorsichtig sein", antwortete das Mädchen mit leiser Stimme, woraufhin die Frau abermals nickte und sich schließlich langsam herumdrehte.

Lange Zeit hielt das Mädchen inne, blickte mich an, blickte in die Richtung, wo die Frau in dem an den Garten angrenzenden Haus verschwunden war, und sog schließlich tief die Luft ein.

"Hey, geht es dir besser? Ich will dir nichts tun, also tu mir bitte auch nichts."

Sie tat noch einen Schritt nach vorne, und ich begann, freundlich mit dem Schwanz zu wedeln, um das Vertrauen des Mädchens zu wecken- erst jetzt bemerkte ich, dass mein Hinterbein in einer unbequemen Schiene steckte, die das Aufstehen verhinderte.

"Du siehst freundlich aus. Weißt du, wenn ich genau wüsste, dass du nicht beißt, würde ich dir das Schnitzel geben, aber... "

Scheinbar unsicher, was sie als nächstes tun sollte- und was ich als nächstes tun könnte- blieb sie stehen und starrte mich an, doch schien sie es bewusst zu vermeiden, mir in die Augen zu sehen. Dennoch war es mir, als hielte mich ihr von Aufregung erfüllter Blick fest gepackt, um mich daran zu hindern, mich in irgendeiner Weise zu bewegen.

Wir blickten uns lange Zeit an, unbeweglich, wie zu Eis erstarrt. Irgendwann tat Mariko einen langsamen, von tiefer Vorsicht geprägten Schritt in meine Richtung, und ich blieb weiterhin reglos liegen. Meine Ohren waren gespitzt, mein Kopf ruhte entspannt auf meinen übereinandergelegten Pfoten und ich bemühte mich noch immer um einen möglichst freundlichen, möglichst ungefährlich wirkenden Gesichtsausdruck.

War ich so furchteinflößend? Warum hatten all die Soldaten auf dem Schlachtfeld, denen ich gegenübergestanden hatte, nicht eine solche Angst vor mir verspürt, wo ich doch- hoffentlich- mit tödlichen Waffen ausgerüstet und von dem Blut meiner Feinde beflecktem Anzug bekleidet bedrohlicher gewirkt hatte als ein dreibeiniger, geschwächter Straßenhund, der schwanzwedelnd auf dem Boden lag?

Das Mädchen kam etwas näher, sodass sie nur noch eine Fingerlänge von dem Käfig entfernt dastand- die Lücken zwischen den dünnen Gitterstäben wären breit genug, um meine schmale Schnauze hindurchzuschieben und nach dem Schnitzel zu schnappen, das noch immer verlockend aus ihrer zitternden Hand baumelte, doch ich wollte sie nicht verunsichern.

Komm her, Mariko, dachte ich ungeduldig, noch deutlicher kann ich dir nicht zeigen, dass ich nicht aggressiv bin!

Offenbar hatte dieser Hund, in dessen Körper ich mich befand, nicht gerade den besten Ruf bei den Bewohnern jener Stadt gehabt, wie die unverkennbare Unsicherheit in den mandelförmigen Augen der jungen Asiatin verriet.

Plötzlich streckte sie den Arm aus, drehte blitzschnell den Kopf zur Seite und kniff die Augen zusammen, als wollte sie in keinem Fall sehen, was als nächstes geschehen mochte. Ihre zierliche Hand schob sich durch das Gitter, und ehe sie das Schnitzel fallen lassen konnte, packte ich es behutsam mit den Zähnen und zog es vorsichtig zu mir, darauf bedacht, ihre Hand nicht zu berühren.

Als sie scheinbar spürte, wie das Stück Fleisch aus ihren Fingern glitt, blinzelte sie überrascht und öffnete den Mund zu einem überraschten Zischen.

"Mein Gott, du hast tatsächlich..."

Ihre Hand blieb, wo sie war, und ich legte das Schnitzel langsam vor mir ab.

Keine hektischen Bewegungen, sagte ich mir selbst im Stillen, das würde sie nur verängstigen. Plötzlich fiel mir die Ironie dieses Gedanken auf, und ich musste grinsen, unwissend, ob man dies in dem Gesicht eines Hundes zu erkennen vermochte.

Langsam erhob ich mich, schlenderte schwanzwedelnd auf sie zu und stupste ihre noch immer in den Käfig baumelnde Hand mit der Nase an, woraufhin sie kaum merklich zusammenzuckte.

"Das kann nicht sein", wisperte sie, und ich stupste abermals. Vorsichtig streckte sie ihre zitternden, dünnen Finger aus, sodass ihre Fingerkuppen kaum wahrnehmbar das kurze Fell auf meiner Stirn streiften.

"Was ist mit dir los?", sagte sie lachend und begann plötzlich, eines meiner Ohren zu kraulen, was ich zwar befremdlich, aber dennoch angenehm und beruhigend fand.

"Du bist ja ganz brav! Hat der Unfall einen Schoßhund aus dir gemacht? Was ist aus dem gefährlichen, bösartigen Straßenköter geworden, der alle Leute anknurrt, hm? "

Er ist tot.

Ich spürte bei dem Wort "Schoßhund" einen Anflug von Empörung in mir aufsteigen, doch ich versuchte, mir dies nicht anmerken zu lassen- denn es war definitiv möglich, dass ein Hund empört aussah, vor allem dann, wenn es sich um Fressen handelte.

"Wenn Alice erfährt, dass du brav bist, können wir dich vielleicht doch behalten. Dann brauchst du auch nicht in diesem Käfig zu bleiben. Und du bräuchtest einen Namen."

Ich habe einen Namen! Nein, ich will kein Haustier sein, dachte ich zuerst, entschied dann jedoch, dass es weitaus mehr Vorteile mit sich brachte, ein Haushund zu sein, als sich im Körper eines Insekts oder einer Krake zu befinden.

"Ich wüsste gerne, was du denkst", fuhr Mariko fort, "damit ich dir nicht einen Namen gebe, den du nicht möchtest. Das ist mir schon passiert, weißt du. Ich warte am besten ab, bis ich weiß ob du hier bleibst oder nicht. "

Sie seufzte.

"Mein Name ist übrigens Caren."

Und in dem Moment ahnte ich, dass mit dem Mädchen- mit dir, falls du es bist, die das liest- etwas nicht stimmte.

 

 

 

Caren

Drei Tage waren vergangen, seitdem ich in dem Käfig aufgewacht war, und inzwischen war es mir sogar gelungen, das Vertrauen der Frau zu gewinnen- ich hatte herausgefunden, dass sie nicht Marikos- Carens- Mutter war, oder wie immer dieses Mädchen auch heißen mochte, sie jedoch bei sich wohnen ließ; zudem wusste ich nun, dass ich mich in Vancouver befand

Das Mädchen war in jeder freien Minute, so schien es, zu mir gekommen, hatte sich vor den Käfig gekniet und mich gefüttert sowie mit mir geredet, und das Verlangen, zu antworten, war jedesmal unbeschreiblich groß gewesen.

"Willst du wissen, wo ich herkomme?", hatte sie gefragt, und ich hatte genickt. Verstört hatte sie die Augen aufgerissen, mich lange Zeit mit vor Überraschung geöffneten Lippen betrachtet, doch dann war ein seltsamer, beinahe verständnisvoller Ausdruck über ihr Gesicht gehuscht, als wäre ihr plötzlich etwas Sinnvolles, Einleuchtendes eingefallen.

"Mein Name ist Caren. Meine Mutter hat mich zwar Mariko genannt, doch mein wahrer Name, der Name, mit dem ich mich identifizieren kann und den ich schon immer trage, ist Caren.

Vor dreizehn Jahren wurde ich in Japan geboren, aber es hat mir nicht gefallen, und ich hatte schon immer vor, hierherzukommen. Als ich elf war bin ich aufgebrochen, Tage lang gewandert, gefahren, habe ich mich auf ein Schiff geschlichen, bis ich hier angekommen bin. Ohne Heimat, doch das war mir bewusst gewesen. Na ja, und jetzt lebe ich hier. Weißt du, ich glaube, dass ich irgendwo hier Verwandte haben muss."

Zunächst verstand ich es nicht, und um ehrlich zu sein hielt ich das Mädchen für ein wenig verrückt. Die vernünftige Art, wie sie redete, erinnerte eher an eine Erwachsene, doch das, was sie sagte sowie die Tatsache, dass sie einem Hund ihre gesamte Lebensgeschichte erzählte, ließen sie ein wenig grotesk und sehr fantasievoll wirken. Konnte es einer Elfjährigen tatsächlich gelingen, sich ganz alleine auf den Weg von Japan bis nach Kanada zu machen? Davon abgesehen war -in meinen Augen- der Drang eines kleinen Mädchens, hierherzukommen und dafür ihre Heimat und ihre Familie für immer zurückzulassen, ebenfalls eher ungewöhnlich, um es mit Vorsicht auszudrücken.

Dennoch fühlte ich mich nicht unwohl; ihr Vertrauen hatte ich sofort und das ihrer Adoptivmutter nach drei Tagen gewonnen, und nun lag ich mit entspannt von mir gestreckten Pfoten in einem weichen, von verschlissenem Stoff überzogenen Sessel.

Wenn sich die beiden in englischer Sprache unterhielten, redeten sie so flüssig und schnell, dass ich nicht allzu viel verstehen konnte, doch wenn Caren allein mit mir sprach, redete sie zumeist mit klarer sowie langsamer Stimme, als wüsste sie, dass ich sie nur so zu verstehen imstande wäre.

Die Frau, Alice, murmelte etwas, Caren antwortete, und wenig später verließen beide wie auf einen stillen Befehl hin den Raum.

Ich hob den Kopf, spitzte die Ohren, konnte jedoch nicht verstehen, was sie sagten, ehe ich hörte, wie eine Tür ins Schloss fiel.

 

 

 

Einige Zeit hielt ich inne, spitzte dann die Ohren, als leise, nur als kaum wahrnehmbares Hintergrundgeräusch zu vernehmende Musik an mich drang. Ich sah auf, blickte mich um und sah einen Plattenspieler, auf dem sich eine Schallplatte wie ein Karussell drehte und drehte, pausenlos...

Das Lied klang völlig anders als die Musik, die ich zu meinen Lebzeiten gekannt hatte, die Instrumente wirkten lauter und aggressiver- dennoch zog die schnelle Melodie etwas Fröhliches, Belebendes mit sich, das mir erneut Bilder meiner Vergangenheit in den Kopf schießen ließ.

Wie lange war meine Vergangenheit wohl schon her?

Einen Moment, dachte ich, du bist in einem Haus. Wo findest du wohl mehr Hinweise als hier?

Ich richtete mich auf, hievte mich mit einem langgezogenen Seufzen von dem Sessel und blickte mich um. Ein großer, auf einem niedrigen Tisch stehender Fernseher vor mir, der anders aussah als die, die mir bekannt gewesen waren, ein hölzerner, von einer sich über einige Zeit dort angesammelt zu haben scheinende Staubschicht bedeckter Schrank zu meiner Linken und ein Bücherregal zu meiner Rechten, unmittelbar neben der Tür.

Unzählige Bücher schmiegten sich zwischen den aus dunklem Holz erbauten Wänden des Regals nebeneinander, und in dem untersten Fach häufte sich ein gewaltiger Stapel von Papier- ich vermutete, dass es sich um eine gewaltige Ansammlung alter Fotografien oder womöglich Zeichnungen handelte.

Über dem Stapel ruhten einige Hüllen von Schallplatten, doch nichts, was mir einen Hinweis darauf geben könnte, in welchem Jahr ich mich befand.

Die Bücher nach irgendeiner Jahreszahl abzusuchen, kostet mich Jahre, dachte ich, seufzte beinahe gereizt und blickte dann wieder auf.

Wenn ich es schaffe, den Fernseher anzukriegen...

Unbeholfen bewegte ich mich zu dem kleinen Tisch hinüber- die Bewegungen meines Hinterbeins erinnerten eher an unkontrolliertes Hüpfen als an Gehen, denn das Gefühl, ein Bein zu wenig zu haben und theoretisch auf meinen Armen zu laufen, fühlte sich auch nach einigen Jahrzehnten des Nichtmenschseins noch immer seltsam an.

Ich musterte den Fernseher, betrachtete die einzelnen Knöpfe und drückte mit meiner schwarzen, feuchten Nase gegen jenen, der am größten war- das Größte war doch immer das vielversprechendste, nicht wahr?- und tat dann einen Schritt zurück, als vermutete ich zunächst, das Gerät könne vor meinen Augen in unzählige Scherben zerbersten.

Zunächst blieb der Bildschirm schwarz, es ertönte ein leises Piepen, dann erschien ein Bild- und ich erschrak.

Farben schlugen auf mich ein, leuchteten, funkelten wie bunte, in einer großen Schale zusammengeworfene Glasperlen, und meine Augen weiteten sich vor Überraschung sowie Erstaunen.

Wie war es möglich, dass dieses Bild nicht bloß schwarz- weiß gehalten war? Was war passiert? Was hatte sich noch geändert, seitdem ich das letzte Mal die Menschenwelt wahrzunehmen imstande gewesen war?

Gebannt starrte ich auf den Bildschirm, unbeweglich, nur meine erstaunten Augen folgten den Bewegungen der Menschen, die hinter der gläsernen Scheibe umherliefen, sich unterhielten, nicht wussten, dass irgendwo auf der Welt ein Hund vor dem Fernseher saß, der sie eingehend beobachtete.

Es wurde auch gesprochen, ich konnte eine tiefe, die Gespräche der Leute übertönende Stimme vernehmen, doch sie sprach in so schnellem, undeutlichen Englisch, dass ich nicht das Geringste verstand.

"Was ist los?!"

Ein erschrecktes, verstörtes Rufen ertönte, ich fuhr herum und sah das Mädchen in der Türschwelle stehen, mich mit ungläubigem Blick musternd.

Lange Zeit zögerte sie, gab keinen Ton von sich, sah stattdessen abwechselnd zu mir und dem farbigen Bildschirm und rief irgendwann- vermutlich an ihre "Adoptivmutter" gerichtet: "Alles in Ordnung, der Fernseher ist bloß angegangen!"

Mit vor Erstaunen geöffnetem Mund sowie geweiteten Augen fügte sie wispernd hinzu: "Der Hund hat ihn angemacht."

Beinahe beschämt wandte ich den Kopf und blickte sie an, versuchte, ein entschuldigendes Grinsen zustande zu bringen, doch dem Gesichtsausdruck des Mädchens nach gelang es mir nicht sonderlich gut.

Sie war sichtlich erstaunt, beinahe entsetzt, und konnte den Blick noch immer nicht von mir abwenden. Irgendwann schüttelte sie den Kopf, als versuche sie, ihre Gedanken zu sortieren oder jegliche seltsame, verwirrende Vorstellungen in den Hintergrund zu drängen, und murmelte dann: "Dummes altes Ding, geht nicht nur andauernd aus, sondern auch noch von alleine an."

Freundschaftlich tätschelte sie mir den Hals, dann sah ich, dass etwas Langes, Ledernes in ihrer Hand baumelte, und ich wich zurück.

Ich will kein Halsband tragen!

"Komm, ich soll mit dir nach draußen gehen", sagte sie, und ehe ich zu reagieren imstande war, hatte sie mir das Band angelegt.

Na gut, dachte ich, wenn ich nach draußen will, muss ich das wohl in Kauf nehmen.

Und ich wollte nach draußen; nichts reizte mich momentan mehr, als unter Menschen zu kommen, etwas von der Welt zu sehen und über jene Zeit zu erfahren. Der Gedanke daran, von einem Kind an der Leine geführt zu werden, rief dennoch einen Anflug von Empörung in mir hervor, und in dem Moment, als der winzige Haken der Leine sich in dem Ring des Halsbands festkrallte, wusste ich: Ich war jetzt offiziell ein Haustier.

 

Sie führte mich zunächst am Rand der Stadt entlang, über weite Wiesen, wo sie mich kurz von der Leine ließ- ich hätte davonlaufen können, die Freiheit ausnutzen, und der Gedanke daran war verlockend gewesen, doch ich wusste, es hätte mir nichts genützt. Allein als Straßenhund durch eine unbekannte Stadt zu irren, jeden Tag auf der Suche nach Nahrung sowie Antworten auf meine Fragen, hätten mich irgendwann mein Leben gekostet. Jedenfalls dieses Leben.

Also kam ich zu ihr zurück, widerstand dem Drang, die Leine zu packen und das zähe Leder an der Stelle, wo der Haken befestigt war, durchzubeißen, und wir setzten unseren Weg fort.

Die Gebäude, die uns von allen Seiten einschlossen, waren um einiges niedriger als jene in der Stadt, in welcher ich in mein sehr kurzes Leben als Taube verbracht hatte, und die gesamte Umgebung erinnerte eher an eine Kleinstadt oder ein recht großes Dorf. Doch vor dem bereits in einem hellen Orange zu leuchten beginnenden Horizont zeichneten sich die hoch in den Himmel ragendenen Hochhäuser, die den größten Teil der Stadt ausmachten, als schwarze Silhouetten ab.

Langsamen, gemächlichen Schrittes führte sie mich durch die Straßen, wir begegneten unzähligen Menschen, und irgendwann schien es, als würden die Häuser mit jedem Schritt größer und die Straßen belebter.

Unter Wohnhäuser hatten sich Geschäfte gemischt, Autos fuhren zu meiner Linken über die Straßen und einige Menschen kreuzten unseren Weg- wie viel Zeit auch immer seit meinem letzten Aufenthalt in einer Stadt vergangen sein mochte, der Kleidungsstil hatte sich definitiv zum Besseren gewandelt, die Menschen sahen nicht mehr aus wie lebendige, wandelnde Farbpaletten.

Irgendwann blieb ich vor einem sich lang erstreckenden Fenster stehen, hinter welchem einige Musikinstrumente ausgestellt waren, und mein Blick blieb auf einer aus hellem Holz gefertigten, am geschmeidigen Hals in einem dunklen Rot lackierten Gitarre hängen.

Plötzlich stand ich in einem schmalen Hausflur, links von mir eine geschlossene, in eine gemütliche Küche hineinführende Tür, rechts von mir der Eingang zu Susannahs Zimmer. Sie stand vor mir, sah mich mit ihren großen, immer von Lebensfreude und Herzlichkeit erfüllten Augen an und verzog ihre Lippen zu einem amüsierten Lächeln. Ich erinnere mich an diesen Jahrzehnte zurückliegenden Tag, als wäre er die Gegenwart, erinnere mich an jede ihrer Worte, ihre Bewegungen und den süßen Duft in ihrem feuerroten Haar.

Wir kannten uns noch nicht sonderlich lange, wir waren beide gerade siebzehn, und ich weiß, dass wir in der Schule hätten sein sollen. Doch auf dem Weg dorthin hatte ich gesehen, wie zwei andere Jungen Susannah bedroht hatten. Sofort war ich zu ihr gerannt, hatte die Angreifer von ihr weggezerrt und einem von ihnen einen derart heftigen Schlag in sein Gesicht versetzt, dass er ins Taumeln geraten und schließlich zu Boden gestürzt war. Ehe der andere reagieren konnte, war sie davongeeilt, ich hinter ihr her, bis wir lange aus dem Blickfeld der anderen verschwunden waren. Als sie sich zu mir herumgedreht, mir mit warmem Blick in die Augen gesehen und: "Danke. Begleitest du mich ein Stück?" geflüstert hatte, war mir klar geworden: Heute würde ich nicht in die Schule gehen.

"Komm schon", drängte sie nun, griff nach meiner Hand und zerrte mich hinter sich her, öffnete die Tür und schloss sie mit einem geräuschvollen Krachen, nur einen Herzschlag nachdem ich ihr wiederwillig gefolgt war.

"Dein Vater verprügelt mich, wenn er mich in seinem Haus sieht", wisperte ich und blickte mich nervös von einer Seite zur anderen um, als vermutete ich, ungewollte Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.

"Er kommt heute spät nach Hause, alles in Ordnung."

Ich nickte, tat so, als würde ich mich in ihrem Zimmer umsehen, doch aus den Augenwinkeln beobachtete ich sie die ganze Zeit über, ununterbrochen. Dann sah ich die alte, von einer dicken Staubschicht bedeckte Gitarre, der Korpus aus hellem Holz, der Hals weinrot lackiert, in einer Ecke an der Wand lehnend, und nahm sie vorsichtig hervor.

Susannahs Blick zeugte von so viel Neugier sowie Erwartung dass ich das schwierigste Stück zu spielen begann, das mir bekannt war. Es war ein schnelles, fröhliches Lied, das von der gleichen Lebensfreude zeugte wie das Leuchten in ihrem hübschen Gesicht, und ihr amüsiertes Lächeln sowie die klaren Töne ließen mich alles andere um mich herum vergessen.

Als der Tag zu Ende ging, wusste ich, dass es definitiv eine gute Idee gewesen war, ihr in das Zimmer zu folgen sowie etwas auf ihrer Gitarre zu spielen...

 

Das behutsame Ziehen der Leine an meinem Hals riss mich aus meinen Erinnerungen, und das Bild um mich herum verschwamm so plötzlich, wie es entstanden war. Ich befand mich wieder im Körper eines Hundes, stand auf hartem, rauen Asphalt und betrachtete das glänzende, nie benutzte Instrument nur durch eine gläserne Scheibe.

Das Mädchen setzte ihren Weg fort, murmelte kurz etwas Unverständliches und zog mich hinter mich her, bis ich abermals erstarrte.

Schon von Weitem konnte ich den Titel des Buches lesen, das dort hinter dem gläsernen Schaufenster neben einigen anderen in einem Regal stand, und beschleunigte mein Tempo sofort.

The Second World War.

Was auch immer in diesem Buch stehen mochte, ich wusste, es würde mir weiterhelfen. Irgendwie. Ich spürte es irgendwie; die tiefe Hoffnung, die in meinem Innern brannte, die Hoffnung darauf, dass dieses Buch mich in meine Vergangenheit zurückführen könnte- zumindest meinen Geist.

Vielleicht enthielt es irgendwo Informationen über meine Familie, immerhin hatten sie alle etwas mit dem Krieg zu tun gehabt, in gewisser Weise.

Der Gedanke trieb mich innerlich an, und ich eilte an den Menschen vorbei, die mir entgegenkamen oder in gleicher Richtung vorausschlenderten; Caren stieß ein überraschtes Quietschen aus, als ich plötzlich an der Leine zog und sie hinter mir her zerrte, durch die Menge hindurch, bis ich vor dem Schaufenster mit dem Bücherregal prompt stehen blieb.

"Was ist denn jetzt los?!"

Ich will in den Laden, das ist los!

Ich zog in die Richtung der gläsernen Tür, die in das Geschäft hineinführte, doch das Mädchen hielt mich- scheinbar unabsichtlich- zurück und setzte ihren Weg fort. Sie bemerkte nicht, auf was genau ich es abgesehen hatte, sie vermutete wahrscheinlich, ich hätte bloß mit meiner feinen Hundenase den "verlockenden" Duft von Müll, alten Essensresten oder dem Urin einer Hündin entdeckt und müsste dessen Ursprung unbedingt ausfindig machen. Aber so war es nicht! Abermals versuchte ich, in die Richtung der Tür zu ziehen, woraufhin das Mädchen lachte: "Aha, ein literaturbegeisterter Hund! Oder wohnt da eine feine Hundedame?"

Ich brauche dieses verdammte Buch!, schrie ich innerlich und versuchte, mich herumzudrehen, doch das Mädchen zog mich weiter hinter sich her.

"Komm, ich will zuhause sein, ehe es stockdunkel ist."

Ich will aber nicht nach Hause, dachte ich, nicht ohne das Buch!

Beinahe genervt stieß ich ein Seufzen aus, packte dann die lederne Leine mit den Zähnen und ließ mich auf mein Hinterteil fallen. Einfach so. Mitten auf den Gehweg.

"Komm schon", zischte das Mädchen und grinste, doch ich konnte auch eine leise Ungeduld in ihrer Stimme heraushören.

Mitten auf dem Gehweg saß ich unbeweglich auf meinem Hinterteil, machte keine Anstalten, mich zu bewegen oder aufzustehen, und das Mädchen zog an der Leine. Zuerst behutsam, dann etwas fester. Die Leute zwängten sich an mir vorbei, manche bedachten mich- uns- mit teil amüsierten, teils gereiztne Blicken, und ein Kind lachte bei Carens verzweifeltem Versuch, mich fortzuziehen, laut auf.

"Würdest du bitte deinen Hund zum Weitergehen bewegen?", grunzte eine Frau mit mahnend hochgezogenen Augenbrauen und wütend gespitzten, von knalligem Rot bedeckten Lippen in englischer Sprache, und ich übersetzte im Stillen.

"Das ist keine Hundewiese, sondern ein Gehweg!"

Äffin, dachte ich und blickte die Frau missbilligend an, während ich einen Funken Mitleid für Caren in mir aufsteigen spürte.

Wie ich dort unbeweglich und mit sturem Blick auf dem Boden saß, vermutlich die gesamte Stadt bei ihrem Einkaufsbummel behinderte und unzählige Blicke auf mich zog, brachte ich das Mädchen vermutlich in die unangenehmste Situation ihres bisherigen Lebens- doch das war die einzige Möglichkeit. Ich brauchte dieses Buch.

"Bitte, Hund, komm!"

Aber ich wollte nicht kommen. Ich neigte den Kopf in die Richtung der Tür. Sie reagierte nicht. Ich hob die Pfote und wies auf den Laden, nickte in die Richtung des Buches, erhob mich und zog dorthin, bis das Mädchen mir endlich einige Schritte weit folgte.

"Du willst also unbedingt da rein?"

Ja, ich will da rein! Endlich hast du es verstanden, Mädchen.

Sie zwängte sich an mir vorbei, grinste einigen Leuten, die ich zuvor am Vorbeigehen gehindert hatte, entschuldigend zu, und zog dann an dem Henkel der Tür. Nichts geschah. Die Tür war geschlossen.

"Tut mir leid, Hund", lachte sie, "der Laden ist schon geschlossen. Heute gibt es nichts zu Lesen."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Buch

Meine Augen waren einen Spalt weit geöffnet, als sie das Zimmer verließ. Schnell bedachte sie mich mit einem prüfenden Blick, drehte sich dann herum und schloss die Tür nur so weit, dass noch ein schwacher Lichtschimmer hindurchdrang.

Ich hielt die Luft an, wartete, lauschte, ob sie sich von dem Zimmer entfernte, und hob den Kopf.

Plötzlich war alles in mir in Aufruhr- ich sprang aus dem Sessel, hüpfte meinen unvorteilhaften Körperbau für einen Moment vergessend auf meinem noch nicht verheilten Bein durch den Raum und verlor das Gleichgewicht auf dem rutschenden Teppich.

Beinahe wäre ich zu Boden gestürzt, doch ich konnte mich irgendwie mit den Vorderbeinen abfangen und das Gleichgewicht zurückerlangen, dann zwengte ich mich durch den schmalen Spalt in der Tür, die in die Küche führte.

Mach schon!, befahl ich mir im Stillen, hüpfte, so schnell ich mit meinem geschienten Bein zu hüpfen vermochte, durch die Küche und bog dann in den Flur ab.

Caren war nach draußen gegangen, die Haustür stand offen. Stand für mich offen. Innerhalb eines Herzschlags blickte ich mich um, vergewisserte mich, dass mich niemand sah, und rannte hinaus.

Irgendwo aus einer undefinierbaren Richtung dringend hörte ich die leisen Stimmen von Caren und Alice, sie arbeiteten vermutlich in dem kleinen Garten, der auf der anderen Seite an das Haus grenzte, doch ich wusste, sie würden mich nicht bemerken.

Ich rannte über den Bürgersteig, versuchte, mich an den Weg zu erinnern, den Caren am Vortag mit mir zurückgelegt hatte, und sog immer wieder die Luft ein.

Irgendwann stieg mir der süße Geruch von frischem Gebäck in die Nase, und ich erinnerte mich, dass wir gestern an einem Gebäude vorbeigekommen waren, in dessen Erdgeschoss sich eine Bäckerei befand. Mit plötzlich in mir aufsteigendem Appetit nahm ich den Duft in mir auf und beschleunigte mein Tempo, bog in eine schmale Gasse ein und bahnte mir meinen Weg durch die eng aneinandergepressten Gebäude.

Mein mit unbeholfenen Hüpfbewegungen mitzuhalten versuchendes Hinterbein begann allmählich, ein unangenehmes Ziehen zu verursachen, doch ich beachtete den Schmerz nicht und lief weiter.

Ich erreichte eine Kreuzung, wo die schmale Gasse von einer breiten Straße geschnitten wurde- stark befahren, jede Sekunde rauschte ein Fahrzeug mit dröhnendem Knurren vorüber, und auf dem daran angrenzenden Fußgänger-Weg trieb ein langsamer, träger Strom umherschlendernder Menschen.

Ein freilaufender, sich mitten in einer Menschenmenge herumtreibender Hund mit gebrochenem Hinterbein lief durchaus Gefahr, eingefangen zu werden- zumindest war es zu meinen Lebzeiten so gewesen- doch in dem Moment kümmerte mich nur das Buch. Es war dumm von mir, ich wusste es, doch jedes Mal, wenn ich meinen Willen durchsetzen wollte, wurde ich leichtsinnig. Außerdem- wie viel hatte ich zu verlieren?

 

 

Unbeholfen eilte ich urch die mir entgegenkommenden Menschen, versuchte unwillkürlich, ihren neugierigen, teils verstörten Blicken nicht zu begegnen- ich glaube, ich hielt mich selbst für unauffälliger, wenn ich sie nicht anblickte, was in Anbetracht der Tatsache, dass ich wie ein angeschossenes Kaninchen durch die Straßen hoppelte, unsinnig war-und hielt den Kopf gesenkt, doch meine Augen wanderten abwechselnd von einer Straßenseite zur anderen.

Ich war mir nicht mehr sicher, auf welcher Seite ich das Buch entdeckt hatte...

Ein schrilles, lautes Kläffen riss mich aus meinen Gedanken, ich blickte unfreiwillig auf und sah einen winzigen, unkontrolliert zitternden Hund, der mir mit seiner krächzenden Stimme entgegenbellte.

Die riesigen Glubschaugen stachen über der winzigen, eher an eine Ratte erinnernden Schnauze hervor, und zwischen den Ohren war eine rosarote, glitzernde Schleife in das gepflegte Fell eingeflochten- der Geruch des Unruhestifters verriet aber, dass es ein Rüde war.

Eine ältere Dame mit ähnlich verstörendem Modegeschmack wie der Hund hielt ihn an einer dünnen, silbrigen Leine und zerrte ihn von mir weg, keifte dann plötzlich in meine Richtung. Ihre Stimme war derartig schrill und sie sprach so schnell, dass ich ihre Worte nicht übersetzen konnte, doch das hektische, beinahe panische Herumgefurtel ihrer knochigen Hände sagte mir, dass ich besser weitergehen sollte.

"Hör auf zu kläffen, Bettvorleger!", bellte ich zurück, unwissend, ob der kleine Hund meine Worte verstanden hatte. Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich war nur ein wütendes Knurren angekommen, denn ich vermutete, dass Hunde nicht in einzelnen Worten zu sprechen vermochten.

Gerade wollte ich mich herumdrehen und weiterlaufen, als das entsetzte Rufen der Frau wiederum ertönte, diesmal verständlich: "Haltet den Hund fest, er ist gefährlich!"

Verdammt.

Einige Gesichter wandten sich mir zu, einige wichen mir aus, neben mir sprang plötzlich ein Mann hervor und wollte mich am Halsband packen. Ich bellte auf, wich aus und eilte davon, so schnell ich konnte, drehte mich nicht herum. Mein Bein hüpfte auf und ab, versuchte irgendwie, Geschwindigkeit aufzubauen, während ich unter dutzenden verstörter Blicke über den Gehweg rannte.

Eilende Schritte folgten mir, schienen sich zu nähern, und das Gedränge um mich herum wurde dichter, der Weg offenbar schmaler.

Ich zwängte mich durch die Menschen, rannte so lange weiter, bis ich sah, dass die breite Straße vor einer Kreuzung von einigen überquert wurde. Blitzartig änderte ich meine Richtung, bog nach rechts ab und rannte über den Zebrastreifen, vor dem ein Auto wartete. Der Fahrer starrte mit ungeduldigem Blick aus dem Fenster, gestikulierte mit den Händen, um die Menschen zur Eile anzutreiben, doch ehe ich sehen konnte, was er als nächstes tat, hatte ich den Zebrastreifen überquert.

Darauf bedacht, möglichst wenig Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, verlangsamte ich mein Tempo und blickte mich kurz um, doch die Geräusche von eilenden Schritten hinter mir waren verschwunden, mein Verfolger war weiter dem Verlauf des Gehweges gefolgt.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite tummelten sich deutlich weniger Menschen, es war angenehm ruhig, ich musste mich nicht ständig zwischen langen Beinen hindurchzwängen.

Kaum hatte ich mich ein wenig von dem Zebrastreifen entfernt, sah ich plötzlich erneut die Gitarre hinter dem gläsernen Fenster, ließ meinen Blick daran vorüberschweifen und entdeckte das Buch nur wenige Meter weiter entfernt.

Endlich!

Ich lief schneller, machte vor dem Geschäft halt und starrte das Buch für einen Augenblick wie gebannt an. Wieso brauchte ich es so dringend? Irgendetwas in mir sagte, dass dieses Buch die Tür zu meinem ersten Leben wäre, der Schlüssel zu den Informationen, die ich brauchte, um... Um was zu tun? Um dieses ewige Wiederkehren zu beenden? Um meine Familie wiederzufinden?

Jedenfalls wusste ich, dass ich es brauchte.

Schnell warf ich den Kopf zur Seite, stellte sicher, dass mich niemand beachtete, und schob die Tür vorsichtig mit der Schnauze auf- ein kaum wahrnehmbares Knarren ertönte, und als ich mich schnell hindurchzwengte, sah ich ein kleines Kind an der Hand einer älteren Frau, die in einem Regal stöberte, sowie zwei Angestellte, die hastigen Schrittes von einer Seite zur anderen flogen, abwechselnd einen Stapel Bücher aus einer in der Mitte des geräumigen Raumes stehenden Kiste nahmen und sie hektisch einräumten, doch so schnell, wie sie immer wieder durch den ganzen Raum flitzten, wäre es unmöglich für mich, an ihnen vorüberzuschleichen.

Einen Herzschlag lang zögerte ich, dann tat ich einen gewaltigen Satz nach vorne und rannte los. Das Kind stieß ein Lachen aus, die Frau kreischte verstört, ich zischte an ihnen vorüber. Quetschte mich hastig zwischen zwei Regalen hindurch, sprang in das Schaufenster und packte das Buch mit den Zähnen.

Die Frau kreischte wiederum, die Angestellten fuhren gleichzeitig herum.

"Hey!", schrie einer von ihnen und rannte auf mich zu, worauf ich blitzartig herumfuhr. Meine Pfoten donnerten über den steinernen Boden, meine Kiefer schlossen sich so fest um das Buch, dass ich den unangenehmen Geschmack von Papier auf meiner Zunge spürte.

"A dog! A dog!", lachte das Kind, zeigte auf mich und wollte hinter mir herlaufen, doch aus den Augenwinkeln sah ich, wie die Frau es schnell am Ärmel packte.

Ich rannte auf die Tür zu, doch sie war wieder ins Schloss gefallen und ließ sich nur nach innen öffnen.

Verdammt! Ich sprang in die Höhe, versuche, den Henkel mit den Pfoten zu packen und die Tür zu öffnen, doch meine glatten Ballen rutschten an dem Plastikgriff ab und ich sackte zu Boden.

Mein Verfolger sprang vor mich, versperrte meinen Weg und packte das Buch, das ich noch immer zwischen den Zähnen hielt.

"Lass los!", zischte er zwar energisch, musste dennoch ein wenig grinsen, als er mir meine Beute zu entreißen versuchte. Er zog daran, so fest er konnte, und meine Kiefer schlossen sich fester darum.

"Komm schon!"

Ich stieß ein Knurren aus, kniff die Augen zusammen, in der Hoffnung, ihm somit Angst einjagen zu können, doch er ließ nicht los.

Er rief unter zusammengebissenen Zähnen irgendetwas Unverständliches, woraufhin seine Kollegin herbeieilte, jedoch in einiger Entfernung stehen blieb.

"Lass ihn, sonst beißt er!", schrie sie panisch und presste sich an die Wand.

"Er hat ein Buch! Bitte hilf mir irgendwie! Lenk ihn ab!"

Die Frau warf den Kopf von einer Seite zur anderen, stieß ein hohes, beinahe hysterisches Kreischen aus und lief auf den Zehenspitzen in meine Richtung, dann lehnte sie sich plötzlich nach vorne und öffnete die Tür.

"Bist du dumm?!", rief der Mann, ich bellte: "Vielen Dank!" und rannte hinaus. Meine Kiefer schmerzten vor Anstrengung, Speichel troff aus meinem Mund, und ich rannte über die Straße, so schnell ich konnte. Ich achtete nicht auf Fußgänger, nicht darauf, wo ich hinrannte, ich rannte einfach weiter. Immer weiter.

Ich habe es!, rief ich in Gedanken euphorisch, endlich!

Von weitem sah ich eine schmale Gasse zwischen zwei hoch in den Himmel ragenden Häusern, malte mir die Ruhe aus, die ich dort zum Lesen hätte- was wiederum grotesk klingt, wenn man bedenkt, dass das die Gedanken eines Hundes waren- und beschleunigte mein Tempo.

Gerade wollte ich einbiegen, als eine Gestalt an mir vorüberzischte, sich vor mir aufbaute und mich an meinem Halsband packte. Ich machte abrupt Halt, meine Füße scharrten über den Boden und rutschten plötzlich unter meinem Körper weg, woraufhin ich unbeholfen zu Boden fiel. Meine Kiefer lösten sich unwillkürlich, das Buch fiel aus meinem Maul und landete vor meinen Füßen auf der Straße.

"Was hast du bloß angestellt? Ich habe dich gesucht!", rief Caren besorgt sowie erleichtert, bedachte mich mit einem mahnenden Blick und ließ sich dann vor mir auf die Knie sinken.

"Tu das nie wieder, hörst du?!", keuchte sie, sah mich kurz an und schlang plötzlich ihre Arme um meinen Hals. "Du hast mir solche Angst eingejagt!"

Einige Zeit verharrten wir in jener Position, ich mit etwas verstörtem Gesichtsausdruck, sie mit in meinem Pelz vergrabenen Gesicht, ohne die sie neugierig anblickenden Menschen, die vorüberschlenderten, zu beachten.

 Irgendwann ließ sie von mir ab, wollte sich erneut aufrichten und erblickte dann das Buch, das mit Hundespeichel bedeckt vor meinen Pfoten lag.

Ungläubig sah sie mich an, hob das Buch vom Boden auf und hielt es vor mein Gesicht. "Ist es das Buch? Bist du deswegen abgehauen?"

Ehe ich merkte, wie grotesk dies erscheinen musste, nickte ich, und Caren schlug sich beinahe entsetzt die Hände vor das Gesicht.

"Mein Gott", wisperte sie, erhob dann voller Erleichterung die Stimme: "Jetzt verstehe ich!"

 

 

 

Wiederkehrer

 

"Du bist auch ein Wiederkehrer, nicht wahr?"

Ihre Worte lösten dieses seltsame Gefühl von Unsicherheit und Druck in meinem Inneren auf, und plötzlich fühlte ich mich verstanden, mehr als je zuvor.

Wir saßen auf einer grasbewachsenen Anhöhe, blickten auf ein endloses Meer von Bergen, die sich in der Ferne verloren, sahen einander nicht an, starrten auf einen undefinierbaren Punkt am Horizont.

Sie wusste, was ich war, und ich wusste, was sie war. Die Erkenntnis ließ Erleichterung in mir aufsteigen, doch ich blieb zu meiner eigenen Überraschung ruhig, wurde nicht euphorisch oder sprang erfreut darüber, eine Gleichgesinnte gefunden zu haben, in die Luft. Ich blieb einfach sitzen und ließ das warme Licht der Sonne auf meinen Pelz scheinen, genoss die Ruhe jenes friedlichen Augenblicks.

Wir waren auf einer Ebene, wussten wie kein anderer, was der andere fühlte, durchgemacht hatte und noch durchmachen würde, und jeder wusste, dass auch der andere dies wusste.

"Das ist das erste Mal, dass ich einen treffe. Ich dachte, ich wäre allein."

Das dachte ich auch, Caren, murmelte ich im Stillen, blickte sie an und schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf, und ihr leises Lächeln verriet, dass sie dieses Zeichen verstanden hatte.

"Ich habe es irgendwie gewusst. In dem Moment, als ich dich gefüttert habe, ist es mir irgendwie unbewusst klar geworden, glaube ich. Irgendwie habe ich mich die ganze Zeit so... nah zu dir gefühlt. Du hast mir zugehört."

Sie lachte amüsiert. "Na ja, zuerst dachte ich, du verstehst nicht im geringsten, was ich sage, und hörst nur zu weil... weil du eben nicht anders kannst. Da habe ich mich wohl getäuscht."

Ich nickte und versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen.

"Weißt du, wann ich zum ersten Mal gestorben bin?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Vor etwa vierhundert Jahren. Ich war zweiundvierzig."

Erstaunt riss ich die Augen auf, blickte sie lange Zeit entsetzt an und spürte dann, wie sowohl Mitleid als auch Respekt in mir aufstiegen. So lange Zeit war Caren schon am Leben, unzählige Male gestorben und wiedergeboren worden, hatte verschiedenste Epochen durchlebt und Veränderungen erfahren. Und dennoch war es ihr kaum anzumerken, sie wirkte stets vernünftig, klug und lebensfroh, als wäre sie niemals ihres ewigen Lebens überdrüssig geworden. Doch irgendwo im tiefen Meer ihres klaren Blicks glaubte ich dennoch, die unbeantwortete Frage nach dem Ende zu sehen, das nie in Sicht kam.

"Seltsamerweise wurde ich beinahe jedes Mal als Mensch wiedergeboren, ein Mal als Eichhörnchen und einmal als Schaf. Völlig ohne Zusammenhang, finde ich.

Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn du den Verstand einer Erwachsenen hast und im Körper eines Säuglings steckst? Irgendwie kann ich gar nicht mehr sagen, wie alt ich bin. Ich meine, ich habe fünfmal das Sprechen gelernt- jedes Mal eine andere Sprache- fünfmal meinen ersten Schritt getan, fünfmal mit den unterschiedlichsten Kindern Verstecken gespielt, einmal selbst ein Kind aufgezogen."

Ich auch. Tintenfischkinder, dachte ich und musste lachen, doch meine Belustigung wurde bei dem Klang der Trauer in ihrer Stimme prompt weggeblasen.

Sie musste in dem Wissen leben, dass das Kind, das sie aufgezogen hatte, lange tot war, und dass sie es nie wiedersehen würde.

Es tut mir sehr, sehr leid, murmelte ich im Stillen und versuchte, diese Worte mit einem mitfühlenden Nicken zum Ausdruck zu bringen, woraufhin das Mädchen dankbar lächelte. Es war interessant, wie wir eine so tiefe Unterhaltung führen konnten, wobei nur einer von uns in der Lage war, zu sprechen.

"Genug von mir", sagte sie schnell und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wolle sie ihre Trauer wegwischen wie einen Saftfleck auf einem Tisch.

"Also, wie lange lebst du schon?"

Ich wies mit der Schnauze auf das Buch, das ich mitgenommen und schließlich neben mir in dem satten Gras abgelegt hatte.

"Zweiter Weltkrieg? War das dein erster Tod?"

Ich nickte.

"Dann hast du ja noch nicht so viel hinter dir wie ich... Trotzdem haben wir gleich viel vor uns. Ironisch, oder?"

Ich nickte.

"Wie bist du gestorben? Durch Bomben?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Hast du selbst als Soldat gekämpft?"

Ich nickte.

So unterhielten wir uns eine Ewigkeit, und obwohl ich nur nicken oder den Kopf schütteln konnte, wusste sie irgendwann so viel über mich wie kaum jemand, und es war wohl die tiefgründigste Unterhaltung, die ich je geführt hatte.

 

 

Seitdem Caren erfahren hatte, dass ich ursprünglich aus Deutschland kam, hatte sie angefangen, deutsch mit mir zu sprechen- dort hatte sie ebenfalls eines ihrer langen Menschenleben verbracht, jedoch lange bevor ich überhaupt geboren war.

Als wir den Rückweg antraten, den selben Weg nahmen wie jenen, auf dem wir gekommen waren, machte sie irgendwann vor einem sich durch die Landschaft ziehenden Bahngleis halt und blickte in die Ferne.

"Gibt es irgendetwas, was du erledigen musst?", fragte sie plötzlich, woraufhin ich sie verwirrt anblickte. Ich war ein Hund, was sollte ich schon zu erledigen haben?

"Wir sind im Jahr 1984, du bist vielleicht etwas mehr als vierzig Jahre tot. Also, ich meine... Du bist erst vierzig Jahre tot. Hast du dir keine Gedanken darüber gemacht, wo sich Verwandte oder Freunde von dir jetzt aufhalten?"

1984... Ich wäre nun also neunundsechzig Jahre alt, ebenso wie Susannah- ich riss die Augen auf, sprang plötzlich in die Höhe und konnte ein aufgeregtes, von Freude und Erleichterung erfülltes Bellen nicht unterdrücken. Die Wahrscheinlichkeit, dass Susannah noch lebte, war so hoch! Und wenn sie noch lebte, war ich sicher, dass sie noch immer in Köln wohnte. Ich musste sie finden.

Einige Zeit beobachtete Caren, wie ich freudig und aufgeregt hin-und her lief, dann grinste sie kaum merklich und murmelte: "Es gibt also doch etwas, was du zu erledigen hast?"

Ich nickte hastig und legte das Buch, das ich noch immer zwischen den Zähnen hielt, vor mir ab.

"Dann geh", flüsterte sie und ließ die Leine, die ohnehin bloß wie ein nutzloser Stofffetzen in ihrer Hand baumelte, beinahe demonstrativ auf den Boden fallen, "du hast Verstand. Du brauchst keinen Menschen, der dich an der Leine führt. Geh und tu, was immer du tun musst."

Ich schaffe das doch nicht allein!, rief ich innerlich, ich bin ein Hund! Wie soll ich ohne jegliche Hilfe nach Deutschland kommen?

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, fuhr Caren fort: "Mach es wie ich, schleiche dich auf ein Schiff. Oder ein Flugzeug, wobei das allerdings nicht leicht ist. Oder versuch, die beiden wiederzufinden, die dich gerettet haben. Wobei das auch nicht leicht ist. Die fahren oft irgendwohin, bestimmt irgendwann auch mal nach Deutschland. Irgendwie schaffst du das schon."

Ich schüttelte den Kopf, stellte mich auf die Hinterläufe und zog vorsichtig an ihrem Ärmel, doch sie blickte mich bloß mit ausdruckslosen Augen an. Sie verstand nicht, dass ich ihre Hilfe brauchte.

Aufgeregt, sie irgendwie anzutreiben versuchend wies ich zunächst mit einer Geste der Pfote auf sie, dann auf mich, dann in die Ferne.

Du musst mit mir mitkommen.

Ein leises Seufzen verriet, dass sie meine Zeichen verstanden hatte, doch sie schüttelte den Kopf. "Ach, mir ist nicht nach Reisen zumute, weißt du. Du bist noch jung, du willst die Welt sehen. Genieße die Zeit, in der's noch so ist." Sie fuhr sich durch das schulterlange, nachtschwarze Haar und sog die milde Luft ein. "Ich habe genug davon gesehen, ich bleibe hier..."

Nein!, rief ich innerlich und sprang auf und ab, du musst mit mir kommen!

Plötzlich spürte ich ein Stechen der Wut in meinem Inneren, und ich konnte nicht verstehen, was Caren da redete. Natürlich hatte sie viel durchgemacht, natürlich hasste sie es, keine Ruhe zu finden, immer wiederzukehren, und natürlich war sie mitlerweile ihres Lebens überdrüssig. Aber was nützte es, wenn sie sich für immer verkroch, versuchte, der Wirklichkeit zu entfliehen? Weder sie noch ich könnten etwas an unserem verstörenden Schicksal ändern, also wäre es doch klug, aus jedem Leben das Beste zu machen, oder?

Ich musste grinsen, als ich feststellte, wie optimistisch meine Gedanken plötzlich geworden waren. Natürlich lebte ich nicht jedes meiner Leben nach jenen Weisheiten- ich hatte mir bereits unzählige Male gewünscht, zu sterben, einfach nicht mehr aufzuwachen, doch jetzt, da ich ein Tier war, das zu mehr Dingen fähig war als etwa eine Krake, und da ich endlich ein Ziel vor Augen hatte, war ich beinahe froh über dieses weitere Leben.

Aber wie konnte ich ihr das erklären oder nahebringen?

Ihr Blick war so leer, ohne die leiseste Spur von Freude, und die einzige Gefühlsregung, die bei genauem Hinsehen zu erkennen war, war das vergebliche Verlangen, zu sterben.

Sie seufze abermals und blickte in die Ferne.

Was ist denn los, Caren?, dachte ich verzweifelt und zog leicht an dem Ärmel ihrer Jacke, jetzt bist du doch nicht mehr alleine! Wir teilen genau dasselbe Schicksal, verstehst du das nicht? Du brauchst mich!

"Komm, wir sollten zurückgehen. Alice fragt sich bestimmt schon, wo wir so lange bleiben." Sie hielt inne. "Bestimmt gibt es zu Hause schon Essen."

Kaum bemerkte ich die Ausdruckslosigkeit ihrer Stimme, stellte ich mich auf die Hinterläufe und zog spielerisch an ihrer Jacke, wedelte mit dem Schwanz und sprang vor ihr von einer Seite zur anderen. Sei fröhlich, versuch es zumindest!

"Lass das sein, du bist kein Hund!", zischte sie, entriss ihren Ärmel meinem lockeren Griff und seufzte tief.

"Komm endlich, wir müssen gehen."

Ohne mir einen weiteren Blick zu schenken, drehte sie sich herum und schritt davon, ich konnte nicht anders, als ihr mit einem widerwilligen Knurren zu folgen.

 

 

 

 

Fünf Jahre

Mein Kopf lag auf meinen Pfoten, trotzig wanderten meine Augen hin und her, ich hatte seit meinem letzten "Gespräch" mit Caren keinen Ton mehr von mir gegeben und beobachtete nun das Mädchen und ihre Adoptivmutter, die gerade zu Mittag aßen.

"Wieso hast du dir ein Buch über den zweiten Weltkrieg gekauft?", fragte Alice, und ich zwang mich selbst dazu, nicht aufzublicken. Meine Ohren zuckten neugierig, doch ich wollte nicht, dass sie mein Lauschen bemerkten- vor allem Caren. Doch mir war klar, dass sie wusste, wie gut ich ihre Gespräche verstehen konnte.

"Schule", murmelte Caren bloß, blickte ihrerseits nicht auf und schob hastig die Gabel in ihren Mund, wobei ihr beinahe ein Karottenstück zu Boden gefallen wäre.

"Du hattest doch gar kein Geld dabei, oder?"

"Doch."

Sie seufzte. "Mariko, was ist denn wieder los?"

"Nichts."

"Nichts? Es fängt doch schon wieder an. Du sitzt da, redest kaum ein Wort, starrst auf den Boden. Warum erzählst du es mir nicht endlich?"

"Was erzählen?"

"Warum du immer diese... depressiven Phasen hast. "

"Ich kann dir das nicht erklären", zischte Caren gereizt, stand auf und schlenderte auf die Tür zu. Ehe sie den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal herum und murmelte: "Ich verstehe es selber nicht."

Meine Augen wanderten abwechselnd zu der Tür, hinter der Caren verschwunden war, und ihrer Adoptivmutter, die dem Mädchen mit verzweifeltem Blick hinterhersah.

Irgendwann seufzte sie tief und blickte mich an, wie eine stille Aufforderung, sie zu unterstützen.

"Vielleicht macht ein Haustier die ganze Sache ja besser..."

Ich seufzte ebenfalls, bezweifelte jedoch, dass Alice es wahrgenommen hatte. Wenn sie wüsste, dass ich für Caren alles andere als ein Haustier war... Was mich allerdings beschäftigte, war die Frage, was ich für Caren tatsächlich war.

Als ich erfahren hatte, dass ich nicht alleine mit meinem Schicksal war, dass ihr immer wieder das Selbe wiederfuhr, hatte ich mehr Erleichterung verspürt als je zuvor, doch mir war es, als sähe sie in mir keine Hilfe, keine Zuflucht, jemanden, mit dem sie ihre Probleme teilen könnte, da sie weiß, dass es mir ebenso ergeht- irgendie war es mir, als wäre ich eine Last für sie.

Obwohl..., dachte ich dann, als ich mich daran erinnerte, wie lange sie mir Fragen gestellt und mit mir geredet hatte, nachdem sie von meinen Wiedergeburten erfahren hatte, man könnte eher sagen, sie ist ihre eigene Last.

Ich zögerte einige Herzschläge lang, überlegte. Wäre es unhöflich, Caren in ihr Zimmer zu folgen und nachzusehen, wie es ihr geht? Wäre es unhöflicher, nichts zu tun, wo sie doch genau wusste, dass ich jedes Wort, welches soeben gesprochen worden war, verstanden hatte? Wo sie wusste, dass ich wusste, wie sie sich fühlte?

Geh einfach, Kläffer, sagte ich dann im Stillen zu mir selbst, mehr als dich wegschicken kann sie ja nicht.

Gerade wollte ich ihr folgen, als sich Alice an mir vorbeidrängte und gemächlichen Schrittes die Treppe hinaufschlenderte, die zu Carens Zimmer führte. Es würde ein emotionales, von Tränen durchzogenes Adoptivmutter-Adoptivtochter-Gespräch folgen, ich ahnte es; die Mutter hatte es schließlich mit einer Frau mittleren Alters im Körper eines Mädchens im schlimmsten, anstrengendsten Alter zu tun. Andererseits wirkte Caren meistens derartig emotionslos, dass ich mich fragte, ob sie überhaupt jegliche Gefühlsausbrüche wie ein Weinen zustande bringen konnte.

Neugierig spitzte ich die Ohren, lauschte, versuchte, mich nicht zu bewegen, um keine unnötigen Geräusche zu erzeugen, dann vernahm ich die leisen Stimmen meiner "Besitzerinnen", durch die Türen und die Decke, die mich von ihrem Zimmer abschirmten jedoch so gedämpft, dass ich kaum ein Wort heraushören konnte.

Mit hängendem Schwanz und zu Boden gerichteter Schnauze wandte ich mich ab und schlenderte von der Küche in das angrenzende Wohnzimmer, wo der verschlissene Sessel, den ich mitlerweile beinahe als mein Eigentum, meinen Thron betrachtete, mich mit seinen an glotzende Augen erinnernden, halbkreisförmigen Lehnen anstarrte.

Als Hund hatte man nicht allzu viel zu tun, und wenn Caren nicht mit mir nach draußen ging- sie ging so weit, dass es den Bedürfnissen eines normalen Hundes entsprach, doch ich war zum einen kein gewöhnlicher Hund, um das mit einem Funken von Überheblichkeit anmerken zu dürfen, und zum zweiten war ich ziemlich aktiv. Zumeist rannte ich tagsüber so lange in Carens Garten umher, verfolgte hin und wieder vorüberstrampelnde Radfahrer, bis der Zaun mir zum Hindernis wurde, dass ich abends erschhöpft in diesen Sessel sank.

Aber es war tagsüber, die Sonne schien irgendwo hinter einem Schleier grauer Wolken, und ich würde mich jetzt nicht zum Schlafen in diesen Sessel legen.

Ein letztes Mal lauschte ich, um festzustellen, dass ich noch immer nichts verstehen konnte, und trabte dann zu dem Plattenspieler hinüber.

Ohne mir die Platte anzusehen reckte ich meine Schnauze, schaltete den Plattenspieler an und verschob den Tonarm mit meiner Nase, bis eine heitere, zunächst nur instrumentale Melodie erklang.

Mit der Pfote erhöhte ich die Lautstärke, unwillkürlich begannen meine Ohren im Takt der Musik zu zucken, und ich ließ mich neben dem Plattenspieler zu Boden sinken.

Someone told me long ago, there's a calm before the storm...

In Gedanken sang ich mit, als mir auffiel, dass Caren dieses Lied bereits einige Male gehört hatte und ich mitlerweile einige Zeilen auswendig wusste.

I want to know- have you ever seen the rain? Ich summte leise, neigte meinen Kopf im Takt hin- und her, blickte dann aus dem Fenster und hoffte beinahe, dass sich die Wolken wie auf einen Befehl hin ergießen würden, doch nichts geschah.

Ich sprang auf, tänzelte durch den Raum, spürte, wie der fröhliche Klang dieses Liedes in meine Pfoten überging, und hüpfte in die Küche, wo sich Caren gerade durch die Tür schob, ihr Gesicht zeugte von einem undefinierbaren Ausdruck.

"Was..." Bevor sie ausreden konnte, packte ich sie am Arm und sprang in die Luft, immer wieder, während sie mich verstört anblickte.

"Komm schon!", rief ich, wissend, dass meine Worte in ihren Ohren nur ein Bellen waren, "du magst dieses Lied doch!"

Ich sprang um sie herum, bellte, zog vorsichtig an ihrem Ärmel, bis ein kaum wahrnehmbares Lächeln über ihre Lippen zuckte.

"Da war es! Ich hab's gesehen!"

Ihr Mund begann, sich zu bewegen, dann sang sie mit, zunächst leise, dann wurde ihre Stimme immer lauter.

"Genau, du kannst es, Caren!"

Sie klatschte in die Hände, sang immer lauter, bis ihre Stimme das Lied zu übertönen drohte, und ich sah, wie sich für einen winzigen Moment ein leiser Ausdruck von Freude in ihre Augen stahl.

Lange Zeit tanzte sie durch den Raum, sang, klatschte, ich sprang neben ihr umher, bis die Musik irgendwann stoppte- doch sie tanzte weiter, klatschte in die Hände und grölte die unterschiedlichsten Lieder durch den Raum.

In diesem Moment war sie, so schien es mir jedenfalls, seit einer Ewigkeit der Trauer für einen kurzen Augenblick zu einem glücklichen Menschen geworden.

 

"Ich danke dir", murmelte sie leise, als sie neben mir auf dem alten Sessel saß und auf einen undefinierbaren Punkt in der Ferne blickte. "Was eben geschehen ist, war... Es hat mir gefallen, glaube ich."

Ich nickte.

"Es heißt immer, dass sich das Leben lohnt, wegen solcher kurzen Momente, in denen man einfach... Weißt du, was ich meine?"

Ich nickte.

"Aber das gilt nur für Leben, die auch ein Ende haben! So lange, wie wir leben werden, weißt du, so oft werden wir auch diese kurzen Glücksmomente erleben. Unendlich oft. Und irgendwann bemerkt man es nicht mehr."

Hör auf damit!, wollte ich schreien, hör auf, dir diesen kurzen Moment der Freude wieder schlechtzureden, den du eben hattest!

"Ich weiß nicht, wie du es schaffst, so fröhlich zu wirken. So war es nicht von Anfang an, oder?"

Ich überlegte kurz, dann schüttelte ich den Kopf. Nein. So war es nicht von Anfang an gewesen. Bevor ich Caren getroffen hatte, war es mir ähnlich ergangen, doch jetzt hatte ich neue Hoffnung. Die Hoffnung darauf, Susannah wiederzusehen.

Caren hat keine Hoffnung, dachte ich dann, vielleicht geht es mir in einigen Jahren genauso wie ihr.

Nein. Ich wollte nich in diesem Trott versinken, nicht von Trauer erfüllt oder so emotionslos wie ein Körper ohne Geist umherschlendern. Wenn man schon ewig leben musste, dann musste man auch zusehen, das Beste daraus zu machen- und irgendwo in meinem tiefsten Inneren flüsterte eine ferne, jedoch provozierende Stimme: "Und in dreihundert Jahren? Sagst du das dann auch noch?"

"Hör zu", murmelte Caren schließlich und riss mich aus meinen Gedanken.

"Fünf Jahre, dann kann ich... Dann werde ich dich begleiten, nach Deutschland."

Erleichterung überkam mich, gefolgt von Entsetzen. Fünf Jahre? Andererseits- wie viel waren schon fünf Jahre im Vergleich zu der Ewigkeit?

Meine Pfoten begannen bei dem Gedanken daran, Susannah wiederzusehen, unkontrolliert zu zittern, und meine Augen weiteten sich zu aufgeregten Kreisen.

"Du hast recht, ein Hund schafft das nicht alleine. Und so, wie du mir die ganze Zeit helfen willst... Na ja, ich schulde dir wohl auch meine Hilfe."

Ich blickte sie skeptisch an. Wieso dieser plötzliche Sinneswandel? Was war während ihres Gespräches mit Alice wohl vorgefallen, dass sie ihre Meinung schlagartig geändert hatte? Oder war es das Lied, das sie so glücklich gemacht hatte, dass sie von selbst umgestimmt worden war?

Vorsichtig schüttelte ich den Kopf- du schuldest mir nichts- doch ich war irgendwie erleichtert, dass sie so fühlte.

"In fünf Jahren, da bin ich volljährig, dann kann ich mit dir fliegen. Wäre ich alleine, könnte ich mich wieder auf ein Schiff stehlen, aber mit Hund... Außerdem habe ich dann Zeit, zu sparen. Hältst du es fünf Jahre lang aus?"

Ich nickte eifrig. Da wusste ich allerdings noch nicht, wie lange sich fünf Jahre ziehen würden.

Es mag seltsam klingen, aber ich vertrieb mir sehr viel Zeit mit Musik- unzählige Male schlugen Caren und ich einen Weg ein, der an einem Plattenladen vorbeiführte, und jedes Mal gab ich ihr zu verstehen, dass sie eine neue Schallplatte kaufen sollte- so lange, bis ich meine eigene Sammlung beisammen hatte.

Caren meinte immer, ich sollte aufhören, andauernd neue Schallplatten zu verlangen, da wir ja für den Flug sparen mussten, doch letztendlich sah sie ein, dass dazu noch genügend Zeit war.

Mit fünfzehn begann sie, an ihren schulfreien Tagen in einem kleinen Imbiss-Laden zu arbeiten, was ihr nicht etwa Freizeit stahl, sondern daran hinderte, für die Schule zu lernen, und am Rande bemerkte ich, wie sich ihre schulischen Leistungen so lange verschlechterten, bis sie mit sechzehn die Schule verließ.

"Es stört mich nicht", meinte sie immer mit dem Ansatz eines gequälten Grinsens, "immerhin hab' ich noch genügend Zeit, um mir mehr als eine gute Zukunft aufzubauen."

Sie arbeitete immer bis zum Nachmittag, wo genau wusste ich nicht, und die Abende verbrachte sie zumeist mit mir. Nun, da sie mehr als den halben Tag beschäftigt war, hatte sie Ablenkung, dachte- so kam es mir vor- weniger an ihr unveränderbares Schicksal, und ich glaube, alles fing tatsächlich an, sich zu bessern. Versteh das bitte nicht falsch, wer immer du bist, der das liest- wenn du Caren selbst bist, verzeih mir, falls ich deine Gefühle völlig falsch gedeutet habe- es verging kein Tag, an dem sie nicht bedauerte, was mit ihr geschah, an dem sie sich nicht den Tod wünschte, doch es gab immer mehr Momente, in denen ich ein kaum wahrnehmbares Funkeln in ihren Augen aufblitzen sah, das ihr beinahe das Gesicht eines glücklichen Menschen verlieh.

Als die Sonne an Kraft gewann und die Tage wieder heller und länger wurden, gingen wir am Abend oft zu einem abgelegenen, von sanften Hügeln umsäumten See, um zu beobachten, wie die Sonne sich langsam hinter den fernen Bergen niederkauerte und ein goldenes Licht zurückließ. Ich genoss die Ruhe dieses Ortes und lauschte dem, was Caren mir erzählte, wobei ich erleichtert feststellte, dass es hin und wieder auch Dinge beinhaltete, die sich nicht um Trauer, Einsamkeit oder Tod drehten.

Genauso oft fand ich sie jedoch zusammengekauert in ihrem Bett, das Gesicht in den schmalen Händen vergraben und das pechschwarze Haar, welches in vereinzelten Strähnen über ihre Augen fiel, von Tränen benetzt, doch jedesmal, wenn die Trauer sie übermannte, hatte sie zuvor einen fröhlichen Moment durchlebt. Außerdem konnte man ein Weinen beinahe als Verbesserung deuten, betrachtete man die Tatsache, dass sie zu Beginn keinerlei Emotionen gezeigt hatte. Einmal, nachdem ich in meinem geliebten Sessel gelegen und eine meiner Schallplatten gehört hatte, die Caren für mich aufgelegt hatte, schlenderte ich in den Garten und sah, dass sie gegen die Wand gelehnt im satten Gras kauerte und mit feuchten Augen in den Himmel blickte, der bereits von Sternen besprenkelt war. Mit vorsichtigen Schritten trottete ich zu ihr hinüber und stupste sie mit der Pfote an, woraufhin sie langsam den Kopf in meine Richtung drehte.

Sie seufzte. "Jedesmal, wenn irgendetwas Gutes passiert, freue ich mich- und später fällt mir ein, dass ich alles Gute, was ich in diesem Leben haben könnte, wieder verliere. Wenn ich nach Hause gehe, sehe ich jedes Mal eine Gruppe von Leuten in meinem Alter, also, nicht in meinem Alter, du weißt, was ich meine... die sind jeden Abend an derselben Stelle. Sie lachen und scheinen den größten Spaß überhaupt zu haben. Einer der Jungen hat mich gefragt, wie ich heiße, weil er mich wohl schon öfter gesehen hat, und ein Mädchen hat gefragt, ob ich mich nicht zu ihnen setzen will."

Während sie sprach, konnte ich die Sehnsucht aus ihrer Stimme heraushören, und ich ahnte, dass sie sich mitlerweile, da sie nicht mehr völlig in sich gekehrt und wenigstens den Ansatz eines eigenen Lebens aufgebaut hatte, nichts sehnlicher wünschte, als Freunde zu finden, ihre Freizeit mit jemandem zu verbringen, der ihr auch antworten konnte.

"Ich wäre so gerne geblieben", murmelte sie dann nach einem Zögern, als hätte sie meine Gedanken gelesen, "vielleicht hätte ich mich mit ihnen angefreundet. Ich meine, sie sind zwar jünger als ich tatsächlich bin, aber nach so vielen Jahrhunderten... Was spielt es schon für eine Rolle, wie alt man ist, wenn man sowieso ewig lebt?" Sie zögerte abermals, und ich neigte den Kopf, um ihr zu sagen, dass sie fortfahren sollte, da ich irgendwie nicht genau verstand, worauf sie hinauswollte. Auch wenn es eigentlich auf der Hand lag, wie ich im Nachhinein feststellte.

"Ich würde sie wieder verlieren. Selbst wenn ich mich mit ihnen anfreunden würde, und wenn es meine besten Freunde würden, irgendwann werden sie nunmal sterben. Im Gegensatz zu mir. " Sie hob die Hand und wischte eine Träne, die klar und glitzernd an ihrer Wange hinabrann, mit dem Daumen hastig weg.

"Was würdest du tun? Ehrlich. Ich will nicht, dass du mir etwas sagst, was du nicht ernst meinst, nur, um mich zu trösten. Würdest du nichts tun, immer allein bleiben, um niemanden und nichts hinterher zu vermissen, oder würdest du alles tun, was du willst, für den Moment leben, mit dem Risiko- na ja, vielmehr mit der Gewissheit- dass alles und jeder irgendwann nicht mehr da ist? Ehrlich."

Ich zögerte und dachte nach. Zeit heilte alle Wunden, und Caren hatte alle Zeit der Welt. So sehr sie jemanden auch vermissen mochte, irgendwann wäre die Zeit so weit vorangeschritten, dass sie sich womöglich nur noch vage an diese Person erinnern würde. Aber wenn sie das in jedem ihrer Leben durchmachte, wäre dieser Schmerz immer wieder von neuem da, doch mit ihm auch immer neue, glückliche Zeiten. Wenn sie allein blieb, wäre sie immer unglücklich... Was war also schlimmer, ununterbrochenes Unglücklichsein oder immer wiederkehrende Glücksmomente, gefolgt von einem umso größeren Schmerz?

Ich zögerte, dann nickte ich zweimal.

"Letzteres?", fragte sie, woraufhin ich abermals nickte- zuerst unsicher, dann entschlossen. Sie hielt inne, lange Zeit, und ich sah, wie sie sich diese Gedanken durch den Kopf gehen ließ- so lange, wie sie zögerte und mit undefinierbarem Ausdruck in den Augen ins Leere starrte, war ich sicher, sie würde jeden Augenblick in Tränen ausbrechen, doch dann blickte sie mich an und sagte: "Vielleicht hast du recht."

Am nächsten Tag brachte sie ein Mädchen und einen Jungen in ihrem Alter mit und stellte sie als ihre neuen Freunde vor- und ich glaube, die nächsten zwei Jahre, in denen sie beinahe ihre gesamte Freizeit mit ihren F reunden verbrachte, waren für sie die beste Zeit seit langem. Und zwar durch mich. Ehrlich, ich war stolz auf mich.

 

 

 

 

 

Der Junge im Zug

 

Schwaches, mattes Licht, das grell wurde und in den Augen brannte, sobald man den Kopf hob und in die Lampen blickte, der beißende Geruch von Kerosin und das stechende Glänzen der schmalen Gitterstäbe, gegen die ich meine Nase presste. Ich lag auf dem Boden der kalten Box, der hin und wieder vibrierte und meine übereinandergelegten Pfoten zittern ließ, während ich meinen eigenen heftigen Herzschlag spürte wie ein gewaltiges Pochen.

Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon lag- vier, fünf Stunden etwa, und erst vor einigen Minuten hatte ich aufgehört, mich nervös von einer Seite zur anderen umzublicken. Die Box war nicht eng, ich hätte mich problemlos darin aufrichten können, aber ich glaubte zu spüren, wie mich die Wände erdrückten und mir die Luft stahlen.

Der Raum stank nach Benzin, um mich herum standen einige weitere Boxen, aus denen nervöses Winseln drang, und irgendwo zu meiner Rechten kläffte ein Hund mit heller, nervtötender Stimme ununterbrochen.

In meinem Kopf schien eine Uhr zu ticken, die sich seit einer Ewigkeit im Kreis drehte, laut, mich daran hindernd, inmitten des schrillen Gebells einzuschlafen. Meine Augen wanderten zu der grauen Wand der Transportbox, verharrten einige Minuten, glitten dann zur anderen Seite.

Tick-Tack...

Wieso nahmen Urlauber ihre Hunde in ein Flugzeug mit? Natürlich, dachte ich; kein Mensch weiß, wie es sich anfühlt, Stunde um Stunde im Frachtraum zu liegen wie ein vollgepackter Koffer- abgesehen von mir. Ja, ich sah und sehe mich noch immer als Mensch an, in welchem Körper ich auch immer stecken mag. Jetzt, da ich zur Zeit ein Affe bin- sonst könnte ich das hier selbstverständlich nicht aufschreiben- fühle ich mich dennoch menschlicher als in meinen gesamten vorigen Leben.

Lange Rede, kurzer Sinn- sollte es nun noch oder in Zukunft wieder jemanden geben, der in Urlaub in ein entferntes Land fliegt: Nicht mit Hund! Es ist eine Qual für uns!

Zwei Stunden lauschte ich der Uhr in meinem Kopf- Tick-Tack... Tick-Tack... Dann spürte ich, wie meine Pfoten erneut anfingen, heftig zu zittern, und das hin-und-her-Huschen meiner Augen wurde schneller.

Ich kann nicht mehr!, schrie ich innerlich, ich muss hier raus! Verdammt, ich muss...

Ich bellte, laut und durchdringend, ohne es wirklich zu merken, und als das Geräusch an meine Ohren drang, zwang ich mich dazu, den Mund zu schließen.

Reiß dich verdammt nochmal zusammen! Du bist ein Mensch! Hör auf zu Bellen und sei still!

Mit einem Seufzen ließ ich mich auf den Bauch sinken, legte die Schnauze auf dem Boden ab und verschränkte die Pfoten darüber, um nicht in die Versuchung zu geraten, noch einmal mit dem Bellen zu beginnen.

Tick... Tack...

Es vergingen noch ein paar Stunden, in denen ich glaubte, den bisher langwierigsten, qualvollsten Tod sterben zu müssen- dann wurde ich ein wenig durchgeschüttelt, und ich glaubte zu spüren, wie das Flugzeug endlich auf dem Boden aufsetzte.

Endlich!

Meine Ohren stellten sich auf, meine Augen weiteten sich, und bei jedem Geräusch glaubte ich, Caren käme durch die Tür geeilt, um ich aus meinem Elend zu befreien- doch ich sollte noch einige Zeit in der Box bleiben, hin und her transportiert und begutachtet werden, ehe sie mich abholen konnte.

Als die Box endlich geöffnet wurde, schnellte ich heraus, stieß ein freudiges Bellen aus und wedelte unwillkürlich voller Erleichterung mit dem Schwanz, woraufhin Caren grinsend murmelte: "Du bist Transportboxen nicht gewöhnt, was?"

Wir verloren nicht mehr Zeit als nötig, um unser Gepäck- es bestand aus lediglich zwei Koffern- wiederzubekommen, denn irgendwie spürten wir beide, dass der jeweils andere schnellstmöglich dieser erdrückenden Menge von Menschen entfliehen wollte. Überall herrschte ein Gedränge, in dem ich glaubte, von allen Seiten zerquetscht zu werden- überall Beine und Füße, wohin ich auch blickte; ich sah nur Jeans, Röcke und Schuhe, die mit hastigen Schritten und klackenden Lauten an mir vorübereilten, jeder in eine andere Richtung.

Das dicke Lederhalsband scheuerte unangenehm an meinem Hals, als ich mit gesenktem Kopf neben Caren hertrottete- sie hielt die Leine kurz, sodass meine Flanke beinahe ihr Bein strich, vermutlich, um wie ein gewöhnlicher Hundebesitzer auszusehen und kein Aufsehen zu erregen. Hat sie vergessen, dass ich- obwohl ich im Moment ein Hund bin- weiß, wie man sich in einer großen Menge von Menschen zu verhalten hat? Dass ich nicht plötzlich losrenne und kläffend irgendeiner alten Frau den Mantel zerrupfe?

Ich glaube, in dem Augenblick hatte sie es tatsächlich vergessen.

Sie schritt schweigend neben mir her, bewegte sich elegant in ihren flachen Schuhen und dem schwarz-weißen Hemd, dessen Enden sie locker in die dunkle Jeans gesteckt hatte. Sie fiel überhaupt nicht auf inmitten der unzähligen Menschen, sie sah aus wie ein normales Mädchen, das erst vor vier Tagen seine Volljährigkeit erreicht hatte. Na ja, dachte ich, als ich kurz aufblickte und den scheinbar absichtlich starren Gesichtsausdruck studierte, sie wirkt älter. Ihr Gesicht sieht so... vernünftig aus. Und weise, und erfahren.

Natürlich, dachte ich dann, und müsste über mich selbst lachen. Ein wenig älter als achtzehn war sie ja tatsächlich. Und keiner wusste es. Keiner der Vielen, die durch das Gebäude schlenderten wie viele Wellen durch einen gewaltigen Ozean schwappten, hätte auch nur ahnen können, dass dieses Mädchen womöglich einst die Freundin seiner Ur-Ur-Großmutter gewesen sein könnte.

Ihre Stimme riss mich aus meinen Gedanken: "Also, von hier aus etwa eine Viertelstunde zum Bahnhof, dann kommt irgendwann unser Zug nach Köln", murmelte sie und stellte kurz einen der Koffer ab, um sich das nachtschwarze Haar hinter die Ohren zu streichen.

Wir sind nicht in Köln?, fragte ich mich selbst verblüfft und spürte einen Anflug von Bedauern. Als ich nach unzähligen Stunden endlich aus der Box hinaus in die Freiheit gestürmt war, war ich von Erleichterung erfüllt gewesen- Erleichterung darüber, dass diese lästige innere Uhr verstummt war. Und jetzt? Jetzt ging die Reise noch weiter. Klasse.

Caren hatte die Transportbox einfach stehen lassen, da sie uns, wie sie meinte, nur zur Last fallen würde, worüber ich einerseits froh, andererseits auch skeptisch war.

Und wie stellst du dir das bitte im Zug vor?, dachte ich und blickte sie vorwurfsvoll an, woraufhin sie antwortete, als hätte sie meine Gedanken gelesen: "Keine Sorge, du kommst nicht wieder in eine Box. In den Zug darfst du so mit rein, ich habe mich vorher erkundigt."

Ich glaubte, zu hören, wie ich erleichtert ausatmete, und ein leises, mitfühlendes Grinsen, das über Carens Gesicht huschte, sagte mir, dass sie es auch gehört hatte.

 

"Bis jetzt läuft alles gut", murmelte Caren und sah mit nachdenklichem Blick aus dem Fenster, wo dunkle, undefinierbare Silhouetten vorüberzogen wie ein einziges breites Band, "aber irgendwie habe ich Angst."

Wovor?, fragte ich mich und hoffte, dass mein übertrieben neugieriger Blick dasselbe sagte.

"Du weißt, dass ich dich nach zwei Wochen wieder verlassen werde."

Ich nickte langsam, und erst jetzt, da Caren es aussprach, wurde mir klar, dass ich diesen Gedanken bisher immer in die verborgendsten Tiefen meiner Gedanken verdrängt hatte, als hoffte ich, sie so länger bei mir halten zu können.

"Ich habe Angst, dich allein zu lassen. Wenn wir sie bis dahin nicht gefunden haben..."

Sie wollte weitersprechen, doch meiner Kehle entrang sich ein beinahe empörtes Knurren und ich schüttelte den Kopf, woraufhin sie abrupt stockte.

"Du wirst sie finden, schon klar. Das glaube ich auch. Dass du sie irgendwann finden wirst. Aber was, wenn du sie noch nicht gefunden hast, wenn ich zurückfliege? Wo gehst du dann hin? Ich sehe, dass es das Letzte wäre, was du tun würdest, mit mir zurückzufliegen und dich damit abzufinden, sie nicht gefunden zu haben."

 

 

 

Ich sah sie mahnend an und hoffte, dass mein Blick sie dazu zwang, leiser zu sprechen, denn sie hatte scheinbar ohne es zu merken ihre flüsternde Stimme erhoben, und vereinzelte Menschen wandten ihr den Kopf zu. Wir saßen in einem geräumigen Abteil mit zwei Reihen von jeweils acht Sitzen, sodass man jenen auf der gegenüberliegenden Seite direkt in die Gesichter blicken konnte, doch ich sah, dass Caren dies stets vermied- entweder sah sie aus dem Fenster, beobachtete die vorüberziehenden Wolken, oder blickte zu mir hinunter. Jetzt allerdings wanderten ihre Augen von einer Seite zur anderen, als sie sah, dass zwei ihr gegenübersitzende Kinder kichernd zu tuscheln begonnen hatten und ihr dabei immer wieder vielsagende Blicke zuwarfen. Es war ihr nicht peinlich, glaube ich, denn trotz aller Probleme, die sie hatte und die sich nun einmal nicht leugnen ließen, hatte Caren ein unglaubliches Selbstbewusstsein, und sie hatte Mut. Ob das ihr Grundcharakter war oder nur eine Eigenschaft, die ihr "Wirtskörper" mit sich brachte, wusste ich allerdings nicht.

"Mach' dir nichts aus den Rotzlöffeln", ertönte plötzlich eine Stimme, und ich sah aus den Augenwinkeln- ich blickte mich absichtlich nicht um, da ein gewöhnlicher Hund dies mit Sicherheit auch nicht getan hätte- wie sich jemand von seinem Sitz erhob und neben Caren mit einer Selbstverständlichkeit niederließ, als wäre er dazu aufgefordert worden.

"Es is' ja nix dabei, mit seinem Hund zu quatschen, ich meine, wer macht das nicht? Das brauchen die doch." Flüchtig ließ ich meinen Blick zur Seite wandern und sah, dass es ein junger Mann war, nur wenig älter als Caren selbst, mit dunkelblauen Augen und bräunlichem Haar, das für eine Kurzhaarfrisur eigentlich bereits zu lang war. Er lehnte sich mit einem Grinsen, dessen Ausdruck ich nicht deuten konnte, in seinem Sitz zurück und schlug die in eine löchrige Jeans gezwängten Beine übereinander, und ich sah, wie Caren mir kurz den Kopf zuwandte und die Augen verdrehte.

Sei nicht so stur, dachte ich belustigt, es ist doch nichts gegen ein wenig Gesellschaft einzuwenden.

"Also, wohin geht die Reise?"

"Nach Köln".

"Nicht so schüchtern!", lachte er, "ein paar Details, bitte. Fährst du wen besuchen? Oder machst du Urlaub?"

"Wir besuchen eine Bekannte von... eine alte Bekannte."

"Wir?"

"Er... mein Hund und ich."

"Oh, klar. Dein Gesprächspartner." Bei diesen Worten warf Caren sofort verärgert den Kopf zurück und übersah so das verspielte Grinsen in dem nun beinahe kindlich wirkenden Gesicht des jungen Mannes.

"Tut mir leid, dass ich meinen Hund beruhigen muss, wenn er im Zug nervös wird!", zischte sie, und sofort huschte ein erschrecktes Zucken über sein Gesicht.

"War nicht ernst gemeint, 'tschuldigung. War es echt nicht."

"Schon gut", murmelte sie dann, und nie zuvor war die aufkommende Gereiztheit in ihrem Gesicht so deutlich gewesen, was den Jungen allerdings nicht sonderlich zu stören schien, während Caren fortfuhr: "Haben Sie keine Freunde, mit denen Sie sich unterhalten können?"

Ich erschrak innerlich. Eine so schnippische, abweisende Frage, dazu dieses genervte Verdrehen der Augen, entsprach überhaupt nicht dem freundlichen, eher ruhigen Charakter, den Caren in den letzten Jahren entwickelt hatte. Zu Beginn unserer "Bekanntschaft" hatte sie hin und wieder etwas gereizt gewirkt, was jedoch immer mit ihrer Trauer und dem Lebensüberdruss entschuldigt werden konnte. Doch seit schon einiger Zeit glaubte- wusste- ich, dass sie sich besser fühlte, und seit jeher hatte sie auch jede Spur von Gereiztheit oder gar Kälte abgelegt. Das, was sie hier tat, war überraschend, schockierend.

"Doch", entgegnete er bloß und ignorierte den aggressiven Unterton in ihrer Stimme, "aber die meisten davon sind nicht weiblich."

"Hören Sie, ich habe nicht..."

Er unterbrach sie: "Chris, nenn' mich Chris, bitte. Oder Christian, wenn's unbedingt sein muss. Aber nicht Sie. Sonst fühle ich mich so alt." Er grinste abermals amüsiert, und ich fragte mich, wie alt er tatsächlich war- dieses verspielte, fast herausfordernde Lächeln zeigte deutlich das Gesicht eines Jungen, wie er es vor wenigen Jahren noch gehabt hatte. Er war nicht mehr als ein, zwei Jahre älter als Caren selbst, vermutete ich.

Bei dem Klang seines Namens zuckte das Mädchen kurz zusammen, und ich sah einen leisen, für einen Herzschlag aufblitzenden Ausdruck der Trauer in ihren Augen aufblitzen- welches Bild auch immer gerade in ihr Gedächtnis getreten sein mochte, es war nicht das erste Mal, dass sie diesen Namen hörte.

"In Ordnung. Ich... Ich heiße Mariko."

Zunächst war ich verwirrt, doch dann erinnerte ich mich- der einzige, für den dieses Mädchen Caren war, war ich, und für alle anderen war sie Mariko.

"Interessanter Name. Woher kommst du also? Aus Japan?"

Sie unterhielten sich noch eine Ewigkeit, und irgendwann hörte ich auf, dem Gespräch zu lauschen, denn es fing an, uninteressant zu werden. Jedenfalls nicht interessant genug, als dass ich meine müden Augenlider krampfhaft dazu gezwungen hätte, nicht herunterzuklappen.

Der Boden unter mir vibrierte leicht, aber angenehm, und schien immer weicher zu werden, wie eine warme Matratze- dann wurde alles um mich herum weich und dunkel, und die leisen Stimmen verschwammen. Das Letzte, was ich am Rande wahrnahm, war die Hand des Jungen, die etwas aus seiner Jackentasche herauskramte- es sah aus wie ein kleines Stück Papier-, etwas daraufkritzelte und es schließlich Caren reichte. Danach wurde alles schwarz.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Köln

Es war dunkel, als der Zug irgendwann mit einem unangenehmen Rumpeln anhielt, das mich aus meinem Schlaf riss. Mit einem müden Blinzeln drehte ich träge den Kopf und blickte in Carens beinahe ungeduldige, sich aber ebenso nach Schlaf sehnenden Augen, während sie mich nicht allzu sanft anstieß und irgendetwas Unverständliches sagte. Dann war es also doch nicht der Zug gewesen, der mich geweckt hatte.

"Wach auf", zischte sie, "wir müssen aussteigen.

Sofort wandte ich den Kopf und sah nach, ob Caren mitlerweile allein war oder sich noch immer mit dem Jungen, Chris, unterhielt, und stellte belustigt fest, dass er nach wie vor in dieser entspannten Haltung und mit funkelndem Blick neben ihr saß.

Lange hat Caren ja nicht gebraucht, um neue Bekanntschaften zu schließen, dachte ich und musste ein gehässiges Lachen unterdrücken, das wahrscheinlich nur wie ein ersticktes Bellen aus meinem Hundekörper gedrungen wäre. Aber komm bloß nicht auf die Idee, dir einen neuen Begleiter zuzulegen und mich zu vernachlässigen.

Mit einem wohligen Gähnen streckte ich meine steifen, von dem leichten Vibrieren des Zugs ununterbrochen massierten Hinterläufe und stand dann auf, während ich Chris sagen hörte: "Denk' dran, wenn du Gesellschaft brauchst..." Er hob die Hand zu seinem Ohr, als wolle er ein Telefongespräch darstellen, und lächelte dann wieder dieses beinahe spielerische Lächeln eines Kindes, das einen Altersgenossen zum Wettrennen herausfordert. Caren nickte dankbar, ihr Blick wirkte jedoch distanziert, was ihr eher den autoritären, abschreckenden Ausdruck einer strengen Leherin verlieh als den eines Mädchens, dem man freiwillig seine Telefonnummer gibt.

Ist auch besser so, dachte ich dann im Spaß, und während ich es dachte, fiel mir auf, wie egoistisch sich diese Gedanken anhören mussten, schließlich soll sie ja nicht abgelenkt sein, wenn wir nach Susannah suchen. Hier geht's um meine Liebesgeschichte, da braucht sie nicht auch noch eine.

Sie sah zu mir herab und nickte abermals, beinahe so, als hätte sie meine Gedanken gelesen, und zog dann leicht an der Leine. Ich folgte ihr mit einem erleichterten Seufzen, blickte jedoch noch einmal zu Chris zurück und sah, dass er Caren so lange hinterhersah, bis wir in einem anderen Abteil und somit aus seinem Blickfeld verschwunden waren.

Einige Leute drängten sich um die Tür, die sich geräuschlos öffnete, doch dieses Mal schien Caren nicht darauf bedacht zu sein, sich zurückzuhalten und kein Aufsehen zu erregen. Beinahe rücksichtslos drängte sie sich durch die Menschen, zog mich hinter sich her, während sie die Koffer, die sie in beiden Händen trug- unabsichtlich oder nicht, konnte ich nicht sagen- wie Schutzschilde vor sich hielt.

"Komm!", drängte sie mich, während ich ebenfalls versuchte, mir einen Weg durch die unzähligen Beine zu bahnen, die sich innerhalb sowie außerhalb des Zugs tummelten.

Es fühlte sich gut an, als die kühle Nachtluft- wenn auch durchzogen vom schalen Geruch nach Abgasen- mein Gesicht streifte und in meine Nase drang, und ich atmete einmal tief ein. Im Zug war es warm gewesen; in dem Moment, da mich diese Wärme in den Schlaf gewogen hatte, nicht unangenehm, aber jetzt, da ich die beinahe frische Luft der Außenwelt spürte, war ich dennoch erleichtert.

"Oh, diese Ruhe!", seufzte Caren und fuhr sich ebenfalls erleichtert über die Stirn, "ich dachte, ich kann nie wieder aufhören, mir Geschichten über meine Vergangenheit auszudenken!"

 

Ich blickte sie an und wartete, dass sie vorausging, doch sie blieb stehen und starrte auf irgendeinen undefinierbaren Punkt in der Ferne.

"Uns läuft die Zeit davon, Black."

Mich verstörte dieser Name. Und sie eigentlich auch, glaube ich, und sie benutzte ihn eigentlich sehr selten. Aber es war das einzige, was annähernd der Realität entsprach- sie hatte mich nach meinem Namen gefragt, und ich hatte versucht, mit der Pfote meinen Vornamen in den Sand zu schreiben, doch irgendwie ließen die motorischen Fähigkeiten eines dreibeinigen Schäferhundes es nicht zu, und das Beste, was mir eingefallen war, war, mit der Schnauze auf etwas Schwarzes zu zeigen, sodass sie wenigstens meinen Nachnamen wusste. Zugegeben, "Schwarz" ist ein verdammt bescheuerter Name für einen Hund, die englische Version klang doch etwas angenehmer, zumal, wenn sie in der Öffentlichkeit nach mir rief.

Es war ein Buch mit schwarzem Einband gewesen, auf das ich gezeigt hatte.

"Willst du lesen?", fragte Caren verwirrt, und ich schüttelte den Kopf. Im Nachhinein frage ich mich immer, wie zwischen uns überhaupt der Ansatz von Verständnis herrschen kann, wo uns- na ja, mir- doch eigentlich jedes notwendige Mittel, eine halbwegs sinnvolle Kommunikation zu führen, fehlt.

Ich schüttelte den Kopf und zeigte auf die untere Ecke des Einbands, wo keine Schrift, sondern nur schwarze Fläche war.

"Was willst du mir sagen? Das ist ein Lexikon. Willst du etwas darin suchen?"

Wieder schüttelte ich den Kopf, hob die Pfote und zeigte ungeduldig auf die Fläche.

"Was..." Sie kniff verwirrt die Augen zusammen und rieb sich die Augen, als könnte sie so besser erkennen, was ich ihr zu zeigen versuchte.

"Der Einband?"

Ich nickte.

"Was ist damit?"

Meine Pfote zeigte auf die Fläche.

"Er ist aus Pappe, er... Herrgott, was willst du?!"

Stille.

"Er ist... ein Rechteck, er ist fest, er ist schwarz..." Ich bellte laut auf, als sie das Wort aussprach, und sie blickte verwirrt an die Decke. "Schwarz? Ist es das, was du suchst?"

Ich nickte.

"Gut, und was ist damit?"

Ich hob die Pfote und zeigte auf mich.

"Du bist schwarz?"

Ich schüttelte den Kopf und nickte zugleich.

"War deine Hautfarbe schwarz, als du noch... Nein, kann nicht sein. War..." Sie zögerte. "Dein Name?"

Erleichterung durchfuhr mich, und ich nickte eifrig, woraufhin auch in Carens Augen ein leiser Funken der Erleichterung aufglomm. "Ich nehme an, es war dein Nachname."

Genau.

"In Ordnung. Schwarz... Black. Ich nenne dich Black, in Ordnung? Blacky, ein gängiger Hundename", sagte sie, nicht ohne einen etwas gehässigen Ton in ihrem leisen Lachen. Nach einem kurzen Zögern nickte ich beinahe trotzig, aber ich wusste, sie müsste mir irgendeinen Namen geben, und so schlecht klang dieser Name auch nicht... Nun ja, für einen Hund, und ich war nunmal kein Mensch mehr. Jedenfalls nicht äußerlich. Und inzwischen- nach ein paar Jahren- hatte ich mich beinahe daran gewöhnt, Black oder hin und wieder sogar Blacky genannt zu werden.

"Uns läuft die Zeit davon", wiederholte sie noch einmal mit demselben abwesenden Ausdruck in ihren Augen, woraufhin ich am Saum ihrer Jacke zog, um sie zur Eile anzutreiben. Wenn uns die Zeit davonlief, sollten wir uns doch schnellstmöglich auf den Weg zu diesem Hotel machen, oder?

Ich hoffte, es wäre nicht allzu weit weg, denn ich war müde- auf der anderen Seite brauchte ich Bewegung nach diesem unendlichen Herumliegen, zunächst im Flugzeug, dann im Zug, und ich spürte eine beißende Aufregung in meinem Inneren, als ich daran dachte, endlich wieder durch Köln laufen und sehen zu können, was sich alles verändert hatte.

Vielleicht will ich es gar nicht wissen...

Doch, ich wollte es wissen, auch wenn ich mit aufsteigender Nervosität daran dachte, was sich alles verändert haben mochte. Wenigstens stand die Stadt noch, so viel war sicher, aber dass all die Häuser, die ich in meiner Jugend gekannt hatte, nicht mehr existierten, dessen war ich mir ebenso sicher.

"Also dann, auf zur Straßenbahn", sagte Caren irgendwann, und meine Kiefer klappten voller Enttäuschung herunter.

Ich folgte Caren widerwillig, versuchte aber immer, einen Blick auf meine Umgebung zu erhaschen, doch es war dunkel und überall um mich herum bahnten sich Menschen einen Weg durch... Durch was eigentlich?

Ich konnte nicht sagen, wo wir waren, plötzlich befanden wir uns in einem Gebäude, das trotz der sehr frühen Zeit sehr belebt war, und ich sah nichts als Beine, die hin und wieder nur knapp an meinem Gesicht vorüberstreiften. Es musste das Bahnhofsgebäude sein, etwas anderes konnte ich mir- vor allem so nah am Bahnhof- nicht vorstellen, aber es sah so... anders aus. Komisch. Nicht nach der Stadt, in der ich einst gelebt hatte. Ich sah an die Decke und musste die Augen zusammenkneifen, als ich direkt in den grellen Schein einer Lampe starrte, und wandte den Blick ab. Mein Kopf drehte sich ruckartig zur Seite, und einen Herzschlag lang konnte ich durch eine winzige Lücke zwischen zwei Menschen nach draußen blicken.

Meine Pfoten begannen, zu zittern, und in meinem Inneren schien eine Flamme aufzugehen, eine Mischung aus unbändiger Freude, die beinahe Verzweiflung wich, und Heimweh. Ich sah nichts als Stein, als ich nach draußen blickte, eine riesige, massive Wand, jedoch mit so unverkennbaren Ornamenten geziert, dass ich für eine Sekunde glaubte, ich wäre wieder der Junge, der beinahe jeden Abend mit seiner Freundin hier entlangspaziert war, um sich vor dem Dom mit seinen Altersgenossen zu treffen.

Susannah... Ich sah wieder ihr Gesich vor meinen Augen, dieses süße Lächeln, hörte ihr fröhliches Lachen und ihre schüchterne Stimme...

"Kommst du?", riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken, die zwar weiblich, aber definitiv nicht die von Susannah war. Ich drehte den Kopf und sah, dass Caren ungeduldig an der Leine zog, und bemerkte erst jetzt, dass ich stehengeblieben war. Ich stand einfach inmitten der unzähligen Menschen und starrte mit verträumtem Blick in die Richtung, wo ich soeben noch den Dom gesehen hatte, der jetzt wieder von den Umherschlendernden verdeckt wurde.

Schon gut... dachte ich und ertappte mich selbt dabei, wie ich einen Anflug von Wut verspürte, weil Caren mich aus meinen Tagträumen riss. Doch ich wusste, je schneller wir alles hinter uns brachten, je schneller wir ankamen, desto eher würde ich Susannah wiedersehen.

 

 

"Komm!", zischte Caren und hielt mich davon ab, wiederum in einem Traum zu versinken, und dieses Mal folgte ich ihr bereitwillig.

Wir eilten eine Treppe hinunter- so sehr man inmitten der vielen Menschen eilen konnte- und warteten lange, bis die Bahn ankam. Einige Zeit fuhren wir im Dunkeln, und meine Augenlieder fielen mehrmals zu, doch plötzlich, als ich das Licht- nicht das am Himmel, denn die Sonne war noch nicht aufgegangen und man sah nur einen rötlichen Schimmer, der noch immer dunkel war, sondern das der unzähligen Laternen, Fenster und Reklametafeln- auf meinem Gesicht spürte, wurde ich abermals von Aufregung gepackt.

Obwohl es so früh war, sah man vereinzelte Menschen auf den Straßen, und alles war grau und bunt zugleich- die grellen Lichter, die von beinahe jedem Gebäude strahlten und die Straßen in einen Regenbogen zu verwandeln versuchten, erinnerten an ein Feuerwerk, aber der graue Stein auf den Straßen und die kargen Häuser wirkten irgendwie... trostlos. Zumindest in manchen Straßen, wo sich die Gebäude aneinanderdrängten wie Menschen auf einer überfüllten Veranstaltung.

Andere Straßen allerdings- ich weiß selbst nicht, wo der Unterschied lag, aber er war da- wirkten perfekt, fast schon malerisch, weil die Farben oder die Formen der Häuser oder die Anordnungen jeglicher Gebäude miteinander harmonierten. So sehr ich die Natur liebte, wegen all ihren Geräuschen und dem Geruch nach Freiheit, der immer in der Luft lag- ich wusste, ich hätte die Stadt gemocht, wäre sie nicht vor langer Zeit meine Heimat gewesen. Keins der Gebäude- bis auf den Dom natürlich-, keine der Straßen kam mir nur im Geringsten bekannt vor, und mir kam ein seltsamer Gedanke. Entweder war die Stadt um einiges gewachsen, was ich mir zwar vorstellen konnte, doch ich glaubte nicht, dass diese Straßen, die nicht allzu weit vom Dom entfernt waren, nachträglich hinzugefügt worden waren, oder sie war zu großen Teilen neu aufgebaut worden. Das würde bedeuten, sie wurde zerstört, vermutlich im Krieg, womöglich sogar kurz nach meinem Tod, und das könnte bedeuten... Nein!, rief ich innerlich, das bedeutet gar nichts. Wie lange ist es her, dass ich hier war? Fast fünfzig Jahre. Natürlich erinnere ich mich nicht mehr an alles, ich habe so viel gesehen in der Zeit. Und natürlich wurden auch einige Dinge umgebaut, Häuser eingerissen, neue Straßen...

Ich schüttelte den Kopf. Ich durfte nicht zu viel denken. Ich musste Susannah sehen. Denn bevor ich sie nicht gesehen hätte, würde ich mir die verrücktesten, haarstreubendsten Dinge ausmalen, die geschehen sein könnten... Hätte sie ihr Versprechen gebrochen, wenn sie... Nein, denn ich war tot. Andererseits war ich nicht tot, nicht wirklich, aber sie wusste es nicht. Wäre sie es überhaupt schuld...?

Es waren diese Gedanken, die mich wachhielten, und die verschiedenen Aussichten, doch ich sah nichts Vertrautes. Irgendwann stiegen wir schließlich aus, wobei Caren aussah, als würde es sie mitlerweile anstrengen, die beiden Koffer zu tragen und mich gleichzeitig an der Leine zu halten, und ich gebe zu, ich hatte keine Ahnung, wo wir waren. Hätte ich nicht gewusst, dass wir uns in Köln befanden, hätte ich es vermutlich auch nicht erraten können.

Wieder stiegen viele Menschen hinter uns aus, wieder waren wir für kurze Zeit umzingelt, doch Caren flüchtete schnellen Schrittes in die nächtse Straße und zog mich rücksichtslos hinter sich her. So ungeduldig hatte ich sie nie erlebt, glaube ich, doch ich vermutete, dass sie einfach aufgeregt war. Und ich schätze auch, dass diese Aufregung nicht daran lag, dass sie mit gerade achtzehn Jahren allein in ein fremdes Land gereist war...

Als wir die Menschen, die sich wie Staub im Wind in alle Richtungen verteilten, schliechlich hinter uns gelassen hatten, schlenderten wir durch die Straßen, denn ich blieb unzählige Male stehen. Neue Gerüche strömten von allen Seiten auf mich ein, meine Ohren zuckten bei jedem Geräusch- und es waren viele Geräusche; eigentlich gab es selbst zu dieser frühen Zeit keinen völlig stillen Augenblick- und ich schaute ständig von einer Seite zur anderen, ohne mich darum zu bemühen, mit Caren schrittzuhalten, woraufhin sie immer wieder ungeduldig an meiner Leine zog.

"Komm, du willst doch heute noch ankommen", flüsterte sie lächelnd, aber drängend.

Unbewusst senkte ich den Kopf, als ein intensiver Geruch an meine Nase drang, und begann, an einem Laternenpfahl zu schnüffeln. Meine Sinne schienen verschwommen, ich merkte gar nicht, was ich tat, dachte nur: "Fremder Hund... Revier markiert... Muss Geruch überlagern..." Dann stach mir wieder ein Geruch in die Nase, diesmal saurer und beißender, und plötzlich zuckte ich erschreckt zurück und schüttelte angewidert den Kopf. Habe ich gerade tatsächlich an Hundepi...

Oh Gott, dachte ich, du wirst noch zu einem richtigen Hund!

Caren sah mich an, konnte ein amüsiertes Lächeln nicht zurückhalten und schüttelte belustigt den Kopf, ehe sie ihren Weg fortsetzte.

Ich folgte ihr und hüpfte, so schnell ich auf meinem Hinterbein hüpfen konnte, von der Laterne weg- die Stelle, wo sich das andere Bein hätte befinden sollen, schmerzte ein wenig von dem langen Herumliegen, ein unangenehmes, wenn auch leichtes Ziehen dort, wo eigentlich gar nichts war, das hätte ziehen können.

"Wir haben sieben Uhr, ich denke nicht, dass wir schon in das Hotel reinkommen", sagte Caren, "ich glaube, erst gegen acht..."

Was machen wir so lange?, fragte ich mich selbst im Stillen, hörte ein lautes Knurren in meinem Bauch und fügte hinzu: Ich will Essen.

"Sobald die Geschäfte offen haben, gehen wir auf die Suche nach allem, was wir brauchen. Dazu gehört auf jeden Fall..."

Hundefutter.

"...Ein Telefonbuch. Du kennt ihren Nachnamen, richtig?"

Ich nickte, Caren ebenfalls, dann gingen wir weiter, und irgendwie trieb mich der Klang von Susannahs Namen- auch wenn sie ihn nicht ausgesprochen hatte, hörte ich ihn plötzlich dennoch in meinem Inneren- zur Eile an.

Wir legten den Rest der Strecke schweigend zurück. Und die Strecke war noch recht weit.

Irgendwie bekam ich nicht mit, wie viel Zeit überhaupt verging, da ich ununterbrochen damit beschäftigt war, nach irgendwelchen vertrauten Gebäuden Ausschau zu halten- das einzige, was ich hin und wieder erblickte, wenn wir über eine etwas erhöhte Brücke oder Straße gingen, waren die unverkennbaren Spitzen des Doms, die jedes Mal aufs Neue ein seltsames Gefühl von Sehnsucht in mir hervorriefen- doch irgendwann fiel mir auf, dass das dunkelrote Leuchten am Horizont einem hellen Gelb, dann dem sanften Blau eines wolkenlosen Sommerhimmels wich.

Als wir schließlich das Hotel erreichten, nach unendlichem Hin-und Herlaufen, stieß ich bloß ein erleichtertes Seufzen aus. Es war kein sonderlich auffälliges Gebäude, plötzlich stand es an der Seite, zwischen einigen anderen Gebäuden, die von ebenso schlichtem Aussehen waren.

"Es ist besser, als es von außen aussieht", sagte Caren, "ich glaube, die Zimmer sind recht groß. Aber denke nicht, dass ich unser ganzes Geld für irgendein L uxushotel ausgegeben habe. Hier gibt es Betten und Essen, das reicht ja für unseren Aufenthalt."

Mit anderen Worten, dachte ich mit einem Anflug von Enttäuschung und Überraschung, wir müssen die nächsten zwei Wochen in einer gammligen Hütte verbringen...?

Ich folgte Caren nach drinnen, sie tat so, als hielte sie mich mit kurzer Leine davon ab, die Möbelstücke zu markieren, als wir durch den kurzen Flur zur Rezeption schritten. Vorher war Caren eher geschlendert, und jetzt, da sie wieder in der Nähe von von Voreingenommenheit geprägten Menschen sein könnte, schritt sie wieder elegant.

An der Rezeption saß ein gedrungener älterer Mann mit rundem Gesicht, der Caren entgegengrinste wie jemand, der einen lange ersehnten, alten Freund begrüßt.

Während sie kurz einige Worte sprachen und die Zimmerschlüssel übergeben wurden, blickte ich mich neugierig um, sog einige Male die Luft ein- und war angenehm überrascht. Die Wände waren weiß gestrichen, doch der warme Holzboden und die rötlich-gelben Vorhänge vor dem großen Fenster verliehen dem gesamten Raum ein orangefarbenes Leuchten, und in einer Ecke stand ein massiver Holztisch vor einem gewaltigen, recht wertvoll aussehenden Regal.

Es war vielleicht kein Luxushotel, aber entsprach nicht dem ersten Eindruck, den die äußere Fassade hervorrief.

Sie zog kurz an der Leine, die sie um ihr Handgelenk gebunden hatte, da ihre Hände die Koffer hielten, und ich folgte ihr unter dem etwas verstörenden Grinsen des alten Mannes- er sah uns an, als würde er uns, oder zumindest Caren, seit einer Ewigkeit kennen- eine Treppe hinauf, die in einen weiteren Flur führte.

"Vier, vier...", murmelte Caren leise vor sich hin und blieb schließlich vor einer Tür mit eben jener Aufschrift stehen. "Da wären wir."

 

 

 

 

Der Fluss war derselbe

 

Kaum hörte ich das vertraute Knacken, als Caren den Schlüssel im Schloss herumdrehte, dann zwängte ich mich ungeduldig an ihr vorüber und eilte in das Zimmer. Ich wollte nur noch essen und etwas schlafen. Eigentlich hatte ich im Flugzeug und im Zug genügend herumgelegen und auch geschlafen, aber es war diese unangenehme Art von Liegen gewesen, nach der man zunächst das Bedürfnis hatte, einfach davonzurennen, so lange zu laufen, bis die Beine unter einem nachgaben, letztendlich allerdings noch immer müde und nicht im geringsten ausgeruht war.

Im Zimmer empfing mich zunächst ein schmaler Flur, an dessen einer Seite sich die Tür zum Badezimmer, auf der anderen eine Garderobe empfand, und vor mir, auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite, führte eine gläserne Tür auf einen schmalen Balkon, der einen romantischen Ausblick auf...

Der Rhein!, rief ich in meinen Gedanken, stürmte, ohne den Rest des Zimmers eines Blickes zu würdigen, auf das Fenster zu un sprang schwanzwedelnd auf und ab, bis mein Hinterbein, das zwar kräftig, aber zu dünn war, um einen ganzen Hund tragen zu können, unter mir wegrutschte.

Schnell warf ich mich nach vorne und fing mich im letzten Moment mit den Vorderpfoten auf, sodass sich der dünne Teppich unter meinen Pfoten in Falten warf. Caren sah lachend zu mir hinüber, und ihre Augen blitzten beinahe schadenfroh- jetzt sah sie wieder völlig anders aus als eben, da sie mich mit stets ausdrucksloser, fast schon kalter Miene durch das Gedränge gezogen hatte.

Es gab Zeiten, in denen ich wirklich nicht wusste, wie ich ihren Charakter deuten sollte- ich wusste nicht einmal, ob es ihre eigene Persönlichkeit oder teilweise auch die des Mädchens war, in dessen Körper sie sich befand.

Sie war in Ordnung, das stand außer Frage, sie war gerecht und würde niemals willentlich jemandem schaden. Doch während sie an manchen Tagen humorvoll und fröhlich war, wirkte sie an anderen eher ungeduldig und gereizt. Heute hatte sie seltsamerweise alle dieser- ich nenne es Stadien- durchlaufen.

"Fall' nicht vor lauter Freude um."

In ihren Augen leuchtete wieder diese Gutmütigkeit, die an ein lachendes Kind erinnerte und nicht an die autoritäre Person, die zu Beginn unserer Zugfahrt mit dem Jungen gesprochen hatte. Ich konnte es ihr nicht übel nehmen- soviel, wie sie durchgemacht hatte, war es nicht verwunderlich, wenn in manchen Augenblicken irgendwelche unangenehmen Erinnerungen ihre Laune sinken ließen.

Es war ein leichtes Glitzern, das mich in die Gegenwart zurückholte, als ich es aus den Augenwinkeln sah- das Glitzern der sanften Wellen, die der Rhein schlug, als er sich seinen endlosen, keinen Augenblick der Ruhe zulassenden Weg durch sein breites Bett bahnte.

Es geschah wieder, ungewollt, aber willkommen- Ich sah Susannah, sah, wie wir Seite an Seite am Fluss entlangschlenderten, spürte wieder die Wärme ihrer geschmeidigen Hand, die meine hielt, und der sanfte Wind umwobte uns mit dem erfrischenden Geruch nach Wasser.

Jetzt spiegelte sich viel mehr darin als damals, andere Gebäude, mehr Lichter- aber der Fluss war derselbe, wenn auch das Wasser und all die Steine am Grund andere waren. Der Fluss war derselbe.

"Willst du auf den Balkon?"

Natürlich will ich auf den Balkon!

Ich wedelte mit dem Schwanz, nickte eifrig und sprang erneut an die Türklinke, damit Caren gar nicht anders konnte, als meine Antwort zu verstehen.

Sie ließ mich hinaus, und der Anblick des Rheins zog mich so sehr in seinen Bann... Minuten verstrichen... Ich saß einfach nur da und schaute mit verträumtem Blick in die Ferne.

Dann ertönte ein Knurren. Blitzartig drehte ich mich herum, schaute verwirrt zu Caren, die mich bloß fragend ansah und murmelte: "Was ist?"

Da, schon wieder. Verwirrt warf ich den Kopf von einer Seite zur anderen, bis ich plötzlich eine Leere in meinem Inneren wahrnahm, die unerträglich wurde, als ich sie realisierte- dann viel mir auf, dass es mein Magen war, der Knurrte.

Natürlich, bei dieser Aufregung hatte ich meinen Hunger und jegliche andere körperliche Bedürfnisse irgendwie verdrängt, denn neben meinem Magen war es auch meine Blase, die drückte.

Ich betrachtete den Balkon. Nicht als Hundetoilette gedacht, definitiv.

Bei Caren zuhause hatte fast immer die Tür offen gestanden, sodass ich nach draußen gehen konnte, wann immer ich wollte- sie wusste ja, dass ich genug Verstand hatte, um immer wieder zurückzukehren und nicht zu der nächsten läufigen Hündin zu rennen wie jeder gewöhnliche Hund; davon abgesehen war entweder sie oder ihre Ziehmutter drei-oder viermal am Tag mit mir nach draußen gegangen, und da sie am Rand der Stadt gewohnt hatte, war es nicht weit bis zur nächsten Wiese gewesen. Aber hier...

Ich blickte zu ihr auf und weitete ie Augen, nickte in die Richtung der sich vor mir auftuenden Außenwelt, und sie schien sofort zu verstehen- zumindest teilweise.

"Wir gehen gleich. Das Erste, was wir kaufen müssen, ist Essen. Hier gibt es zwar Frühstück und Abendessen, aber irgendetwas sagt mir, dass wir das oftmals verpassen werden. Und dass es Hundefutter gibt, bezweifle ich sowieso."

Ich nickte hastig, dann fuhr sie fort: "Ein Telefonbuch brauchen wir auch. Sekunde, lass mich gucken, ob..."

Sie stockte und schlenderte dann wieder in das Zimmer, in einen Winkel, wo ich sie vom Balkon aus nicht sehen konnte. Schnell warf sie einen Blick um die Ecke, drehte sich dann wieder herum und rief: "Gut, wir haben einen tatsächlich einen Schrank!"

Tatsächlich... War das denn so ungewöhnlich? Mein letzter Besuch in einem Hotel lag zwar schon lange zurück, aber ich glaube, mich daran erinnern zu können, dass es dort auch Schränke gegeben hatte.

Caren, beeil dich!, rief ich innerlich, als sie wieder aus meinem Blickfeld verschwand und kurz darauf das Geräusch einer Tür ertönte, die sich mit leisem Knarren öffnete.

Na toll. Jetzt wird erst einmal der Schrank untersucht.

Der Druck wurde stärker, und das letzte, was ich wollte, war, mein Bein an einem der Möbelstücke zu heben.

Komm schon!

Ich stieß ein Bellen aus, schrill und ungeduldig, ließ mich auf den Boden sinken und begann unwillkürlich, mitleiderregend zu winseln. Jedenfalls sollte es Mitleid erregen.

"Schon gut!", hörte ich dann ihre Stimme, "ich komme ja!"

Danke.

Doch bevor wir wieder hinausgingen, begann Caren, die Koffer nach ihrer kleinen Handtasche zu durchwühlen, die offenbar unentbehrlich war. Es ist ja nicht so, dass es in jedem Geschäft Tüten oder Körbe zu kaufen gibt, das wäre ja zu einfach, oder nicht? Wieso mussten alle weiblichen Wesen immer so lange brauchen, bis sie aus dem Haus gehen konnten? Handtasche packen, schminken, das passende Kleid heraussuchen... Susannah war nicht so gewesen.

"Gut, wir können gehen!", rief Caren schließlich, nachdem sie alles Wichtige-

ihr Portemonnaie- in ihre Handtasche gepackt hatte.

Ich eilte die Treppe hinunter, hatte das Gefühl, als hätten wir schon einige Stunden auf dem Zimmer verbracht, doch das verdutzte Gesicht der kleinen Kugel an der Rezeption verriet, dass wir offenbar nur sehr kurz dort gewesen waren.

Caren nickte flüchtig zum Abschied,

und der Mann rief: "Willste dich nit noch jet osrohe?" Ich musste lachen, was allerdings nur als eine groteske Mischung aus Bellen und Winseln aus meinem Mund kam, denn es war offensichtlich, dass Caren nicht das Gerinste verstanden hatte; der Mann hatte zum einen genuschelt, zum anderen sehr schnell gesprochen. Dennoch lächelte sie, als wüsste sie genau, was er gesagt hatte, und fragte dann: "Entschuldigung, können Sie mir sagen, wo ich den nächsten Supermarkt finde? Oh, und eine Telefonzelle?"

Der Mann beschrieb ihr einen Weg, ich hörte angestrengt zu, darum bemüht, seine Wegbeschreibungen möglichst genau in Erinnerung zu behalten.

Telefonzelle... Vielleicht, wenn ich Glück hatte, würde ich noch heute Susannahs Stimme hören, ihre Adresse erfahren... sie vielleicht sogar sehen...

Wenn sich nicht gerade die gesamte Stadt verändert hat, ist die Adresse die Selbe geblieben, dachte ich und seufzte. Niemand sonst war so heimatverbunden gewesen wie Susannah- auf der einen Seite war sie immer neugierig gewesen, wollte Neues entdecken, träumte davon, die ganze Welt zu bereisen... Wir waren immer in den verrücktesten Träumen und Vorstellungen versunken, was wir alles tun könnten, wohin wir gehen würden, wenn der Krieg vorbei wäre. Sie wollte ans Meer, hatte sie gesagt, irgendwann, um zuzusehen, wie die Sonne langsam am Horizont versinkt und ihr goldenes Leuchten auf das glänzende Wasser wirft, und ich hatte ihr gesagt, irgendwann wirst du es sehen.

Trotz allem wusste ich, dass sie ihre Heimat niemals freiwillig für immer verlassen hätte, sie wäre immer, immer wieder dorthin zurückgekommen. Nichts hatte sie mehr geliebt als das alte Haus, in dem sie damals noch mit ihren Eltern gelebt hatte, und die Aussicht, die man von ihrem Zimmer aus in den gemütlichen Garten gehabt hatte.

Fast nichts, dachte ich und lachte.

"Bevor wir uns auf die Suche machen", riss Caren mich aus meinen Gedanken, "gehen wir einkaufen. Dummerweise hat nicht alles, was wir brauchen, in die Koffer gepasst."

Was wir brauchen? Ich sah sie beinahe vorwurfsvoll an, doch sie schien meinen Blick nicht zu bemerken.

"Hundefutter hat beispielsweise nicht mehr reingepasst. Das sollten wir doch schnellstens besorgen, oder nicht?"

Ich nickte zustimmend, stellte aber fest, dass bei dem Gedanken an Susannah jegliche Hungergefühle verflogen waren.

Wir durchquerten einige Straßen, stiegen irgendwann erneut in die Straßenbahn ein und ließen uns so lange umherfahren, bis beinahe keine Fahrgäste mehr dort waren. Caren hatte wohl keine Ahnung, wo wir überhaupt aussteigen mussten, und ich hielt die Augen nach allem offen, was der alte Mann uns beschrieben hatte, bis...

"Gelbes Haus!" (In Carens Ohren bloß "Wuff!")

Caren fuhr herum, erblickte das auffallend gelbe, ausschließlich aus Fenstern zu bestehen scheinende Haus, von dem der Mann gesagt hatte, wir sollten die Augen danach offen halten, und nickte.

"Gut, dann steigen wir an der nächsten Haltestelle aus."

Wir stiegen aus, und die Schilder verrieten uns bereits, wo wir hingehen mussten. Immernoch sah alles völlig anders aus als zu meiner Zeit, und mit jedem Gebäude, das mir nicht vertraut vorkam- was im Grunde auf jedes Gebäude zutraf- wuchs meine Sorge, doch ich drängte sie in den Hintergrund.

Beruhige dich, ermahnte ich mich selbst im Stillen, vielleicht wirst du heute noch Susannahs Adresse herausbekommen, dann brauchst du dir um gar nichts mehr Sorgen zu machen.

Ich schüttelte den Kopf und folgte Caren, als sie in eine Straße abbog, die direkt auf einen Supermarkt zuführte- allerdings durfte ich ihr bloß so lange folgen, bis sie das Schild erblickte, das die durchgestrichene Silhouette eines Hundes zeigte. Ich bleibe draußen.

Sie band mich an einem Geländer neben dem großen Parkplatz fest, nickte mir kurz mitfühlend zu- ob ich ihr wirklich leid tat, weiß ich bis jetzt nicht genau- und verschwand dann in dem Gebäude hinter der Glastür, die sich öffnete, sobald sich ein Mensch näherte.

Während ich mir den Kopf darüber zerbrach, welcher Mechanismus wohl hinter dem automatischen Öffnen und Schließen der Tür stecken mochte, blieben unzählige Menschen vor mir stehen und sahen mich an, teils mitfühlend, teils neugierig, und die meisten ihrer Blicke blieben sofort an der kahlen Stelle haften, wo eigentlich ein Bein hätte sein sollen.

Ein altes Ehepaar mit zwei kleinen Jungen, vermutlich ihre Enkel, machten ebenfalls Halt und sahen auf mich herab.

"Dat ärme Dier", stammelte die Frau mit zitternder Stimme, und einer der Jungen zog an ihrem Ärmel. "Können wir ihn mitnehmen, Oma?"

Hier wird niemand mitgenommen!, dachte ich aufgebracht und stieß ein empörtes Bellen aus, was die Menschen scheinbar aufforderte, noch näher zu kommen.

"Denkste, dä wurd ussjesatt, Manfred?"

Nein, ich wurde nicht ausgesetzt! Ich biss die Zähne zusammen und spürte plötzlich einen Anflug von Wut auf Caren, dass sie mich derartig weit entfernt von dem Eingang festgebunden hatte. Ein dreibeiniger Hund, recht dünn- was "mir" scheinbar angeboren war und nicht daran lag, dass ich zu wenig aß; im Gegenteil- und mit einem leicht eingerissenen, vernarbten Ohr, der in der Nähe, nicht direkt an der Tür eines Geschäftes angebunden war, mochte den Eindruck wecken, ausgesetzt worden zu sein, und alte, wahrscheinlich verwirrte Leute mochten dazu neigen, arme Tiere bei sich aufzunehmen... Aber doch nicht mich, einen mitlerweile eigentlich uralten Soldaten aus dem zweiten Weltkrieg, der im Körper eines Hundes nach seiner Jugendliebe sucht!

Einer der kleinen Jungen tapste auf mich zu und streckte die Hand aus, und ich blickte ihn mit geweiteten Augen an, die sagten: "Nicht an den Ohren ziehen, Kleiner, bloß nicht an den Ohren ziehen!"

Er streckte die Hand aus, doch der alte Mann packte sein Handgelenk, ehe der Junge in meine Nähe kommen konnte, und sagte mit mahnender Stimme: "Nimm die Hand fott, Florian, sons wirste noch jebissen!"

"Ja, Mama hat doch schon voll oft gesagt, wir sollen keine fremden Tiere streicheln! Und nicht mit fremden Leuten mitgehen", rief der andere Junge und versuchte offenbar, den zurechtweisenden Ton in der Stimme seines Großvaters nachzuahmen, blickte dann zu diesem auf, als erwartete er eine Belohnung für seine Worte.

"Genau", sagte der alte Mann nur und grinste.

"Und jetzt?"

"Holen wir den Hund mit?"

Die Frau schüttelte den Kopf und schlug vor, im Geschäft bescheid zu sagen, dass ein armer, verwarloster Hund ausgesetzt wurde, doch der Mann fand, sie sollten etwas warten, ob nicht doch ein Besitzer kommen würde. Nach nur wenigen Minuten kam Caren herbeigeeilt, sah die um mich herumstehenden Leute scheinbar schon von Weitem und beschleunigte ihr Tempo, sofern es mit der großen Tüte, die sie mit beiden Händen umklammert hatte, möglich war.

"Black!", rief sie, als ob ich ihr antworten könnte, "ist etwas passiert?"

"Nein, nichts, alles in Ordnung!", bellte ich zurück und sorgte für verstörte Blicke der Kinder, die sich offenbar wunderten, dass ich Caren "geantwortet" hatte.

"Dat wollten wir Sie auch fragen!", entgegnete die alte Frau, sichtlich bemüht, so vornehm und dialektfrei zu sprechen, wie es ihr möglich war, "sind Sie die Besitzerin?"

"Ja, genau. Ist etwas vorgefallen?"

"Dat arme Dierchen sitzt hier schon seit Stunden alleine rum, und guckense mal, wie dünn dat is!"

"Seit Stunden?", entgegnete Caren mit skeptischem Blick und dieser seriösen, autoritären Lehrerinnen-Stimme, von der ich mich an manchen Tagen fragte, wo das Mädchen sie versteckt halten mochte.

"Das muss ein Missverständnis sein. Ich war nur zehn Minuten in dem Laden."

"Zehn Minuten? Mir stehn hier schun ewig."

"Tausend Stunden!", rief einer der Jungen vorwurfsvoll, jedoch gleichzeitig grinsend, und hob beide Hände, als wolle er die große Zahl zum Ausdruck bringen, indem er alle seine Finger in die Luft streckte.

"Warum hat der Hund denn nur drei Beine?", fragte der Mann schließlich, verschränkte beinahe herausfordern die Arme vor der Brust, und ich glaubte zu hören, wie bei dieser Geste seine alten Knochen knackten.

"Ich weiß es nicht, ehrlich. Er war ein Straßenhund, ich habe ihn aufgenommen, und da sah er schon so aus."

"Straßenhund? Is der deshalb so dünn?"

"Nein, er... Dünn? Er ist doch nicht zu..."

"Warum nehmen Sie denn einen Straßenhund auf, wenn Sie ihn nicht richtig füttern?"

"Ich füttere ihn doch! Sehen Sie, ich habe...", begann sie und streckte gerade die Arme aus, um den alten Leuten den Inhalt der Einkaufstüten zu zeigen- vermutlich hatte sie einen Vorrat an Hundefutter für die gesamten zwei Wochen gekauft- hielt jedoch inne, ehe sie einen Blick hineinwerfen konnten, und schüttelte den Kopf.

"Ich muss Ihnen gar nichts zeigen, und ich muss mich nicht rechtfertigen. Sie haben mir nichts vorzuwerfen. " Sie atmete einmal tief ein, nahm meine Leine in die Hand und sagte dann: "Einen schönen Tag." Mit einem stolzen, dennoch respektvollen Nicken drehte sich auf dem Absatz herum und stolzierte davon, ich folgte ihr gezwungenermaßen. Dieses Gespräch hätte noch sehr interessant werden können.

Ich hörte, wie die alte Frau ihrerseits tief einatmete, dann ertönte ihre mahnende Stimme: "Dat hat Konsequenzen!"

 

 

 

 

bla

 

Die Konsequenzen kamen nie. Wie sollten sie auch- weder kannten die alten Leute unsere Adresse, vielmehr die Adresse des Hotels, noch gab es irgendetwas, das man Caren hätte vorwerfen können. Warum mussten sich manche Personen in alles einmischen?

Ich lag auf dem Boden unter dem Tisch und betrachtete die verschiedenen Füße, die an mir vorüberschlenderten, während Caren mir hin und wieder unauffällig einen Happen ihres Essens hinhielt. Das Essen war gut, definitiv besser als alles Hundefutter dieser Welt, und ich wunderte mich, dass sich nur so wenige Leute in dem ohnehin nicht allzu großen Speisesaal eingefunden hatten; das Hotel schien nicht besonders viele Besucher zu haben, was wahrscheinlich daran lag, dass es von außen auf den ersten Blick an einen heruntergekommenen Bauernhof erinnerte.

Sobald ich das verlockende Klirren von Carens Besteck hörte, wenn sie ein weiteres Stück ihres Schnitzels abschnitt, hob ich erwartungsvoll den Kopf und blickte auf die Stelle, wo- hoffentlich- ihre Hand unter dem Tisch verschwinden und mir das Essen entgegenstrecken würde.

Dieses Mal jedoch kam keine Hand, kein Schnitzel, stattdessen nur Carens Stimme, die durch ihren vollen Mund drang: "Tut mir leid, aber das letzte Stück war für mich."

 

Ich knurrte empört, sie schien es zu hören und lachte; es war ein heiteres, leichtes Lachen, das nicht die Spur von ihren Depressionen, denen ich jahrelang entgegenzuwirken versucht hatte, sehen ließ. Mir kam es vor, als hätte die Auseinandersetzung mit den alten Leuten ihre Laune nochmals gehoben, obwohl es eigentlich gar nichts gegeben hatte, was für gute Laune sorgen mochte, und mir kamen verschiedene Gedanken: Entweder war sie die Art von Frau, deren größte Freude das Motzen war, aus welchen Gründen auch immer, oder es hatte ihr bisher einfach gefehlt, jegliche Gespräche mit fremden Leuten zu führen, zumal derartig "aufwühlende" Gespräche. Immerhin hatte sie bis vor zwei Jahren mit kaum jemandem gesprochen, wenn man von mir, der ich nicht richtig zu antworten fähig war, absah.

Nun ja, im Zug hatte sie vorhin lange Zeit mit dem jungen Mann, Chris, gesprochen, doch ich glaube, er hatte irgendein unangenehmes Gefühl in ihr hervorgerufen. Sie hatte seinen Namen gekannt. Und wer immer es gewesen war, der einst diesen Namen getragen hatte, derjenge saß jetzt irgendwo in den Wolken und sah auf die Stelle hinab, wo sein Körper die Erde nährte.

Ich glaube, meine Versuche, Carens Charakter zu deuten, füllen mehr als die Hälfte dieses Buches- oder was immer es ist; man könnte es auch als Tagebuch bezeichnen, wobei... nein, denn ein Tagebuch beschreibt aktuelle Gedanken. Ich glaube, die meisten Situationen habe ich völlig falsch in Erinnerung, und ich habe mit Sicherheit nicht alles so aufgeschrieben, wie ich in dem jeweiligen Augenblick empfunden habe. Trotzdem wäre es sicher interessant, jeden Tag mit "liebes Tagebuch" zu beginnen.

Wie auch immer.

Einige Zeit saßen wir noch schweigend am Tisch- na ja, Caren saß, ich lag darunter und gab hin und wieder ein wohliges Seufzen von mir, bis ich irgendwann sah, wie sich Caren regte und kurz darauf eine Stimme ertönte: "Hat's euch geschmeckt?", fragte der alte Mann, der vorhin noch an der Rezeption gesessen hatte, und kam mit lauten, trampelnden Schritten herbeigewackelt, die an das Watscheln einer überdimensionierten Ente erinnerten.

Unter der tief hängenden Tischdecke hervorstarrend konnte ich zwar bloß Schuhe und Beine erkennen, doch die sahen so klobig und wohlgenährt aus, dass sie zweifellos der Kugel von der Rezeption gehörten.

Ein Klirren verriet, dass er die Teller und das Besteck stapelte und vom Tisch nahm, als wollte er es abräumen, doch er bewegte sich nicht; die gedrungenen Beine blieben, wo sie waren. Ein weiteres Klirren verriet, dass er das Geschirr wieder abgestellt hatte, allerdings auf einem anderen Tisch, wo -hoffentlich- keine Gäste saßen. Statt abzuräumen, setzte er sich mit einem amüsierten, freundlichen Lachen an Carens Tisch, und seine alten, abgenutzten Schuhe verfehlten meinen Schwanz nur knapp.

"Und, junge Frau, haben Sie de Stadt schon auskundschaftet?", fragte die Kugel, und ich stellte überrascht fest, dass es dem Mann weitaus besser gelang, Hochdeutsch zu sprechen, als dem alten Ehepaar vorhin. Na ja, dachte ich dann belustigt, wenn man so viel mit allen Leuten quatscht...

"Noch nicht", antwortete Caren, "wir haben bisher nur ein wenig eingekauft. Ich, meine ich. Mit meinem Hund."

"Ein braver Kerl."

"Das stimmt", antwortete sie lächelnd- also, um genau zu sein konnte ich ihr Gesicht nicht sehen, doch vor meinem geistigen Auge sah ich deutlich, wie sie ihre Mundwinkel zu diesem freundlichen Lächeln hochzog, das sie immer aufsetzte, wenn sie nicht gerade ihre... nun ja... negativen Phasen hatte.

"Ich kann ihn überall hin mitnehmen."

"Das will ich doch hoffen", sagte die Kugel, "habt ja sicher viel vor."

"Allerdings."

"Ich will nicht aufdringlich sein."

"Keineswegs."

"Aber neugierig bin ich. Ich frag' mich..." Er zögerte, hob dann die Tischdecke ein wenig an und warf einen flüchtigen Blick darunter, wo ich zu seinen Füßen lag und mit gespitzten Ohren jedem Wort lauschte.

"Was macht eine so junge Dame völlig allein und mit Hund in dieser Stadt? Sie klingen nicht, als würden Sie nicht von hier kommen, mit diesem Akzent. Klingt nicht einmal nach Deutschland, wenn Sie mich fragen", fuhr er fort und stieß ein belustigtes, bellendes Lachen aus.

"Kanada", antwortete Caren und lachte ihrerseits.

"Kanada!" Der Mann schlug sich voller Verblüffung auf den Oberschenkel, wobei ein schallendes Klatschen ertönte.

"Dafür ist das Deutsch allerdings beachtlich! Und umso beachtlicher, dass Sie völlig allein hier sind! Also, was tun Sie hier in Köln? Oder geht es mich nix an?"

"Na ja, wir... ich wollte eine Bekannte besuchen."

"Ach so, na dann. Ich dachte schon, Sie verbringen die ganze Zeit alleine mit ihrem Hund. Von so weit weg... Da sehen Sie sich sicher nicht oft."

"Wer?"

"Sie und ihre Bekannte. Ich meine, wenn Sie aus Kanada kommen und sie aus Deutschland..."

Sag nichts Falsches, Caren, dachte ich und wünschte, die Kugel würde das Weite suchen-wegrollen- und Caren nicht mehr mit diesen Fragen durchbohren, denk dir 'was aus, das realistischer klingt als die Wahrheit.

"Eigentlich", fuhr das Mädchen fort, "habe ich sie noch gar nicht gesehen."

Zu spät. Ich konnte mir bestens vorstellen, wie die Kugel überrascht eine Augenbraue hob.

"Es ist eine Bekannte von meinem... Großvater. Er war im Krieg hier, er hat... Hat sie damals kennengelernt und... Kürzlich hat sich herausgestellt... Dass sie meine Großmutter ist und nicht die Frau, die ich dafür gehalten habe. Na ja, jetzt wollte ich sie eben kennenlernen. Das Problem ist nur, dass ich die genaue Adresse nicht kenne."

"Das wäre von Vorteil", lachte der Mann, "kennen Sie zumindest den Stadtteil?"

Caren seufzte. "Ich bin nicht einmal sicher, ob sie noch in Köln wohnt."

"Hmmm... Sie sagten, er hat sie während des Krieges kennengelernt?"

"Genau."

 

 

Diesmal war es der Mann, der seufzte, und es hörte sich an, als müsste er zunächst nach den richtigen Worten suchen, um uns das, was er sagen wollte, möglichst schonend beizubringen.

"Die Stadt war tot, Fräulein. Alles zerbombt, alles zerfallen."

Er zögerte nur kurz, doch die wenigen Herzschläge fühlten sich an wie Jahrhunderte, in denen alles geschah, was ich die ganze Zeit über verhindern, oder, vielmehr, verdrängen wollte. Und alles drehte sich um Susannah.

Ich riss die Augen auf, meine Muskeln spannten sich an, und in meinem Innern wallte Entsetzen auf. Zerbombt. Ich hatte es gewusst, irgendwie. Als wir durch die Stadt gefahren und an keinem einzigen Gebäude vorbeigekommen waren, dass mir nur im Geringsten vertraut vorkam, hatte ich schon dieses seltsame Stechen einer Ahnung in meinem Unterbewusstsein wahrgenommen- und es sofort verdrängt. Ich wusste nicht einmal wirklich, dass es da war, so sehr hatte ich es verdrängt, und jetzt wurde es mir klar. Es war offensichtlich, merkte ich jetzt. Und ich hätte es auch vorher merken müssen.

Der Augenblick des Zögerns war vorbei.

"Das einzige, was noch stand, war der Dom. Stolz hat er zwischen den ganzen Trümmern aufgeragt", fuhr die Kugel fort, dann zögerte sie wieder.

"Ich meine, es ist nicht unmöglich, dass sie noch hier wohnt. Die meisten Leute, die überlebt haben, sind in die umliegenden Dörfer geflüchtet. Einige sind zurückgekommen. Und ich bin ja auch alt, wie Sie sehen"- wieder dieses schallende, heitere Lachen- "und als die Stadt zerstört wurde, da war ich fünfzehn, mein kleiner Bruder vier, und ich bin mit ihm rüber nach Bensberg. Ja, und jetzt wohn' ich schon ewig wieder hier, weil es ja schließlich immer meine Heimat gewesen ist."

Ein langes, ungemütliches Schweigen wie das eines eingefrorenen Waldes im Winter folgte, und ich spürte, wie mir ein eiskalter Schauer den Rücken hinabrann.

Die Stadt war tot. Ich hörte die Worte des Mannes, die wie ein höhnisches Lachen in meinem Kopf widerhallten.

Alles zerbombt, alles zerfallen.

Oh Gott, Susannah! Sag' mir dass du mich nicht verlassen hast!

Das einzige, was noch stand, war der Dom.

Sie war immer stark gewesen, immer entschlossen und standhaft- aber was half ein noch so starker Charakter, wenn es von oben Bomben und den Tod regnete? Wie konnte ein so junges, gerade erst den Kinderschuhen entwachsenes Mädchen dann noch standhaft sein, wenn überall um sie herum gekämpft wurde?

Ich wünschte so sehr, dass es schmerzte, sie wäre noch hier, aber- um Himmels Willen- wenn sie hiergeblieben war, sich in den Trümmern verstecken wollte, und dabei...

Nein! Ich zwang mich dazu, ruhig zu bleiben, während ich hörte, wie mein Herz immer lauter und schneller pochte. Ich durfte nicht nervös werden, ich musste aufhören, mich verrückt zu machen. Noch stand nichts fest. Susannah konnte, genau wie dieser Mann, einfach aus der Stadt geflohen und später wieder hierher zurückgekehrt sein. Und wenn sie nicht hierher zurückgekehrt war, gab es sicher eine Möglichkeit, herauszufinden, wo sie nun lebte. Und sie lebte noch. So war es. So musste es einfach sein.

Ich versuchte, das nervöse Zittern meiner Pfoten zu unterdrücken, indem ich mich auf die gelassene, heitere Stimme des Mannes konzentrierte und die immer unruhiger Werdende von Caren verdrängte.

Sie redeten noch eine kurze Weile, doch der Mann schien zu bemerken, wie sehr Caren von seinen Worten beunruhigt worden war; er sagte, sie solle sich keine Sorgen machen, wünschte viel Glück bei der Suche und verabschiedete sich dann. Als seine trampelnden, schwerfälligen Schritte verklungen waren, stand Caren auf und zog an der Leine, woraufhin ich unter der Tischdecke hervorkroch. Sofort trafen sich unsere Augen, geweitet, verunsichert, eine Ewigkeit auf das Gegenüber starrend- ich wusste, dass sie nicht die gleiche Angst empfinden konnte wie ich, doch ihr Blick sagte, dass sie ahnte, wie ich fühlte.

Sie wandte als Erster den Blick ab, drehte sich herum und zog mich stumm hinter sich her, unwillkürlich den Weg zu unserem Zimmer einschlagend. Ihr Gang war nach wie vor elegant, doch als es sie sieben Sekunden kostete, den Schlüssel in das Schloss der Zimmertür zu stecken, sah ich, dass auch ihre Augen nervös von einer Seite zur anderen huschten.

Wortlos trat sie ein, ließ sich sofort auf das Bett fallen und hielt die Leine noch lange Zeit in der Hand, bis ich begann, unruhig von einer Seite zur anderen zu laufen.

 

 

Was tun wir jetzt? Was tun wir jetzt?, fragte ich mich immer wieder, und Caren sagte nichts. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, in der sie einfach auf dem Bett saß und gegen die Wand starrte, während ich aufgeregt meine Runden durch das Zimmer drehte.

Mir war klar gewesen, dass so etwas geschehen müsste- im Nachhinein erkenne ich nun, dass es mir klar gewesen war, seit wir die Stadt erreicht hatten, doch ich hatte versucht, es zu verdrängen. Es durfte einfach nict sein; es hatte in meinem Kopf einfach keine andere Mölichkeit gegeben, als dass Susannah noch hier lebte. Alles andere wäre nichts als übertriebene Sorge und alptraumhafte Vorstellung gewesen. Und jetzt war es so. Der Alptraum, den ich nicht einmal wirklich gehabt hatte, da ich ihn die ganze Zeit verdrängen wollte, war Wirklichkeit geworden- zumindest möglicherweise. Also war eigentlich die Vorstellung, Susannah zu finden, der Traum gewesen- Kein Alptraum, ein schöner Traum, Wunschdenken. Und jetzt war ich wach, der dicke Mann hinter der Theke hatte mich aufgeweckt. Guten Morgen, "Blacky".

"Was machen wir jetzt?", fragte Caren irgendwann, doch ich reagierte nicht, so aufgebracht war ich, und es kehrte wieder Schweigen ein.

Irgendwann brach sie die eisige Stille: "Eigentlich ändert sich ja nichts."

Wie bitte? Damit hatte ich nicht gerechnet, doch als sie weitersprach, musste ich trotz all der Verzweiflung, gegen die ich innerlich anzukämpfen versuchte, zugeben, dass sie recht hatte: "Dass die Möglichkeit besteht, dass sie nicht mehr hier lebt, wussten wir ja schon vorher. Also ändert sich für uns nichts. Alles, was der Mann gesagt hat, ist, dass die Stadt nach dem Krieg wieder aufgebaut wurde."

Und dass sie tot war, komplett zerstört, und die meisten Menschen wahrscheinlich auch, fügte ich in Gedanken hinzu, spürte, wie wieder ein aufgebrachtes Zittern in meinen Pfoten und eine Woge der Verzweiflung in meinem Inneren aufstieg, doch irgendwie zwang ich mich Caren zuzuhören.

Mach dir keine Sorgen, versuchte ich, mir einzureden, Susannah muss leben. Denk' an ihr Versprechen.

"Wir wissen nicht, ob sie hier ist", sagte Caren wiederum. "Wir wussten es von Anfang an nicht. Also machen wir das, was wir die ganze Zeit geplant haben. Wir werden zum Bürgeramt gehen. Was ich allerdings vorher unbedingt wissen muss: Wie war ihr Name?"

 

 

 

 

 

 

Wo ist der Schlüssel?

 

Nun begann die wirkliche Suche. Denn bevor wir nach Susannah suchten, mussten wir zuerst Susannahs Namen suchen- wie wir das anstellen sollten, wusste ich nicht, doch irgendwie musste Caren den Namen erfahren, wenn wir sie finden wollten. Und ich konnte ja nichts sagen.

Caren zerrte mich mit neuer Energie und fest entschlossen aus dem Zimmer, aus dem Hotel und auf die Straße, wo ich erst einmal verwirrt stehen blieb.

"Sobald du ihren Vor-oder Nachnamen irgendwo liest- auf einem Plakat oder was-weiß-ich-wo- bellst du. Auch wenn du nur einen Buchstaben ihres Namens findest. Ich habe einen Stift dabei. " Sie grinste. "Jetzt geht das Rätseln los!"

Wir nahmen die Straßenbahn in Richtung Innenstadt, stiegen aber in irgendeiner nicht besonders belebten Straße aus, in der sich hohe, dreckig-rosafarbene Häuser aneinanderreihten. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren, aber Caren hatte sich irgendwo einen Stadtplan besorgt, wann auch immer sie das getan haben mochte.

"Je eher wir aussteigen, desto größer ist die Chance, dass wir ihren Namen irgendwo lesen. Wie wahrscheinlich ist es? Ich meine, ist der Name selten?"

Ich zögerte kurz und überlegte, schüttelte dann aber den Kopf. Wir mussten nur irgendwo "Anna" lesen, und das "Sus" würde sich schon irgendwie hinzufügen lassen... Davon abgesehen war Susannah kein so seltener Name, dass absolut keine Chance bestand, ihn irgendwo zu lesen. Und zu dem Zeitpunkt dachte ich noch, wir suchten nach etwas zum Lesen.

Wie ich schon vor einiger Zeit bemerkt hatte, war mein scheinbar zu klein geratenes Hundehirn nicht in der Lage, meine Pfoten so zu steuern, dass ich mit ihnen erkennbare Buchstaben in den Sand malen konnte.

Wir gingen auf einen Kinderspielpatz, ich verrichtete mein Geschäft demonstrativ an einem Busch direkt vor dem Schild, das es Hunden verbot, den Platz zu betreten, und Caren zog mich unter den verstörten, aber neugierigen Blicken einiger Kinder, de mit bunten Eimerchen und Schaufeln Sandburgen bauten, in den Sandkasten.

"Wuffi!", rief ein kleiner Junge mit strohblondem, gelockten Haar und hob den bis zum Rand gefüllten Eimer freudig über seinen Kopf, sodass der Sand darauf herabrieselte.

"Spielt weiter, Kinder, spielt weiter!", sagte Caren und wandte sich dann an mich: "Und du schreibst jetzt ihren Namen, ihr Geburtsdatum und ihre alte Adresse in den Sand. Und wenn du das geschafft hast, deinen gleich dazu."

Wenn's weiter nichts ist, dachte ich ironisch und ließ mich unbeholfen in den Sand plumpsen; aus den Augen sah ich, wie die Kinder erwartungsvoll ihre Köpfe in meine Richtung drehten.

"Macht der Hund jetzt Kunststücke?"

"So ähnlich", antwortete Caren grinsend und fügte dann voller Entschlossenheit, als wäre sie sich völlig sicher, dass das hier funktionieren würde, hinzu: "Der Hund lernt jetzt Schreiben. Also, Blacky." Ein spöttisches Lachen. "Ihr Name."

Und ich schrieb. Meine Pfoten zitterten ungeschickt, und irgendwie gelang es mir nur, annähernd gerade Striche zu ziehen, nicht etwa, Bögen oder "Kurven" zu zeichnen. Es sah schlimmer aus als bei einem Kind, das gerade seine ersten Schreibversuche wagt.

Nach unzähligen Stunden, so fühlte es sich an, stand der erste Buchstabe, sah jedoch mehr nach einem Z aus, das man gespiegelt hatte- nach einer weiteren Ewigkeit stand der Rest. Unzählige Male war ich ausgerutscht, versehentlich über mein Werk gestolpert und darübergetrampelt, sodass die ohnehin verkrüppelten Buchstaben letztendlich übersät waren von Pfotenabdrücken. Das erste Wort stand, doch das, was eigentlich "Susannah" bedeuten sollte, sah, wenn man es denn als Buchstaben identifiziert hatte, eher aus wie "Snzdmob".

Caren sah mich an, dann die Schrift, dann wieder mich. Ihre Lippen bebten, und ich sah, wie sie dagegen ankämpfen musste, in schallendem Gelächter auszubrechen. Sie presste eine hand auf ihren Mund und drehte sich von mir weg, sodass ich ihren Gesichtsausdruck nicht sehen konnte, doch ich hörte, wie sie ein leises Quieken aussstieß.

Ich betrachtete mein Werk mit schiefgelegtem Kopf und musste meinerseits grinsen.

"Snzdmob", krächzte Caren und fuhr sich durch das Haar, "das klingt nicht gerade nach einem deutschen Namen."

Was du nicht sagst.

"Ich glaube", begann sie, wurde von einem weiteren Lachen geschüttelt und fuhr dann fort: "Ich glaube, wir müssen uns etwas Anderes einfallen lassen. Wir sitzen hier seit..." Sie krämpelte den Ärmel ihres gestreiften Strickpullovers nach oben und warf einen flüchtigen Blick auf die Armbanduhr, die mir noch nie zuvor aufgefallen war.

"Seit zweiundzwanzig Minuten. Oder denkst du, du kriegst das besser hin?"

Ich musste nicht lange überlegen, diese Frage zu beantworten, und schüttelte den Kopf. Mit viel Übung würde es mir vielleicht besser gelingen, mit ganz, ganz viel Übung, doch einen derart langen Aufenthalt konnten wir uns vermutlich nicht einmal leisten.

"Dann lass uns weitergehen", seufzte Caren mit belustigtem Grinsen und wollte gerade die Leine packen, als plötzlich eins der Kinder mit unbeholfenen Schritten auf sie zuwackelte und an ihrem Ärmel zog.

"Hallo, ähm... Kann ich den streicheln?"

Die großen Augen leuchteten verspielt, und diese Unbeschwertheit in dem breiten, von Zahnlücken durchzogenen Lächeln des Kindes wirkte beinahe befreiend- ich wünschte, ich könnte selbst noch einmal so lächeln- doch mein Blick wanderte sofort zu diesen kleinen, typischen Kinder-Wurstfingern, die bestimmt schon in sämtlichen Schlammpfützen, Essensresten oder Nasenlöchern gesteckt hatten und gleich durch meinen Pelz wuscheln und an meinen Ohren ziehen würden, um dort alles abzuwischen, das... Nein. Das konnte Caren auf keinen Fall zulassen.

"Natürlich darfst du."

Was?! Nix da, Pfoten weg!

Das Kind streckte eine Hand aus, ich sprang hektisch zurück und wisch den grabschenden Fingern aus.

Es zuckte zusammen, sah mich entsetzt an und fing an, zu weinen- Nein, da war kein Weinen. Es war wie ein markerschütternder Todesschrei. Das Kind kreischte, schrie wie ein Esel, aus den Augen strömten Tränen und aus der Nase das, was in meinem Fell gelandet wäre, hätte ich nicht ausweichen können.

Die anderen Kinder drehten sich nacheinander herum, starrten ihre Spielkameradin neugierig an, dann stieß eines ein entsetztes Rufen aus: "Der böse Wauwau hat Jessica gebissen!"

Weitere Schreie ertönten, und mindestens zwei der Kinder stimmten in das sirenenartige Geheul mit ein. Dabei hatte ich nicht einmal geknurrt. Warum waren diese... aufdringlichen Nasenbohrer immer so emotional? Ich spürte wie der Anflug von Zuneigung, den dieses kindliche Lächeln eben noch in mir hervorgerufen hatte, schlagartig verflog, als meine empfindlichen Hundeohren bei diesem ohrenbetäubenden Gekreische zu schmerzen begannen.

 

"Er hat sie nicht gebissen", rief Caren mit unüberhörbarer Nervosität und wandte sich dann an das kleine Mädchen, das zusammengekauert vor ihr im Sandkasten saß und sich die Tränen aus dem Gesicht wischte, die in Strömen über ihre Sommersprossen liefen.

"Es ist gar nichts passiert. Blacky hat sich nur ein bisschen erschreckt. Siehst du?"

Sie sah zu mir herab, nickte in die Richtung des Mädchens und flüsterte dann: "Geh', du alter Feigling, bevor noch das Gerücht entsteht, du würdest kleine Kinder fressen!"

Ich sah sie an, so wehleidig und um Gnade flehend, wie sich mein Hundegesicht verformen ließ, doch sie schüttelte nur den Kopf und zeigte auf das Kind.

Dann musste ich mir eben den Pelz kraulen lassen von diesen Fingern... Ich tat es nicht freiwillig, und mir war äußerst unangenehm zumute. Versteh' das bitte nicht falsch; ich war kein kaltherziger, kinderhassender Egoist, kein humorloser Sturkopf ohne jegliches Feingefühl.

Damals hatte neben uns eine Familie mit einem Kind gewohnt, ein Junge, der geboren worden war, als ich gerade zwölf oder dreizehn Jahre alt war. Seitdem der Junge laufen und spielen konnte, hatte ich mich mit ihm beschäftigt, auf ihn aufgepasst, mit ihm gespielt, ihm sogar ein paar Worte beigebracht, als er gerade das Sprechen lernte. Und das freiwillig.

Selbst mit fünfundzwanzig- kurz vor meinem Tod, bevor ich in den Krieg ziehen musste- hatte ich es an einigen Tagen mehr genossen, mit dem damals Zwölfjährigen im Wald Fangen zu spielen, als meine Zeit mit Gleichaltrigen zu verbringen, die hin und wieder eher streng und gestresst wirkten- zumindest im Vergleich zu dem Kind.

Ich hatte nie aufgehört, die Spiele, die ich mit zehn Jahren gespielt hatte, zu mögen, und war bis zu meinem Tod ein unerträglicher Kindskopf gewesen- Susannah wusste ein Lied davon zu singen.

Doch es gab genau zwei Dinge, die ich an kleinen Kindern nicht ausstehen konnte: Erstens ihre Angewohnheit, alles in den Mund zu nehmen, was ihnen in die Finger kam, wie auch diese selbst, und anschließend alles Übrige anzufassen, und zweitens, wenn sie hysterisch zu weinen anfingen, obwohl es keinen Grund dazu gab, bloß, um ihren Willen zu bekommen.

Und ich wette, dieses Mädchen hier tat beides.

Trotzdem zwang ich mich dazu- womöglich war es auch Carens strenger, dominanter Blick- auf das Kind zuzugehen und mit einem freundlichen Winseln meinen Kopf entgegenzustrecken. Es blickte auf, das ohrenbetäubende Heulen verstummte prompt, und ich seufzte erleichtert- zunächst.

Runde, weiche Finger fuhren über meinen Kopf, zerzausten den dichten Pels an meinem Hals und kraulten meine spitzen Ohren, während ich gegen den Drang ankämpfte, ein unwohles Knurren auszustoßen, und mich dazu zwang, still sitzen zu bleiben.

"Siehst du, es ist doch alles in Ordnung", sagte Caren liebevoll und lächelte das kleine Mädchen mit warmem Blick an.

"Lieber Hund", sagte es, drehte sich dann herum und rief: "Kommt mal her, der Hund ist ganz lieb!"

...

"Hieß sie Jessica?", fragte Caren mit höhnischem Grinsen, und ich schüttelte entsetzt den Kopf. Diese sadistische Asiatin schien es sichtlich zu freuen, wenn ich litt!

Nach einer Ewigkeit hatten wir es schließlich geschafft, uns von dieser Horde kleiner Nasenbohrer loszureißen und den Spielplatz im Eiltempo zu verlassen, doch es hatte einiges an Carens Überzeugungskraft gebraucht, die Kinder dazu zu bringen, meine Ohren loszulassen.

Eins der Kinder hatte irgendwann, als ich aufgestanden war, mein fehlendes Bein bemerkt, und wieder war lautstarkes Geschrei ausgebrochen- gleich nach der Frage, was ich denn getan hatte, damit Caren mir das Bein abhacken musste.

"Hattest... hattest du damals Kinder?", riss Caren mich aus meinen Gedanken, und ich schüttelte wieder den Kopf. Wahrscheinlich ist das auch gut so, wenn man sich diese ungezogenen... Bälger anguckt!

Wir gingen über einen schmalen Kiesweg, der zwischen nur spärlich belaubten Bäumen hindurchführte, und ich fragte mich, ob wir überhaupt noch in der Stadt waren- nur Bäume, keine Hochhäuser. Uns kamen nicht einmal allzu viele Menschen entgegen, nur ab und zu vereinzelte Hundebesitzer.

Plötzlich stieß der Weg auf harten, glatten Asphalt, die Bäume wurden von starren Häusern abgeschnitten, und das erste, was ich sah, wenn ich geradeaus blickte, waren Autos. Es stank nach Abgasen.

Wo sind wir?

Caren blieb stehen, reckte den Hals und blickte nach links, dann nach rechts, wobei sie mich an dieses kleine Tier erinnerte, das ich auch einmal für wenige Tage gewesen war- ein Erdmännchen, so hieß es, glaube ich- und zeigte, dass sie ebenso wenig Orientierung hatte wie ich.

"Sind hier irgendwelche Wegweiser?", murmelte sie und sah zu mir herab.

"Weißt du, wie man von hier in die Innenstadt kommt?"

Innenstadt... Ich müsste bloß den Dom sehen, dann könnte ich uns zur Innenstadt bringen, doch die Häuser, die uns von allen Seiten einkesselten, versperrten meine Sicht.

"Sag mal, hast du bisher irgendetwas wiedererkannt, an dem wir vorbeigekommen sind? Bis auf den Dom natürlich."

Nein. Ich schüttelte den Kopf.

 

 

"Dann würde ich sagen... lass uns einfach weitergehen."

Wir gingen eine Ewigkeit durch die Straßen, bis meine drei Beine irgendwann ermüdeten und ich Caren mehrmals dazu auffordern musste, langsamer zu werden. Einige der Straßennamen waren mir vertraut, doch irgendwie konnte ich sie nicht richtig einordnen- zum einen, weil sich einfach alles verändert hatte, und zum anderen, weil es über fünfzig Jahre zurücklag, dass ich in dieser Stadt gelebt hatte.

Wir folgten der Straße, die von Autos gefüllt und somit vermutlich eine der "wichtigeren" Straßen war, bis zu unserer Rechten plötzlich keine Häuser mehr standen; die Reihe der aneinandergedrängten Gebäude hörte einfach auf, wurde abgeschnitten, und gab den Blick auf den breiten Strom frei- und auf die Silhouetten der zwei unverkennbaren Türme des Doms. Erleichtert bellte ich auf, wedelte fröhlich mit dem Schwanz und zerrte an Carens Ärmel, woraufhin sie ihrerseits ein Seufzen ausstieß. "Na endlich! Da ist eine Brücke, wenn wir drübergehen, müssten wir eigentlich fast am Dom sein." Sie zögerte. "Weißt du was? Wir hätten einfach den gleichen Weg nehmen sollen, auf dem wir zum Hotel gekommen sind."

Das wäre klug gewesen.

"Ich habe zuerst extra einen anderen Weg eingeschlagen, damit wir mehr... mehr Möglichkeiten zum Suchen haben und Straßen sehen, in denen wir noch nicht waren, damit dir vielleicht irgendetwas Neues einfällt. Aber viel scheint es ja nicht gebracht zu haben."

Im Gegenteil, dachte ich und schüttelte fast angewidert den Kopf, als ich daran dachte, wie die kleinen Kinder mit ihren Popelfingern durch meinen Pelz zausten.

Caren zog nun stärker an der Leine, beschleunigte ihr Tempo und zerrte mich hinter sich her; ich wollte empört Winseln, ihr zu verstehen geben, dass ich nur drei Beine hatte- gut, sie hatte dennoch eines weniger, aber für sie war das schließlich die Normalität, während man mich schon fast als schwerbehindert bezeichnen könnte- sah dann jedoch, wie wir näher und näher an die Brücke herankamen.

Das ist die Hohenzollern-Brücke, die kenn' ich. Das muss sie sein!

Meine Pfoten kribbelten, als mir klar wurde, dass ich gerade noch ein Überbleibsel aus meiner Zeit als Mensch gefunden hatte, das nicht von irgendwelchen Bomben zerstört worden war.

Wir eilten den Weg hinauf, der auf die Brücke führte, und kaum waren wir oben angekommen, blieb ich prompt stehen. Ich konnte nur geradeaus blicken, zu meiner Rechten versperrte mir eine steinerne Mauer den Blick auf den Rhein oder die Stadt- doch das, was vor mir lag, war mir vertraut.

"Komm", sagte Caren, "da drüben hat man eine bessere Aussicht."

Ich reckte den Hals, um über die Mauer zu blicken, die mich daran hinderte, auf den Fluss herabzublicken- obgleich ich wusste, dass er da war.

Ohne darauf zu achten, wo ich hinlief, folgte ich ihr in die Richtung, wo ich den Zug der Leine spürte, hatte den Blick aber ständig in die Ferne oder auf die Häuser gerichtet, die hinter der Mauer hervorlugten.

Plötzlich wurde diese abgeschnitten, an ihre Stelle trat ein Geländer mit Lücken, die groß genug waren, dass ich meinen Kopf hindurchstecken und eine perfekte Aussicht auf den Rhein erhaschen konnte- man konnte den Fluss in beide Richtungen mit dem Blick ins Unendliche folgen, die Stadt überblickenm die sich in den Wellen des Wassers spiegelte.

 Ich war so oft hiergewesen...

Plötzlich stand ich neben Susannah, wir lehnten uns gegen das Geländer, und sie sah mich mit leuchtenden Augen und fröhlichem, liebevollen Lächeln an. Nur für einen kurzen Moment, einen Herzschlag lang, dann war ich wieder ein Hund, stand auf vier- Entschuldigung, drei- Beinen, und merkte, dass ich die Augen geschlossen hatte.

"He, sieh' dir das an", sagte Caren plötzlich und zog an der Leine, damit ich mich zu ihr herumdrehte, woraufhin ich ihrem Blick neugierig folgte- An der Wand, oder vielmehr an dem Gitter, das den Fußgängerbereich der Brücke von den Gleisen abschirmte, hingen vereinzelte Schlösser, zum Teil bereits dunkel verfärbt oder überzogen mit rotem Rost, und in jedes Einzelne waren Buchstaben eingraviert- die Namen von Paaren.

"Wow, hast du hier damals auch eins aufgehangen?"

Ich spürte Bedauern in mir aufsteigen und schüttelte den Kopf. Soweit ich mich erinnern kann, hatte es zu meiner Zeit kein einziges Schloss an dieser Brücke gegeben, und ich war nicht auf die Idee gekommen, damit zu beginnen- doch ich würde es nachholen. Ich musste. Doch ich konnte es nicht, nicht in diesem Körper.

Als Caren mich vorsichtig weiterziehen wollte, blieb ich sitzen, rührte ich mich nicht, stieß stattdessen ein bedauerndes -und bedauernswertes- Winseln aus, dann nickte ich in die Richtung der Schlösser. Sie folgte meinem Blick, starrte ihrerseits auf das metallische Glänzen, die Buchstaben, und schwieg lange Zeit.

Ich glaube, sie versetzte sich in diesem Augenblick in meine Situation, versuchte, mir nachzufühlen, und ihr abwesender, dennoch von einem Schleier des Mitgefühls verdunkelter Blick verriet, dass sie für einen kurzen Moment ebenfalls diese schmerzende Sehnsucht empfand, die mich in meinem Inneren die ganze Zeit über begleitete.

"Du kriegst eins", flüsterte sie, "sobald ich deinen und ihren Namen weiß, werde ich irgendwo und irgendwie eins besorgen. Versprochen."

Mir wurde schon so viel versprochen..., dachte ich mit einem schmerzvollen Seufzen und sah aus den Augenwinkeln, wie Caren mir ein mitfühlendes Lächeln schenkte. Einige Zeit zögerte sie, starrte auf die Wand, drehte sich dann wieder zu mir.

"Irgendwo zwischen diesen tausend Namen könnte ja auch ihrer dabei sein, meinst du nicht?"

Wiederum nickte ich. Womöglich war hier unter diesen wenigen Schlössern eines, das eine Susannah bearbeitet und aufgehangen hatte- aber nicht meine Susannah.

 

 "Wir können ja nachsehen, vielleicht haben wir ja Glück. Wenn nicht, habe ich eine Idee, die wahrscheinlich weniger aufwendig ist, als einzelne Buchstaben zu sammeln. Die Idee ist mir eben erst gekommen; ansonsten hätte es gereicht, wenn wir in den Supermarkt gegangen wären. Wäre vermutlich einfacher gewesen." Caren seufzte, und brachte damit meine Gedanken zum Ausdruck. Wieso bemerkte sie alles immer dann, wenn es bereits zu spät war? Ihr war aufgefallen, dass wir den gleichen Weg hätten nehmen können, auf welchem wir auch gekommen waren, nachdem wir eine Ewigkeit durch die Stadt gewandert waren; irgendwann hatte sie dann bemerkt, dass sie den Stadtplan verloren hatte, und nun war ihr plötzlich eine Idee gekommen, die mir mein unangenehmes Zusammentreffen mit den Kindern erspart hätte.

"Die Innenstadt sollte nicht weit weg sein, oder?"

Ich schüttelte den Kopf- jedenfalls hoffte ich, dass die Innenstadt nicht weit entfernt war, doch ich vermutete sie nach wir vor in der Nähe des Doms.

"Gut."

Schließlich gingen wir langsam weiter, Caren betrachtete die einzelnen Schlösser- insgesamt waren es nur fünf oder sechs- und las die Namen oder die Buchstaben, die darauf standen, laut vor: Leonie und Johannes, Nadine und Herbert, N und B, Jan und Elena, aber keine Susannah und kein Matthias. Nicht einmal die Anfangsbuchstaben.

Während wir über die Brücke schlenderten, hatte ich den Blick noch immer auf den Fluss gerichtet; ich weiß nicht, wie oft ich stehen blieb, um meine Schnauze wiederum durch die Lücken in dem Geländer zu stecken, diesen undefinierbaren Punkt in der Ferne anzustarren, auf den der Fluss zuzulaufen schien, doch irgendwann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Stadt. Nichts davon hätte ich wiedererkannt.

"M und C forever", las Caren irgendwann, ich überlegte tatsächlich einen Herzschlag lang, dann zuckte ich zusammen und stieß ein Bellen aus.

"Bingo?"

Na ja, zum Teil, dachte ich und legte den Kopf schief- dann erst, als mein Blick auf das Schloss fiel, durchfuhr mich ein merkwürdiges Gefühl der Verwirrung. Nein, nicht zum Teil. Was da steht, stimmt.

"M?"

Ich nickte.

"C auch?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Du oder sie?"

Ich hob eine Pfote und zeigte auf mich selbst, woraufhin Caren lächelte, in ihrer kleinen Handtasche zu wühlen begann und einen Notizblock herauskramte.

Einen Moment blieb ich unbeweglich sitzen, starrte das Schloss an und wartete. M und C forever. Caren schwieg und schrieb, war in ihre Gedanken versunken, grinste, ließ sich gerade vermutlich sämtliche Namen durch den Kopf gehen, die mit einem M begannen.

Meine Pfoten kribbelten. Wieso merkte sie nichts? Was auf diesem Schloss stand, war so wahr. Das waren unsere Namen, unsere Buchstaben. Für immer... Für immer.

Dieses Schloss hing fest verankert an der Brücke, der Schlüssel, den die beiden Menschen wohl in den Rhein geworfen hatten, trieb nun vermutlich irgendwo in den unendlichen Weiten des Ozeans, doch irgendwann würde es zu Staub zerfallen, und Caren und ich würden noch existieren, wenn diese Brücke, die gesamte Stadt nicht mehr als Sand im Wind waren. Wir waren das Symbol für die Ewigkeit- nein, die Brücke war das Symbol, und wir beide, Caren und ich, waren daran festgekettet, wie dieses Schloss.

Der Fluss schlug seine sanften Wellen, mein Blick verlor sich wieder darin, und ich seufzte.

Wo ist der Schlüssel?

 

 

 

Matthias und Mariko

 

16. Kapitel

Nach einer Ewigkeit ließen wir die Brücke hinter uns, umrundeten den Dom- so viele Menschen hatte es dort zu meiner Zeit nicht gegeben; unterschiedlichste Gesichter mit unterschiedlichsten Hautfarben drängten sich um das gewaltige Gebäude und gafften es an- und kamen schließlich tatsächlich dort an, wo ich den Anfang der Innenstadt in Erinnerung zu haben geglaubt hatte.

Unbeholfen hüpfte ich auf meinem Hinterbein umher, um über die Menge an Menschen hinwegsehen zu können, in der Hoffnung, irgendeinen Supermarkt zu entdecken, doch zunächst sah ich nichts als- wie hatte Caren es genannt?- Fastfood- Läden. Pizza, Burger, sämtliches asiatisches Zeug, das es zu meiner Zeit definitiv nicht gegeben hatte und das zudem nicht besonders appetitanregend aussah, allerdings umso besser roch. Aber kein Supermarkt. Was wollte Caren dort überhaupt?

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was sie nun vorhatte, doch sie sah entschlossen aus, als hätte sie einen genauen Plan- oder, als müsste sie einfach richtig liegen, da sie sich schon oft genug geirrt hatte.

Plötzlich platzte ein dicker Wassertropfen auf meiner Schnauze, auf meinem Kopf, neben mir auf dem Boden, und die Menschen um mich herum begannen, sich ihre Kapuzen überzuziehen, die Touristen (vielleicht auch gelangweilte Einheimische), die zuvor stundenlang an einer Stelle gestanden und den Dom fotografiert hatten, versuchten, sich mit eilenden Schritten ihren Weg aus der Menge hinauszubahnen.

Es regnete. Es regnete nur kurz, dann schüttete es. Wie ein Wasserfall.

Caren eilte ebenfalls, zerrte mich durch die Menge, entschuldigte sich unzählige Male, wenn ich das Gleichgewicht verlor und versehentlich gegen die Beine von vor den gefährlichen Wassermassen fliehenden, viel zu leicht bekleideten jungen Damen stolperte- natürlich nicht bei mir, sondern bei den Menschen- und machte erst Halt, nachdem wir uns neben unzählige andere unter das schützende Vordach eines Schuhgeschäfts gequetscht hatten.

Das Wasser troff von meinem Gesicht, rann an meinen Beinen hinab, tropfte von dem durchnässten Pelz an meinem Hals, und ich schüttelte mich mit angewidertem Knurren. Winzige Tropfen wurden in alle Richtungen geschleudert, auf die Leute, die dort standen, und einige wichen mit empörtem Zischen zurück.

"Hey!", zischte Caren, die sich sofort eine Hand vor das Gesicht gehalten hatte, um die Ladung an Wasser fernzuhalten, "was fällt dir ein? Hier stehen Leute!"

Das ist mir gerade sowas von egal, dachte ich und stieß ein gleichgültiges sowie unwohles Seufzen aus, ich habe keine Jacke, die ich mir überziehen kann!

"Hiermit wollte dir Gott wohl Manieren beibringen", fuhr sie fort und grinste ein wenig, doch in ihrer Stimme lag noch immer ein mahnender Ton, "du hast sämtliche Leute nass gemacht."

Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern, ohne Caren anzusehen, und starrte in den Regen hinaus. Wassertropfen prasselten auf die Straße, zersprangen auf dem Asphalt, und es kam mir wieder eins der Lieder in den Sinn, die ich so oft gemeinsam mit Caren gehört hatte: I wanna know- have you ever seen the rain?

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Caren mich immer noch anblickte, und ich fragte mich, ob sie dasselbe dachte- irgendwie wartete ich beinahe darauf, dass sie plötzlich die Melodie zu pfeifen begann, doch sie blieb still und drehte irgendwann den Kopf, um ihrerseits den aus den Wolken stürzenden Regen zu betrachten.

Es dauerte nicht lange, bis das ohrenbetäubende Prasseln aufhörte und der Regen nur noch in winzigen Tröpfchen vom Himmel rieselte, sodass wir uns aus dem Schutz des kleinen Vordachs wagen konnten, ohne völlig durchnässt zu werden. Einige der Leute, die ich versehentlich nassgespritzt hatte, bedachten Caren noch immer mit missbilligenden, sie von oben bis unten musternden Blicken, und ich stellte mir vor, wie sie sich fragten: Können die Chinesen ihre Hunde nicht erziehen?

Ich schnaubte belustigt bei dem Gedanken, während Caren mich zurück auf die Straße zog und den Leuten, die ihr beinahe empört hinterherstarrten, ein knappes Nicken schenkte- was sie damit ausdrücken wollte, war mir ein Rätsel.

Bei so vielen Menschen, die die Straßen bevölkerten und von allen Seiten aus den Geschäften strömten, waren wir gezwungen, zu schlendern, und ich spürte, wie in mir die Ungeduld wuchs.

Ich sah nicht viel, nur Beine, und vertraute darauf, dass Caren mich in die richtige Richtung zog. Zwischendurch kamen uns andere Hundebesitzer entgegen, die nicht darauf achteten, an wessen Hinterteil ihre Tiere schnüffelten, und einmal fuhr ich mit empörtem Zischen herum und hätte beinahe einem winzigen Rehpinscher in sein hässliches Gesicht gespuckt.

"Schnute weg von meinem Schwanz!", rief ich, Caren hörte mein Bellen und fuhr erschreckt herum, doch die Frau, der die Fußhupe gehörte, hatte ihr Haustier schnell aus meiner Reichweite gezogen und schüttelte bloß den Kopf, als wollte sie sagen: "Alles in Ordnung."

"Nicht so agressiv, Blacky", flüsterte Caren, woraufhin ich sie vorwurfsvoll anblickte. Willst du etwa, dass irgendein Kleinwüchsiger an deinem Allerwertesten schnuppert?!

Sie beachtete meinen Blick nicht weiter und setzte ihren- unseren- Weg fort, bis sie irgendwann prompt stehen blieb und freudig ausrief: "Süßigkeiten-Geschäft!"

Hektisch zog sie mich nach links, ich konnte noch immer nicht erkennen, wohin sie ging, dann begann sie plötzlich, meine Leine an einem schmalen Pfahl vor der Tür des Ladens festzubinden. "Tut mir Leid", murmelte sie und wies auf das Schild, das ich am liebsten jedes Mal, wenn ich es irgendwo sah, von der Wand gekratzt hätte- "Ich bleibe draußen", und diese missratene Zeichnung von irgendetwas Hundeähnlichem. Ich fühlte mich nicht angesprochen, aber Caren sah nicht aus, als wollte sie mich wieder losmachen, um mich mit hineinzunehmen.

Was wollte sie nun überhaupt in einem Süßigkeiten-Geschäft? Neugierig reckte ich den Hals und versuchte, einen Blick nach drinnen zu erhaschen, doch man konnte nur das sehen, was in den Schaufenstern stand- und durchaus appetitlich aussah. Vielleicht würde sie mir ja eine Tafel Schokolade mitbringen. Oder sich selbst vollstopfen.

Mit amüsiertem Seufzen erinnerte ich mich an etwas Ähnliches, das vor etwa vier Jahren geschehen war, als Caren gerade vierzehn war.

Es war wenige Tage nach Weihnachten gewesen, Caren hatte unter anderem eine große Süßigkitentüte geschenkt bekommen, doch aus unerklärlichen Gründen hatte sie sie nicht innerhalb eines Tages geleert- sie war ja nie ein normales Kind gewesen- und geöffnet und halb gefüllt auf dem niedrigen Wohnzimmertisch stehen lassen.

Wissend, dass sie mir vertraute, da ich ja kein gewöhnlicher Hund, sondern eigentlich ein vernunftbegabter, erwachsener Mensch war, sodass sie entweder nichts bemerken oder ihre Ziehmutter verdächtigen würde, hatte ich meinen Kopf hineingesteckt, ein Milchcreme-Ei herausewühlt und genüsslich verspeist- mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich nach Jahrzehnten endlich noch einmal den verführerischen Duft von Schokolade in meiner Nase und den Geschmack in meinem Mund spürte.

Ich aß noch eins, und noch eins, und noch einen Marzipan-Riegel, und was-weiß-ich-was-noch- erstens hatte ich schließlich beinahe fünfzig Jahre an Schokoladen-Mangel auszugleichen, und zweitens dachte ich in dem Augenblick nicht daran, dass ich ja ein Hund mit einem empfindlichen Hundemagen war.

Als ich mich nicht gerade leise aus der knisternden Papiertüte befreit hatte, schleckte ich mir genüsslich die Lippen und ließ mich vollgefressen auf meinem Sessel nieder, bis mein Bauch irgendwann ein merkwürdiges, an den Todesschrei eines kranken Tieres erinnerndes Knurren von sich gab.

Ich sah, wie ich mich immer mehr aufblähte, dann wurde mir schlecht, und ich hievte mich abermals aus dem Sessel, um mit schwerfälligen Schritten in den Garten zu wanken. Ich brauchte dringend frische Luft.

Eine weitere Stunde lag ich unbeweglich im Gras, keiner meiner beiden "Besitzer" war bisher aufgetaucht, und die Tüte sowie die aufgerissenen Verpackungs-Papierchen lagen verstreut auf dem Boden herum.

Mein Bauch sah mitlerweile aus, als hätte ich einen Fußball verschluckt- ich war aufgebläht, konnte mich kaum bewegen, und fühlte mich überfüllt.

Irgendwann hörte ich dann ein Rufen: "Wir sind wieder da, Zeit für deinen Spaziergang!" Das war Alice. "Ziehst du dich um, Mariko? Ich hol' schonmal den Hund."

Das ist das Dumme. Nie zuvor hatte Alice mich geholt, auch nicht, wenn sie selbst mit mir spazieren ging, was nicht allzu oft vorgekommen war, bevor Caren mit dem Arbeiten begonnen hatte. Immer hatte es geheißen: "Mariko, würdest du schonmal den Hund an die Leine nehmen, ich warte vor der Tür!"

Bis auf diesen Tag.

Ich hörte, wie sie hinaustrat, spürte, wie sie die Leine an meinem Halsband befestigte- fiel ihr nicht auf, was für eine Wampe ich in den letzten zwei Stunden bekommen hatte?-, dann versuchte sie mit freundlichem Murmeln, mich hochzuziehen.

"Komm, steh' auf, oder willst du nicht spazieren gehen?"

Sie zog etwas fester, ich zwang mich dazu, aufzustehen, doch kaum lastete das Gewicht meines Blähbauchs auf meinen drei nunmehr im Vergleich zum Rest viel zu dünn wirkenden Beinchen, spürte ich einen unerträglichen Druck in meinem Inneren. Ich erstarrte kurz, dachte nur "Oh nein!", dann kotzte ich einen gewaltigen Strahl auf die Wiese, unmittelbar vor Alices Füße. Das ganze Gras war bedeckt mit schon einmal gegessener Schokolade.

Erleichtert, dass der Druck und das widerliche Völlegefühl endlich verschwunden waren, blickte ich zu der Frau auf, die mich bloß angewidert anstarrte. "Du altes Schwein", flüsterte sie und zwang sich zu einem Grinsen, doch ich konnte sehen, wie sie gegen den in ihr aufsteigenden Ekel ankämpfen musste. Plötzlich drehte sie sich herum, hielt sich bei dem Geruch nach erbrochener Schokolade die Nase zu und rief: "Marikooo!!!"

 

 

 

...Irgendwann öffnete sich die Tür mit einem vielsagenden Quietschen, und Caren trat mit einem noch vielsagenderen Blick hinaus; in ihrer Hand baumelten zwei bunte Tütchen Schokoladenkekse- die eine mit Buchstaben-, die andere mit Zahlenformen.

Das war deine brillante Idee?!, dachte ich belustigt und starrte sie mit großen, skeptischen Augen an, das mag zwar funktionieren, aber... aber es ist hirnverbrannt! Andererseits... Ic hhielt inne, grinste mein Caren mitlerweile vertrautes Hundegrinsen und schüttelte den Kopf. Andererseits ist das bei unseren begrenzten Möglichkeiten noch am wenigsten zeitaufwändig.

Und man kann die Auswahl an Möglichkeiten wohl als begrenzt bezeichnen, wenn die Hälfte der beteiligten Personen nicht sprechen kann.

"Ich habe ewig keine Kekse mehr gegessen", lachte Caren dann, "zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen! Also dann, lass uns zurückgehen."

Den gesamten Rückweg über begleitete mich dieses wohltuende Gefühl der Erleichterung- Erleichterung darüber, dass Caren schon bald Susannahs Namen erfahren und somit der wichtigste Teil unserer Suche beginnen würde. Aber dennoch... In meinem Kopf nagte ununterbrochen eine leise Furcht, was wir herausfinden mochten, wenn wir mit den Informationen zum Bürgeramt gehen würden. Wohnte sie überhaupt noch hier? Hatte sie einen anderen Namen angenommen, weil sie einen anderen Mann geheiratet hatte?

Meine Pfoten kribbelten bei dem Gedanken, ich schüttelte schnell den Kopf, um das Bild von meinem geistigen Augen zu vertreiben, wie jemand anderes ihre Hand hielt, sie jemand anderen küsste, im Hochzeitskleid neben einem anderen stand.

"Was ist los?", fragte Caren plötzlich, die meinen abwesenden, fast verzweifelt auf einen weit entfernten Punkt starrenden Blick bemerkt haben musste, doch ich schüttelte nur den Kopf.

Du würdest es nicht verstehen, wenn ich versuchen würde, es zu erklären.

Wir nahmen die Straßenbahn zurück zu unserem Hotel, eilten das letzte Stück mit hastigen, ungeduldigen Schritten und wurden von dem dicken Mann an der Rezeption empfangen, der uns mit einem heiteren, das breite Pfannkuchengesicht komplett ausfüllenden Grinsen begrüßte.

"Und, Erfolg gehabt?"

Caren schaute zu mir herab, als wartete sie darauf, dass ich dem Mann antwortete, schüttelte dann aber den Kopf. "Ach, wir sind nur ein wenig herumspaziert und haben uns die Stadt angeguckt, um ein bisschen Orientierung zu kriegen. Wir haben ja noch zwei Wochen Zeit."

"Zwei Wochen können manchmal schneller vorbei sein, als man gucken kann", lachte der Mann freundlich, hob jedoch den Zeigefinger, als wollte er uns warnen.

Mag sein, fügte ich in Gedanken hinzu, aber nicht, wenn du ewig lebst.

Dennoch hatte er Recht: Unser Aufenthalt hier war zeitlich begrenzt, wenn unsere Leben es auch nicht waren. Trotzdem waren wir auf dem besten Wege, in unserer Suche weiterzukommen.

"Bis später", sagte Caren dann freundlich lächelnd und nickte zum Abschied, bevor i mich die Treppe zu unserem Zimmer hinaufzog.

Mach langsam, Mädchen! Ich keuchte demonstrativ. Hier hat jemand ein Bein zu wenig!

Doch sie machte nicht langsamer. Hastig schloss sie die Tür auf, zerrte mich ins Zimmer, knallte sie wieder zu und ließ sich mit einem geräuschvollen, unsanften Plumpsen auf den Boden fallen, bevor sie die Tüten aufriss und die Kekse auf dem Boden verteilte.

"Das ist okay, ich glaube, der Boden wurde geputzt", nuschelte sie, während ihr Blick über das Gewirr an Buchstaben und Zahlen schweifte.

So viele werde ich kaum brauchen!, dachte ich, leckte mir dann aber genüsslich die Lippen, als mir der Geruch nach Keksen in die Nase stieg.

"Also", sagte sie mit lauter Stimme und rieb aufgeregt ihre Hände aneinander, "die Buchstaben sollten reichen. Leg' ihren Namen."

Ich stieß ein langes Schnauben aus, nickte bestätigend und ließ mich vor ihr auf dem Boden nieder.

Jetzt ging es los. S... wo ist ein S?

Meine Pfoten schnellten über den Boden, während ich die einzelnen Buchstaben aneinanderschob.

"Sus... Susa..." las Caren, und ich hielt inne. "Susanne?" Zuerst wollte ich nicken, bewegte dann den Kopf langsam von einer Seite zur anderen, um ihr zu zeigen, dass sie auf dem richtigen Weg war, allerdings noch nicht die perfekte Lösung gefunden hatte.

"Susan?" Ich schüttelte den Kopf. Wir waren doch Deutsche! Wieso sollte sie einen englischen Namen tragen?

"Susannah?" Eifrig nickte ich, und meine Pfoten begannen abermals, heftig zu kribbeln, dieses Mal aber vor Erleichterung und Aufregung. Das war das erste Mal seit über fünfzig Jahren, dass ich tatsächlich den Klang dieses Namens zu Ohren bekam und ihn mir nicht bloß wieder und wieder in Gedanken vorsagen musste.

 

 

 

"Susannah..." flüsterte Caren scheinbar zu sich selbst, und ich seufzte tief. Sie schloss die Augen, und es sah aus, als versuche sie, sich Susannah vor ihrem geistigen Auge vorzustellen- jeder verbindet doch einen Namen und dessen Klang mit einem bestimmten Gesicht, oder?

Einen Augenblick genoss ich noch das undefinierbare Gefühl, das Carens leises Flüstern in mir ausgelöst hatte, dann setzte ich meine Arbeit fort.

"Susannah Win... Winter", las sie, während ich die Kekse legte, "neunter.... Dezember.... neunzehnhundertfünfzehn."

Ich nickte und betrachtete mein Werk mit großen, leuchtenden Augen. Da stand ihr Name nun, und ihr Geburtsdatum. So einfach.

"Und jetzt du. Deinen Nachnamen kenne ich ja, aber dein Vorname interessiert mich auch- und dein Geburtsdatum. Ich wüsste schließlich gerne, wie alt mein Hund ist, weißt du."

Ich ließ meine Augen über den kleiner gewordenen Haufen an Keksen gleiten, der zu meinen Pfoten lag, und suchte ihn nach den Buchstaben sowie Ziffern ab, die ich brauchte.

"Jetzt bin ich gespannt...", murmelte Caren, während ihr Blick noch immer auf den Buchstaben lag, die Susannahs Namen formten.

"Weißt du, ich habe mir schon einige Namen durch den Kopf gehen lassen. Mal sehen, ob ich recht habe."

Langsam nickte ich, als wollte ich ihr zu verstehen geben, die Herausforderung angenommen zu haben, und begann, zu legen.

"Ma... Mannfred!", rief Caren aus und wollte gerade in die Hände klatschen, doch ich schüttelte den Kopf und tippte kurz mit der Pfote auf den Boden, um ihr zu sagen, sie solle weiterraten; Caren allerdings zögerte und starrte die zwei Buchstaben an, die ich vor mich hingelegt hatte.

"Dein Name beginnt mit den gleichen Buchstaben wie der, den ich momentan trage. Denkst du... Das muss Zufall sein, oder?"

Zufall... Diese Situation, in der Caren und ich uns befanden, machte es doch irgendwie schwer, an etwas wie Zufall zu glauben, oder? Ich meine, ich hatte nie an etwas Derartiges geglaubt, aber nun... Nun steckte ich im Körper eines dreibeinigen Schäferhundes. Wer konnte also sagen, ob nicht jedes Leben, das ich bisher hinter mich gebracht hatte, irgendwie Sinn machte? Ohne jegliche Zufälle? Und genau so könnten auch diese Namen Sinn machen, wie das Schloss auf der Brücke Sinn machen konnte: M und C forever. Vielleicht hatte ja alles, was passierte, einen Grund, und etwas wie Zufall gab es gar nicht.

Matthias und Mariko... Das war mir bisher nicht aufgefallen.

 Ich "schrieb" weiter, und Caren folgte jeder meiner Bewegungen mit ihrem Blick. Als mein Vorname schließlich stand, gab sie ein undefinierbares Grummeln von sich, ich drehte mich zu ihr herum, doch sie winkte bloß ab und sagte: "Noch das Geburtsdatum. Und... " Einige Zeit zögerte sie und seufzte. "Und das Datum, an dem du gestorben bist. Bitte."

Diese letzten Worte hauchte sie derartig mitfühlend, derartig emotional hervor, dass ich spürte, wie ein Funken von Trauer in mir aufglomm. Es gab zwar unendlich viele Daten, an denen ich gestorben war, aber keins, das mein Leben so sehr verändert hatte.

Schnell legte ich die Kekse so zurecht, dass sie mein Geburtsdatum ergaben, dann hielt ich inne. Wann genau war ich gestorben? Irgendwann 1940. Es war kalt gewesen, eisig kalt. Der Schweiß, der in meinem Haar klebte, war gefroren gewesen. Nur wenige Wochen vorher hatte Susannah Geburtstag gehabt... Es muss im Januar gewesen sein, höchstens Februar.

Langsam legte ich die Kekse, und aus den Augenwinkeln sah ich, wie Caren mit traurigem Blick abwechselnd auf die Zahlen und auf mich sah.

"Du bist erst vierundzwanzig?"

Ich nickte, und sie stieß ein langgezogenes Seufzen aus.

"Logisch... Ihr Soldaten wart ja alle sehr jung. Aber trotzdem..."

Der traurige Glanz in ihren Augen verflog plötzlich, sie presste sich die Hand auf den Mund und kicherte belustigt. "Ich dachte die ganze Zeit, einen alten Mann von über fünfzig neben mir zu haben!" Ihr Gesicht errötete leicht, und ich war nicht sicher, ob sie sich schämte oder so sehr anstrengte, nicht in schallendem Gelächter auszubrechen, dass sie rot anlief.

"Dann bist du ja nicht viel älter als ich jetzt!"

Na ja, immerhin sechs Jahre.

"Als ich gestorben bin, war ich über vierzig. Aber ich bin so oft als Mensch wiedergeboren worden, dass das nicht mehr zählt. Irgendwie. Ich meine, ich fühle mich nicht mehr wie eine zweiundvierzig-jährige Frau. Was ist mit dir? Fühlst du dich immer noch wie vierundzwanzig?"

Ich überlegte kurz, dann nickte ich allerdings. Zugegeben, ich hatte mich immer jünger gefühlt, als ich tatsächlich war, doch ich fühlte mich nun nicht älter als an dem Tag, der mich mein Leben als Mensch gekostet hatte. Glaube ich. Verwirrend war es schon, denn obwohl ich immer bloß als Tier wiedergekehrt war, hatte ich dennoch unzählige Male aufs Neue das Leben eines Kindes- eines Tierkindes- durchlebt, war unzählige Male aufgewachsen, nur nie besonders alt geworden. Anfangs, wenn mein Hirn noch nicht so weit entwickelt schien, hatte ich zum Teil, nicht immer, wie ein Tierkind gefühlt, doch sobald ich älter wurde, hatte sich das Bewusstsein herausgebildet, das ich auch an meinem Todestag gehabt hatte. Älter als damals schien ich in meinem Inneren nie zu werden. Wie wäre es wohl, wenn ich auch einmal als Mensch wiedergeboren würde?

"Das ist gut zu wissen", riss Caren mich aus meinen Gedanken, "das ist wirklich gut zu wissen. Dass da nicht so viel Altersunterschied zwischen uns ist."

 

 

 

 

Na ja, dachte ich irgendwie belustigt, du bist immerhin ein paar Jahrhunderte älter.

"Nein, ehrlich", fuhr sie fort, als hätte sie meine Gedanken gehört, "irgendwie habe ich jetzt das Gefühl, dass ich anders mit dir sprechen kann. Ich meine, ich bin achtzehn..."

Wohl eher Achtzehnhundert.

"... da kam ich mir immer ein bisschen merkwürdig vor, weil ich aus irgendwelchen Gründen dachte, du wärst viel, viel älter. Aber... was sind schon sechs Jahre?"

Ich starrte sie verwirrt an und neigte skeptisch den Kopf. Selbstverständlich steckte ihr Geist im Körper einer Achtzehnjährigen, doch sie selbst, ihre Persönlichkeit, musste doch viel älter sein- ich meine, wie viele Menschenleben hatte sie durchlebt? Fünf?

Sie war also viel öfter als Mensch aufgewachsen als ich, hatte öfter das Laufen gelernt, war öfter schwanger gewesen als ich- das mag falsch klingen, aber auch ich habe einmal Tintenfischkinder geboren- und vor allem hatte sie mehr Leid erfahren als ich. Als Wurm trauert man nicht sonderlich, wenn man weiß, dass man seine gesamte Familie überleben wird, aber als Mensch? Das, was ich gerade durchmachte, dieses unerträgliche Gefühl des Verlusts, das Wissen, dass meine damalige Familie vermutlich längst tot war oder früher oder später vor mir sterben würde, hatte sie fünfmal erlebt. Wieso fühlte sie sich dann seltsam, wenn sie glaubte, mit Älteren zu sprechen? Sie hatte doch viel mehr Lebenserfahrung als irgendjemand sonst, oder nicht?

"Es ist wirklich toll, endlich zu wissen, wie du heißt und wie alt du bist. Nach all der Zeit, in der wir uns jetzt schon kennen... Und wir haben noch so viel Zeit vor uns..."

Mach' dir keine Hoffnungen, dachte ich ironisch, ich bin ein Hund!

Dann, ganz plötzlich, tauchte wieder das Bild des Schlosses, das an der Brücke befestigt und dessen Schlüssel im tiefen Wasser versenkt worden war, vor meinem geistigen Auge auf. M + C forever. Dann dachte ich an unsere Namen- Matthias und Mariko. Konnte das alles bloß Zufall sein?

 

 

 

 

 

 

...

 

Caren stand vor der Tür des Hotels, starrte nach draußen, ein abwesender Blick war in ihre Augen getreten. Der Himmel hatte sich verdunkelt, ein grauer Schleier lag über der Stadt, und dünne Regentropfen rieselten auf den schwarzen Asphalt.

"Kein schönes Wetter für einen Spaziergang, was?"

Ich wandte den Blick von Caren ab und sah zu der Kugel an der Rezeption hinüber, die den Papierkram, den sie gerade bearbeitet hatte, vor sich auf dem Schreibtisch ablegte und dann mit gemächlichen Schritten herbeigetrottet kam.

"Wenn ihr nochmal hierher kommt, extra von so weit her, bestell' ich euch besseres Wetter. Versprochen."

Er verschränkte die Arme vor der Brust und grinste freundlich, musterte Caren allerdings genau, als wollte er herausfinden, wohin wir uns gerade auf den Weg machten. Sie hatte sich umgezogen, nachdem ich meinen Keks-Buchstabierwettbewerb erfolgreich hinter mich gebracht hatte, und der dicke Mann sah aus, als wäre ihm aufgefallen, dass Caren nun eine dunkelgraue anstelle einer schwarzen Jeans trug.

"Ja, es ist schade", antwortete sie leise, gaffte jedoch noch einige Zeit wie gebannt in den Regen hinaus. Der Mann sah sie weiterhin an und schien darauf zu warten, dass sie fortfuhr, doch sie blieb still, völlig in ihre eigenen Gedanken versunken. Irgendwann stieß ich sie unauffällig mit der Schnauze an, sie zuckte kurz zusammen und schüttelte beinahe irritiert den Kopf, als hätte ich sie aus einem tiefen Schlaf gerissen.

Wo warst du schon wieder?

Schnell drehte sie sich herum, um ihre geistige Abwesenheit zu vertuschen, und ihre Stimme klang nun lauter und entschlossener, als sie erneut zum Sprechen anhob: "Wir wollten gerade zum Bürgeramt gehen. Mal hoffen, dass wir eins finden. Ich habe alles Wichtige aufgeschrieben..." Eifrig begann sie, in ihrer Handtasche herumzukramen, und reichte dem dicken Mann den Zettel, auf den sie Susannahs sowie meinen Namen und unsere Geburtsdaten geschrieben hatte.

"Ich weiß, Köln ist groß, aber vielleicht sagt Ihnen ihr Name ja irgendetwas."

Vorsichtig, als bestünde der schmale Streifen Papier aus hauchdünnem Glas, nahm er den Zettel entgegen und kniff die Augen zusammen- es sah aus, als würde er jedes Wort, das daraufstand, fünfmal lesen, ehe er irgendwann den Kopf schüttelte.

"Susannah Winter... Nie gehört. Ist auch ein wenig älter als ich. Und... Matthias Schwarz... Kann sein, dass ich den Namen schon einmal gehört habe, aber... Ich kann beide leider nicht zuordnen. Wer ist er denn?"

Caren zögerte. "Er war ihr Freund. Oder... Ehemann?", murmelte sie dann fragend und sah mich dabei an, doch ich schüttelte möglichst unauffällig den Kopf. Bald hielt uns die gesamte Stadt für verrückt- nun ja, Caren jedenfalls, wenn sie ständig mit ihrem Hund sprach. Und der ihr antwortete.

"Ihr Freund", fuhr sie schnell fort und missachtete den kaum wahrnehmbaren Ausdruck der Verwirrung in dem runden Gesicht des Mannes, der einen Kugelschreiber aus irgendeiner Schublade hervorgekramt und etwas zu schreiben begonnen hatte.

 

Caren wandte den Kopf und sah auf mich herab, dann zuckte sie mit den Schultern, als wollte sie sagen: "Keine Ahnung, was der da macht." Ich allerdings vermutete, dass er unsere Namen aufschrieb, meinen und Susannahs. Vielleicht kannte er einen von uns, ich konnte mich nicht an sein Gesicht erinnern, doch selbst wenn ich es damals gesehen hätte, wäre es in den über fünfzig Jahren beträchtlich gealtert. Davon abgesehen war mein Gedächtnis nicht das beste, was Gesichter betraf.

Schnell erwiderte ich ihren skeptischen Blick, dann hörte die Kugel mit dem Schreiben auf, faltete das Blatt Papier, bückte sich, ich hörte das Geräusch einer sich öffnenden und sofort wieder schließenden Schublade, dann tauchte das runde Gesicht sofort wieder hinter seinem Schreibtisch auf.

Wieder nahm er den Stift, begann, auf einem anderen Blatt herumzukritzeln, riss dann ein Stück davon ab und hielt es Caren entgegen.

"Hier, da stehen die Adresse und Telefonnummer des Hotels drauf. Die könntet ihr brauchen, wenn ihr zum Bürgeramt geht."

Caren nahm den Zettel entgegen und bedankte sich mit einem höflichen Nicken, dann drehte sie sich herum und zog mich hinter sich her nach draußen.

Gerade wollte sie die Tür hinter sich schließen, blieb sie prompt stehen, schüttelte den Kopf, ließ die Leine fallen und eilte blitzartig nach drinnen zurück, ohne mir nur einen einzigen Blick zu schenken.

Du kannst froh sein, dass ich kein richtiger Hund bin!, dachte ich, spielte allerdings für einen kurzen Moment mit dem Gedanken, mich herumzudrehen und schnell hinter der nächsten Mauer zu verschwinden. Andererseits- wir waren kurz davor, das herauszufinden, was wir wissen wollten, kurz vor unserem Ziel. Jetzt durfte keine Zeit verschwendet werden. Nicht einmal, um Caren einen Schrecken einzujagen.

Ich lugte durch den schmalen Spalt in der Tür, den Caren in ihrer plötzlichen Eile gelassen hatte, und sah, dass sie wiederum mit dem dicken Mann sprach. Mit dem mitlerweile vertrauten, breiten Grinsen sagte er irgendetwas, das ich nicht verstehen konnte

, und reichte ihr dann einen weiteren Zettel. Haben sie jetzt ihre Telefonnummern getauscht? Bei dem Gedanken stieß ich ein belustigtes Schnauben aus, schüttelte aber gleichzeitig angewidert den Kopf. Caren war zwar schon einige Jahrhunderte alt, in ihrem Kopf war sie wohl weit davon entfernt, ein achtzehnjähriges Mädchen zu sein, doch wenn sie- schlank, äußerlich jung, agil- neben diesem teigigen, alternden Hotelbesitzer stand, konnte man sich kein unterschiedlicheres Paar vorstellen. Also hör auf, dir so was vorzustellen!

"Was ist mit dir los?", riss mich ihre Stimme aus meinen Gedanken, und ich schüttelte grinsend den Kopf. Gar nichts. Alles in Ordnung.

"Ich hätte beinahe vergessen, mich zu erkundigen, wo wir überhaupt hinmüssen. Also, wir nehmen zuerst die Straßenbahn..."

Während wir uns auf den Weg machten, erklärte sie mir eine gefühlte Ewigkeit, wie wir zu dem nächsten Einwohnermeldeamt kommen würden, doch irgendwann glitten meine Gedanken davon und verloren sich an Orten, die vermutlich nicht mehr existierten- und bei Personen, die zum Teil ebenfalls nicht mehr existierten. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, wie jedes Mal, wenn ich mich fragte, was wohl mit meiner Familie geschehen sein mochte, nachdem ich gestorben war.

Zugegeben, ich dachte nicht sehr oft daran, denn meistens, wenn meine Gedanken zurück in meine Zeit als Mensch reisten, zu allen damit verbundenen Orten, hielten sie sich nicht allzu lange da auf, wo meine Mutter, meine Großeltern oder wer-auch-immer gewesen war, sondern wanderten sofort weiter zu Susannah.

Doch zwischendurch kratzte in meinem Inneren der Gedanke, dass meine Mutter längst gestorben sein musste- es sei denn, sie wäre tatsächlich mehr als einhundert Jahre alt geworden- und das, stellte ich stets mit einem schmerzenden Stich in meinem Inneren fest, war sehr unwahrscheinlich.

Wir gingen durch die Stadt, wir fuhren mit der Straßenbahn, dann gingen wir wieder- ich konnte mich nicht daran erinnern, damals so viel hin-und herlaufen zu müssen; irgendwie hatte alles näher beieinander gewirkt, als wäre die Stadt in der Zwischenzeit um das Hundertfache gewachsen. Andererseits hatte ich auch nie so viele verschiedene Orte besucht; bevor ich in den Krieg gezogen war, hatte sich mein Leben bloß in den Straßen um mein Zuhause und dem von Susannah, meiner Arbeit- ich weiß gar nicht, ob ich es bereits erwähnt habe, aber ich habe, bis zu dem Tag, an dem ich in den Krieg ziehen musste, in einer Goldschmiede gearbeitet- und den umliegenden Wäldern abgespielt, wo ich entweder mit Susannah, dem Hund meiner Familie- ebenfalls ein Schäferhund-, dem Jungen aus der Nachbarschaft, auf den ich oft aufgepasst hatte, dessen Hund oder allen vieren spazieren gegangen war- na ja, meistens führte das "Spazierengehen" dazu, dass einer von uns entweder von Kopf bis Fuß verdreckt oder mit blutenden Schrammen an Armen und Beinen zurückkam.

Ich weiß noch, wie der Nachbarsjunge, Franz, als er etwa elf oder zwölf Jahre alt war, ich drei- oder vierundzwanzig, in mein Zimmer gerannt kam, über beide Ohren grinsend und voll freudiger Erregung- dass Susannah auch da war, schien er zunächst gar nicht zu bemerken.

"He, du musst unbedingt mitkommen, ich hab' was total Tolles gefunden!"

"Sag' mal Susannah guten Tag, du unhöflicher Esel!", entgegnete ich gespielt vorwurfsvoll und grinste, während der Junge für einen kaum wahrnehmbaren Moment schuldbewusst zu Boden blickte.

"'Tschuldigung. Hallo, Susannah."

Sie wollte gerade antworten, doch er fuhr sofort mit eifriger Stimme fort: "Komm, lass uns in den Wald gehen, mit den Hunden!"

Ich sah mit fragendem Blick zu Susannah hinüber, um mich wortlos zu erkundigen, ob sie etwas dagegen hätte, und sie nickte sofort mit diesem fröhlichen Lachen, das ich so sehr an ihr liebte.

"Nur, wenn ihr mich mitnehmt. Ich war noch nicht so viel draußen heute."

"Was meinst du, Franz?", fragte ich und zwinkerte ihm kurz zu, "wollen wir tatsächlich ein Mädchen dabeihaben, das ständig über den Dreck an ihren Schuhen jammert?"

"Also wirklich!", zischte Susannah mit gestellter Wut, "ich wette, ihr seid die, die herumjammern, wenn es darauf ankommt!"

Was ich gesagt hatte, stimmte natürlich nicht; meistens konnte ich mit Susannah genauso viel unternehmen wie mit meinen Freunden, wenn nicht mehr- sie war nie die Art von Mädchen gewesen, die über irgendetwas, was mit Natur und Abenteuern zu tun hatte, geklagt hätte. Doch ich liebte es einfach, sie zu ärgern, wenn sie auch niemals wirklich wütend geworden war- oder gerade deshalb.

Wir leinten also den Hund an, Franz holte seinen kleinen, zottigen Mischlingsrüden, und wir spazierten in den Wald

 

, nicht weit von meinem Zuhause entfernt. Die Luft war warm, aber drückend, ein nebliger Dunst lag über der Landschaft, und der mit modernden Blättern bedeckte Boden war feucht und schlammig. Wir folgten dem Weg, den ich schon so oft gegangen war und der von unzähligen Füßen plattgetreten war, bis der Junge plötzlich vorauseilte und quer in den Wald einbog, wo kein Weg oder Trampelpfad durch das Unterholz führte.

"Kommt, hier entlang!", rief er und bedeutete uns mit hektischem, fast schon aufgeregten Winken, ihm zu folgen, während der Mischling mit verwirrtem Hecheln die ganze Zeit über an seiner Seite blieb und mit glänzenden Augen auf irgendeinen Befehl zu warten schien.

Ich eilte ihm hinterher, den Hund an der Leine, und wich dem üppigen Unterholz aus, das überall in meinem Weg wuchs und über das ich einmal beinahe gestolpert wäre. "Nicht so schnell!", rief Susannah, und als ich mich zu ihr herumdrehte, sah ich, dass sie einige Meter hinter uns an einem dichten Dornenstrauch hängen geblieben war, dessen spitze Stacheln sich in ihrem Rock verfangen hatten.

"Deswegen gehören Mädchen nicht in den Wald", rief der Junge spöttisch, "überall bleiben sie mit ihren Kleidern hängen!"

"Deswegen sollte Susannah kürzere Röcke tragen", entgegnete ich leise an Susannah gewandt und schenkte ihr ein vielsagendes Grinsen, ehe ich kehrtmachte, um sie von den wuchernden, besitzergreifenden Dirnen zu befreien.

"Vorsicht, da hängt noch eine."

Sanft ergriff ich ihre Hand, damit sie über die dicken Ranken hinwegsteigen konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, und die Wärme, die von ihr ausging, als meine Finger die ihren berührten, durchströmte meinen gesamten Körper und ließ ein Gefühl von Sicherheit, von tiefem Vertrauen in mir aufsteigen. Ich wollte sie nicht mehr loslassen. Immer, wenn ich ihre Hand hielt, hätte ich sie am liebsten für immer festgehalten, nie wieder losgelassen, damit dieses Gefühl niemals verlorengehen konnte.

Und sie wusste das.

Bei jeder kleinsten Berührung- wenn ich ihr etwas anreichte und dabei nur kurz ihre Hand berührte, wenn ich einen Fusel von ihrem Kleid wischte, wenn ich ihr freundschaftlich oder lobend die Schulter tätschelte, blieb meine Hand immer einen Herzschlag länger an jener Stelle, als wollte ich etwas in mir aufsaugen, mich mit allen Sinnen vergewissern, dass Susannah auch tatsächlich da war.

"Kommt ihr noch hinterher?!", riss mich die auf kindliche Art vorwurfsvolle Stime des Jungen aus meinen Gedanken, und wir folgten ihm. Wir schlugen uns noch kurze Zeit unseren Weg durch die Büsche, kletterten eine steile Anhöhe hinauf- Franz' Mischling mit seinen kurzen Beinchen rutschte so oft auf dem schlammigen Boden aus, dass ich ihn hinauftragen musste- bis der Junge schließlich stehenblieb und mit leuchtenden Augen auf eine breite Grube hinabstarrte, die sich vor ihm auftat. Der Grund war von dickflüssigem, dunkelbraunen Schlamm bedeckt, der von niedrigen Wänden schwarzen Schiefers eingeschlossen war und herabgefallene, faulende Äste umwaberte, die darin umhertrieben.

 

 

 

 

 

Das Ganze erinnerte an eine alte, vergammelte Suppe in einem dreckigen Topf, die seit einer Woche in der Küche vergessen worden war.

Über dieser Grube lag ein schmaler Baumstamm, der offenbar bei einem Sturm aus der Erde gerissen worden war und von einer Seite zur anderen führte, die verzweigten Wurzeln ragten in die Luft. Bevor ich überhaupt den Mund öffnen konnte, um irgendetwas zu sagen, stieg Franz auf den Stamm und balancierte mit schnellen, überraschend sicheren Schritten darüber, blieb allerdings in der Mitte stehen und streckte die Hand aus. Nur wenig mehr als eine Armlänge von dem Stamm entfernt ragte ein Ast in die Grube herein, etwa zwei Meter über dem dunklen Matsch, und ich wusste genau, was der Junge vorhatte.

"Wetten, ich schaffe es, dranzuspringen!"

"Tu's nicht!", rief Susannah panisch und sprang auf, "wenn da Steine drunter sind...!"

"Sind keine!", widersprach Franz, "ich hab' eben schon mit 'nem langen Stock in den Matsch gepiekt, da ist nur Erde drunter."

"Ganz sicher?!"

"Natürlich, ich bin doch nicht lebensmüde!"

Ich lache dich sowas von aus, wenn das nicht funktioniert, dachte ich und rief: "Dann tu' dir keinen Zwang an!"

"He!", zischte Susannah und stieß mich unsanft an, "hör auf, ihn auch noch zu ermutigen!" Dann, an den Jungen gewandt: "Komm' wieder runter, bevor du dir noch wehtust"

Der Junge warf einen kurzen Blick auf mich, schien mir anzusehen, dass ich es insgeheim tierisch amüsant fände, zu sehen, wie er bis zu den Knien in der Schlammgrube versank, und sprang.

"Franz!", schrie Susannah und hielt sich die Hände vor das Gesicht, als wollte sie sich selbst davor bewahren, irgendetwas Schreckliches ansehen zu müssen, doch der Junge schien seine ganze Kraft zusammenzunehmen, flog durch die Luft und krallte sich an dem Ast fest wie eine Katze mit ihren messerscharfen Krallen.

Beinahe panisch starrte er uns an, sah dann nach unten, als könnte er selbst nicht glauben, dass es ihm gelungen war, den Ast zu greifen.

"Ich... Ich hab's geschafft!", krächzte er und stieß ein hustendes Lachen aus, starrte dann aber wieder verängstigt unter sich. "Ich glaube, ich komm' hier nicht mehr runter!" Er sah sich um, von einer Seite zur anderen, und schien zu überlegen, wie er am besten von dem Ast herunterkäme, ohne in Berührung mit dem nach faulenden Pflanzen stinkenden Schlamm zu kommen, doch die Ränder der Grube waren an sämtlichen Stellen mindestens zwei Meter von ihm entfernt.

"Das hättest du dir ja überlegen können, bevor du dich von dem Stamm stürzt!"

"Mann, das ist nicht lustig!"

Fast schon verzweifelt strampelte er mit den Füßen, versuchte vergeblich, sich an dem Ast hinaufzuziehen, und ich merkte, wie ein Funken- wirklich nur ein winziger Hauch- Mitleid in mir aufstieg.

"Kannst du dich nicht einfach an dem Ast entlanghangeln, bis du auf den Boden kommst?", rief ich und trat an den Rand der Grube, um ihm deutlich zu machen, dass ich ihm helfen könnte, wenn er sich nur ein Stück in meine Nähe bewegen würde.

"Keine... Kraft mehr!" Er stieß ein angestrengtes Keuchen aus und biss die Zähne zusammen.

"Kannst du... mir helfen... von dem Stamm aus?"

Oh je...

 

 

Ich schaute kurz zu Susannah, mit einem fast schon verzweifelten Blick, der fragen wollte: Warum ist der Junge manchmal so dumm?, und drückte ihr wortlos mit einem leicht belustigten Kopfschütteln die Leine in die Hand.

"Mach' dich nicht schmutzig", lachte sie und sah mir mit amüsiertem Grinsen dabei zu, wie ich mit skeptischem Schulterzucken auf den Baumstamm stieg- plötzlich schien er doch schmaler, als er von Weitem ausgesehen hatte, und die glatte, feuchte Rinde fühlte sich unter den dünnen Sohlen meiner Schuhe an wie von glattem Eis bedeckter Asphalt.

Vorsichtig, aber dennoch nicht unsicher balancierte ich zur Mitte, wo der Junge abgesprungen war und noch immer mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht über der Schlammgrube baumelte; die Beine hatte er nun ebenfalls fest um den Ast geschlungen und schüttelte abwechselnd einen Arm nach dem anderen aus, um möglichst wenig Kraft zu verbrauchen.

Ich platzierte meine Füße so, dass ich möglichst sicher stand, und streckte die Arme nach dem Jungen aus, doch er war zu weit entfernt, als dass ich ihn hätte erreichen können- zumindest, wenn er sich so festklammerte.

"Franz, lass' den Ast los und versuch, meine Hand zu greifen!"

"Du kannst ihn doch aus der Entfernung nicht runterheben!", rief Susannah und trat ihrerseits an den Rand der Grube, als wollte sie das Spektakel aus nächster Nähe beobachten.

"Geht ja wohl nicht anders, oder?", entgegnete ich und beugte mich noch etwas nach vorne- Wenn er jetzt eine Hand losließe, könnte ich ihn, glaubte ich, fassen, dann müsste ich ihn nur noch gehalten kriegen, doch er war sehr leicht- kleiner und dünner als die meisten Jungen in seinem Alter.

Er ließ los, wollte gerade nach meiner Hand greifen, und plötzlich geschah alles auf einmal: Die Kraft verließ seine Beine, seine Hand löste sich, er stürzte, krallte sich im Flug panisch an dem Ärmel meiner Jacke fest, ich verlor das Gleichgewicht und flog mit erschrecktem Krächzen von dem Stamm hinunter.

Ein lautes Flatschen ertönte, als werfe sich ein fetter Eber mit lautem Grunzen in eine Pfütze aus Mist, und der Schlamm spritzte in alle Richtungen wie eine Flutwelle.

Überall um mich herum war Matsch, ein Gemisch aus modernden Blättern und Erde, die Kälte kroch unter meine Kleidung, meine Gesamten Beine klebten, und von meinem Gesicht troff braunes, dickflüssiges- man konnte es kaum Wasser nennen-, das bei der Landung aufgespritzt war.

"Verdammt nochmal, Franz!", zischte ich, versuchte, mir den Schlamm aus dem Gesicht zu wischen, doch meine Hand triefte ebenfalls wie ein Waschlappen, den man stundenlang in abgestandenem Regenwasser getränkt hatte.

"Iii-gitt!", hörte ich den Jungen wimmern, drehte mich um- und stieß ein hustendes, schadenfrohes Lachen aus: Er war im Sitzen gelandet, die winzigen Spitzen seiner Schuhe lugten kaum wahrnehmbar aus dem Schlamm heraus, und die braune Pampe reichte ihm bis zur Brust. "Du bist ja ganz voll!", rief Susannah erschreckt und schlug sich die Hand vor das Gesicht- ihre Stimme klang, als wolle sie gleichzeitig lachen und weinen.

Womit hab' ich euch zwei verdient, dachte sie wahrscheinlich, oder das musste ja passieren!

Doch sie sagte nichts, stieß stattdessen bloß ein underdrücktes Quieken aus, das jeden Augenblick in schallendes Gelächter auszubrechen drohte.

Mühsam krochen wir aus dem Schlamm, zogen uns an den in die Grube ragenden Ästen hinaus, und nun, im Nachhinein, erinnert mich dieses Bild von dem völlig verdreckten Jungen, der wie ein erschöpfter Hund auf allen Vieren den steilen Hang hinauf aus der Grube krabbelt, an einen Zombiefilm- damals, als ich vierundzwanzig war, hatte es natürlich nichts dergleichen gegeben, doch mit sechzehn oder siebzehn- also, bei meinem zweiten Leben als Mensch- hatte ich sehr viele Filme gesehen und sogar damit angefangen, ein paar Bücher zu lesen.

Doch ich will nichts vorwegnehmen, zu diesem Leben komme ich später. Eigentlich wollte ich gar nichts preisgeben, was ich noch schreiben werde, doch ich muss sicherstellen, dass du, wer immer du bist, auch weiterliest, denn das, was später noch folgt, muss von irgendjemandem gelesen werden, um zu wissen... Nein, ich will noch nichts dazu schreiben. Ich vertraue einfach darauf, dass du weiterliest, denn allein die Tatsache, dass dieses Buch von einem Affen geschrieben worden sein wird, macht es doch interessant, oder nicht?

Genug Eigenwerbung.

Solltest du nicht weiterlesen, ist es mir dennoch gelungen, durch das Schreiben ein wenig Beschäftigung in meinem unendlichen Leben zu finden, und Zeitverschwendung war es bestimmt nicht- ich habe schließlich keine Zeit mehr zu verlieren.

Wie auch immer.

Wir schlurften also durch den Wald, ich mit verdreckten Schuhen, Hosen und Händen, Franz beinahe völlig mit Schlamm bedeckt, eine braune Spur hinter uns herziehend, begleitet von Susannahs schallendem Gelächter.

Am nächsten Tag berichtete sie mir, dass ihre und meine Mutter, die, seitdem wir ein Paar waren, sehr gute Freundinnen geworden waren,

am Abend des Vortags einen kurzen Spaziergang gemacht hätten, wobei sie zufällig auf die Mutter des Jungen getroffen wären. Das geschah öfter, ich vermutete langsam, dass es überhaupt kein Zufall mehr war, wenn sie sich trafen und stundenlang ihre Schwätzchen hielten; jedenfalls hatte Susannahs Mutter wohl plötzlich geheimnisvoll die Stimme gesenkt, sich umgesehen, als müsste sie eine streng vertrauliche Information überbringen und sich vergewissern, dass keine unerwünschten Zuhörer in der Nähe waren, und gefragt, wieso sich die Söhne ihrer beiden Freundinnen eigentlich regelmäßig im Schlamm wälzen und ihre arme Tochter immer in ihre merkwürdigen Spiele mit hineinziehen würden, wo die liebe Susannah doch so ruhig und anständig war?

Außerdem, hatte sie wohl gesagt, wunderte es sie immer- die anderen sollten das nicht als Kritik sehen, sie fände es ja sehr gut, dass ich mich so gut um das Kind kümmerte- dass ich mich, wo ich doch schon achtundzwanzig war, so viel mit Franz beschäftigte, der ja erst zehn war.

Erstens war ich genauso wenig schon achtundzwanzig wie Franz erst zehn war, zweitens war dies das erste Mal, dass wir uns "im Schlamm gewälzt" und beide verdreckt nach Hause gekommen waren- zumindest in dem Ausmaß-, und drittens war Susannah alles andere als anständig und ruhig- zumindest, wenn man, wie ihre Mutter, "anständig und ruhig" mit "langweilig und spießig" gleichsetzte. Es wunderte mich sowieso, dass sie uns nicht noch nachträglich mit Schlamm abgeworfen hatte, um auch ihren Beitrag bei unserem gewaltigen Gematsche zu leisten.

Na ja, ich könnte wohl noch Stunden, Tage damit verbringen, irgendwelche Geschichten aus meinem damaligen Leben zu erzählen, aber ich schweife zu sehr ab, und mein Vorrat an Schreibutensilien ist leider auch begrenzt. Davon abgesehen weiß ich gar nicht, wie alt Affen eigentlich werden. Ich war schließlich schon einige Zeit in diesem Körper. Hoffentlich sterbe ich nicht mitten im Satz.

Caren und ich waren gefahren, gelaufen, hatten einige Male trotz Stadtplan die Orientierung verloren, bis Caren plötzlich vor einer Kreuzung anhielt, auf ein Straßenschild zeigte und triumphierend nickte.

"Wir sind da. Das Gebäude da drüben, das müsste es sein."

Sie zerrte mich hinter sich her, wie sie es immer tat, wenn sie plötzlich ihr Ziel vor Augen sah- oder einen Weg, ein bestimmtes Ziel zu erreichen-, und dieses Mal zwang ich mich dazu, mit ihrem Tempo mitzuhalten und mich nicht in Gedanken darüber zu beklagen, dass ich ja nur drei Beine hatte.

"Hab' ich alles Wichtige?", murmelte sie vor sich hin, kramte in ihrer Handtasche herum und nickte dann, und ich sah in ihrem Blick, dass sie auch langsam aufgeregter wurde, je mehr wir uns dem Gedäude näherten.

Es ruhte auf der Ecke einer weiteren Kreuzung, überall gingen Menschen umher, die meisten so schnell, dass sie schon fast liefen, nur wenige kreuzten schlendernd unseren Weg. Ich musste natürlich vor der Tür warten, Caren band mich an einem Pfeiler fest, und während ich versuchte, es mir irgendwie auf dem harten Asphalt bequem zu machen, huschten meine Augen von einer Seite zur anderen. Überall gab es irgendetwas zu sehen- Autos, die vorüberfuhren, Menschen, die an mir vorbeieilten, Stimmengewirr- aber dennoch bekam ich nicht mit, was überall vor sich ging, denn selbst wenn ich irgendwo die Bruchstücke von Gesprächen aufschnappen konnte, waren es nur wenige Worte, wie: "... heute morgen die Einkaufstüte..." oder "...brauche eine neue Hose."

Ist mir auch egal, dachte ich schließlich und legte mich auf den Boden. Er war kalt. Wie lange war Caren schon drinnen? Zwei Minuten?

Was, wenn sie nichts herausfand? Wenn sie keine Informationen über Susannah preisgeben wollten? Immerhin war Caren nicht einmal mit ihr verwandt, konnte nicht einmal beweisen, dass sie sie kannte. Was ja schließlich auch nicht stimmte.

Verdammt!, dachte ich, merkte, wie meine Pfoten zu kribbeln anfingen, und setzte mich wieder auf. Wenn es nicht funktioniert... Wenn ich dich nicht finde! Susannah!

Ich zwang mich dazu, ruhig zu bleiben, atmete tief ein und langsam wieder aus. Ich musste mich beruhigen. Alles würde gut gehen. Um mich abzulenken, versuchte ich, an Musik zu denken, an die Lieder, die Susannah immer auf ihrer Gitarre gespielt hatte, und die, die ich gemeinsam mit Caren gehört hatte.

'Til forever on it goes

Through the circle fast and slow

I know! It can't stop, I wonder

 

Ich begann schon, die Melodie zu summen- nun ja, ich versuchte es; aus meiner Kehle drang ein merkwürdiges Wimmern, das nur entfernt an Musik erinnerte, und einige der Leute, die an mir vorübergingen, warfen mir neugierige, teilweise sogar mitfühlende Blicke zu.

 Zwei Mädchen, etwa in Carens Alter, blieben vor mir stehen und schauten zuerst mich, dann die jeweils andere unsicher an, und eine von ihnen zuckte skeptisch mit den Schultern. "Denkst du, er hat Schmerzen?"

"Das hört sich fast an wie irgendein Klagelied in der Kirche!"

Nein, ich hatte keine Schmerzen, und ich lag auch nicht im Sterben! Kirche?? Klagelied? Das war Country Rock, was ich da sang! Diese Kunstbanausen haben wohl noch nie gute Musik gehört, und jetzt beurteilten sie auch noch meinen Gesang.

Singe, wem Gesang gegeben!

Iiii wanna kno-ow, have you ever seen the rain

Coming down on a sunny day?!

 

Es verging bestimmt eine halbe Stunde, bis mich jemand von hinten antippte, und als ich mich herumdrehte, sah ich in Carens erleichterte, braun leuchtende Augen.

"Ich hab' die Nummer des Hotels dagelassen. Sie werden nach ihr suchen und sich in einer Woche melden."

 

 

 

 

 

 

 

..

 

Nun ging das Warten los. Caren war die geniale, wenn auch einige Anstrengung erfordende Idee gekommen, Susannahs Daten zu sämtlichen Bürgerämtern in Köln zu bringen, um etwas mehr Sicherheit zu haben, dass wir auch ein richtiges Ergebnis erhalten würden; wir waren also bis zum Abend durch die gesamte Stadt gegangen- zumindest fühlte es sich unter meinen Pfoten an, als wäre es die ganze Stadt gewesen- und nun schien es, als würde jetzt auch die gesamte Stadt nach Susannah suchen.

Was ja ziemlich praktisch wäre.

Eine Woche mussten wir mindestens warten, bis sich eines der Ämter melden würde, so viel stand fest, und in der Zwischenzeit gab es nicht besonders viel, was wir sonst noch tun könnten, um Susannah zu finden. Ich überlegte die ganze Zeit, welche Möglichkeiten es noch gäbe, und kam auf die Idee, dass wir nach ihrem damaligen Zuhause suchen könnten, immerhin war die Möglichkeit, dass das Haus oder zumindest die Straße noch existierte, nicht gleich null. Und vielleicht wohnten dort ja sogar noch ein paar ihrer alten Nachbarn, oder, im Idealfall, sie selber.

Ich musste nur noch einen Weg finden, Caren diese Idee irgendwie mitzuteilen, und im Moment wusste ich überhaupt nicht, wie ich das anstellen sollte.

Irgendwie hatte ich gerade auch nicht mehr besonders viel Lust, darüber nachzudenken- nun drängte die Zeit schließlich nicht mehr.

Caren wäre wahrscheinlich auch nicht besonders froh darüber, einen weiteren Vorschlag zu hören, nach diesem endlos langen Tag voller Herumlaufen, Herumfahren, Ein- und Umsteigen, vor irgendwelchen Türen warten (wobei das ja nur für den Vier- ich meine, Dreibeiner- unter uns galt).

Sie lag quer auf ihrem Bett, ohne sich zu bewegen, hatte alle Gliedmaßen von sich gestreckt und starrte an die Decke, und ab und zu gab sie ein langgezogenes Seufzen von sich.

Ich lag daneben, meine Schnauze ruhte auf ihrem ausgestreckten Arm, mein Blick war starr gegen die Wand gerichtet. Irgendwie wunderte es mich, dass sie nichts dagegen hatte, wenn ich mich neben ihr auf ihrem Bett breitmachte, denn immerhin wusste sie ja, dass ich ein Mensch im Hundekörper war, auch wenn man es mir auf den ersten Blick nicht ansah. Andererseits, wenn ich so darüber nachdenke, fällt mir auf, dass sie manchmal doch etwas Abstand gehalten hat, nachdem sie erfahren hatte, dass ich eigentlich ein Mensch war- am Anfang, als sie noch in ihrer hoch-depressiven Phase gesteckt hatte, war ich manchmal, wenn sie völlig aufgelöst und wimmernd auf dem Boden gesessen hatte, zu ihr gegangen und hatte ihr meine Shnauze auf die Schulter, gelegt, um sie zu trösten, um ihr zu zeigen, dass sie nicht allein war. Zuerst hatte sie nichts gesagt und angefangen, meine Ohren zu kraulen- bei ihr war mir das seltsamerweise nicht einmal unangenehm gewesen- war dann aber plötzlich zusammengezuckt und hatte blitzartig die Hand zurückgezogen. Dies war wohl stets der Moment gewesen, in dem ihr eingefallen war, dass ich ja nicht bloß ein gewöhnlicher Hund war, sondern ein "wiedergekehrter" Mensch war- ein älterer Mann, wie sie damals offenbar gedacht hatte. Und, seien wir ehrlich, welche Fünfzehnjährige kraulte schon gerne die Ohren eines alten Mannes?

Seitdem sie alerdings wusste, dass ich erst vierundzwanzig war- Na ja, meine Ohren kraulte sie trotzdem nicht mehr, was womöglich aber nichts mit dem Alter zu tun hatte, sondern einfach der Tatsache, dass sie generell keinem menschlichen Wesen... - wie auch immer; seitdem sie dass wusste, hatte sich unsere Beziehung irgendwie nochmals verändert. Vielleicht bildete ich es mir auch ein, doch ich hatte das Gefühl, als würde sie nun anders mit mir reden, noch freundschaftlicher, noch mehr auf einer Ebene. Was mich allerdings wunderte, da Caren ja immer sagte, sie sei so oft wiedergekehrt, dass sie inzwischen gar nicht mehr wusste, mit welchem Alter sie ich identifizieren sollte.

Vielleicht hing das stets von ihrer täglichen Laune ab; manchmal wachte sie dann wohl auf und dachte: "Oh Mann, ich fühle mich so schlapp wie eine Achtzigjährige!"

Wie sie so auf dem Bett lag, unbeweglich, und zwischendurch ein angestrengtes, gleichzeitig aber auch erleichtertes Stöhnen durch ihre Lippen presste, da ihre Füße ebenfalls von dem stundenlangen Hin-und Herlaufen schmerzten, versprühte sie wirklich nicht gerade die Energie einer jungen Frau.

Mir ging es allerdings ähnlich; die Ballen unter meinen Pfoten brannten, meine Beine taten weh, als hätten sie seit Tagen keinen Moment der Ruhe mehr gespürt, und ich wollte nur noch daliegen, mich überhaupt nicht mehr bewegen. Die Luft in unserem Zimmer war angenehm kühl, die Tür zum Balkon war einen Spalt weit geöffnet, und ich seufzte jedes Mal wohlig, wenn eine sanfte Brise hereinwehte und mein Fell zauste.

"Wir haben's geschafft, Kumpel", murmelte sie, ohne den Blick von der Decke abzuwenden, und auch ich schaute starr geradeaus, denn allein den Kopf zu drehen hätte mich mehr angestrengt, als ich es mir im Moment antun wollte.

"Wir haben es so weit geschafft, wie wir es in der Hand haben. Der Rest liegt bei denen. Jetzt können wir nur noch hoffen und warten."

Na ja, irgendwas können wir schon noch tun, dachte ich, aber... Meine Augen wanderten zu meinen Pfoten. Aber nicht jetzt! Ob wir heute ihr altes Zuhause suchen und den alten Leuten, die in der Umgebung wohnen, auf die Nerven gehen oder morgen, macht wohl keinen Unterschied.

Ich wollte sie ja finden, mehr als alles andere, so schnell wie möglich, und hätte mein Körper es irgendwie zugelassen, wäre ich sofort losgerannt, hätte jedem einzelnen Einwohner Kölns diesen verdammten Zettel gezeit und gehofft, dass irgendjemand dabei wäre, der sie kannte. Aber ich konnte nicht mehr. Bestimmt sechs Stunden waren wir herumgelaufen, ich auf drei Beinen, und am Ende hatten sie nur noch gepocht, die Pfoten gebrannt, als würde ich auf glühenden Kohlestücken laufen. Kein Wunder, wenn man sah, was die Leute alles auf die Straße warfen; ich will gar nicht wissen, wie viele verschiedene Partikel von Müll, Dreck, Chemikalien und was-weiß-ich-was noch nun alles unter meinen Füßen klebte.

Tut mir Leid, Susannah, dass ich mich für dich nicht nochmal diesem Leid ausgesetzt habe, aber ich war- womöglich- alt und gebrechlich, und noch dazu körperlich behindert. Ein Wrack. Ein 24-Jähriger in einem behinderten, gebrechlichen Hundekörper.

Wie alt war ich eigentlich? Fünf Jahre mindestens, denn so lange lebte ich schon bei Caren. Aber wie alt war dieser Hund wohl gewesen, als meine Seele seinen Körper gefunden hatte? Zwei? Neun?

Ich könnte theoretisch in der Blüte meines Lebens stehen, ein Mann- Entschuldigung, ein Rüde- im besten Alter, oder eben kurz vor meinem Tod. Letzteres glaubte ich nicht, so alt fühlte ich mich irgendwie nicht- nun ja, heute schon- aber ganz jung fühlte ich mich auch nicht mehr. Sieben, vielleicht acht.

Sollte ich es nicht eigentlich instinktiv wissen? Vielleicht hatte meine menschliche Seele einen Teil meiner Hundeinstinkte zerstört.

Was mich auch wunderte- wieso habe ich mir darüber vorher eigentlich kaum Gedanken gemacht?- war die Tatsache, dass ich meistens in den Körpern irgendwelcher schwerkranker, fast toter Tiere aufwachte und mich dann erst einige Tage erholen musste. Vielleicht passierte es so, dass ein verletztes oder krankes Tier starb, und falls ich zufällig im exakt gleichen Moment starb, wanderte meine Seele eben in den anderen Körper- Aber wie konnte es sein, dass dieser Körper dann schließlich doch weiterlebte? Außerdem- in jedem Augenblick stirbt doch irgendwo auf der Welt irgendein Tier oder Mensch. Wie entscheidet sich dann, in wessen Körper meine Seele schlüpft? Wie kann es sein, dass... "Wir haben noch viel Zeit", murmelte Caren und riss mich auch meinen Gedanken. Ich schüttelte den Kopf, um diese verwirrende Frage, die ich wahrscheinlich sowieso nie beantworten könnte, aus meinem Kopf zu kriegen- zumindest für den Augenblick. Irgendwie hatte ich Lust, mir weiter darüber den Kopf zu zerbrechen, aber nicht unbedingt jetzt. Sogar das Denken war anstrengend.

"Wir können die Stadt erkunden. Wir könnten Orte suchen, an denen du damals warst. Vielleicht..." Sie zögerte. "Vielleicht ist ja etwas erhalten geblieben."

Das bezweifelte ich. Und ich hörte an ihrer Stimme, dass sie es auch tat. Aber, wenn wir sowieso Zeit totzuschlagen hatten, warum nicht? Einerseits kribbelte es mich auch in den Pfoten- na ja, im Moment wurde dieses Kribbeln von Schmerzen überdeckt, aber spätestens morgen würde ich es wieder spüren- meine alte Heimat zu erkunden, die Orte zu suchen, an denen ich damals mit Susannah gewesen war, und auch zu sehen, wie die Stadt sich verändert hatte. Andererseits... Nichts war mehr wie damals, gar nichts, und das verursachte irgendwie einen leichten Stich in meinem Herzen. Die Leute waren nicht mehr dieselben, ich war nicht mehr Matthias, sondern Blacky, ein viel zu dünner, zerzauster, eventuell alter Hund, ein Flohtaxi auf drei Beinen- niemand wusste, ob ich jemals wieder ein Mensch sein würde, und, was am schlimmsten war, Susannah war nicht dabei. Noch nicht. Sobald die sich melden, dachte ich, werde ich sie finden, und dann werden wir wieder zusammen sein. Und irgendwie wusste ich, dass es so kommen würde. Es ging einfach nicht anders.

Jetzt, im Nachhinein, frage ich mich, ob Caren damals auch so überzeugt von dem Erfolg unserer Suche war- damals war ich mir sicher gewesen, dass es so war, weil ich selbst so viel Überzeugung in mir hatte, dass es für zwei reichte. Was ich auf jeden Fall wusste: Wir waren beide totmüde und erschöpft. So erschöpft, dass wir das Zimmer nur noch zum Abendessen und für meinen abendlichen Toilettengang, für den ich mich ja leider zumindest ein bisschen von dem Hotel entfernen musste, verließen.

Wir schliefen beide sehr früh ein, trotz der Aufregung. Ich war mir sicher gewesen, dass ich diese Nacht wachliegen und mir die ganze Zeit über in Gedanken sagen würde: Du wirst sie wiedersehen. Du wirst sie wiedersehen.

Doch irgendwie gewann mein erschöpfter Körper die Oberhand über meinen unruhigen Geist, und kaum hatte ich mich am Abend wieder auf die weiche Decke gelegt, hüllte der Schlaf meine Sinne in eine sanfte Dunkelheit.

Ich träumte. Und ich wusste schon, was in meinem Traum geschehen würde, noch bevor es passierte oder bevor ich überhaupt irgendetwas sehen konnte.

Alles war verschwommen, als sähe man durch eine milchige Glasscheibe hindurch- trotzdem wusste ich genau, dass diese verschwommenen Linien im Hintergrund, die eigentlich nur ein schimmernder, schwarzer Fleck am Horizont waren, den Dom darstellen sollten.

Kies, Sand und zersplitterte Muscheln knirschten unter meine Stiefeln, zu meiner Rechten rauschte der träge, breite Fluss mit leichten Wellen.

Zwischen den verschwommenen Klecksen aus Grün- und Brauntönen, die die Bäume und den Sand am Ufer darstellen sollten, nahm auf einmal eine Gestalt Form an, und ich sah, wie plötzlich jemand auf mich zueilte. "Susannah!", rief ich, als

die verschwommenen Linien und Farben langsam einem menschlichen Wesen zu glichen begannen- man erkannte keine Gesichtszüge, nicht einmal Augen, einen Mund oder Haare, doch ich wusste, dass sie es war; ich wusste, dass sich aus diesem Durcheinander gleich ihre glänzenden Augen und die vollen, lachenden Lippen formen würden, nach denen ich mich so sehr sehnte.

Ich breitete die Arme aus und rannte auf die rötlichen Farbtupfen zu, die, je näher sie kamen, immer schärfer und deutlicher wurden. Zuerst erkannte man die schlanke Gestalt, dann feuerrotes, gelocktes Haar, dann das strahlende Lächeln.

Sie rief meinen Namen, lief auf mich zu und fiel lachend in meine Arme. Mein Herz pochte, ich drückte sie fest an mich, spürte, wie in Meer aus Tränen an meinem Gesicht hinunterfloss.

Hier war sie, ich spürte ihre Nähe, roch ihren Duft, fühlte ihren Körper, der an mich gepresst war. Ich hatte sie wieder.

"Ich hab' dich so vermisst", schluchzte ich in ihre weichen Locken hinein, atmete erleichert aus, als sie meine feste Umarmung erwiederte.

"Ich habe dich auch vermisst", flüsterte sie, und ich hörte an dem unkontrollierten Zittern in ihrer Stimme, dass sie auch weinte. "Du hast mir so sehr gefehlt!"

Vorsichtig löste ich meine Umarmung, um ihr Gesicht zu sehen. Ihre Augen, diese leuchtenden, wunderschönen Augen, glänzten unter Tränen, und ihre roten Lippen formten ein Lachen, das reine Freude ausstrahlte. Ich hob die Hand und ließ sie über ihre Wangen gleiten, ein Kribbeln durchfuhr meinen Körper, als ich ihre Wärme fühlte.

"Ich liebe dich", sagte sie, und ich erwiderte ihr Lächeln.

"Mein Mädchen!", flüsterte ich, und sie schlang wieder ihre Arme um mich. "Ich habe so lange nach dir gesucht!", antwortete sie, "du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich nach dir gesehnt habe."

"Ich hab' so lange darauf gewartet, dich endlich wiederzusehen", wisperte ich, "mein Gott, Susannah, ich... Ich kann ohne dich nicht leben!"

"Du musst niemals ohne mich leben", entgegnete sie, "ab jetzt bleiben wir zusammen. Für immer. Versprichst du mir das?"

"Ich lasse dich niemals wieder los." SIch sah ihr fest in die Augen. "Ich schwöre es."

Kaum wahrnehmbar nickte sie, zog mich an sich heran und presste ihre Lippen auf meine, ihre Hände krallten sich beinahe an meinen Schultern fest, als fürchtete sie, ich könnte mich ihrem Griff entreißen und für immer verschwinden.

Meine Hand fuhr duch ihre verspielten Locken, ich atmete ihren süßen Duft ein, spürte ihre vollen Lippen. Wie bei unserem ersten Kuss wollte ich sie mit allen Sinnen spüren. Doch gleichzeitig wollte ich ihr in die Augen sehen, wollte ihre Stimme hören, um mich zu vergewissern, dass sie auch tatsächlich da war.

Unser erster Kuss- war das nicht genau hier gewesen, an dieser Stelle am Rhein, von wo man auf den Dom und die Brücke blicken konnte?

So standen wir noch eine Zeit lang, dicht aneinandergepresst, einander fest umklammernd- irgendwie fühlte es sich wie eine Ewigkeit an, gleichzeitig aber nur wie der Bruchteil eines Herzschlags, viel zu kurz, als sie schließlich einen Schritt zurücktrat und mir in die Augen sah.

"Wie kann es sein, dass du hier bist?"

Diese Worte trafen mich wie ein Schlag. Ich dachte nach. Wie konnte es sein, dass ich hier war? Ich überlegte, wie ich hierhergekommen war- nicht hierher, zu dieser Stelle, sondern hierher, auf die Welt, unter die Lebendigen. Immerhin war ich ja erschossen worden.

Ich überlegte, und schließlich kamen die Erinnerungen, die so weit zurücklagen- wie ich als Fuchs aufgewacht war, dann wieder gestorben, wieder und wieder, dann Caren...

Kurz dachte ich nach, suchte nach den richtigen Worten und schüttelte dann lachend den Kopf.

"Du würdest es mir nicht glauben."

"Versuch' es."

"Na schön."

Ich fuhr mir durch das Haar und ergriff ihre Hand die vor Aufregung zitterte.

"Ich wurde erschossen, Susannah. Zwei Tage, bevor ich hätte heimkommen können, hat mich so ein Dreckskerl erwischt. Du warst das Letzte, woran ich gedacht habe. Ich wollte mit deinem Gesicht vor meinen Augen sterben und nicht mit den hässlichen Fratzen von irgendwelchen Russen, die durch den Schlamm kriechen wie Würmer und auf alles schießen, was ihnen in den Weg läuft. Und dann..." Ich konnte ihr doch unmöglich erzählen, was als Nächstes kam! Sie würde sich umdrehen und gehen, wütend darüber, dass ich ihr so einen Mist erzählen konnte, und das bei unserem ersten Treffen nach so langer Zeit!

Nein, würde sie nicht. Das hier war nicht irgendeine Frau, das war Susannah. Meine Susannah. Sie würde mir zuhören. Sie musste mir zuhören. Also erzählte ich.

"Dann bin ich wieder aufgewacht, aber ich war nicht mehr ich, ich lag nicht mehr im Schützengraben, sondern..." Ein Räuspern. "Sondern als kleiner Fuchswelpe in einem Bau. Ich bin wiedergeboren worden."

Ich hielt inne und sah sie zögerlich an, rechnete fast damit, dass sie in schallendem Gelächter ausbrechen und verlangen würde, dass ich ihr verdammt nochmal die Wahrheit erzählen sollte, aber ihr Blick war fest auf mich gerichtet und ihre Augen leuchteten voller Erwartung und tiefem Vertrauen. Wieso glaubte sie mir das?

"Ich bin nicht alt geworden, ich war ein bisschen zu unvorsichtig und leichtsinnig, und wurde wieder erschossen, von irgendeinem Jäger oder so, der seine Hühner schützen wollte."

Sie schmunzelte ein wenig. "Typisch", lachte sie, doch ihre Augen glänzten sorgenvoll. "Bist du qualvoll gestorben."

"Quatsch." Ich grinste. "Na gut, ein paar Mal war's nicht so angenehm, aber ich hab's überlebt." Daraufhin mussten wir beide lachen.

Ich erzählte ihr die gesamte Geschichte, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich als Hund zurückgekehrt und mit Caren nach Köln gereist bin, und Susannah hörte mir voller Faszination zu.

"Und dann?", fragte sie irgendwann.

Und dann? Ich überlegte, dann stockte mir der Atem. Wie und wann war ich wieder ein Mensch geworden? Wir waren beim Bürgeramt gewesen, nachdem Caren so mühsam meinen und Susannahs Namen herausgefunden hatte, dann sind wir ins Hotel zurückgegangen, mit schmerzenden Pfoten und Füßen, und hatten uns für den Rest des Tages schlafen gelegt.

Ich riss entsetzt die Augen auf, als ich spürte, wie das Gewicht ihrer Hand in meiner plötzlich weniger wurde. "Susannah! Du bist... Das ist ein Traum!"

"Mach's gut", flüsterte sie und küsste mich abermals, doch ich spürte kaum etwas, nur einen winzigen Hauch an meinen Lippen, wie eine kühle Brise im Sommer. "Ich muss gehen."

"Was meinst du? Du darfst nicht gehen!"

"Ich liebe dich."

Sie trat einen Schritt zurück, und als ich zitternd in ihre Augen sah, konnte ich die Silhouette der Brücke, die hinter ihr über den Fluss führte, schwach durch sie hindurchschimmern sehen. Ihr Griff um meine Hand wurde schwächer, und als ich nach unten schaute, sah ich voller Schrecken, dass ihre Fingerspitzen langsam durchsichtig wurden.

"Nein, bleib bei mir!"

Mehr und mehr verblasste ihr Gesicht, ich drückte ihre Hand stärker, versuchte, sie festzuhalten, doch irgendwann waren es nur noch meine eigenen zitternden Finger, die ich zusammendrückte.

"Susannah!" Ich schrie ihren Namen zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen hervor, spürte, wie meine Augen überflossen, und versuchte, mit der Hand durch ihr weiches Haar und über ihr hübsches Gesicht zu streichen, doch ich ergriff nichts als kalter, feuchter Luft.

"Susannah!"

Vergeblich versuchte ich, das zu greifen, was von ihr noch übrig war, doch es wurde immer weniger, sie verblasste mehr und mehr, löste sich auf. Ich schluchzte, fiel auf die Knie, meine Hände krallten sich in den Kies und die scharfen Muschelsplitter, die sich in meine Haut bohrten, doch ich drückte fester zu. Blut rann an meinen Fingern hinab.

Ich kreischte ihren Namen, so lange, bis meine Stimme versagte und nur noch ein heiseres Krächzen aus meiner Kehle kam, dann vergrub ich mein Gesicht in meinen blutüberströmten Händen.

Unsanft stieß mich etwas in die Seite, ich fiel um, landete im Kies, schlug die Augen auf.

 

 

 

Über mir stand Caren, die mich fast schon entsetzt anblickte und versuchte, mich wachzurütteln.

"Wach auf!", zischte sie, "Blacky, wach auf!"

Ich fuhr erschreckt auf, starrte sie an, meine Augenlieder waren so weit aufgerissen, wie es ging, meine Glieder zitterten und mein Herz pochte. Beinahe ungläubig sah ich auf meine Pfoten herab- Pfoten waren es, natürlich, keine Hände, und sie standen auf einer weichen Decke, nicht auf Kies, nicht auf Muscheln, ich saß auf dem Bett, nicht am Rhein. Kein Blut. Keine Susannah.

Noch nie war ein Traum so real gewesen. Meistens konnte ich in meinen Träumen nicht einmal sprechen, und ich war nicht ich selbst, ich sah auf mich herab, beobachtete meine Handlungen, war irgendein Vogel oder so etwas, der das Geschehen von einem Ast aus beobachtet. Alles war verschwommen, wie von einem weißen, milchigen Film überzogen, es war schwer zu sehen. Vor allem konnte ich nichts fühlen, nicht schmecken, nicht riechen, und meistens auch nicht besonders zusammenhängend denken. Dieser Traum hier war anders gewesen, völlig anders. Meine Erinnerungen im Traum hatten genau dem entsprochen, was ich im echten Leben erlebt hatte, Susannahs Haar war genauso weich gewesen, wie ich es noch immer in Erinnerung habe, ihr Duft war derselbe gewesen, der Ort war derselbe gewesen... Meistens, wenn ich träumte, wusste ich, dass ich träumte. Ich wusste es von Anfang an. Jetzt war ich sicher gewesen, sie wirklich wiederzuhaben, für immer, habe gar nicht daran gedacht, sie noch einmal loszulassen.

Ich lasse dich niemals wieder los. Ich schwöre es.

Scheiß' drauf!

Ich jaulte schmerzerfüllt auf und vergrub mein Gesicht in den Pfoten. Wie konnte etwas, das sich so echt anfühlte, auf einmal nicht mehr da sein? Ihre Stimme, ihre Wärme, der Kuss... Einige Zeit lag ich winselnd auf der Decke, rührte mich kaum, mein Körper zitterte.

Irgendwann fuhr mir Caren sanft durch das Fell und kniete sich vor mir hin.

"Schlecht geträumt?"

Ich wollte nicht zu ihr aufsehen, damit sie nicht sah, dass ich weinte.

Bockmist, fuhr ich mich selbst in Gedanken an, du bist ein verdammter Hund! Wen interessiert, ob du weinst!

Konnte ich überhaupt weinen? Ich meine, in dem Moment fühlte ich mich, als wäre dies das einzige, was ich mein ganzes Leben lang tun konnte, aber, von meinen Gefühlen abgesehen, konnte ich es überhaupt, als Hund? Ich spürte keine Träne fließen. Als hätte ich sie alle eben, in meinem Traum, vergossen.

Doch Caren merkte trotzdem, wie ich mich fühlte. Wie hätte sie es auch nicht merken können, nach diesem Winseln?

Sie nahm mich in den Arm und strich mir über die Wange, um mich zu trösten, und ich merkte, wie das Zittern ein wenig nachließ. Ich spürte ihren ruhigen Herzschlag und das gleichmäßige Ein- und Ausatmen, und obwohl die Trauer blieb, beruhigte es mich dennoch.

"Alles ist gut", flüsterte sie, "ich bin ja da."

Sie hielt mich lange Zeit, und ich stellte mir vor, es wäre Susannah, die mich in ihren Armen hielt. Es hatte sich doch so echt angefühlt!

"Ich weiß, wie du dich fühlst".

Ach ja?, dachte ich, zunächst empört, und hasste mich selbst im nächsten Augenblick für diesen Gedanken.

Immerhin hatte ich noch Hoffnung, und nun weiß ich, dass diese Hoffnung, Susannah wiederzusehen, das Einzige war, was mir Kraft gab.

Caren hatte niemanden. Alle, die sie gekannt hatte- zumindest die, die ihr wirklich etwas bedeuteten- waren tot. Woher nahm sie überhaupt die Energie, jeden Tag aufzustehen, irgendetwas zu beginnen? Für sie gab es keine Hoffnung, sie würde ewig leben, immer wieder neue Leben, neue Leute kennenlernen, sie wieder verlieren.

Andererseits, als ich an die Zeit zurückdachte, da ich anfangs bei ihr gelebt hatte, erinnerte ich mich daran, wie sie jeden Tag weinend in ihrem Zimmer gesessen hatte, kraftlos, erschöpft, unwillig, neue Kontakte zu schließen.

Und ich hatte ihr geholfen.

Nun hatte auch sie ein Ziel, wir hatten ein gemeinsames Ziel, nämlich Susannah. Und sie würde mir helfen, wo sie nur konnte, das wusste ich. Das hatte sie bereits gezeigt.

Danke, dass du da bist, Caren, wollte ich sagen, hätte ich gesagt, wenn ich gekonnt hätte. Und ich wusste, dass sie mir gegenüber genauso fühlte.

"Es ist schon spät", murmelte sie irgendwann, "wenn du willst, mache ich mich fertig, dann können wir frühstücken gehen."

Der Gedanke an Essen ließ einen Bruchteil der Trauer verfliegen, und ich nickte langsam.

 

 

Aber das Auftsehen fiel mir schwer. Meine Pfoten taten weh - ich weiß nicht, wie oft ich es schon erwähnt habe- und ich hatte Muskelkater.

"Du siehst fertig aus", murmelte Caren und strich mir tröstend durch den Pelz an meinem Nacken, was irgendwie in Anbetracht der Tatsache, dass ich ja nicht wirklich ein Hund war, und sie das genau wusste, en wenig befremdlich war. Aber ich ließ es mit einem langgezogenen Seufzen über mich ergehen. Erstens war ich einfach zu kaputt, mich zu widersetzen- körperlich wie geistig- und zweitens, ich gebe es nur ungern zu, fand ich es im Grunde nicht unangenehm.

"Du siehst aus, als wärst du richtig im Eimer."

Was du nicht sagst, dachte ich und klopfte bejahend mit der Pfote- das einzige Körperteil, das noch die Kraft aufbrachte, sich zu bewegen- auf den Boden.

Stundenlang auf drei Beinen durch die Gegend zu hüpfen und sich dabei auch noch orientieren zu müssen, und das zwei Tage infolge, waren für einen alten, klapprigen Köter nicht gerade ein Kinderspiel. Mittlerweile war ich mir ganz sicher, dass ich alt sein musste, ich spürte es irgendwie. Und jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaute, sah ich, dass sich das schwarze Fell an meiner Schnauze mehr und mehr weiß färbte. Viel mehr als zwei, vielleicht drei Jahre hätte ich bestimmt nicht mehr zu leben.

Soviel zu meiner körperlichen Verfassung.

Mein Kopf dröhnte; nach allem, was ich gesehen hatte, nach allen Erinnerungen, die zurückgekommen waren, schwirrten sämtliche Gefühle in meinem Kopf umher und vermischten sich zu einer seltsamen Masse. Freude, Angst, Trauer, Erleichterung, Entsetzen... Und meine Verwirrung war zu groß, als dass ich darüber nachdenen konnte, welches dieser Gefühle die Oberhand gewann.

Lange Rede, kurzer Sinn- ich wollte mich weder bewegen, noch denken. Ich war auch nur eine verwirrte Masse, wie meine Gedanken, die dort herumlag, wo man sie platziert hatte.

"Kann ich irgendetwas tun, damit du dich besser fühlst?"

Bring' mir Susannah zurück, dachte ich, versichere mir, dass ich sie wiedersehe. Aber das kannst du nicht. Verdammt, meine Ansprüche waren einfach zu hoch. Ich überlegte kurz.

Oder bring mir Essen.

Ich begann, demonstrativ die Luft zwischen meinen Zähnen zu zerkauen, schmatzte dabei laut, und das schelmische Grinsen auf Carens Lippen sagte mir, dass sie sofort verstand, was ich verlangte.

"Natürlich, was auch sonst. Wonach ist es dem Herrn denn zumute? Wir können natürlich runter zum Frühstücksbuffet gehen... Aber da gibt es heute nur süßes Zeug, Kuchen und so weiter. Oder Brötchen mit Käse."

Kurz überlegte ich, schüttelte dann aber den Kopf. Vielleicht war ich schon viel zu verwöhnt, aber belegte Brötchen waren mir nach zwei Tagen solcher Anstrengung zu... einfach.

"Ich glaube, das Trockenfutter ist leer."

So eine Tragödie.

Sie stand auf und eilte auf den Balkon, wo sie die Tüte mit Trockenfutter gelagert hatte, damit sich der- ich zitiere- "schweißfußartige Gestank, den diese Hasenküttel aus vertrockneter Was-weiß-ich-was-Pampe versrtömen", nicht in den Möbeln festsetzen konnte. Und ich musste es essen!

"Zwei Bröckchen sind noch da. Warte..." Es raschelte. "Drei."

Sie legte die winzigen Brocken vor mein Gesicht, und ich leckte sie auf; die Reichweite meiner Zunge reichte gerade aus, um das Trockenfutter erreichen zu önnen, ohne mich zu bewegen, und ich zerkaute sie halbherzig.

Caren schüttelt den Kopf, tätschelte meinen Nacken und lachte belustigt.

"Wie kann man nur so faul und so gelangweilt sein! Zeig' mal ein bisschen mehr Dankbarkeit für das, was du hast. Aber ich verstehe schon. Hasenküttel sind öde, was?"

Du sagst es.

"Ich wette, du willst Fleisch."

Zum Beispiel.

"Salami?"

Von mir aus...

"Oder Frikadellen?"

Ja!

"Spießbraten?"

Jaaa! Oh, bitte, bitte!

"Hab' ich mir gedacht. Ich könnte fragen, ob es noch Reste vom Abendessen gibt... Ach nein, gestern gab's ja nur Nudeln. Oder willst du Nudeln?"

Hättest du nicht Spießbraten erwähnt, hätte ich darüber nachgedacht! Ich schüttelte den Kopf.

"Also gut. Ich hatte sowieso nicht vor, den ganzen Tag drinnen zu verbringen, außerdem wollte ich noch ein paar Äpfel kaufen. Dann gehe ich gerade in den Supermarkt und schaue mal, was ich finde. Auf dem Weg ist doch die Pommesbude, da müsste es doch auch Spießbratenbrötchen geben, falls es im Supermarkt nichts in der Richtung gibt."

Ich bin dir ja so dankbar! Irgendwo in den Untiefen meiner Gedanken kratzten de winzigen, stumpfen Krallen eines schlechten Gewissens, weil ich von Caren verlangte, für mich in den Supermarkt zu gehen, und das, nachdem wir die letzten zwei Tage fast ununterbrochen gegangen waren. Aber der Appetit war definitiv stärker; Außerdem hatte sie ja gesagt, dass sie sich sowieso die Beine vertreten wollte. Ich verstand zwar nicht, wie sie immer noch das Bedürfnis haben konnte, sich zu bewegen, aber ich wollte sie keinesfalls davon abhalten.

"Aber so kann ich auf keinen Fall gehen", murmelte sie an sich selbst gewandt und betrachtete die riesige, durchlöcherte Jogginghose, darüber das riesige, durchlöcherte Shirt, das sie immer überwarf, wenn sie plante, sich für den Rest des Tages auf das Sofa zu legen- oder, wie sie es vor unserer Reise getan hatte, bei ihrem Training. Caren war recht sportlich; seitdem sie die Phase ihrer schlimmsten Depressionen überwunden hatte, ging sie öfters laufen oder machte irgendwelche Übungen, was sie allerdings erst tat, nachdem ich in ihr Leben getreten war. Ich glaube, ich tat ihr gut.

Ich war ein wenig verwirrt, als sie einfach so, ohne sich umzudrehen, das Shirt auszog, dann die Hose, und sie auf den Boden warf. In Unterwäsche stand sie vor mir, es war enge, schwarze Unterwäsche, die ihre sportliche, aber gleichzeitig sehr weibliche Figur betonte. Zunächst wollte ich anstandshalber meinen Blick abwenden, entschied mich allerdings dagegen. Ich war nun einmal ein Mann, und ich hatte ewig keine hübsche Frau in Unterwäsche gesehen, auch wenn Caren bloß einen alten, müden Hund sah, der unbeweglich auf dem Boden lag. Aber trotzdem wusste sie, dass ich keiner war. Auch wenn sie manchmal nicht den Eindruck machte.

Als sie meinen gaffenden Blick bemerkte, murmelte sie: "Oh, Verzeihung", und drehte sich in eine andere Richtung. Schnell zog sie sich wieder an, schnappte sich ihre Handtasche und verschwand mit einem kurzen "Bin sofort wieder da" aus dem Zimmer. Doch daraus wurde nichts.

Zwischendurch döste ich ein bisschen, aber sobald mein Magen knurrte, spürte ich meinen Hunger, und war wieder hellwach. Trotzdem blieb ich auf dem Boden liegen, unbeweglich, nur meine Augen rollten von einer Seite zur anderen, zumindest ab und zu. Manchmal summte ich ein wenig vor mich hin, wenn mir die Lieder in den Sinn kamen, die Caren immer auf ihren Schallplatten gehört hatte. Den Plattenspieler hätte sie meinetwegen gerne mitnehmen können, dann hätte ich ein wenig Musik hören können, um mich von meinem knurrenden Magen und den schmerzenden Pfoten abzulenken. Es war so ruhig, und so langweilig allein...

Someone told me long ago, there's a calm before the storm...

Die meiste Zeit starrte ich die Balkontür hinaus, versuchte, zu erkennen, was dort hinten am weitesten in der Ferne lag, und stellte mir vor, das dort gerade alles passieren mochte. Irgendwann schlief ich doch ein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

...

 

Es war nicht das Knurren meines Magens, das mich weckte, sondern ein lautes Hupen, wahrscheinlich das eines LKWs. Ich reckte ein wenig den Hals, konnte die Straße aber nicht erkennen, und meine Faulheit siegte über meine Neugier.

Caren musste mittlerweile schon recht lange weg sein, denn ich sah, dass die Schatten auf dem Balkon ihre Form ein wenig verändert hatten. .

Ich stellte mir vor, wie sie durch den Supermarkt schlenderte, sich in aller Ruhe umsah, irgendwelche überteuerten Kosmetikartikel aus de Regal nahm, sich die angebliche Wirkungsweise dreimal durchlas, nur um sie dann mit einem Kopfschütteln wieder ins Regal zu stellen, weil es ja sowieso nichts brachte und außerdem viel zu teuer war.

Irgendwann riss ich mich zusammen, stand mit einem angestrengten Ächzen auf und trottete mit hängendem Schwanz und müden Gliedern zum Balkon, dessen Tür Caren offen stehen gelassen hatte.

Das Rauschen des lauen Windes tat meinem schmerzenden Körer gut, ich atmete wohlig die Luft ein, versuchte, den erfrischenden Duft nach Wasser in mir aufzusaugen und den beißenden Stadtgeruch von Asphalt und Abgasen zu ignorieren- ob der Rhein nicht eigentlich zu weit weg war, um ihn riechen zu können und ich mir dieses Gefühl nur einbildete, fragte ich mich noch immer.

Mit langgezogenem Stöhnen ließ ich mich nieder und sah in den Himmel. Man konnte leises, undefinierbares Stimmengewirr vernehmen, das aus irgendeiner belebteren Straße hierherdrang, das Knurren von Motoren, die Sirene eines Polizeiautos oder Krankenwagens, ab und zu ertönendes Hupen... Wie still es doch gewesen war, als ich damals hier gelebt hatte. Jetzt war es nicht einmal mehr nachts ruhig.

Als noch mehr Zeit verstrich und Caren noch immer nicht aufgetaucht war, begann ich, mir Sorgen zu machen. So weit war der Supermarkt nicht entfernt, selbst wenn sie langsam ging, bräuchte sie nicht mehr als eine Viertelstunde, vielleicht zwanzig Minuten, für eine Strecke. Mittlerweile war allerdings schon weitaus mehr als eine Stunde verstrichen, und es verging noch etwa eine halbe.

Als ich irgendwann Schritte auf der Treppe hörte, pochte mein Herz, teils vor Erleichterung, teils aufgeregt, und als sie sich dem Zimmer näherten, rannte ich sofort zur Tür. Was auch immer Caren dazu gebracht hatte, fast zwei Stunden für einen Einkauf zu brauchen, der eigentlich nicht viel länger als eine halbe Stunde dauern sollte- jetzt war sie wieder da, wohlbehalten, und hatte wahrscheinlich irgendetwas Interessantes zu erzählen.

Dann klopfte sie. Warum klopft sie? Ich bellte ein- oder zweimal, um ihr zu signalisieren- was eigentlich? Dass ich zuhause war? Dass ich nicht mit irgendetwas beschäftigt war, wobei ich nicht gestört werden wollte? Dass ich angezogen war?

Ich wurde ein wenig skeptisch und legte verwirrt den Kopf schief, als es noch einmal klopfte. Ich bellte kein weiteres Mal, denn sie musste mich schon eben gehört haben.

Ein paar Herzschläge herrschte Stille, dann wurde ein Schlüssel ins Schloss gesteckt, ich hörte ein Knacken, und die Tür öffnete sich langsam.

Caren?

Ein dicker Hintern schob sich durch die Tür, gefolgt von dem Rest der kleinen, gedrungenen Frau, die einen großen Putzeimer und einen Wagen mit frischen Handtüchern und Bettwäsche hinter sich herzog

"Du sollst ja ein ganz Lieber sein, hab' ich gehört", keuchte die Putzfrau, während sie, mit dem voluminösesten Körperteil zuerst, in das Zimmer wankte, den vollen Eimer kaum zu bewegen imstande, "deswegen komme ich einfach mal rein."

Ich sagte nichts, stand nur da und sah zu, wie sie sich über die Türschwelle hievte.

"Hat dein Frauchen dich ganz alleine gelassen?"

Ich weiß nicht mehr, was ich in dem Moment dachte. Wenn ich mich nun an diesen Moment zurückerinner, bilde ich mir immer ein, als hätte ich schon das vor Augen gehabt, was mich nur wenig später erwarten würde. Als hätte ich es genau gewusst.

So schnell, wie ich mich an der Putzfrau vorbeiquetschte, die Treppe hinunterrannte, ihr erschrecktes Quietschen im Rücken, und mir dabei eine Pfote leicht umknickte, musste ich mit dem Schlimmsten gerechnet haben. Ich kann mich auch nicht mehr erinnern, wie ich durch die Tür gekommen war, so schnell ging alles. Wahrscheinlich hatte sie schon offen gestanden, oder ich hatte mich einfach mit aller Kraft dagegen gestemmt, war irgendwie dagegen gelaufen. Keine Ahnung.

Ich lief über die Straße, obwohl meine Pfoten immer noch brannten, und obwohl ich den Blick starr geradeaus gerichtet hatte, sah ich nichts, was um mich herum passierte. Ich rannte einfach.

Plötzlich ein schrilles, aggressives Hupen, das meinen Kopf dröhnen ließ. Ich fuhr herum, sah, wie das Auto auf mich zuraste, und sprang zur Seite. Es bremste abrupt und wich aus, die Reifen kratzten über den harten Asphalt, und es kam kurz zum Stehen. Der Fahrer öffnete das Fenster und sah sich um, scheinbar unsicher, ob er mich nun erwischt hatte oder nicht. Verdammt, dachte ich mit pochendem Herzen und zitternden Pfoten, du wärst gerade fast gestorben!

"Scheißköter!", grunzte der Fahrer, aber ich beachtete ihn nicht und lief sofort weiter. Die Häuser rauschten an mir vorbei, doch als ich die Kreuzung erreichte, von wo aus ich den Supermarkt sehen könnte, hielt ich an. Was würde ich sehen? Was war das Schlimmste, das passiert sein konnte? Ich stellte mir alles Mögliche vor; Dass das Gebäude lichterloh brannte, mitsamt allen Menschen, die darin gewesen waren, dass es zusammengestürzt war und alle Menschen unter den schweren Trümmern begraben hatte, dass...

Ich atmete tief ein und trat um die Kurve. Schon von weitem sah ich zwei Polizeiautos auf dem Parkplatz stehen, ein paar Polizisten, eine Gruppe von Menschen, die sich vor dem Eingang versammelt hatten. Es musste etwas passiert sein! Gerade wollte ich losstürmen, als mich etwas zurückhielt- ich glaube, es war tatsächlich meine Vernunft. Ein streunender Hund sollte besser nicht ausgerechnet zwischen Polizisten herlaufen, wenn er nicht eingefangen werden wollte- davon abgesehen schien es kein Unfall oder ähnliches zu sein, denn ich konnte weder Feuerwehr noch einen Krankenwagen sehen.

Leicht geduckt schlich ich in Richtung des Eingangs, wobei das aufgeregte Stimmengewirr der Gruppe, die sich davor versammelt hatte, immer mehr anschwoll. Leichtfüßig kroch ich näher heran- eigentlich war es unsinnig, mich kleinzumachen, so ungeschützt, wie ich war. Nirgendwo ein Versteck, nichts, das mich verbergen konnte. Eigentlich war es also egal, ob ich um zehn zentimeter schrumpfte oder nicht.

Verunsicherte, fast ängstliche Stimmen vermischten sich mit empörten, aufgebrachten, und ich versuchte, ein paar Bruchstücke des Gesprochenen aufzuschnappen: "... Frechheit, so aufgehalten zu werden! Sehe ich etwa aus, als hätte ich was geklaut?"

"Es mussten ja Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden..."

"Die hatten sogar Waffen, echte Waffen, und..."

"He, was macht der Hund da?"

Diese Stimme war zwar auch empört, kam aber aus einer anderen Richtung, und war mit ziemlicher Sicherheit an mich gerichtet.

Weglaufen wäre zwecklos gewesen. Ich weiß nicht genau, wie freilaufende Hunde, deren Besitzer nirgends zu sehen waren, gehandhabt wurden, doch ich wollte es nicht auf die Probe stellen.

Fast schon demütig blieb ich stehen und blickte mit großen Augen dem Polizisten entgegen, der herbeigeeilt kam.

"Sie sollten Ihren Hund an die Leine nehmen, sonst sorgt er hier nur für noch größere Verwirrung", sagte er an die Gruppe gewandt und blickte vor allem die Frau an, die am nächsten bei mir stand, woraufhin diese die Schultern zuckte. "Der gehört mir nicht."

"Der ist gerade erst gekommen."

"Muss ein Streuner sein."

"Wenn das so ist..." Der Polizist streckte die Hand aus und griff nach meinem Nackenfell. "Streuner haben hier nichts verloren."

Unsanft zog er mich von der Gruppe weg in Richtung Polizeiauto, wo ein weiterer Polizist stand. "Das ist aber nicht, wonach wir suchen!", rief der gereizt und starrte mich an.

"Muss aber trotzdem weggebracht werden. Scheint ein Streuner zu sein. Der würde hier nur für noch mehr Unruhe sorgen."

Weggebracht. Das konnte einiges bedeuten. Ich stemmte mich leicht dagegen, doch der Griff um meinen Nacken wurde sofort stärker, und ich glaubte zu sehen, wie die Hand des anderen Polizisten zu seiner Waffe wanderte. Also folgte ich.

"Halt! Blacky!"

Caren!

Ich fuhr herum, so ruckartig, dass mich der Mann abrupt losließ, und bellte voller Erleichterung, als sich Caren ihren Weg durch die Leute bahnte und auf mich zurannte.

"Wartet! Wartet bitte." Keuchend eilte sie zu mir.

"Ist das Ihr Hund?"

"Ja. Es tut mir leid. Er... Ich weiß nicht, wie er..."

"Beim nächsten Mal passen Sie bitte etwas besser auf. Gerade heute, wo sowieso alle geschockt und verwirrt sind, kommt ein herumstreunender Hund ziemlich ungelegen."

"Ich weiß", antwortete sie mit höflichem Lächeln, "ich hatte ihn im Hotel gelassen. Wie er da rausgekommen ist, ist mir auch ein Rätsel. Du kleiner Ausreißer!"

"Ich nehme an, Sie wurden schon untersucht und verhört?"

"Ausgiebig."

"Lassen Sie mich bitte trotzdem noch einen Blick in die Taschen werfen."

"In Ordnung."

Sie lächelte zwar immer noch, aber in ihrer Stimme schwang nun ein Anflug von Ungeduld mit. Kaum merklich verdrehte sie die Augen und reichte dem Polizisten ihre Handtasche und die Einkaufstüte, dann bückte sie sich, um mir über das Ohr zu streicheln.

"Tut mir leid, dass ich so lange weg war. Du hast dir wahrscheinlich Sorgen gemacht."

Und wie!

Der Polizist gab Caren die Tasche zurück, nachdem er sie durchsucht hatte, und bedeutete ihr mit einer knappen Handgeste, dass sie nun gehen dürfe.

"Einen schönen Tag noch", lachte Caren, und kaum waren die Polizisten außer Hörweite, knurrte sie: "Blödmänner. Ich hoffe, sie haben dir nicht wehgetan?"

Ich schüttelte den Kopf, auch wenn ich zugeben musste, dass er an meinem Nacken doch ordentlich zugepackt hatte. Davon abgesehen hatte ich einen Moment lang wirklich geglaubt, entweder in irgendein Tierheim gebracht oder einfach auf der Stelle erschossen zu werden.

Caren legte ein rasches Tempo vor, und trotz aller Müdigkeit, die zwar von dem ganzen Adrenalin und der Aufregung- allein zweimal innerhalb von etwa fünf Minuten hatte ich dem sicheren Tod ins Auge geblickt- nicht mehr ganz so stark war wie noch heute morgen, hielt ich mit ihr Schritt. Es schien, als hätte sie Angst, noch einmal für weitere zwei Stunden in den Supermarkt zurückgezerrt zu werden, wenn sie nicht schnell genug fliehen konnte.

"Wie bist du eigentlich aus dem Hotel gekommen?", fragte sie und starrte mich an, als wartete sie auf eine Antwort. Ich zuckte die Schultern. Ein glücklicher Zufall wahrscheinlich. Und ein Funken Intelligenz.

"Glaub' mir, ich habe noch nie so viel Zeit am Stück in einem Kaufhaus verbracht. Ist ja auch nicht gerade erstrebenswert. Ich stand gerade an der Kasse, da kam die Durchsage, dass sofort alle Türen verschlossen und darauf geachtet werden soll, dass kein Kunde das Gebäude verlässt.

Anscheinend hat kurz vorher irgendein Typ eine Mitarbeiterin mit einer Waffe bedroht, ist aber, wie auch immer, davongekommen. Ich habe nicht das Geringste davon mitbekommen, aber es muss passiert sein, als ich schon drinnen war.

Jedenfalls ist wohl zur gleichen Zeit irgendetwas anderes Wichtiges verschwunden. Frag' mich nicht, was."

Ich wollte gerade fragen.

"Das geht Sie nichts an, war die Antwort, als ich gefragt habe. Auf jeden Fall wurde dann davon ausgegangen, dass dieser Überfall, wenn man es so nennen kann, nur ein Ablenkungsmanöver sein sollte, während irgendein Komplize, der ja jeder Kunde hätte sein können, dieses superwichtige Was-Auch-Immer geklaut hat. Gefunden wurde aber bisher nichts."

Sie grinste und schüttelte den Kopf.

"Ich wette, es taucht wieder auf, und dann stellt sich heraus, dass irgendein tollpatschiger Praktikant es verlegt hat und der ganze Trubel umsonst war. Nichtsdestotrotz", fügte sie hinzu und hob mit triumphierendem Grinsen die Einkaufstüte, "habe ich jede Menge Essen."

Ich schnüffelte an der Tüte und leckte mir schon die Lippen, konnte aber natürlich durch die dicke Schicht unzähliger Verpackungen nicht das Geringste riechen.

Dennoch, gerade das Nichtwissen regt die Fantasie an, finde ich.

"Keine Sorge, da ist garantiert jede Menge für dich dabei. Ich habe schließlich nicht so lange darin verbracht, um mit leeren Händen wieder herauszukommen. Eine andere Kundin war sowas von ungeduldig! Kaum hatte sie eine Minute gewartet, wurde sie schon..."

Ich hörte auf, ihr zuzuhören, nicht mit Absicht, aber der Gedanke an Essen trübte meine Sinne. Bilder von den leckersten Gerichten waberten durch meinen Kopf wie eine wohlriechende Geruchswolke, ich sah schon, wie köstliche Sauce angsam einen saftigen Braten hinuntertropfte... Irgendwann strengte ich mich an, meine Aufmerksamkeit wieder auf Caren zu richten.

"...Fragte andauernd, warum wir nicht rausgehen könnten, und die Verkäuferin antwortete irgendwann gar nicht mehr, weil..."

Ein Hupen. Ein lauter Schrei. Ich riss den Kopf herum, jaulte auf, stürzte zur Seite, um im letzten Moment den Reifen auszuweichen, die mit ohrenbetäubendem Quietschen über den Asphalt rutschten. Alles ging so schnell.

Unsanft landete ich auf der Seite, mein ganzes Gewicht donnerte, die Schulter voran, auf die Straße, und ein pochender Schmerz breitete aus. Ich blieb regungslos liegen.

Zuerst glaubte ich, gar nichts mehr bewegen zu können, und ein seltsamer Druck lag auf meinem Brustkorb- ich konnte nicht atmen. Angst durchfuhr mich, mein Herz raste, ich keuchte. Caren! Ich wollte schreien, doch ich brachte keinen Laut heraus. Bewegungslos lag ich auf dem Asphalt, und ich glaubte schon, dass dies das Ende war, dass mir schwarz vor Augen wurde, dann bekam ich plötzlich wieder Luft. Langsam und zitternd atmete ich ein und aus, blieb aber noch einige Zeit liegen, ohne mich zu bewegen. Das Auto hatte mich nicht einmal gestreift, aber ich war so stark ausgewichen, hatte mich so heftig zur Seite geschmissen, dass ich irgendwie mit meinem ganzen Gewicht auf meinem Bauch, meiner Brust und einem Bein gelandet war, sodass mir die Luft weggeblieben war.

Irgendwann hob ich langsam den Kopf. Mein Hinterbein lag seltsam verdreht unter mir, und es schmerzte. Als ich mich langsam wieder auf die Füße zog, merkte ich allerdings, dass ich es bewegen konnte, es war also nicht gebrochen. Mein Herz raste noch immer, mir war heiß das Blut schoss durch meine Adern.

Zum zweiten Mal hatte ich nicht bemerkt, dass ich auf die Straße gegangen war, so sehr war ich in meine Gedanken und Caren in ihre Erzählungen vertieft gewesen. Sie musste denken, ich wäre tot! Vielleicht hatte sie gesehen, dass ich noch ausweichen konnte... Ich bellte laut, um Caren mitzuteilen, dass ich noch lebte.

Keuchend drehte ich mich herum und schnappte nach Luft. Das Auto stand quer auf der Straße, dicke, schwarze Streifen zogen sich über den Asphalt, und der Gestank nach verbranntem Gummi stach in meine Nase.

Der Fahrer öffnete die Tür, Panik stand in seinen Augen, er zitterte. Er beachtete mich nicht, sondern drehte sich sofort herum und rannte zur anderen Seite, vermutlich, um Caren zu erklären, dass er gerade ihren Hund überfahren hatte.

Schnell folgte ich ihm, meine Pfoten zitterten noch immer, und bei jedem Auftreten zog sich ein Stechen durch mein Hinterbein.

Vorsichtig und in einigem Abstand zu dem Auto, als erwartete ich, es könnte jeden Augenblick losfahren und mich doch noch gnadenlos überrollen, ging ich daran vorbei- dann blieb mein Atem stehen.

Das Gefühl wich aus meinen Gliedern, ich sackte zu Boden. Eine kleine Gruppe von Menschen hatte sich am Straßenrand gebildet, und über den Asphalt zog sich eine Blutspur. Mit aschfahlen Gesichtern, teilweise die Hände vor den Augen, umringten sie eine regungslose, seltsam verdrehte Gestalt, die halb auf dem Bordstein, halb auf der Straße lag, das Gesicht von schwarzem Haar bedeckt.

Ich jaulte auf, rannte zu ihr, beachtete die Leute nicht.

"Carern!", schluchzte ich, fiel neben ihr auf die Straße, vergrub meine Schnauze in ihrem Haar.

"Caren, sieh' mich an!"

Ich dachte, nur ich wäre vor das Auto gelaufen. Sie war doch stehengeblieben, oder nicht? War ich nicht ein paar Schritte vor ihr gewesen?

Ein zartes Wimmern drang aus ihrer Kehle. Sie lebte noch.

"Halte durch!", schrie ich sie an, vergaß in dem Moment, dass meine Stimme nur ein Bellen war, "halte verdammt nochmal durch!"

Ich berührte ihre Hand mit meiner Schnauze, schob sie ganz leicht an.

"Bla... Blacky..." Ihre Stimme war so zitternd, so leise, dass ich mein Gesicht ganz nah an ihres legen musste, um überhaupt einen Laut zu vernehmen. Ich beugte mich so nah zu ihr, dass meine Schnauze ihre warme Wange streifte und ich ihren stockenden Atem auf meinem Gesicht spürte.

"Leb' wohl...", keuchte sie und lächelte, während aus ihren Augen Tränen quollen, diesen schönen, braunen Augen, die vor Schmerz glänzten.

"Ich schaffe das nicht ohne dich!"

Ein Zucken durchfuhr ihren Körper. Mit einem angestrengten Ächzen versuchte sie, sich zu bewegen, damit sie mich direkt ansehen konnte, und biss die Zähne zusammen.

"Ich denke an dich", keuchte sie, "Immer. Vielleicht... Sehen wir uns..."

Wir werden uns wiedersehen!, beendete ich ihren Satz in Gedanken und zwang mich zu einem Nicken.

"Gut."

Ihre Stimme war nur noch ein Wispern. Sie wollte die Hand heben, um meine Schnauze zu berühren, doch ihr Arm sackte sofort kraftlos zu Boden.

Ich senkte den Kopf zu ihrer Hand hinüber, und sie berührte mit einem zitternden Finger meine Wange.

"Finde Susannah."

Wie soll ich ohne dich zurechtkommen? Ich schaffe das nicht allein!

Sie nickte, als hätte sie meine Gedanken gelesen, und lächelte. "Du... kannst alles schaffen. Ich..." Ein weiteres Zucken durchschüttelte sie. "Versprich mir..."

Ihre Augen wurden glasig, ihre Lippen bewegten sich kaum mehr. "Vergiss mich nicht."

"Bleib' bei mir!", schrie ich, "bitte!"

Plötzlich packte jemand den Pelz an meinem Nacken und zerrte mich von ihr weg.

"Caren!", bellte ich verzweifelt, versuchte, mich loszureißen, aber mehrere Hände hatten mich gepackt.

"Nehmt den Hund von ihr weg!", rief jemand, und ich stieß ein wütendes Knurren aus. "Sie braucht mich! Lasst mich los!"

Ich sah ihr in die Augen, sie erwiderte meinen Blick, und ihre Lippen formten meinen Namen, aber sie brachte kein Wort mehr heraus. Ihr Blick war schmerzerfüllt, und ich sah, dass sie weinte. Mit letzter Kraft hob sie die Hand und nickte zaghaft. Wir sahen uns in die Augen, während ich weggezerrt wurde, ich hielt ihrem Blick stand, bis zum Schluss. Dann bildete sich ein Lächeln auf ihren Lippen, ihre Hand sackte zu Boden. Ihre Augen fielen zu.

"Nein!" jaulte ich, "Caren!"

Ich wurde weggezerrt, jemand stellte sich in meinen Weg, versperrte mir die Sicht.

Verzweiflung packte mich, Wut, Trauer und Angst vermischten sich, alles um mich herum verschwamm. Ich schlug mit den Pfoten um mich, knurrte, strampelte in alle Richtungen, entriss mich mit aller Kraft den Händen, die mich festhielten, und rannte los.

Ohne mich umzudrehen, rannte ich in irgendeine Richtung, sah nichts, hörte nichts. Das Einzige, was ich spürte, war das heftige Pochen meines Herzens und der stechende Schmerz in meinem Innern. Ich rannte und rannte, ohne Pause, achtete nicht darauf, wo ich war oder was um mich herum passierte. Ich spürte keine Erschöpfung, nichts; es schien, als könnte ich ewig weiterrennen, von meiner Trauer und Verzweiflung angetrieben . Irgendwann sackte ich einfach auf den Boden, und bevor ich mich umsehen konnte, wohin mich meine Pfoten getragen hatten, wurde alles um mich herum schwarz.

 

 

Mein letzter Tod

 

Kälte weckte mich, unangenehme, feuchte Kälte. Erschreckt sprang ich auf, schüttelte mich angewidert, und sah mich um. Meine Pfoten standen in Wasser, das Fell an meinem Bauch und mein Gesicht waren feucht, und meine Nase füllte sich mit dem Geruch von modrigem Schlamm.

Verwirrt blickte ich mich um, versuchte, mich daran zu erinnern, wie ich hierhergekommen war, doch meine Sinne waren noch immer getrübt, meine Gedanken kreisten. Dann schossen mir Bilder von einem quer auf der Straße stehenden Auto durch den Kopf, von einer Blutspur, von verzweifelten Gesichtern der Leute, die sich traubenartig um etwas versammelt hatten. Dann sah ich Caren, ihren verdrehten Körper, den Schmerz in ihren Augen, das Lächeln auf ihren Lippen, das sie bis zum Schluss bewahrt hatte, und der Schmerz stieg stieg abermals in mir auf, gemischt mit tiefer Trauer. Caren war tot. Bis zum letzten Augenblick hatte ich ihr in die Augen gesehen, mein Gesicht war das letzte gewesen, was sie gesehen hatte.

Sie ist nicht tot, dachte ich dann, unsicher, ob ich mich freuen oder trauern sollte. Für mich war sie tot- sie mochte zwar noch immer irgendwo auf dieser Erde sein, in irgendeiner Gestalt, aber wie wahrscheinlich war es, dass ich ihr jemals wieder begegnen würde? Dass wir uns ausgerechnet dann wieder begegnen würden, wenn wir beide zufällig in Körpern steckten, die nur die geringste Art von Kommunikation zuließen?

Ich blickte in den wolkenverhangenen, grauen Himmel, der bereits Regen ankündigte. "Bitte lass' sie als irgendetwas Gutes wiederkehren", betete ich, senkte dann aber den Kopf. "Nein- Lass sie gar nicht wiederkehren. Gib' ihr Frieden."

Zu wem bete ich eigentlich?, fragte ich mich dann, und fühlte mich plötzlich hilflos. Wer tut mir so etwas an? Ich hatte mir ewig keine Gedanken über Religion gemacht. Genau genommen hatte ich mir nie sonderlich viele Gedanken darüber gemacht. Aber das, was mir und Caren passierte, überstieg alles, was ich je geglaubt oder nicht geglaubt hatte. Was hatte ich getan? Was hatten wir getan?

Warum wurden ausgerechnet wir immer wiedergeboren und auf diese Erde zurückgeschickt?

Wie viele Tode würden wir noch sterben müssen, bis man uns endlich erlöste?

Unendlich viele, meldete sich meine innere pessimistische Stimme mit einem Hauch von Spott und Sarkasmus. Mach' dir keine Hoffnungen, alter Hund. Du bist und bleibst für immer ein Teil dieser Erde.

Und wenn es die Erde nicht mehr gab? Was würde in tausenden, in millionen, milliarden von Jahren sein, wenn die Erde und alles Leben, das sich nun noch auf ihr tummelte, zu Staub zerfallen war? In wessen Körper würde meine Seele dann schlüpfen?

Milliarden Jahre. Und noch viele mehr. Der Gedanke schlug mir ins Gesicht wie ein Hammer. Diese Unendlichkeit... Mir wurde schwindelig. Kurz hatte ich das Gefühl, ich müsste mich übergeben. Ich schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch, bis der Schwindel nachließ, dann blieb ich noch eine Zeit lang regungslos liegen. Fast regungslos, wenn man von dem unkontrollierten Zittern in meinem ganzen Körper absah.

Der Rhein plätscherte dahin, leise, sanft, und trotzdem dröhnte das beinahe lautlose Rauschen in meinem Kopf, als würde jemand eine Trompete direkt in mein Gesicht halten und mit voller Kraft hineinblasen.

Ich krächzte verzweifelt, sprang auf die Pfoten, machte einen Satz vom Wasser weg. "Verdammte Scheiße!", schrie ich, heulte ich, "Caren! Komm zu mir zurück!"

Voller Zorn und Trauer hämmerten meine Pfoten auf den Boden ein und schleuderten eine Wolke aus Kies und Muscheln in die Luft. Ich schlug nochmal zu, und nochmal, und spürte, wie ich dabei knurrte. Irgendwie musste ich meine Wut herauslassen, musste meinen Zorn an etwas auslassen.

Plötzlich zog sich ein Schmerz durch meine rechte Vorderpfote, und ich spürte, wie sich irgendetwas Scharfes tief in meinen Ballen hineingrub. Entsetzt jaulte ich auf, zog die Pfote zurück und sah, dass eine große, grün schimmernde Glasscherbe darin steckte.

Blut quoll daraus hervor und tropfte auf den Boden. Zitternd packte ich die Scherbe mit den Zähnen, zog sie heraus und spuckte sie angewidert ins Wasser, wo sie sofort davongetragen wurde. Als ich meine Pfote hineinhielt, bildete ein dunkelroter Kreis darum, der von der Wunde ausging und immer größer wurde. Schweigend sah ich zu. Ich weiß nicht, wie lange ich dort unbeweglich saß und auf meine Pfote starrte. Zwischendurch kamen auch vereinzelte Menschen vorbei; ich hörte, wie ein Hund bellte, und leise Stimmen, die sich unterhielten. Es interessierte mich nicht, was sie sagten. Mich interessierte gar nichts. Nur das Blut an meiner Pfote faszinierte mich.

Du verlierst den Verstand, dachte ich irgendwann, du wirst noch völlig verrückt werden.

Eine Ewigkeit saß ich noch unbeweglich auf einer Stelle, kümmerte mich nicht darum, als die Wellen anschwollen und den Pelz an meinem Hinterteil und meinem Hinterbein in Wasser tränkten, doch irgendwann tat das Sitzen auf dem harten Kies so weh, dass ich mich wieder hinlegen musste. Auch das tat weh, aber aufstehen konnte ich nicht, mit nur jeweils einem funktionierenden Bein vorne und hinten.

Es kamen noch mehr Leute vorbei, immer wieder hörte ich Schritte im Kies, aber niemand kam in meine Nähe- entweder sahen sie mich gar nicht, oder sie trauten sich nicht heran, weil sie mich für einen bissigen, tollwütigen Streuner hielten...

Irgendwann wurde es dunkler, immer dichtere, mit Wasser vollgesogene Wolken schoben sich vor die Sonne, die ohnehin den ganzen Tag von einem grauen Schleier verdeckt worden war.

Ob der Himmel hinter dieser dichten, undurchdringlichen Wolkenwand tatsächlich noch blau war? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Ich konnte mir überhaupt keine Farben mehr vorstellen. Alles war grau, alles blieb grau.

Gleichgültig sah ich, wie ein Regentropfen vor meinem Gesicht auf einem Stein landete und daran wie eine winzige Glaskugel in unzählige Splitter zersprang, Splitter, die sich alle in mich hineinbohren wollten.

Dann noch einer, und noch einer.

Plötzlich schüttete es, die Wolken verloren ihre Kraft und schmissen ihre ganze Ladung an Wasser auf mich. Das Wasser war kalt, die Tropfen dick und schwer, und ich spürte, wie sich mein Pelz mit Wasser vollsog.

Das Dröhnen der Wellen wurde lauter, dazu mischte sich das ohrenbetäubende Prasseln des Regens. Der pochende Schmerz in meinem Kopf wurde stärker, und schließlich versuchte ich, aufzustehen. Als die Wunde unter meinem Fuß mit dem Boden in Berührung kam, stieß ich ein schmerzerfülltes Keuchen aus, drehte den Fuß so, dass ich nicht nur die Stelle mit der Wunde belasten musste, und humpelte mühsam vom Fluss weg.

Ächzend schleppte ich mich in Richtung der Brücke, die mich vor dem Regen schützen würde, doch als ich auf dem asphaltierten Weg ankam, der mich dorthin führen würde, wurde der Schmerz so groß, dass ich die Pfote anheben musste.

Ich verlor das Gleichgewicht und sackte auf dem harten Asphalt zusammen.

Einige Zeit blieb ich liegen, bis der Schmerz abgeklungen war, dann schleppte ich mich weiter. Immer wieder stürzte ich, und wäre die Brücke nicht nur noch wenige Meter entfernt gewesen, hätte ich schließlich wahrscheinlich aufgegeben und wäre einfach liegen geblieben.

Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte ich das letzte Stück, und als ich endlich trockenen Boden unter meinen Füßen spürte und das entsetzliche Hämmern des Regens auf meinem Körper endlich aufhörte, ließ ich mich neben einer Mauer fallen und blieb endgültig liegen.

Ich stieß ein elendes Seufzen aus.

Ich will nicht mehr, dachte ich, ich kann einfach nicht mehr!

Meine Augen fielen zu, meine Glieder wurden schwer, und es dauerte nicht lange, bis ich wieder eingeschlafen war. Wie vorhin- oder gestern? Wie lange hatte ich eigentlich ohnmächtig dort gelegen?- Wie zuvor, nachdem ich nach Carens Tod einfach losgerannt war, wurde ich einfach in tiefe Schwärze gezogen, ich träumte nicht, ich war einfach weg. Und es fühlte sich an, als würde es nur eine Sekunde dauern, wie ein kurzes Zwinkern, dann war ich wieder wach.

Blitzartig schlug ich die Augen auf. Alles um mich herum war dunkel, der Himmel, der immer noch von dichten Wolken bedeckt war, war mittlerweile tiefschwarz, und kein einziger Stern war zu sehen.

Das gedämpfte Licht einer Laterne ließ die Umrisse vereinzelter Bäume, Mauern und Stufen erkennen, doch wenn man etwas weiter in die Ferne blickte, wurde es heller dort, wo die grellen Lichter der Stadt erstrahlten. Sie spiegelten sich im Fluss, und wahrscheinlich sah es auch schön aus, romantisch, aber bei mir verstärkte dieses grelle Flackern in den Wellen nur meine Kopfschmerzen.

Ich seufzte und legte den Kopf auf meinen Pfoten ab.

"Na, alter Junge", krächzte plötzlich eine Stimme, wie ein Echo meines Seufzens, eine kratzige, rauchige Stimme.

"Ich dachte zuerst, du wärst tot. Hast aber doch noch geatmet."

Mühsam drehte ich den Kopf und sah die schwachen, unscharfen Silhouetten einer im Schatten kauernden Gestalt, die an eine Mauer gelehnt dasaß.

Vorsichtig stand ich auf und humpelte näher heran, um zu sehen, wer da mit mir sprach. Als ich näher kam, sah ich einen alten, ungepflegt aussehenden Mann mit verknittertem Gesicht und aufgedunsenen, geröteten Wangen, die auf nicht gerade geringen Alkoholkonsum schließen ließen. Das schüttere Haar des Mannes war zerzaust, und die viel zu großen Klamotten mit Löchern übersät. Er saß unter einem kleinen Haufen alter, schmutziger Decken und ein paar Plastiktüten, die mit leeren Flaschen und Lebensmitteln gefüllt zu sein schienen.

Neben dem Mann lag eine leere Schnapsflasche.

"Komm ruhig näher. Ich tu' dir bestimmt nichts. Hunger hab' ich zwar, aber 'nen Hund würde ich trotzdem nicht essen", krächzte er und grinste, wobei er eine nicht merh wirklich vollständige Reihe brauner, teilweise bröckelnder Zähne entblößte.

"Du siehst fast genauso miserabel aus wie ich."

Er lachte zwar, als er sprach, aber es war viel mehr ein verzweifeltes Lachen als ein amüsiertes, das Lachen einer Person, die jegliche Hoffnung aufgegeben und eingesehen hat, dass es jetzt auch keinen Unterschied mehr macht, ob man seine Situation beweint oder einfach sich selbst auslacht.

Mit der Pfote stieß ich die Schnapsflasche zur Seite und ließ mich neben dem Mann auf den Boden fallen. Er wirkte ein wenig überrascht, dass ich einfach so zu ihm gekommen war, schüttelte ein paar mal den Kopf, als glaubte er, ich wäre nur das Ergebnis dessen, was er wahrscheinlich soeben alles in sich hineingeschüttet hatte- der Geruch von Alkohol biss mir in die Nase, und er kam nicht nur aus der leeren Flasche, sondern aus seinem Mund, und schien schon in den alten Decken festzusitzen. Als er feststellte, dass ich auch nicht verschwand, obwohl er einige Schlucke Wasser aus einer billigen Plastikflasche trank und sich mehrmals die Augen rief, grinste er wieder.

"Du freust dich wohl auch über Gesellschaft, was? Ich würde dir ja was zu futtern anbieten, wenn ich was hätte. Zwei Bananen hab' ich noch. Aber die willst du ja bestimmt nicht. " Es klang eher nach einer rethorischen Frage, also sparte ich mir die Mühe, den Kopf zu schütteln, und blieb einfach regungslos liegen.

"Was ist mit dir denn passiert, hmmm?", fuhr er fort und streichelte mir über den Kopf.

"Was macht so ein schönes Tier hier mutterseelenallein, durchnässt und mit 'nem fehlenden Fuß?"

Ich zuckte mit den Schultern.

Der Mann stieß wieder sein heiseres Krächzen aus.

"Zwei alte Invaliden. Mein Fuß ist auch kaputt. Hat mich den Job gekostet. Vorher war ich selbstständig."

Er schüttelte den Kopf und griff nach der Flasche, um festzustellen, dass sie leer war.

"Eigentlich hatte ich genug Geld. 'N schönes Zuhause und alles. Dann, krach, ein Scheißunfall, und dann ging's bergab. Na ja, und jetzt bin ich alt. Zu alt, um den Berg nochmal raufzukommen. "

Voller Mitleid sah ich ihn an. Das faltige, dreckige Gesicht des Mannes schien seine ganze Lebensgeschichte zu erzählen- so aufgedunsen und vom Leben gezeichnet es auch war, wirkte es trotzdem irgendwie tiefgründig.

Seine Augen starrten ins Leere, in die Dunkelheit, sie wirkten glasig, ausdruckslos, und jeder Funke von Kraft oder Hoffnung war daraus verschwunden. Es ähnelte dem Ausdruck, den ich zu Beginn bei Caren ab und zu gesehen habe, nur noch viel weiter fortgeschritten- bei diesem Mann bezweifelte ich, dass er jemals wieder wirkliche Hoffnung schöpfen könnte.

"Ganz früher, als Junge, wollte ich Fußballprofi werden", murmelte er, öffnete den Mund, um noch etwas hinzuzufügen, blieb aber dann still.

Nach einiger Zeit des Schweigens sagte er: "Ich glaube, ich weiß, wie du dich fühlst, Köter."

Er seufzte tief, ließ die Hand auf meinem Kopf ruhen.

Wäre jetzt jemand vorbeigekommen, hätten wir ihm wohl das traurigste Bild geboten, das man sich nur vorstellen kann: Ein Obdachloser, ein Mann, der alles verloren, der sich selbst und sein Leben aufgegeben hat, dreckig, versoffen, und ein alter, herrenloser, vom Regen durchnässter Köter mit nur zwei funktionierenden Beinen.

Wer oder was ich tatsächlich war, wusste ja niemand- wüsste man es, wäre es wahrscheinlich umso trauriger.

Ich wünschte, ich wäre nichts als ein einfacher alter Schäferhund, am Abend meines Lebens angekommen. Dann hätte ich vielleicht noch ein paar Jährchen- beziehungsweise, hier draußen, allein, auf der Suche nach Essen und Trinken, wahrscheinlich nur wenige Monate, und dann wäre alles vorbei.

Ich sah den Mann an, und unter das tiefe Mitleid, das ich bei seinem Anblick empfand, mischte sich ein leiser Anflug von Neid.

Er war die Verkörperung des Elends, keine Frage. Und es gibt wohl kaum etwas Schlimmeres als diese Art von Leben- ein Leben in der größten Armut, alles verloren, wissend, dass man keine Chance mehr hat, wieder ein normales Leben zu führen, wissend, dass das Leben quasi vorbei ist. Ehrlich gesagt, einen kurzen, schmerzlosen Tod würde ich jederzeit ohne zu zögern einem solchen Leben vorziehen.

Trotz alledem würde dieser Mann irgendwann seinen Frieden finden, sein ganzes Leid würde mit einem Mal enden- entweder würde es ein Leben nach dem Tod geben, und das wäre zweifellos besser als sein bisheriges Leben, oder alles würde mit dem Tod einfach enden, und dann wäre zumindest auch das Elend vorbei.

Mein Leben würde weitergehen. Und weiter. Selbst wenn dieser Mann hier längst zu Staub zerfallen war, würde ich immer noch irgendwo auf dieser Welt herumlaufen- oder schwimmen, kriechen, fliegen, hüpfen, robben, was auch immer- und darauf hoffen, dass auch für mich dieses verdammte irdische Leben irgendwann endete.

Vielleicht ist er wie ich, dachte ich und sah den Mann an. Oh nein, bitte nicht. Wie sollte er das ertragen?

Irgendwie glaubte ich es nicht. Caren war zwar der lebende Beweis dafür gewesen, dass ich nicht allein war, aber dennoch glaubte ich, dass es die wenigsten waren- vielleicht ja auch nur wir beide.

Vielleicht hat Caren es ja geschafft, betete ich, Caren, wenn du mich sehen kannst... Ich hoffe, es geht dir gut. Ich vermisse dich.

Noch nie hatte ich mich so allein, so hilflos gefühlt wie jetzt. Ich brauchte Caren- ohne sie würde ich Susannah nicht finden. Doch das war nicht das Einzige. Ich sah ihr Lächeln vor meinem geistigen Auge, ihr glänzendes, schwarzes Haar, ihre dunklen, mandelförmigen Augen. Hörte ihre Stimme. Unser gemeinsames Schicksal hatte uns aneinandergeschweißt, hatte ein ganz besonderes Band zwischen uns geknüpft, ganz anders als das Band zwischen Susannah und mir, doch, wenn ich so darüber nachdenke, war es keinesfalls schwächer. Womöglich, auf seine eigene Art, in gewisser Hinsicht sogar stärker.

"Ich hatte lange keine Gesellschaft mehr", murmelte der Mann dann und riss mich aus meinen Gedanken. "Vor allem hat sich seit Ewigkeiten keiner mehr freiwillig neben mich gelegt." Dabei lachte er wieder.

Danach sagte er nichts mehr, und ich weiß nicht, wer von uns als erstes eingeschlafen war.

Ich träumte von Carens Tod, aber nicht aus meiner Sicht. Ich erlebte ihn selbst, ich steckte in ihrem Körper, sah, wie das Auto auf mich zuraste, spürte den Schmerz beim Aufprall, sah dann das verzweifelte Gesicht eines Schäferhundes über mir. Dann wechselte die Perspektive plötzlich, ich war wieder ich, und blickte auf Caren hinab, die in ihrer eigenen Blutlaache lag und wie ein angeschossenes Tier elendig ihre letzten Atemzüge ausstieß.

Sie sagte etwas, aber ich konnte es nicht verstehen. Ich wollte nachfragen, aber mein Mund war wie gelähmt, ich konnte meine Lippen keinen Millimeter auseinanderbewegen. Dass ich sowieso bestenfalls hätte Bellen können, vergaß ich im Traum irgendwie.

Caren schrie. Aus ihren Augen quollen Tränen. Es sah aus, als würde sie mich anflehen, aber noch immer hörte ich nur undefinierbare Laute, die aus ihrer Kehle drangen. Dann schlug ich die Augen auf.

Mein Herz pochte, meine Glieder zitterten, durch meine Ohren pulsierte heißes Blut.

Verwirrt sah ich mich um und musste kurz überlegen, bis mir wieder einfiel, wo ich war. Dass Carens Tod nicht nur ein Traum gewesen war, wusste ich sofort.

Das Nächste, was mir auffiel, war ein heftiger Schmerz in meiner verletzten Pfote, viel stärker, als er gestern noch gewesen war. Entsetzt sah ich, dass sie wie ein gewaltiger Ball angeschwollen war, und ein beißender Geruch von Entzündung stach in meine Nase. Ich wollte die Pfote anheben, doch es funktionierte nicht- das ganze Bein schien taub zu sein. Aufstehen konnte ich erst recht nicht. Die Kopfschmerzen des vergangenen Tages waren nicht gewichen, und irgendwie war mir auch ein wenig schwindelig.

Mit meinen beiden funktionierenden Beinen versuchte ich, mich in eine andere Richtung zu drehen, denn momentan lag ich mit dem Gesicht zur Wand. Mühsam stütze ich mich daran ab, rollte halb über den Boden, und schaffte es irgendwie, mich so zu drehen, dass ich auf den Rhein schaute. Vereinzelte Regenwolken hingen noch am Himmel, und auf den Straßen hatten sich Pfützen gebildet, doch es regnete nicht mehr, und der Fluss schien ruhiger. Trotzdem empfand ich das Geräusch, wenn die leichten Wellen gegen das Ufer schlugen, als unangenehm, und als irgendwann ein Schiff vorüberfuhr, glaubte ich, mein Kopf würde explodieren.

"Du bist wach", hörte ich die alte, krächzende Stimme des alten Mannes, neben dem ich eingeschlafen war. Ich wollte mich nicht herumdrehen, denn jede Bewegung schmerzte in meiner Pfote, zog sich das ganze Bein hinauf bis in meinen Kopf.

"Schau mal, was du bekommen hast", sagte er und beugte sich zu mir, in der Hand hielt er zwei Dosen Hundefutter.

Wo kommt das denn her?

Als hätte er meine Gedanken gelesen, begann er, zu erzählen: "Hier geht öfter mal so eine Gruppe von Jungs lang, die gehen wahrscheinlich irgendwo hier zur Schule." Wieder dieses Lachen. "Oder sie schwänzen Schule. Hab' ich früher auch manchmal gemacht. Meistens bringen sie mir was mit. Als Gegenleistung erzähle ich ihnen manchmal spannende Geschichten aus meinem Leben. Vor allem aus dem Krieg. Die meisten stimmen sogar. Nur manchmal erfinde ich ein bisschen, damit sie auch wiederkommen."

Aus dem Krieg...

Kannte ich diesen Mann womöglich? Wie alt mochte er sein? Siebzig? Dann wäre er in dem Jahr, in welchem ich gestorben bin, etwa zwanzig gewesen. Vielleicht hat er auch später gekämpft, oder woanders. Das Gesicht kam mir jedenfalls nicht im Geringsten bekannt vor. Schließlich konnte ich auch schlecht alle deutschen Soldaten kennen, die damals gekämpft hatten; ich erinnerte mich nicht einmal an alle Gesichter, die neben mir im Schützengraben gewartet hatten. Nur an das Gesicht des siebzehnjährigen Jungen erinnerte ich mich genau, selbst nach all der Zeit.

Das Geräusch, als der alte Mann eine der Dosen öffnete, riss mich aus meinen Gedanken.

"Guten Appetit."

Er schüttelte die Dose ein wenig, und das Futter klatschte mit einem lauten Pratschen auf dem harten Steinboden auf, die bräunliche Sauce lief in die Ritzen zwischen den Steinen. Ein sehr appetit- erregender Anblick.

Ich glaube, es war reine Höflichkeit, die mich dazu brachte, zuerst ein paar Brocken, dann etwa die Hälfte zu essen, denn die Kopfschmerzen sowie das Stechen in meiner Pfote, der widerliche Geruch nach Entzündung gemischt mit dem Geruch nach dem abgestandenen Alkoholrest aus der Schnapsflasche, den wahrscheinlich nur meine feine Hundenase wahrnehmen konnte, verursachte ein wenig Übelkeit.

Ich konnte nicht einmal aufstehen, um mich zumindest ein wenig von der Flasche- mittlerweile waren es zwei, und eine halbvolle Bierflasche- wegzubewegen, und den Mann fragen, ob er sie freundlicherweise entsorgen könnte, wäre ohnehin unangebracht gewesen, selbst wenn ich es gekonnt hätte.

Also lag ich stundenlang in einer Position, und das einzige, was sich hin und wieder bewegte, war mein Kopf.

Irgendwann, als der Mann seinen Rausch ein wenig ausgeschlafen hatte und an einen anderen Ort gehen wollte, fiel ihm auf, dass ich nicht in der Lage war, aufzustehen.

"Das sieht aus wie 'ne Blutvergiftung...", murmelte er an sich selbst gewandt, und was er dann tat, werde ich ihm nie vergessen. Er hob mich auf, ließ all seine Decken und Lebensmittel mit einem gleichgültigen Winken liegen, wissend, dass sie mit Sicherheit nicht mehr da wären, wenn er zurückkäme, und trug mich durch den gesamten Park, überquerte eine Straße, bis wir einen großen Platz erreichten, an den ein Parkplatz angrenzte. Diese große Kuppel, die auf dem Gebäude zu meiner Rechten thronte, bestätigte sofort, dass mich meine Orientierung nicht trügte, und dies hier der Deutzer Bahnhof war. Damals, kurz vor meinem Tod, war es, soweit ich mich erinnern kann, der Hauptausgangspunkt für Transporter gewesen, mit denen unzählige Juden, Homosexuelle, Behinderte- alle Menschen, die für Hitler offenbar keine Daseinsberechtigung hatten- , in ein Konzentrationslager in Buchenwald gebracht worden waren.

Der Mann keuchte, blieb zwischendurch einmal stehen, legte mich vorsichtig auf dem Boden ab und fasste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Rücken. Es dauerte vielleicht eine halbe Minute, dann hob er mich sofort wieder auf und eilte weiter.

Als wir den Parkplatz neben dem Bahnhof erreichten, stellte er sich, mich noch immer auf dem Arm haltend, direkt in die Einfahrt, und versperrte so lange den Weg, bis die Fahrer das Fenster hinunterkurbelten.

Der erste war ein Mann mittleren Alters, grau werdendes, zurückgegehltes Haar, ein Anzug, ein teuer aussehendes, silbernes Auto, der mit schnippischem Ton in der Stimme sagte: "Gehen Sie aus dem Weg. Ich habe wichtige Dinge zu erledigen."

"Sie sehen nicht aus, als würden sie verhungern, wenn sie zwei Minuten warten", entgegnete der Obdachlose, "ich habe hier 'nen verletzten Hund gefunden. Er hat nur drei Beine und 'ne Blutvergiftung. Wenn er..."

Er wollte weiterreden, doch der Mann schloss das Fenster, setzte mit aggressiv knurrendem Motor an uns vorbei, hätte dabei beinahe ein parkendes Auto erwischt, und verschwand auf dem Parkplatz.

"So ein Arschloch!", keifte der Obdachlose und wartete auf den nächsten Autofahrer, der jedoch behauptete, gegen Hundehaare allergisch zu sein. Er blieb zwar freundlich, machte sich jedoch ebenfalls nicht die Mühe, in irgendeiner Art behilflich zu sein.

Ein dritter Autofahrer fuhr zwar nicht auf den Parkplatz, nahm sich aber dennoch die Zeit, sein Tempo zu verlangsamen, das Fenster auf der Beifahrerseite hinunterzukurbeln und zu schreien: "Scheiß Penner! Zu faul zu arbeiten, und dann noch um Geld betteln!" Es war eine Frau, das Alter konnte ich bei der dicken Schicht an Make-up schlecht schätzen, mit strähnigem, pechschwarz gefärbten Haar, dickem, blauen Lidschatten auf den Augen und einem knalligen Lippenstift. Das Auto klang, als fiele es jeden Augenblick in sich zusammen, als sie weiterfuhr.

Ich fühlte mich zu schwach, um wütend zu sein, und ich merkte, dass auch der alte Mann mühe hatte, mich noch festzuhalten, und sich in erster Linie darauf konzentrierte.

Dann fuhr ein weiteres Auto in den Parkplatz ein, und kaum sah der Fahrer uns, kurbelte er sofort das Fenster hinunter.

"Sie sehen beide nicht gut aus. Brauchen Sie Hilfe?"

"Der Hund braucht Hilfe. Seine Pfote ist entzündet. Wenn sie irgendwo in Richtung Tierarzt fahren..."

"Los, steigen Sie ein", unterbrach der Mann sofort und bedeutete dem Obdachlosen mit einer ungeduldigen Handgeste, er solle einsteigen.

"Ich will Ihnen das Auto nicht schmutzig machen", entgegnete der, und es lag keine Ironie in seiner Stimme. "Es ist auch nicht mein Hund, ich habe ihn nur gefunden."

Der Fahrer stieg eilig aus, öffnete die hintere Tür und eilte sofort zu uns. Er wirkte erschreckt, als er meine Pfote sowie die kahle Stelle an meiner Hüfte sah, wo eigentlich ein Bein hingehörte.

"Geben Sie ihn mir, ich fahre ihn sofort zum Tierarzt. Sind Sie sicher, dass Sie nicht mitkommen wollen?"

"Sie sehen vertrauenswürdig aus. Ich glaube Ihnen auch so, dass sie wirklich zu einem Tierarzt fahren", sagte der alte Mann und lächelte- dieses Mal schien es wirklich ein erleichtertes Lächeln zu sein.

"Ich habe meine Sachen hier in der Nähe, ich sollte nicht zu weit weg gehen. Er war ein angenehmer Zeitgenosse, aber wenn er bei mir bleibt, lebt er vielleicht noch ein - oder zwei Tage."

"Da haben Sie recht", murmelte der Fahrer und nahm mich vorsichtig auf den Arm, woraufhin der Alte erleichtert keuchte. Der jüngere kramte kurz in der Tasche seiner schwarzen Kapuzenjacke und reichte ihm etwas- aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass es ein zwanzig-Mark- Schein war.

"Haben Sie vielen Dank", sagte er verblüfft, und der Fahrer nickte. Er legte mich vorsichtig auf den Rücksitz seines Autos und stieg dann selbst ein- an seinen Bewegungen sah ich, wie nervös er war, als glaubte er, ich könnte jeden Augenblick sterben. Er sah aus, als wäre er vielleicht mitte dreißig, wirkte recht drahtig, und sein Aussehen erinnerte mich ein klein wenig an mich selbst, nur etwa zehn Jahre älter. Sogar die Frisur war ähnlich.

Er fuhr so schnell los, das ich dachte, sofort wieder aus dem Auto hinausgeschleudert zu werden, und es dauerte nur wenige Minuten, bis wir wieder zum Stehen kamen.

"Du siehst echt übel aus", murmelte er, als er mich wieder auf den Arm nahm und in Richtung eines Gebäudes trug, das vermutlich eine Tierarztpraxis war. Ich wimmerte. Der Schmerz schwoll immer mehr an, schien regelrecht zu pochen, und mittlerweile war mir heiß.

Wir mussten noch einige Zeit im Wartezimmer sitzen, und der Geruch von kranken Tieren hing wie eine schwere Wolke in der Luft- ich vermute, Menschen nahmen ihn längst nicht so stark war wie Hunde, und ich beneidete sie. Es roch widerlich. Vor kurzem hatte ein Hund sein Geschäft hier erledigt, und wer auch immer anschließend geputzt hatte, hatte seine Arbeit nicht besonders gut gemacht.

Ich konnte kaum den Kopf heben, doch die Gerüche, die ich wahrnahm, stammten überwiegend von Hunden, vielleicht drei, und eine Katze schien auch dazusein.

"Ihr Hund sieht wirklich nicht gut aus", hörte ich eine weibliche Stimme voller Entsetzen sagen, "was ist denn mit ihm passiert?"

"Ich weiß nicht", antwortete der Mann, auf dessen Schoß ich lag, und er begann, die kurze Geschichte zu erzählen, mit der ich vor wenigen Minuten in sein Leben getreten war.

"Das ist ja eine wirkliche Heldentat", antwortete die Frau dann, und irgendwann wechselte das Thema, aber die Nervosität stieg von Minute zu Minute in der Stimme des jungen Mannes.

Schließlich war ich an der Reihe, und ich bemerkte sofort den bedauernden Blick in den Augen der Tierärztin, als sie begann, meine Pfote zu untersuchen.

"Es sieht nicht gut aus", flüsterte sie irgendwann, und ich sah, wie der Mann entsetzt zusammenzuckte. Sie fragte, wie das passiert sei, wann es passiert sei, und er erzählte die Geschichte ein weiteres Mal.

"Er hat eine Blutvergiftung", sagte sie dann, "und es sieht aus, als wäre die Wunde schon mehr als einen Tag alt. Ich werde tun, was ich kann, und wir werden ihn hierbehalten müssen. Aber..." Sie zögerte. "Ich fürchte, er wird es nicht überleben."

Angst überkam mich. Wenn ich starb, würde ich wiederkommen, vielleicht als irgendein krabbelndes Insekt, oder ein Fisch, und dann würde ich Susannah nie finden.

Ich wimmerte.

"Ist schon gut", flüsterte der Mann und streichelte meine Ohren. Er sah mir wirklich ähnlich. Mitleid und ein wenig Trauer glänzten in seinen blauen Augen, mit denen er lange Zeit mich, dann die Tierärztin betrachtete. Sie sagte ihm, dass sie seine Daten benötigte, weil er mich hierhergebracht hatte, und er fragte daraufhin, ob er in ein paar Tagen anrufen könnte, um sich zu erkundigen, ob ich überlebt hätte. Seine Stimme klang, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen, und ich empfand tiefe Dankbarkeit. Hätte er mich nicht hierhergefahren, wäre ich elendig auf der Straße, im Kalten, verendet.

Die Tierärztin verabreichte mir irgendetwas, das mich einschlafen ließ, eine Art Beruhigungs- oder Betäubungsmittel, damit ich die stärksten Schmerzen und eine weitere Untersuchung der Wunde, die noch stattfinden sollte, verschlafen konnte. Ob diese Untersuchung noch stattfand oder nicht, weiß ich nicht. Denn ich wachte nicht mehr daraus auf.

 

Das nächste Tier, in dessen Körper meine Seele überging, war ein Zebra. Dieses Mal schlüpfte ich nicht in den Körper irgendeines kranken oder verletzten Tieres, welcher dann auf unerklärliche Weise mit meiner Seele weiterexistieren konnte. Ich wurde als Fohlen geboren, und anfangs fühlte ich mich auch wie ein Kind. Zugegeben, an die erste Zeit erinnere ich mich nicht, wie man sich auch als Mensch nicht an die Säuglingszeit erinnert. Meine Gedanken beinhalteten nur primitivste Dinge, wie Essen, Schlafen und das Überleben- nicht, dass ich den natürlichen Überlebenstrieb als primitiv bezeichnen will, aber alle Handlungen, die auf den Überlebenstrieb zurückzusteuern sind, werden ja eher instinktiv ausgeführt und entstammen nicht irgendwelchen intelligenten Überlegungen. Kurz gesagt, als Fohlen war ich ziemlich instinktgesteuert. Und nicht intelligent. Anfangs wusste ich nicht einmal, dass ich eigentlich ein Mensch war. Die Erinnerungen kamen erst nach einiger Zeit zurück- nachdem ich festgestellt hatte, dass ich auf meine eigene Art doch intelligenter war als meine Artgenossen.

Es war ein schönes Leben.

Ich lebte in der Savanne, dort, wo noch vereinzelte Bäume und andere Gewächse vorzufinden waren, außerdem viele Wasserlöcher, wo wir uns die meiste Zeit aufhielten. Es war wunderschön- eine Landschaft, wie ich sie noch nie gesehen hatte, Pflanzen, Tiere, die ich mir nie hätte vorstellen können, die ich bestenfalls in Büchern gesehen hatte.

Jeden Morgen und jeden Abend verschwand die Sonne wie ein gewaltiger, brennender Ball am endlos scheinenden Horizont, tauchte alles in ein wunderschönes, goldenes Licht, das an flüssigen Honig erinnerte. Ich dachte an Susannah, und ich dachte oft an sie, aber die Trauer war um einiges geringer, als ich vermutet hätte. Oft glaubte ich, dass es nur zum Teil meine Seele war, die diesen Körper bewohnte, und ein Teil des Zebras, das an meiner Stelle hätte geboren werden sollen, noch da war. Unsere Herde war groß, und sie umfasste nicht nur Zebras, sondern auch andere Tiere, die ich nun zum ersten Mal sah- Antilopen und Straußen, und manchmal, wenn wir uns zum Trinken oder zur Abkühlung an einem Wasserloch einfanden, teilten wir uns diesen magischen Ort mit Giraffen, Gnus, unzähligen Vögeln. Es war unbeschreiblich, wie in einem Spielfilm, oder einem Zeichentrickfilm für Kinder- nur dass es echt war, und obwohl alles eigentlich ähnliche Farben hatte, die ja zur Tarnung der Tiere diente, schien alles zu leuchten. Vielleicht war es auch nur in meiner Vorstellung.

Zu meinem Glück war ich ein weibliches Zebra, was bedeutete, dass ich nicht von der Herde vertrieben wurde- der war, dass ich selbst ein Fohlen gebar

 

, ich wurde Mutter. Doch irgendwie fühlte es sich gut an. Zumindest von dem Zeitpunkt an, als das Fohlen auf der Welt war, das Vorangegangene weniger. Was ich jetzt allerdings wusste, war, dass nichts auf der Welt so schmerzhaft sein konnte wie eine Geburt, und dass ich nie wieder eine Frau anzweifeln würde, die behauptete, Männer könnten die Schmerzen einer Geburt nicht ertragen. Ich glaube, dieses riesige Fohlen aus meinem Körper zu pressen, ließ mich lauter aufschreien als jeder Schmerz, den ich davor gespürt hatte.

Aber dieses Glücksgefühl, als es sofort mit fröhlichem Wiehern aufgestanden, umhergelaufen und mir überallhin schutzsuchend gefolgt war, war einfach unbeschreiblich, und jedes Mal, wenn ich es dabei beobachtete, wie es mit den anderen Fohlen fröhlich im Wasser spielte, stieß ich ein belustigtes Wiehern aus. Ich glaube, ich war eine sehr gute Mutter, und es kam mir nicht einmal merkwürdig vor.

Seltsamerweise war das das erste Leben, dass ich wirklich genoss. Vielleicht lag es daran, dass mir keine andere Wahl blieb. Als Hund musste ich mir andauernd den Kopf darüber zerbrechen, wie ich Susannah am schnellsten wiederfand, was ich tun konnte, doch als Zebra, das irgendwo im Herzen Afrikas lebte, hatte ich nicht den Hauch einer Chance, sie zu finden. Ich hatte auch gar nicht so viel Zeit, an sie zu denken- das Muttersein, die ständige Nahrungssuche, und die Flucht vor irgendwelchen Raubtieren, die zum Glück weder mich noch mein Fohlen jemals erwischten, nahmen viel Zeit ein und erforderten sehr viel Aufmerksamkeit. Doch ich war, wie gesagt auch nicht ganz ich, nicht nur. Auch einige Erinnerungen kehrten erst wieder im darauffolgenden Leben zurück.

Was ich nie vergessen werde, ist der Angriff des Leoparden.

Wir grasten alle ruhig an einem Wasserloch, einige der jüngeren Tiere wateten gerade durch das kühlende Wasser, doch eine kleine Gruppe stand etwas abseits.

Plötzlich ertönte der laute, von Schreck erfüllte Schrei eines Vogels, und sofort wurde die Herde unruhig. Dann sahen wir den Leoparden. Mit seinem eleganten, von tarnenden Flecken gesprenkelten Körper glitt er lautlos und geschmeidig durch die trockenen Büsche, verursachte jedoch keinen Laut. Hätte der Vogel nicht dann geschrien, als er genau über dem Angreifer kreiste, wären zweifellos einige von uns getötet worden.

Die kleine Gruppe, die etwas abseits der Herde stand, bemerkte den Angreifer nicht, und graste unbedarft weiter.

Wir alle stießen ein warnendes Wiehern aus, als der Leopard sich in Kauerstellung begab.

Eine junge Stute, die bei der Gruppe stand, blickte verwirrt auf, sah sich um, und wollte gerade in unsere Richtung gehen, als der Leopard zum Sprung ansetzte. Wie auf ein stilles Kommando hin rannte die ganze Herde los, an der Gruppe vorbei, die sich sofort mit erschrecktem Wiehern anschloss.

Wir rannten alle in die gleiche Richtung, ohne uns nach dem Leoparden umzusehen- erst, als ein schriller, merkwürdiger Schrei ertönte, drehte ich mich herum, und riss entsetzt die Augen auf.

Ein Zebra lag auf dem Boden, war wohl gestolpert, und zwischen neben ihm stand ein gewaltiges Gnu, das mit seinen Hufen auf den Leoparden eintrat. Dieser wollte immer wieder angreifen, versuchte, an dem Gnu vorbeizukommen, um das Zebra anzugreifen, doch dieses trat immer wieder aus und erwischte die Raubkatze schließlich am Kopf. Diese stieß ein entsetztes Fauchen aus, taumelte rückwärts und stürzte ihrerseits, und als das Gnu mit einem wütenden Schnauben auf sie zutrat, sprang sie auf und floh mit wehendem Schwanz und donnernden Pfoten in die Büsche.

Das Zebra stand auf, es war unverletzt, sah jedoch aus, als stände es unter schock, und eilte zu der Herde, gefolgt von dem Gnu.

Ich hätte nie geglaubt, dass ein Tier ein anderes vor einem Angreifer verteidigt, welchem es eigentlich ebenfalls unterlegen wäre. Doch ich hatte es mit meinen eigenen Augen gesehen.

Das war wohl der aufregendste, der einschneidendste Augenblick in meinem Zebraleben gewesen- natürlich kamen Angriffe von Raubtieren des Öfteren vor, doch dieser blieb mir definitiv am ehesten in Erinnerung.

Als auch dieses Leben zuende ging, bedauerte ich es fast- ich weiß nicht einmal genau, wie alt ich war, doch es konnten nicht mehr als Jahre gewesen sein.

Mittlerweile weiß ich, dass Zebras älter werden, deswegen frage ich mich noch immer, woran ich eigentlich gestorben war. Ich war weder verletzt, noch krank gewesen; eines Tages fühlte ich mich plötzlich etwas schwach, legte mich in den Schatten, um ein wenig auszuruhen, und starb. Es war im Grunde ein sehr angenehmer Tod, denn ich hatte keinerlei Schmerzen, war nicht allein, und das letzte, was ich sah, war ein tiefblauer, wolkenloser Himmel. Einen derartigen Tod würde ich mir immer wünschen.

 

 

 

Die Suche beginnt

 

 

 

 

 

23. 06. 2002

 

Liebes Tagebuch

Eigentlich wollte ich nicht so anfangen, weil jeder, der ein Tagebuch schreibt, mit Liebes Tagebuch anfängt. Aber wenn ich anders anfange, weiß vielleicht niemand, dass es ein Tagebuch ist, also fange ich doch an mit "Liebes Tagebuch."

Heute war mein sechster Geburtstag. Meine Tante hat mir dieses Buch geschenkt, und ein paar Stifte. Ich glaube, sie denken, dass ich hier Bilder hineinmalen will, aber weil ich schon schreiben kann, will ich es als Tagebuch benutzen.

Heute schreibe ich zum ersten Mal hinein, obwohl ich gar nicht genau weiß, was ich überhaupt schreiben soll. Also fange ich einfach mit dem an, was heute passiert ist.

So aufgeregt, wie ich war, bin ich schon aufgewacht, als es draußen noch dämmrig war, lag noch eine Zeit lang im Bett und habe mich dann irgendwann aus meinem Zimmer geschlichen. Ich war sicher, dass meine Eltern noch schliefen, und dass ich in Ruhe im Wohnzimmer nach meinem Geburtstagsgeschenk suchen konnte. Da Mama und Papa immer sagen, ich wäre lieb, glaubte ich, dass ich etwas Schönes bekommen würde.

Meine Familie- Mutter, Vater, große Schwester und ein Hund, der doppelt so groß war wie ich, wenn er sich auf die Hinterbeine stellte- leben in einem kleinen Dorf in England, westlich von London, umgeben von Wald und Feldern. Es ist schön, ich kann jeden Tag rausgehen und im Wald spielen, ich bin mit fast allen Kindern befreundet, die auch hier leben- so viele sind es nicht, insgesamt wohnen vielleicht zehn, zwölf Kinder in meinem Alter hier, und davon sind drei nicht besonders nett.

Meine Mutter ist Lehrerin an einer Grundschule, aber in einem anderen Dorf- hier, und mein Papa arbeitete andauernd draußen, ich weiß gar nicht genau, was er machte, ich glaube, er kümmerte sich um kranke Bäume. Eigentlich war alles ganz normal, abgesehen von mir. Zumindest sagen sie das manchmal, aber ich glaube, es war nur Spaß.

Ich krabbelte aus meinem Bett und versuchte, keine Geräusche zu machen. Die Tür zu meinem Zimmer quietschte manchmal, deswegen öffnete ich sie ganz vorsichtig und spähte zuerst durch den dünnen Spalt in den Flur, aber dort war alles stockdunkel. Ich schob die Tür ein Stück weiter auf und schob mich durch die Lücke in den Flur. Ich wollte das Licht nicht anmachen, denn dann wären Mama und Papa aufgewacht, also streckte ich vorsichtig die Arme aus und tastete mich langsam vorwärts. Alles war so still. Bei jedem kleinsten Geräusch, das ich machte, zuckte ich zusammen und sah mich erschreckt um.

Irgendwann spürte ich eine Kante an meinen Füßen. Hier fing die Treppe an, die nach unten führte. Meine Hände suchten nach dem glatten, hölzernen Geländer und hielten sich daran fest, während ich vorsichtig eine Stufe nach der anderen hinunterstieg.

Du bist ein Einbrecher!, dachte ich und musste Lächeln.

Das Holz fühlte sich unter meinen Händen warm an, und erst jetzt, wo ich die Treppenstufen nur unter meinen Füßen spürte, aber sie nicht sehen konnte, merkte ich, dass sie nicht ganz gerade sind. Ein paar Knubbel und Wellen waren da.

Mein Herz schlug laut.

Auf die letzte Stufe trat ich ein bisschen zu fest, und sie knarzte. Erschreckt hielt ich den Atem an und erstarrte kurz, wie bei diesem Spiel, wo man so tut, als wäre man eingefroren.

Ich wartete. Nach ein paar Sekunden, als ich sicher war, dass mich niemand gehört hatte, schlich ich weiter in Richtung Wohnzimmer. Aus der Küche duftete es immer noch nach Schokoladenkuchen, den Mama und ich gestern Abend gebacken hatten, und ich überlegte kurz.

Die Geschenke konnten warten.

Leise bog ich in die Küche ab, wo sich das Sonnenlicht durch die Spalten an den heruntergelassenen Rolladen quetschte, und der leckere Duft nach Schokolade wurde stärker, als würde man in eine Schokoladenwolke hineinlaufen.

Ich leckte mir die Lippen.

Mama hatte den Kuchen in den Kühlschrank gestellt, damit er frisch blieb.

Durch das schwache Licht konnte ich zum Glück ein paar Umrisse erkennen, während ich mich zum Kühlschrank schlich. Als ich die Tür vorsichtig öffnete, schlug mir die Schokoladenwolke entgegen, und ich musste mich beherrschen, nicht meinen Kopf in den Kühlschrank zu stecken und alles auf einmal leerzufutten.

Gierig nahm ich ein dickes Stück heraus und machte den Schrank sofort wieder zu- zum Glück hatte Mama den Kuchen schon angeschnitten, so würde es vielleicht nicht so sehr auffallen, dass ein Stück fehlte.

Ich biss ein Stück ab, und die kühle Schokoladenglasur knackte in meinem Mund. So leckeren Kuchen hatte ich lange nicht mehr gegessen.

Eigentlich wollte ich den Kuchen langsam essen, um mehr davon zu haben, aber er schmeckte so gut, dass ich schon das nächste Stück abbeißen musste, bevor ich das erste überhaupt heruntergeschluckt hatte.

Schnell ging ich aus der Küche, die Backen dick gefüllt, und nahm meine Suche nach Geschenken wieder auf.

Ich schlich in Richtung Wohnzimmer, tastete nach der Tür, fand sie, schob mich hinein, und das Licht ging an.

"Überraschung!"

Ich quiekte wie eine erschreckte Maus.

Meine Mama, mein Papa und Oma und Opa standen dort mit bunten Hütchen auf den Köpfen, über ihnen baumelte eine bunte Girlande von der Decke, auf der "Happy Birthday" stand.

Ich stand in der Tür, riesige Augen, die Backen dick gefüllt, den Mund fast bis zu den Ohren mit Schokolade beschmiert, in der Hand das restliche Kuchenstück.

Wie auf Kommando brach meine Familie in lautes Gelächter aus, und ich musste auch lachen.

"Da hat wohl jemand schon genascht!", rief meine Oma und klatschte dabei in die Hände, dann tippelte sie zu mir und drückte mir einen dicken Schmatzer auf die Wange. Danach klebte Schokolade an ihrer Lippe.

"Alles Gute zu deinem Geburtstag, Liebling! "

"Danke!"

Dann kam auch Opa und wuschelte mir durch das Haar.

"Herzlichen Glückwunsch, Großer! Sechs Jahre, mein lieber Mann! Wird Zeit, dass du dir einen Job suchst."

"Erstmal muss ich in die Schule!", widersprach ich, aber ich glaube, Opa hatte sowieso nur einen Witz gemacht.

"Ach was, du weißt doch schon alles!" Das war wahrscheinlich kein Witz, denn ich weiß wirklich sehr viel.

"Und heute wird gefeiert?"

"Ja! Später kommen auch noch ein paar Freunde."

"Nur schade, dass dann kein Kuchen mehr da ist", meldete sich Mama und schüttelte belustigt den Kopf, "du bist ja ein richtiger Dieb, Jessie."

"Hat's denn geschmeckt?", fragte Oma kichernd, und ich nickte ein wenig beschämt. Dass meine halbe Familie schon da war, hatte ich natürlich nicht eingeplant. Klar, Mama und Papa schon. Aber die restlichen Verwandten kamen eigentlich immer erst nachmittags.

"Warum seid ihr so früh schon hier?", fragte ich dann. An Geschenke dachte ich in dem Moment gar nicht.

"Oma und Opa sind gestern Abend schon gekommen, als du geschlafen hast, Jessie. Sie haben im Gästezimmer übernachtet. Ich habe ihnen dann noch geholfen, dein Geschenk einzupacken."

"Mein Geschenk?"

"Da leuchten die Augen direkt", sagte mein Papa grinsend, "sei mal nicht so gierig."

"Schon gut", sagte Oma und nahm meine Hand.

"Sieh mal dort drüben hinter dem Sofa nach."

Ich merkte, wie ich vor Aufregung zitterte. Geschenke sind das Beste an Geburtstagen. Na ja, fast das Beste. Oma und Opa kommen uns nicht so oft besuchen, deswegen freue ich mich an meinem Geburtstag immer am meisten darauf, dass sie kommen. Mit dem Auto muss man ein paar Stunden fahren, um sie zu besuchen, aber ich habe vergessen, wie das Dorf heißt, wo sie wohnen.

Der Rest von meiner Familie wohnt nur einen Ort weiter, die sehe ich oft. Also, meine andere Oma und Opa und die Geschwister von Mama.

Ich folgte meiner Oma, und sie schob das Sofa ein kleines Stück nach vorne. Mit großen Augen beugte ich mich über die Lehne und steckte meinen Kopf in die Lücke zwischen Sofa und Wand, gespannt, was ich dort finden würde.

Ein großer Karton, der in buntes Geschenkpapier eingewickelt war, lag auf dem Boden. Er hatte die Form von einem länglichen Dreieck, und ich überlegte. Mama hat mich vor ein paar Wochen gefragt, was ich mir von Oma und Opa zum Geburtstag wünsche, aber mir ist nichts Bestimmtes eingefallen, deswegen habe ich gesagt, ich lasse mich überraschen.

"Was ist es?", fragte ich, aber Oma zuckte nur mit den Schultern.

"Wer weiß, wer weiß."

Ich nahm den Karton ganz vorsichtig, denn es könnte ja etwas Zerbrechliches darin sein, und zog ihn hinter dem Sofa hervor. Langsam fing ich an, das Geschenkpapier abzumachen, aber ich wollte es nicht einfach auseinanderreißen, wie die meisten Kinder das machen. Ich finde es schöner, wenn das Papier auch nach dem Öffnen noch ganz ist, und ich schaffte es tatsächlich, ohne einen einzigen Riss hineinzumachen.

Die Verpackung war ein ganz normaler Papp-Karton, es stand nichts darauf. Ich hielt ganz kurz die Luft an und wartete ein paar Sekunden, bevor ich schließlich auch den öffnete.

"Wow!"

Mit riesigen Augen starrte ich auf die Gitarre, musterte sie von oben bis unten, und konnte mein Staunen nicht verstecken. Sie hatte die Farbe von frischen Kastanien und glänzte auch so, und um das Loch in der Mitte herum waren schwarz-weiße Muster gemalt.

Ich streckte langsam die Hand aus und strich mit zwei Fingern über die Saiten, die einen schönen, angenehmen Klang machten. Aber...

Eine Saite stimmt nicht ganz, dachte ich, sagte aber nichts, sonst würden Opa und Oma noch denken, dass ich mich nicht freue.

"Sie ist super schön!"

"Na los, versuch' mal, etwas zu spielen."

Ich zögerte kurz. Ich habe noch nie versucht, ein Instrument zu spielen, und ich hatte Angst, mich zu blamieren.

Vorsichtig legte ich die Gitarre auf meinem Bein ab und nahm den Hals in die Hand, und dann fing ich an, irgendeine Melodie zu zupfen. Zuerst klang es nicht schön, und ich hörte wieder auf.

"Die dünne Saite ist die höchste", sagte Opa, "und die dicke die Tiefste."

"Ja...", murmelte ich. Plötzlich fiel es mir wieder ein. Ich setzte die Finger wieder auf den Hals, und auf einmal hörte ich etwas, eine Melodie. Sie war in meinem Kopf. Und dann spielte ich einfach. Ein paar falsche Töne waren noch dabei, aber nach ein paar Versuchen schaffte ich es ohne Fehler.

Grinsend schaute ich auf und sah, dass alle vier, Mama, Papa, Oma und Opa, mit offenen Mündern und großen Augen vor mir saßen.

"Jessie", flüsterte Mama, "woher weißt du, wie man das macht?"

"Keine Ahnung. Ich mach's einfach."

"Das ist..." Opa wollte irgendetwas sagen, aber er war so erstaunt, dass ihm anscheinend nichts einfiel.

Ich spielte noch ziemlich lange weiter, fast zwei Stunden, und irgendwann konnte ich nicht mehr sitzen.

Wir gingen spazieren, und es regnete. Meine Eltern freuten sich die ganze Zeit, dass mein Geschenk mir so gut gefiel, und ich freute mich auch. Dauernd überlegte ich, welches Lied ich als nächstes spielen könnte.

Nachmittags bekam ich dann noch Besuch von ein paar Verwandten und meinen Freunden aus dem Kindergarten- während die Erwachsenen Kaffee tranken, spielten wir im ganzen Haus Verstecken, und als es irgendwann mit dem Regen aufhörte, gingen wir nach draußen und spielten dort.

Als die Kinder Abends wieder weg waren, griff ich mir sofort wieder meine Gitarre und übte weiter. Mir war ein Lied eingefallen, dass ich übte, aber ich wusste nicht, woher ich es kannte, und Mama kannte es auch nicht. Sie meinte nur, es würde sich nach einem sehr alten Lied anhören, vielleicht kannte ich es von Oma und Opa.

Das übte ich zwei Stunden, bis ich alle Strophen spielen konnte.

"Komm", sagte Mama irgendwann, "langsam wird es Zeit, dass du ins Bett gehst."

"Aber ich will weiter üben!" Ich drückte die Gitarre ganz fest an mich, als ob Mama sie mir wegnehmen wollte.

"Du kannst morgen den ganzen Tag weiterüben, Jessie. Komm jetzt, mach' dich fertig und geh schlafen. Es ist spät." Sie gähnte.

"Aber ich bin nicht müde!"

"Jessie!"

Sie schaute mich mit ihrem ernsten Gesicht an, das sie immer benutzte, wenn sie nicht wollte, dass ich noch einmal zu meckern anfing. Wenn sie so aussah, konnte man einfach nicht widersprechen.

"Okay", murmelte ich und zwang mich dazu, die Gitarre wieder in den Karton zu legen.

"Wo kann ich sie hinlegen?"

"Lass' sie einfach auf der Couch liegen."

"Nein, ich will sie verstecken!"

"Wieso das denn? Papa und ich stehen heute Nacht besimmt nicht auf, um darauf zu spielen." Sie gähnte noch einmal und schaute schläfrig zu Papa hinüber.

"Nein, wenn ein Einbrecher kommt!"

Plötzlich hatte ich Angst und griff wieder nach der Gitarre.

Papa räusperte sich. "Also, wenn hier tatsächlich ein Einbrecher käme, könnten wir von Glück reden, wenn er nur die Gitarre mitnehmen würde!"

"Ich nehme sie mit in mein Zimmer."

"Damit du die ganze Nacht spielst?", protestierte Papa, "kannst du vergessen. Morgen ist auch noch ein Tag. Wir nehmen sie mit in unser Schlafzimmer. Da kommt bestimmt kein Einbrecher rein."

Ich starrte ihn noch eine Zeit ang an und versuchte, wütend auszusehen, damit er mir doch noch erlaubte, die Gitarre mit in mein Zimmer zu nehmen, aber irgendwann gab ich auf. Wenn Mama und Papa müde waren, wurden sie irgendwann wirklich motzig, da musste ich einfach nachgeben.

"Okay", grummelte ich dann, machte den Karton wieder zu und schlurfte langsam in Richtung Badezimmer. Meine Finger taten ganz schön weh.

Jetzt sitze ich hier und schreibe in mein Tagebuch, und gleich gehe ich ins Bett. Ich bin gespannt, was ich beim nächsten Mal alles hineinschreiben kann.

Gute Nacht.

 

 

28. 06. 2002

 

Liebes Tagebuch,

Heute war mein letzter Tag im Kindergarten, jetzt gehen die Sommerferien los, und danach komme ich in die Schule.

Wir hatten eine kleine Feier für die Kinder, die heute ihren letzten Tag dort hatten, und haben Schultüten aus Pappe gebastelt. Die Mädchen hatten rosa, hellblaue und regenbogenfarbene Pappe und durften Meerjungfrauen auf ihre Tüten kleben, und dabei ist etwas Komisches passiert.

Chloé, ein Mädchen aus meiner Gruppe, hat einen roten Stift genommen und die gelbe Pappe, aus der die Haare der Meerjungfrauen gebastelt waren, rot gemalt, damit sie aussieht wie eine Figur aus ihrem Lieblingsfilm.

Als ich die Meerjungfrau gesehen habe, mit heller Haut, blauen Augen und leuchtend roten Haaren, habe ich plötzlich das Gesicht von einer Frau vor mir gesehen, die genauso aussah, nur viel schöner und echt. Ich habe die Meerjungfrau angestarrt und überlegt, woher ich die Frau kenne, aber ich wusste es nicht. Ich konnte aber auch nicht wegsehen, ich musste hinstarren.

Verschwommen hörte ich Chloés Stimme, aber ich bekam nicht mit, was sie sagte.

Plötzlich fing sie an zu schreien, und ich schüttelte den Kopf.

"Was..."

"Ich hab tausendmal gesagt, du sollst nicht so auf meine Schultüte starren!"

"Ähh... 'Tschuldigung...", stammelte ich, musste aber wieder die Meerjungfrau ansehen. Eigentlich hatte sie es nur einmal gesagt, aber Chloé zu widersprechen wäre ein Todesurteil.

"Sieht schön aus. Gute Idee mit den roten Haaren."

"Findest du?", kicherte sie und hörte sofort auf, zu schreien.

"Ja, total."

Ich zwang mich dazu, zu lächeln, dachte Blöde Zicke und stand auf, um schnell an einen anderen Tisch zu gehen.

Dort saß Peter, mein bester Freund, der neben uns wohnte, und er lächelte, als ich mich neben ihn setzte. Er wohnte direkt nebenan, und er hatte eine ganze Menge an Tieren- Pferde, Kühe, Schweine und Hühner. Und ein paar Katzen, und einen Hund.

"Chloé ist süß", sagte er und kicherte.

Entsetzt drehte ich mich zu ihm herum und zog eine Augenbraue hoch. "Chloé ist ekelhaft", widersprach ich ihm, "hast du gesehen, wie sie mich angezickt hat?"

"Mmhm", seufzte er abwesend, nickte, und starrte das Mädchen verknallt an.

"Oh Mann", murmelte ich und stützte meinen Kopf auf die Hand.

Dann kam es wieder, das Gesicht.

Ein Mädchen mit feuerroten Haaren und ganz leuchtenden blauen Augen.

Ohne etwas zu sagen stand ich auf und trottete zu dem Regal hinüber, wo sämtliche Bastel- und Malsachen aufbewahrt wurden, um mir ein Blatt Papier sowie einen Becher mit Stiften herauszunehmen.

"Ist deine Schultüte schon fertig?"

"Klar", log ich und grinste Peter an, der mir ungläubig entgegensah.

"Im Leben nicht!"

"Ich mache gleich damit weiter, hab' grad Lust zu malen. Sag's nicht zu laut, sonst kommt die alte Kuh noch auf die Idee, mir das Blatt wegzunehmen." Damit meinte ich Mrs. Brown, die älteste und gruseligste Kindergärtnerin hier, bei der sich kein Kind traute, in irgendeiner Art zu widersprechen- wenn man nicht das tat, was sie verlangte, drohten immer irgendwelche Strafen.

Ich nahm einen Bleistift, versuchte, das Gesicht der rothaarigen Frau wieder in meinem Kopf zu sehen, und zeichnete das, was ich sah, auf das Papier. Sie hatte ein eher rundes Gesicht, aber nicht dick, große Augen, eine zierliche Nase, und lockige, rote Haare. Zuerst zeichnete ich nur die Umrisse als dünne, ganz helle Linien, damit man sie nachher nicht mehr sehen würde, wenn ich es ausmalte.

Als ich ihr Gesicht grob gezeichnet hatte, zögerte ich kurz und betrachtete es, dann schloss ich nochmal die Augen und verglich es mit dem, was ich dann vor meinem inneren Auge sah.

Unzufrieden grummelte ich.

Ich hatte das Gesicht etwas zu kurz gezeichnet.

Sie hatte kein langes Gesicht, aber auch nicht gedrungen, eigentlich war es ein ziemlich perfektes Gesicht... Auf meinem Bild sah es nicht perfekt aus.

Ich griff nach dem Radiergummi, radierte den unteren Teil der dünnen Linie weg und setzte den Stift wieder an. Einen Moment lang zögerte ich und hielt die Luft an. Es musste perfekt werden.

Ganz langsam bewegte ich den Stift über das Papier, meine Hand war ganz ruhig, ich zwang mich dazu, nicht zu zittern. Mein Herz schlug, ich glaubte, ich könnte es hören.

Die Linie wurde länger, aber nur einen Hauch, den meisten wäre es vermutlich nicht einmal aufgefallen. In der Mitte, dort, wo das Kinn war, stoppte ich, und setzte den Stift auf der anderen Seite an.

Der Stift glitt ganz leicht über das Papier, ich übte kaum Druck aus, und als sich die beiden Linien endlich trafen, stieß ich ein erleichtertes Seufzen aus. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte, und mein Herz pochte wie verrückt.

Ich nahm das Blatt in beide Hände, hielt es vor mich und betrachtete es, dann schloss ich die Augen. Es stimmte. Es sah genauso aus wie das Gesicht in meinem Kopf.

Zufrieden lächelte ich und suchte mir verschiedene blaue, rote und hautfarbene Stifte zusammen, um es auszumalen, doch das würde nicht mehr so schwer werden. Die Formen waren das Schwierige, die mussten genau stimmen.

"Wow, Jessie!", staunte Peter und starrte mit großen Augen auf das Bild. "Das sieht schon wieder total echt aus! Wer ist das?"

"Keine Ahnung", antwortete ich und zuckte mit den Schultern. Ich fühlte mich ein wenig schlecht, denn ich weiß, dass ich ziemlich gut zeichnen kann, und manche denken, ich wollte damit angeben- okay, manchmal wollte ich das auch, aber nicht bei Peter.

Die anderen Kinder machte es oft ein bisschen neidisch, wenn ich ein Gesicht von einem Menschen oder ein Tier malte, und es auch genau so aussah, wie es aussehen sollte, und bei ihnen konnte man eine Katze nicht von einem Brot unterscheiden.

Ich glaube, sogar Peter war neidisch, obwohl er mein bester Freund war.

Auch die Kindergärtnerinnen sagten, ich wäre hochbegabt, und sie wollten mich schon auf eine besondere Schule schicken, wo ganz viel mit Kunst gemacht wird. Aber das wäre ein Internat gewesen, wo man sogar übernachtet, und das wollten meine Eltern nicht, und ich auch nicht.

"Du hast keine Ahnung wer das ist?"

"Nein... Keine Ahnung, ich hatte das Gesicht auf einmal so im Kopf."

"Du hast doch 'ne Schraube locker", sagte Peter und lächelte.

"Ja, kann sein."

Vorsichtig begann ich, das Gesicht auszumalen, aber es war nicht leicht, die richtigen Farben zu finden. Es gab nur drei verschiedene blaue, drei rote und einen- Einen!-

hautfarbenen Stift. Als ob alle Menschen die gleiche Hautfarbe hätten!, dachte ich empört und schüttelte den Kopf. Die Farbe hier war viel zu dunkel und viel zu orange für das Mädchen, eigentlich für alle. So orange Haut hatte keiner, deswegen durfte ich nur ganz leicht aufdrücken.

Und auch die drei Rot stimmten nicht ganz, sie waren nicht so... nicht so feurig wie ihre Haare. Egal, dann male ich sie zuhause eben nochmal.

Das Blau war dagegen ziemlich gut. Nach zehn Minuten hatte ich ihre Augen fertig ausgemalt, und sie leuchteten fast so, wie ich sie mir vorgesgellt habe, tiefblau wie ein See. Peter saß immernoch neben mir und starrte die ganze Zeit wie gebannt auf das Bild. Ich wollte gerade mit der Hautfarbe beginnen, als ein schrilles Rufen ertönte: "So, Kinder, wie weit seit ihr mit euren Schultüten? Wer ist schon fertig? Und wer braucht noch Hilfe?" Oh nein, die Schreckschraube, dachte ich und rollte mit den Augen.

Dann Geschrei.

"Ich bin fertig!"

"Hier, ich!"

"Ich brauche Hilfe!"

"Ich auch!"

"Ich zuerst!"

Und das alles gleichzeitig. Die größten Schreihälse waren Mädchen, die waren zumindest lauter als die Jungs. Auch Peter rief zweimal: "Ich bin schon fertig!", aber immerhin nur zweimal.

Nur ich blieb ruhig, so sehr war ich in mein Bild vertieft. Davon abgesehen war ich noch nicht ganz fertig, aber ich wollte mir auch nicht helfen lassen.

Das Kreischen wurde lauter, jeder wollte als erster Hilfe bekommen oder seine Schultüte zeigen, und die Lautesten versuchten noch, sich gegenseitig zu übertönen.

"Ruhe jetzt!", rief Mrs. Brown, ihre Stimme hallte durch den ganzen Raum wie ein Gewitter, und sofort wurde es still, as würde man bei einem Fernseher auf die "Ton aus"- Taste drücken.

"Ich sehe mir mal an, wie weit ihr seid, ihr habt nämlich noch zehn Minuten, dann ist Pause, und danach haben wir noch eine kleine Überraschung für euch."

Sie ging durch den Raum, blieb bei jedem kurz stehen, murmelte etwas, und ich hörte, wie sie immer näher in meine Richtung kam.

"Oh je", flüsterte Peter und legte schnell seine Schultüte auf den Tisch, "Jessie, hol' deine Tüte!"

Zu spät.

"Jessie, bist du etwa schon fertig?"

"Ähm... na ja, noch nicht ganz."

Ich starrte schuldbewusst zu ihr hoch, während sie kritisch auf mich herabsah.

"Wie kommst du dann dazu, einfach..." Ihre Augen wanderten auf mein Bild.

"Wow... "

Sie nahm es vorsichtig in die Hände und sah es sich lange Zeit an.

"Also, ich weiß ja, dass du fantastisch zeichnen kannst, aber das..."

"Es ist noch nicht fertig."

"So etwas habe ich noch nie gesehen." Ich glaube, sie redete nicht mit mir, denn sie sah mich nicht an und sprach so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. Sie stammelte einfach vor sich hin.

 

 

"Wo hast du das abgezeichnet?"

"Gar nicht", entgegnete ich, "Chloés Meerjungfrau sieht so ähnlich aus."

"Hmmm... Das würde ich so nicht sagen", murmtelte sie und warf einen kurzen Blick auf das Mädchen, das hinter uns an einem anderen Tisch saß.

"Du meinst, du hast keine Vorlage benutzt? Einfach so aus dem Kopf?"

"Ja."

"Und wer ist das?"

"Keine Ahnung." Wie oft noch?!

"Jessie..." Jetzt sah sie wieder mich an. "Mach deine Schultüte fertig, und dann zeigen wir das mal den anderen."

Also bastelte ich meine Tüte fertig, und danach musste ich ihr durch das ganze Gebäude hinterherlatschen, um allen Kindern und allen Kindergärtnerinnen das Bild zu zeigen. Sie waren verblüfft, und ich musste bestimmt hundertmal die Frage beantworten, wer das ist. Irgendwann nervte es mich, denn mir fiel auf, dass ich selber gern die Antwort kennen würde. Zwischendurch hörte ich, dass sich die Kindertgärtnerinnen etwas zuflüsterten, dann erstaunt den Kopf schüttelten, und am Ende fragte Mrs. Brown mich noch, ob ich mit meinen Eltern darüber gesprochen hätte, auf dieses komische Internat zu gehen.

"Ich möchte nicht."

"Aber Jessie, du hast so ein außergewöhnliches Talent, das muss dringend gefördert werden."

"Das kann es von zuhause aus auch."

Darauf meinte sie, noch mit meinen Eltern sprechen zu wollen, aber das würde nichts ändern, ich wollte nunmal nicht auf ein Internat. Außerdem war ich sowieso schon an der anderen Schule angemeldet.

Zum Schluss bekamen wir von den kleineren Kindern, die noch nicht in die Schule gehen, noch ein paar Lieder gesungen, und eine Süßtüte mit einem kleinen gebastelten Geschenk. Ein bisschen traurig fand ich es schon, aber zum Glück gehen alle Kinder, mit denen ich mich besonders gut verstehe, in meine Klasse. Peter und ich haben schon ausgemacht, dass wir dann nebeneinander sitzen.

Zuhause habe ich dann das Bild weitergemalt, da hatte ich dann zum Glück stifte, die besser zu ihrer Haarfarbe passten. Die ganze Zeit hörte ich noch die Stimmen der anderen Kinder, die die ganze Zeit wissen wollten, wer denn das Mädchen auf dem Bild ist.

"Ist das deine Schwester?"

"Woher kennst du die?"

"Wo hast du das abgemalt?"

"Man kann doch nicht einfach so ein Gesicht malen, dass man noch nie gesehen hat!"

Ich hatte ja das Gefühl, dass ich sie kannte, aber ich wusste einfach nicht, woher.

Als es fertig war, und erst, als ich wirklich nichts mehr daran auszusetzen hatte, zeigte ich es Mama und Papa, und fragte, ob sie vielleicht wüssten, woher ich das Mädchen kenne.

Die wurden plötzlich ziemlich ernst und meinten, die Kindergärtnerin hätte vermutet, ich hätte ein "fotografisches Gedächtnis". Das wäre ganz selten, und etwas ganz besonderes, und man müsste das irgendwie testen lassen.

Also, ich sehe Sachen oder Menschen, und speichere sie dann genau so in meinem Kopf ab. Deswegen wüsste ich auch so viel, weil alles, was ich sehen würde, in meinem Gedächtnis blieb. Dann habe ich die Frau wahrscheinlich irgendwann einmal irgendwo gesehen, und weiß deswegen genau, wie sie aussieht. Das wäre schon sehr lustig.

Ansonsten ist heute nicht mehr besonders viel passiert, wir waren spazieren, haben gekocht- ich habe Mama dabei geholfen, und ich finde, es hat viel besser geschmeckt als sonst- und dann habe ich mich mit Peter getroffen, wir haben den ganzen restlichen Tag gespielt. Jetzt bin ich immer noch dort, wir konnten nämlich seinen Papa überreden, in der Scheune zu übernachten. Ich bin froh, dass ich daran gedacht habe, mein Tagebuch mitzunehmen, damit ich alles, was heute passiert ist, sofort aufschreiben kann. Zum Glück brauche ich keine Angst zu haben, dass Peter darin liest, während ich schlafe, er kann nämlich noch gar nicht lesen.

Aber ich glaube nicht, dass wir überhaupt schlafen werden, denn wir haben uns gerade eine Burg aus Stroh gebaut, mit der wir noch spielen wollten.

Na ja, gute Nacht und bis bald.

 

 

 

 

 

 

Ich starrte auf das Bild, das vor mir auf dem Boden lag, guckte es ziemlich lange an, und lächelte. Es war schön. Heute morgen waren wir einkaufen, und meine Mama hatte mir neue Stifte und neue Farbe gekauft, weil ich so viel male, und auch die ganz großen Stifte jedes Mal nach ein paar Tagen schon aufgebraucht habe. Zu meinem sechsten Geburtstag hatte ich ja eine ganz neue Packung mit Farben, für die man Pinsel braucht, bekommen, und Leinwände. Das war vor ein paar Wochen, und alles war schon fast leer.

Manchmal habe ich auch nur mit Bleistift gezeichnet, aber wenn ich die Frau malen wollte, dann benutzte ich immer kräftige Farben. Vor allem ein kräftiges Rot, für ihre Haare.

Zufrieden hielt ich das Bild hoch, damit die Sonne, die durch das Fenster schien, die Farben noch mehr leuchten lies, und stellte fest, dass sie fast genauso aussah wie immer, wenn ich von ihr träumte- und dann zuckte ich zusammen, als ich sah, dass ein Auge noch nicht ganz stimmte.

Fast eine halbe Minute betrachtete ich das Bild, und dann hörte ich Schritte hinter mir. Papa war von der Arbeit wiedergekommen und kam in mein Zimmer.

"Och Mann, du solltest das doch nicht sehen!", sagte ich und warf mich ihm lachend in die Arme, "ich mag das nicht, wenn jemand mein Bild sieht, bevor es fertig ist."

"Na, du kleiner Frechdachs", begrüßte mein Vater mich und wuschelte mir spielerisch durch meine dunkelblonden, in alle Richtungen abstehenden Haare.

Mama und Papa sagten manchmal, ich wäre nicht normal, weil ich so gut zeichnen kann. Das hatten die Kindergärtnerinnen auch immer gesagt, sie haben schon vorgeschlagen, mich nach den Sommerferien auf eine besondere Schule zu schicken, wo irgendwie ganz viel mit Kunst gemacht wird. Aber jetzt gehe ich ja doch auf eine ganz normale Grundschule.

"Zeig' mal her", sagte Papa und wollte das Bild anschauen, aber ich warf mich mit meinem ganzen Körper darauf und blickte ihn vorwurfsvoll aus meinen großen, blauen Augen an.

"Nein!"

"Warum nicht?"

"Weil es..." Ich seufzte. "Es stimmt noch nicht ganz. Das... die..."

"Hast du wieder das Mädchen mit den roten Haaren gemalt?"

Ich nickte.

"Komm schon, ich will doch nur einen kurzen Blick darauf werfen."

"Aber nicht lachen." Ich meinte es todernst, und als ich mich langsam von dem Bild hinunterrollte, schämte ich mich. Papa sagte zuerst nichts, starrte es nur an, seine Augen wurden ganz groß, und ich sah, dass er etwas sagen wollte. Aber irgendwie kriegte er kein Wort heraus.

"Hier, das eine Auge stimmt noch nicht, guck, da!", sagte ich fast jämmerlich und tippte mit meinem kleinen, überall mit Farbklecksen besprenkelten Zeigefinger auf das linke Auge des Mädchens auf dem Bild.

"Jessie, das ist... Das..." Er schüttelte den Kopf. "Das sieht aus wie ein Foto!"

Er hielt das Bild hoch, wie ich es eben gemacht hatte, damit es in der Sonne noch schöner leuchtete, "was gefällt dir denn daran nicht?"

"Das Auge!"

"Es ist perfekt", entgegnete er, "es ist kein bisschen schief! Wie hast du..."

"Ihre Augen sehen aber anders aus". Meine Stimme wurde trotzig.

"Mein kleiner Perfektionist", murmelte er, "woher weißt du denn, dass ihre Augen nicht so aussehen?"

"Hab' wieder von ihr geträumt", murmelte ich beiläufig, während ich begann, an einem Keks zu knabbern, den ich aus der Keksdose neben meinem Bett genommen hatte.

"Und in deinem Traum hast du dir so genau ihr Gesicht angeguckt?"

"Mhhm". Ich nickte und leckte die Krümel von meinen Lippen.

Er sah mich an, dann das Bild, dann wieder mich.

"Willst du das mal Mama zeigen?"

"Nein!", knurrte ich und streckte meine Hand nach dem Bild aus, "Mama meckert immer, dass das Mädchen hübscher wäre als sie."

Er grinste wieder und fragte, ob ich Hunger hätte, Mama hätte gekocht. Natürlich, ich hatte immer Hunger, und so vergaß ich das Bild zuerst und folgte ihm die Treppe hinunter.

Es gab Gemüse, Kartoffeln und Fleisch, obwohl ich eigentlich nicht besonders gern Fleisch mochte. Meine Mutter sagte allerdings immer, ich müsste groß und stark werden, und so sollte ich zumindest ab und zu Fleisch essen.

Ich schaufelte meinen Brokkoli in mich hinein und stellte irgendwann fest: "Zebras essen kein Fleisch, nur Gras, und manchmal sogar Rinde."

"Achso? Habt ihr das heute in der Schule gelernt?", fragte meine Mutter neugierig, und ich grummelte nur kurz, ohne von meinem Teller aufzusehen: "Nö. Das weiß ich so."

Obwohl ich nur auf mein Essen starrte, wusste ich, dass meine Eltern sich schon wieder so merkwürdig ansahen, wie fast immer, wenn ich irgendetwas erzählte. Ich wusste viel über Tiere, ich wusste auch genau, wie es in einem Fuchsbau aussieht, und wenn sie fragten, wo ich das gelernt hatte, wusste ich es selbst nicht. Es kam einfach so in meinen Kopf, als hätte ich davon geträumt. In letzter Zeit passierte das immer öfter.

"Darf ich rausgehen?", fragte ich irgendwann, die Backen voll mit Essen, und stand schon auf, bevor mir jemand geantwortet hatte.

"Ja. Aber pass auf dich auf."

Ich nickte, verließ den Raum, zog mir im Eilverfahren meine Gummistiefel an und flitzte über die Wiese in unserem Garten. Wir hatten einen ziemlich großen Garten, in einer Ecke wuchsen zwei dicke Eichen, zwischen denen Papa mir eine Schaukel gebaut hatte.

Ich sprang über den morschen Zaun am Rand unseres Gartens und rannte über die feuchte Wiese hinüber zu dem Haus, in dem Peter mit seiner Familie wohnte. Die große Scheune war hinter dem Haus, und ich hörte schon von weitem die Schweine grunzen.

Mit meinem festen Schlag- meine Eltern sagten manchmal, ich würde später mal Boxer werden, wenn mir das Malen zu langweilig würde- hämmerte ich gegen die Holztür und wartete. Dabei schaute ich ungeduldig auf mein Handgelenk, als hätte ich eine Uhr an, doch es machte niemand auf. Ich klopfte nochmal.

Fünf, vier, drei, zwei, eins...

Niemand öffnete. Doch es musste jemand zuhause sein, denn das Auto stand auf dem Hof, und Berrys Leine lag vor der Tür- sie gingen nie weg, ohne Berry mitzunehmen.

Ich wartete noch ein klein wenig, dann beschloss ich, zur Scheune zu gehen und nachzusehen, ob alles in Ordnung war.

Ein großer Platz lag zwischen der Scheune und dem Haus, und an der Seite war eine große, eingezäunte Pferdekoppel, auf der hohes, grünes Gras wuchs. Ein paar Pferde standen dort und grasten gemütlich, und ich sah frische Hufspuren von Pferden in dem hellen Sand, es konnte also noch nicht lange her sein, dass jemand die Pferde aus der Scheune auf die Koppel gebracht hatte.

Eins der Pferde wieherte laut und fröhlich, als es mich sah, und kam sofort herbeigaloppiert.

"Dragon!", rief ich und rannte dem großen, schwarzen Wallach entgegen, der seine Nüstern aufblähte und mich mit einem langsamen Nicken begrüßte. Dragon streckte seine große Schnute direkt in mein Gesicht und schnaubte, wobei die Haare, die auf meiner Strin lagen, aufgwirbelt wurden.

"Hey, wo ist Peter?", fragte ich und kraulte dem Pferd die Nüstern.

Plötzlich hörte ich einen lauten Schrei und wirbelte herum.

Aus der Scheune rannte ein Ferkel mit schrillem Grunzen, dahinter lief Peter.

"Komm zurück!"

Mit ausgestreckten Händen rannte er hinter dem Ferkel her, das seine Augen zu riesigen Kreisen aufgerissen hatte und so schnell lief, wie es konnte. Dabei schlug es Haken wie ein Kaninchen, es rannte von einer Seite zur anderen, und ich sah, dass Peter keuchte.

Schnell sprang ich von dem Pferd weg und rannte dem Ferkel entgegen.

"Jessie!", rief der Junge, ließ das Ferkel aber nicht aus den Augen. "Hilf mir!"

Das Ferkel rannte auf mich zu, aber als es mich sah, wich es nach links aus.

Ich raste hinterher, Schlamm spritzte in die Luft, und meine Füße krachten über den Boden. Ich fühlte mich wie ein Fußballspieler, der dem Ball hinterherrennt. Mit entschlossenem Knurren lief ich schneller, so schnell ich konnte, schlug einen Haken und warf mich vor das Ferkel. Mit lautem "Platsch!" fiel mein Körper in den Matsch, ich merkte, wie ich durch die nasse Erde schlitterte, und meine Hände berührten das Ferkel, aber ich konnte nicht schnell genug zupacken.

"Mist!", schrie ich, sprang auf und sah, wie Peter an mir vorbeirannte. Mein Knie tat weh, ich glaube, es war aufgeschürft, und meine ganze Kleidung klebte.

"Alles in Ordnung?", fragte der Junge, und ich nickte. "Dann komm! Es entwischt uns!"

Ich wischte mir den Schlamm aus dem Gesicht und schaute mich um. Das Ferkel lief immer noch von einer Seite zur anderen, ich glaube, es war in Panik. Es verschwand kurz hinter einem Traktor, der neben der Pferdeweide parkte, und rannte dann auf die Weide.

"Oh nein!"

Wir beide schrien verzweifelt und rannten hinter dem Tier her, quetschten uns unter dem Zaun hindurch, der ein gefährliches Knistern von sich gab.

Ich sah, wie es direkt in die Pferde hineinrannte, die es anscheinend noch nicht bemerkt hatten, und ich bekam Panik. Pete auch. Er sah mich an, und seine Augen waren aufgerissen.

"Wir müssen es fangen!"

"Es steht direkt unter dem Pferd."

"Ja, ich sehe es."

Wir nickten uns gegenseitig zu und gingen dann langsam zu den Pferden hin. Dass ich in mehrere Haufen von Pferdeäpfeln trat, bemerkte ich kaum, und als es mir auffiel, musste ich lachen.

Als wir ganz nah an den Pferden waren, hielt Peter den Zeigefinger vor seine Lippen, gab ein leises "Ssschhh" von sich und befahl mir mit einer Handgeste, mich so langsam zu bewegen, wie es ging.

"Komm, ich gehe von links, du von rechts", flüsterte Peter und zeigte mit einem Finger auf die Stelle, wo das Ferkel zwischen den Beinen zweier großer Schimmel stand und mit seiner rosa Nase in der Erde wühlte. Die Pferde bewegten sich langsam, aber ihre riesigen Hufe kamen mit jedem Schritt näher an das Schwein heran, und wenn sie es treffen würden... Wenn sie sich erschrecken...

Ich kroch durch den Schlamm, so langsam ich konnte, so leise ich konnte, und plötzlich spürte ich ein Stechen in meinem Innern. Ich keuchte.

Der Schlamm...

Ganz kurz wurde mir schwarz vor Augen, ich blinzelte, ich sah Blut im Schlamm. Und hunderte von Menschen. Tote Menschen, und ich hörte Schüsse.

Mein Bauch zog sich zusammen, ich hörte einen Knall, und spürte einen stechenden Schmerz. Als würde ich von irgendetwas durchbohrt.

"Jessie!" Ich hörte Peters Stimme, als wäre er ganz weit weg. Als er mich an der Schulter packte, blinzelte ich, schüttelte den Kopf, und die Bilder und der Schmerz verschwanden.

"Alles in Ordnung?"

Zitternd nickte ich. "J... Ja..."

Ich schüttelte nochmal den Kopf, um sicherzugehen, dass die schrecklichen Bilder auch wirklich weg waren, und kroch langsam weiter. Das Ferkel hatte uns den Rücken zugedreht, und es sah aus, als würde es sich zwischen den langen Beinen verstecken. Vielleicht dachte es, es wären dünne Bäume.

Mein Herz hämmerte. Nur ein Laut, und entweder das Ferkel oder die Pferde würden sich bewegen. Beides wäre schlecht.

Peter erreichte das Ferkel als erster, und er streckte ganz langsam die Hände aus. Es schien Stunden zu dauern.

Dann packte er zu, das Ferkel schrie, die Pferde sprangen erschreckt auf. Acht Hufe wirbelten um uns herum, ich kreischte und hielt entsetzt die Hände über meinen Kopf. Ganz leicht streifte mich etwas an der Hose, und ich hielt den Atem an. Es hörte sich an wie Donner, als die Hufe auf den Boden schlugen, und ich traute mich nicht, mich zu bewegen.

Als das Hämmern leiser wurde, atmete ich langsam aus, hob den Kopf ein wenig und sah mich um.

Die Pferde waren stehengeblieben und starrten verwirrt in unsere Richtung, und Peter lag auf dem Boden, das Ferkel fest umklammert. Er hatte die Augen zusammengekniffen und sein Gesicht war blass.

"Alles okay?"

"Ich... ich dachte, wir sterben!"

"Wir leben noch."

Ich stand auf und schaute an mir herunter. Mein Pullover, meine Jeans und meine Schuhe waren braun, man konnte nichts mehr davon sehen. Mama wird sich freuen.

Auch meine Hände waren dick verklebt, und als ich meine Augen nach oben rollte, sah ich, dass auch mein Haar voller Schlamm war. Schlamm und Pferdeäpfel.

"Und wir haben das Schwein!"

Das Ferkel grunzte empört, als wir es von der Weide wieder in Richtung Stall trugen.

"Wie ist es überhaupt entwischt?", fragte ich.

"Ich wollte den Stall saubermachen, und es hat sich blitzschnell an mir vorbeigequetscht. "

Als wir zum Stall gingen, kam uns Peters Vater entgegen und legte verwirrt den Kopf schief.

"Mein Gott, was ist denn mit euch passiert?", fragte er und starrte uns an, als hätte er einen Geist gesehen. "Habt ihr euch im Schlamm gewälzt?"

"Pinky ist abgehauen. Wir haben ihn gefangen. Er ist in die Pferdeweide gelaufen!"

"Warum habt ihr nicht bescheid gesagt? Ich hätte euch doch helfen können!"

"So viel Zeit hatten wir ja gar nicht!"

Er seufzte und nahm das wütend grunzende Ferkel entgegen.

"Na dann, gut gemacht, Jungs. Ein Glück, dass nichts passiert ist."

Wir sahen uns kurz an, und wahrscheinlich dachten wir beide das Gleiche- wir wären beinahe von Pferden zertrampelt worden- sagten aber nichts und nickten zustimmend.

"Ihr solltet euch umziehen. Aber vorher könnt ihr mir noch dabei helfen, die Kuh zu melken, und wenn ihr sowieso schon dreckig seid, den Mist wegzumachen."

"Klar!", riefen wir sofort wie aus einem Mund und rannten an ihm vorbei in die Scheune.

Der starke Geruch von Tieren mischte sich mit dem von trockenem Stroh und Heu, und aus allen Richtungen hörte man Grunzen, Schnauben und die Geräusche von Hufen, die über den Boden scharren.

Peter eilte kichernd an mir vorbei, quetschte sich durch die Gitterstäbe in den Stall und rief "erster!". Sofort folgte ich ihm, wobei der Schlamm, der an meinem Pullover und meiner Hose klebte, mich hindurchflutschen ließ und daran hängen blieb, und wurde von einem gelangweilten "Muuuh" begrüßt.

In der hinteren Ecke des großen Stalls Stand eine Kuh mit gewaltigen Eutern, und ihr gegenüber lagen zwei weitere mit von sich gestreckten Beinen im Stroh. Die beiden liegenden hatten braun-graues Fell, eine schwarze Nase und schöne, dunkle, leuchtende Augen, die von hellem Fell umrandet waren, während die andere an die typische Kuh erinnerte, die auf allen Milchverpackungen zu sehen war- Schwarz-weiß gefleckt, müde, ausdruckslose Augen, eine rosa Nase und eine verdammt lange, nasse Zunge, die ab und zu aus ihrem ständig kauenden Mund schnellte und in einem Nasenloch verschwand. Und diese riesigen Euter.

"Mein Bruder hat mal gesagt, seine Lehrerin hätte genauso große Euter", murmelte Peter und starrte die Kuh skeptisch an. "Aber ich glaube nicht, dass es sowas überhaupt gibt, Menschen mit Eutern."

"Stell' dir mal vor, dann würden wir dauernd Milch trinken, die aus Menschen kommt", entgegnete ich und lachte.

"Bääh!"

"Wieso, als Baby trinkt man ja auch Milch von seiner Mama."

"Hör jetzt auf, das ist eklig!"

"Füchse geben ja auch Milch. Die schmeckt sogar."

Er hob eine Augenbraue. "Woher willst du das denn wissen?"

Ich überlegte. Irgendwie war ich sicher, dass ich schon einmal die Milch von Füchsen getrunken hätte. Aber wo? Und warum? Kaufen konnte man es sicher nicht, aber woher sollte ich es sonst wissen? Vielleicht hatte ich es einfach geträumt.

"Keine Ahnung..."

"Kuhmilch schmeckt", fuhr Peter fort und tätschelte der Kuh den Hals. Meine Feststellung schien ihn nicht weiter zu interessieren, aber ich runzelte die Stirn. Fuchsmilch... Wahrscheinlich hatte ich es wirklich geträumt.

Peter legte sich auf den Boden, direkt unter den Monster-Euter, packte eine Zitze und begann, vorsichtig daran zu ziehen. Als schließlich Milch herauskam, beugte er sich darunter und ließ die Milch direkt in seinen Mund laufen. Die Kuh gab ein leises Schnauben von sich und schlug gelangweilt mit ihrem Schwanz, schien sich aber nicht weiter für den unter ihr liegenden Peter zu interessieren.

"Lass mich auch mal!", forderte ich und hockte mich neben Peter auf den Boden. Vorsichtig packte ich die benachbarte Zitze und hielt sie über meinen Mund, und nach ein paar Versuchen schmeckte ich auch die köstliche, frische Milch. Ich hatte Peter schon öfter geholfen, eine Kuh zu melken, und irgendwie fand ich es immer noch kompliziert- beim ersten Versuch war gar keine Milch herausgekommen, aber nachdem Peter mir genau erklärt hatte, was ich tun musste, funktionierte es jedes Mal.

"Ihr lasst aber noch ein wenig Milch übrig, oder?", ertönte die Stimme von Peters Vater, der mit einer großen, silbernen Kanne den Stall betrat und sie neben uns abstellte. Mit einem wohligen Seufzen wischte ich mir den Mund ab und krabbelte unter der Kuh hervor, die sich immer noch nicht für das interessierte, was um sie herum geschah.

"So, einer von euch kann melken, der andere macht den Mist weg. Wobei soll ich helfen?"

"Das schaffen wir allein", entgegnete Peter und grinzte stolz.

"In Ordnung", antwortete sein Vater, "dann kann ich euch ja allein lassen."

Wieder nickten wir beide, woraufhin er die schwere, silberne Kanne unter der Kuh abstellte und uns dann allein ließ. Ich begab mich wieder in die kauernde Position zurück, aus der ich eben erst hervorgekrochen war, und fing wieder an, die Kuh zu melken.

"Sieht aus, als würde ich dann damit anfangen, die Kacke wegzumachen", grummelte Peter und ging auch kurz aus dem Stall hinaus, um einen Augenblick später mit einer Schaufel und einem großen Eimer zurückzukommen.

"Du hast ja gesagt, wir schaffen das allein", entgegnete ich und lachte. "Wir können uns ja abwechseln."

"Ich schaff das schon. Ich bin das gewöhnt, weißt du."

Peter prahlte immer damit, wie viel er auf dem Hof arbeitete. Er sagte, niemand könnte so schnell eine Kuh melken und die Pferde auf die Weide bringen wie er, und jeden Tag wurden die Futtersäcke, die er hin- und herschleppte, größer und schwerer. Einmal hatte er ganz stolz verkündet, einen Traktorreifen verschoben zu haben. Ich würde das niemals schaffen.

Während ich abwechselnd an den beiden Zitzen zog, die ich in den Händen hielt, und mich darauf konzentrierte, nichts von der Milch zu verschütten, hörte ich, wie Peter mit angestrengtem Knurren den großen Eimer von einer Seite zur anderen schleppte, die große Schaufel hinter sich herzog und irendwie versuchte, beides gleichzeitig zu transportieren.

"Mist...", murmelte er, und ich fragte: "Soll ich dir helfen?"

"Geht schon."

"Stell' doch einfach den Eimer in die Mitte und tu den Mist dann rein."

Darauf antwortete er nicht, und ich konzentrierte mich wieder auf das Melken. Aber das wütende Schnauben, das ich ab und zu hinter mir hörte, verriet, dass Peter wohl

nicht ganz so gut zurechtkam, wie er behauptete.

Irgendwann wurde es kurz still.

"He, Jessie!"

Ich drehte mich um.

Platsch!

Ein riesiger Flatschen von Kuhmist klatschte gegen meinen Bauch und spritze in alle Richtungen, und ich merkte, wie ein paar Tropfen auf meiner Stirn landeten.

"Bäääh!", schrie ich und sprang auf, während Peter sich vor Lachen auf dem Boden krümmte. Sofort rannte ich zu dem Eimer, steckte beide Hände in die Masse hinein und packte so viel von dem matschigen Brei aus Stroh und Kuhfladen, wie ich konnte. Es fühlte sich an wie Kartoffelpüree.

Mit einem lauten Kampfschrei sprang ich zu Peter, schubste ihn ins Stroh und schleuderte die ganze Ladung auf ihn, und sofort verwandelte sich sein Lachen in ein erschrecktes Schreien.

 

 


"Igitt!"
Der Mist klebte in seinem Gesicht, und ganz kurz tat er mir ein bisschen leid, aber als er sich dann sofort wieder auf mich stürzte, verflog dieses Gefühl und ich wehrte mich mit Händen und Füßen.
Wir kämpften uns durch den ganzen Stall, rollten durch das Stroh und den Mist, stießen ein paar Mal versehentlich gegen die Kuh, die empört schnaubte, und blieben irgendwann keuchend und lachend auf dem zerwühlten Stroh liegen.
Beide waren wir von oben bis unten mit Kuhmist bematscht, ich merkte, dass sogar in meinen Haaren etwas klebte, und der ganze Stall war verwüstet- dort lag ein Haufen Stroh, hier und da lagen Stücke von Kuhfladen, die nicht auf einem von uns beiden gelandet waren, und sogar an der Wand klebte ein dicker Flatschen.
"Oh je...", keuchte Peter irgendwann, "was haben wir angestellt?!"
Trotzdem mussten wir beide immer noch lachen, obwohl das Gefühl von Mist am ganzen Körper langsam sehr unangenehm wurde.
Schnell entfernten wir die Kuhfladen vom Boden und der Wand, legten neues Stroh hin und molken die Kuh, bis die Kanne voll genug war. Prüfend betrachteten wir den Stall, schauten uns an und nickten schließlich zufrieden. Alles war erledigt, der Stall sah ordentlich aus, die Kuh schenkte uns ein dankbares Schnauben- wahrscheinlich waren ihre Euter schon ganz schwer gewesen, so viel Milch, wie herausgekommen war...
"Geschafft!", sagte ich erleichtert.
Wir setzten uns noch kurz in das Stroh und streichelten die Kuh, bis irgendwann Peters Vater in den Stall kam.
"So, Jungs. Habt ihr alles erle..." Als er uns sah, wurden seine Augen riesig. "Wie seht ihr denn aus?!" Man konnte sehen, dass er lachen musste, aber er versuchte, ernst zu bleiben. "Also, so kommt ihr mir definitiv nicht ins Haus. Ich denke, ihr habt eine Verabredung mit dem Gartenschlauch."
Peter und ich sahen uns an.
"JA!!", schrien wir gleichzeitig, sprangen auf und rannten aus dem Stall.
"Ich bin zuerst dran!"
"Nein, bist du nicht!"
"Wer zuerst da ist!"
Ich rannte so schnell, wie meine Füße mich tragen wollten, und wäre fast wieder auf der Wiese ausgerutscht, konnte aber im letzten Moment mein Gleichgewicht halten. Peter keuchte, aber ich war schneller. Mit einem siegessicheren Brüllen rannte ich den Weg entlang hinter das Haus, preschte um die Ecke und stürzte mich auf den Schlauch.
"Gewonnen!"
Ich drehte das Wasser auf und hielt den Schlauch über meinen Kopf. Es fühlte sich eisig kalt an, und ich zitterte kurz, aber irgendwann gewöhnte ich mich an die Kälte und seufzte erleichtert, als der fast schon getrocknete Kuhmist aus meinen Haaren gewaschen wurde.
Als ich sauber war, gab ich Peter den Schlauch und setzte mich auf den Boden. Plötzlich bekam ich wieder dieses merkwürdige Gefühl wie vorhin, als ich in den Schlamm gefallen war, ich spürte wieder dieses Stechen in meinem Bauch und sah ganz kurz die Gesichter von Menschen... Sie sahen ängstlich aus, und verzweifelt. Einer hatte ein Bild in der Hand...
"Geht weg!", schrie ich und schlug mit der flachen Hand gegen meine Stirn.
"Jessie!", rief Peter entsetzt und ließ den Schlauch fallen. "Was ist los?" Mit großen Augen rannte er zu mir und setzte sich neben mich auf den Boden.
"Ich... da waren..." Ich schüttelte den Kopf und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Wenn ich Peter sagen würde, was ich gesehen hatte, würde er denken, ich wäre verrückt. "Da war eine Biene, die wollte mich stechen."
"Auf deinem Gesicht?"
"Ja. Ist sie noch da?"
"Nein, wahrscheinlich hast du sie erwischt. Glück gehabt, dass sie dich nicht gestochen hat!"
"Ja..."
Ich versuchte, nicht mehr daran zu denken, aber es ging nicht. Wieso sah ich plötzlich sterbende Menschen und hörte Schüsse in meinem Kopf? Ich hatte Angst, dass mit mir etwas nicht stimmte. Damit Peter nichts merkte, blieb ich noch etwas, ging dann aber wieder nach Hause.
"So früh wieder zurück?", fragte Mama, als ich die Tür hereinkam. Als sie sich umdrehte und mich sah, fragte sie: "Warum hast du Peters Klamotten an?"
"Wir haben uns mit Kuhkacke beworfen, dann waren wir dreckig und haben uns mit dem Gartenschlauch sauber gemacht. Meine Sachen sind jetzt bei Peter in der Waschmaschine."
"Aha.", sagte sie lächelnd und schüttelte den Kopf. "Ihr seid mir ja welche!"
"Mama, eben ist etwas Komisches passiert", sagte ich sofort.
"Was denn?"
"Ich bin in den Schlamm gefallen, und dann hatte ich auf einmal so... Wie heißt das.. Ha... Hallo..."
"Halluzinationen?"
"Glaube schon. Ich habe plötzlich ganz viele Schüsse gehört und viele Menschen gesehen, auch viele tote, und ich habe mich gefühlt, als hätte jemand auf mich geschossen..."
Ich wartete darauf, dass Mama in Panik geriet. So etwas war doch nicht normal, oder?
"Du hast Krieg gesehen?"
"Ja."
"Vielleicht hast du irgendwann mal bei Peter einen Film über so etwas geguckt? Oder Computerspiele gespielt?"
"Nein, Peter hat gar keine Computerspiele. Das kam einfach so."
Sie schwieg. Nach einiger Zeit kniete sie sich auf den Boden und streichelte mir über das Gesicht. "Mit dir ist alles in Ordnung, Jessie. Mach' dir keine Sorgen. Aber wenn so etwas nochmal passiert, sagst du es mir, ja?"
"Ok."
Aber irgendwie mache ich mir trotzdem ein bisschen Sorgen.


10. 08. 2002

Liebes Tagebuch,
heute war mein erster Tag in der Schule. In den Ferien konnte ich nicht schreiben, weil ich dich bei Oma und Opa vergessen habe, und den beiden ist es leider vor zwei Tagen erst aufgefallen.
Die Ferien waren großartig, ich habe mich oft mit Freunden getroffen und viel mit Mama und Papa unternommen. Als ich gerade die letzte Seite noch einmal gelesen habe, ist mir aufgefallen, dass in den ganzen sechs Wochen nichts Ähnliches mehr passiert ist, und darüber bin ich natürlich sehr froh.
Aber heute wurde ich trotzdem wieder daran erinnert, dass ich ein bisschen anders bin als die anderen Kinder, mit meinem "fotografischen Gedächtnis", oder was auch immer.
Die Lehrer haben zu unserer Begrüßung unsere Namen auf kleine Zettel geschrieben und in der Sporthalle aufgehangen, und jeder sollte vorher ein Bild von sich zeichnen und den Lehrern sagen, welche Hobbys man hat, damit sie für jeden einen kleinen Steckbrief schreiben konnten.
Die anderen haben eher so etwas wie Strichmännchen gemalt, oder einfach hässliche Kreise mit zwei Punkten als Augen und einer viel zu krummen, langen Linie als Mund, und dann noch ein paar Haare oben drauf, die bei den meisten eher aussahen wie ein Haufen Spaghetti.
Ich habe mein Gesicht so gemalt, wie es eben aussieht- vielleicht nicht ganz perfekt, aber schon ziemlich gut zu erkennen. Meinen Steckbrief habe ich auch selber geschrieben und zusammen mit der Zeichnung unter den Zettel mit meinem Namen gehangen.
Alle Kinder haben mich mit offenem Mund angestarrt, als sie die Zeichnung gesehen haben, und obwohl meine Eltern vorher schon mit den Lehrern über mich geredet hatten, wirkten sogar sie erstaunt.
Wir sollten uns dann für ein Foto unter die Zettel stellen, und die älteren Kinder durften uns auch begrüßen. Besonders viel Unterricht wurde nicht gemacht, in den meisten Fächern haben sich erstmal die Lehrer vorgestellt, dann sollten wir uns vorstellen. Jeder wollte das Selbe wissen- wie wir heißen, wie alt wir sind, ob wir Geschwister haben, was wir gerne und nicht so gerne machen. Irgendwann wusste man dann auch alles auswendig. Na ja, ich zumindest.


17. 08. 2002

Jetzt bin ich schon seit einer ganzen Woche ein Schulkind, und bis jetzt finde ich es noch nicht so schlimm. Ich würde zwar lieber länger schlafen und den ganzen Tag spielen, aber lernen ist auch in Ordnung. Hausaufgaben muss ich nicht viele machen, da wir meistens nur die Aufgaben, mit denen wir in der Schule nicht fertig geworden sind, zuhause weitermachen sollen. Da ich aber fast immer als erster fertig bin, kann ich dann nach der Schule sofort spielen gehen.
Weil ich kurz vor den Ferien Geburtstag hatte, durfte ich heute Muffins in die Schule mitbringen, und die ganze Klasse hat für mich ein Geburtstagslied gesungen. Ich fand es etwas seltsam, weil es ja schon über einen Monat her ist, dass ich Geburtstag hatte, aber die Muffins haben sehr gut geschmeckt.
Als ich erzählt habe, dass ich zum Geburtstag eine Gitarre geschenkt bekommen hatte, meinte meine Lehrerin, ich könnte sie ja mal zur Schule mitbringen und etwas vorspielen. Darauf freue ich mich schon.
Heute Nachmittag war ich mit Annie, einem Mädchen aus meiner Klasse, und ihrem Bruder im Wald.
Ich saß zuhause und dachte gerade über meine Hausaufgaben nach, als es plötzlich an der Tür klingelte.
"Jessie, da ist jemand für dich", hörte ich Mama rufen, "eine junge Dame namens Annie."
Überrascht stand ich auf und rannte zur Tür. Da stand Annie, die ängstlich mit großen Augen und aufeinandergepressten Lippen zu Mama hochstarrte.
"Hi!", rief ich fröhlich, "was machst du denn hier?"
"Ähmm... mein Bruder und ich wollen im Wald spielen, willst du mitkommen?"
"Klar!", rief ich sofort und rannte ins Haus, um meine Jacke und Schuhe zu holen.
Annie war in meiner Klasse, ihr Bruder war ein Jahr älter, aber ich sah ihn manchmal uf dem Schulhof. Er kletterte dauernd auf dem Klettergerüst herum und spielte mit seinen Freunden Fangen. Er war superschnell, aber er bekam oft Ärger von den Lehrern, weil er sehr viel Unsinn machte. Einmal war er auf das Dach der Schule geklettert, da haben die Lehrer sofort seine Eltern angerufen.
"Jessie!", rief meine Mutter, "was ist mit deinen Hausaufgaben?"
"Hatte nicht viel auf, bin schon fertig!"
Das stimmte nicht, aber ich hatte keine Lust, Hausaufgaben zu machen.
Annies Bruder wartete an der Straße, ich glaube, Annie wollte allein klingeln kommen, um zu zeigen, wie mutig sie war.
"Bist du echt schon fertig mit Hausaufgaben?", fragte sie, als Mama die Tür zugemacht hatte.
"Quatsch. Ich hab' grade überlegt, ob ich sie machen soll, aber ich habe echt keine Lust auf Mathe."
"Mathe ist Kacke", kicherte Annies Bruder. "Hi, wie geht's? Ich bin Kevin." Er grinste lässig und streckte mir die Faust entgegen, was mich verwirrte. Ich legte den Kopf schief.
"Los, schlag ein, Mann!"
"Mensch, Kevin!", zischte Annie, "guck, Jessie."
Sie tippte mit ihrer Faust gegen die ihres Bruders. "So begrüßt er sich immer mit seinen Freunden. Das machen die coolen Jungs immer so." Sie rollte mit ihren blauen Augen.
"Na dann", antwortete ich und streckte auch meine Faust aus, woraufhin er einschlug. "Cool. Und, wie findest du die Schule, Jessie? Ganz schön ätzend, oder?"
"Na ja, es geht... Die Pausen sind lustig, aber im Unterricht ist mir eigentlich meistens langweilig."
"Annie sagt, du wärst total schlau, und du wüsstest immer alles."
"Kann schon sein. " Ich grinste verlegen, war aber auch stolz.
"Willst du mir bei meinen Hausaufgaben helfen?"
"Kevin!", zischte Annie.
"Was denn?"
"Kann ich machen", antwortete ich und verschränkte grinsend die Arme, "ist 'n Kinderspiel."
Von jetzt an mochte er mich noch mehr, glaube ich. Wir spielten den ganzen Tag im Wald, bauten ein Haus aus Stöcken und verabredeten uns für den nächsten Tag. Ich freue mich wirklich total, dass ich so schnell Freunde gefunden habe. Es ist gerade einmal eine Woche vorbei, und ich verstehe mich mit allen Klassenkameraden- na ja, fast.
Ein Junge aus meiner Klasse, der dicke Henry, hat vom ersten Tag an alle geärgert, die Kinder und sogar die Lehrer. Mir hat er bis jetzt nur einen Stift geklaut, aber manchen nimmt er ständig das Geld weg und kauft sich davon Süßigkeiten. Sollte sich besser mal einen Apfel kaufen, der Fleischklops.
Ich weiß gar nicht, warum ich über ihn in mein Tagebuch schreibe, das ist eigentlich ziemliche Verschwendung.
Morgen bin ich bestimmt wieder den ganzen Tag draußen, deswegen gehe ich jetzt schlafen. Gute Nacht.


23. 08.

Tut mir leid, dass ich so lange nichts geschrieben habe, das letzte Mal ist jetzt schon fast eine Woche her, aber ich habe mich fast jeden Tag mit Annie, Kevin und Peter getroffen. Wir waren fast nur draußen und haben im Wald gespielt.
Heute durfte ich meine Gitarre mit zum Unterricht bringen, und ich habe natürlich jeden Tag ein bisschen geübt. Wir hatten in der ersten Stunde Mathe, in der zweiten dann Musikunterricht. In Mathe hörte ich kaum zu, denn obwohl ich mich freute, merkte ich auch, wie ich immer nervöser wurde. Meine Augen lagen auf der Uhr, die über der Tafel hing, und ich hörte nur das ständige Klicken des Sekundenzeigers- mit jeder Sekunde rückte der Gong näher, der die Stunde beendete. Die Stimme der Lehrerin war nur ein leises Summen im Hintergrund.
Tick.....Tack.....
Die Zeit ging langsam voran.
Dann, irgendwann: DIINNGG-DONGGG
Ich zuckte zusammen und griff sofort nach der Gitarre, die, in ihre Tasche eingepackt, an meinem Tisch lehnte.
"Hey, Jessie!", piepste Annie hinter mir, "gleich kommt dein großer Auftritt!"
"Ich weiß", antwortete ich und lächelte.
"Nervös?"
"Ich doch nicht!"
Dann betrat Miss Lawrence den Raum, wir sangen unser kurzes Begrüßungslied, und dann ging es los.
"Jessie, du hast heute etwas für uns, stimmt's?"
"Jap."
"Na, dann mache ich den Platz für dich frei, und du kannst loslegen."
Ich packte die Gitarre aus, hängte sie mir um und trottete nach vorne. Sie war groß, es war keine Kinder-Gitarre. Ich glaube, wir waren nicht ein Junge mit Gitarre, sondern eine Gitarre mit ein wenig Junge daran.
Die Kinder starrten mich an, ich spürte ihre Blicke auf mir, und sie waren genauso gespannt wie ich.
Ich zupfte leise die Saiten an und merkte, dass sie verstimmt war.
"Ähm... können Sie ein E spielen?"
Miss Lawrence schmunzelte und schlug die Taste auf dem Klavier an. Schnell stimmte ich die tiefste, dann die übrigen Saiten, und wollte gerade anfangen...
"Welches Lied spielst du denn für uns?"
"Ich weiß leider nicht, wie es heißt."
"Na, dann lassen wir uns überraschen."
Stille. Es klang, als würden alle den Atem anhalten, wie ich, denn ich hörte überhaupt nichts. Dann fing ich an.
Zuerst spielte ich die Saiten nur leise an, dann wurde ich lauter und schneller. Ich spielte das Lied, das ich auch an meinem Geburtstag gespielt und seitdem jeden Tag geübt hatte, aber heute klang es besonders schön. Ich spielte die erste Strophe, dann die zweite, und irgendwann gab es nur noch die Melodie, und ich stand mittendrin. Ich merkte, wie ich lächelte. Meine Finger glitten über die Saiten, es fühlte sich so leicht an, als würde ich in der Luft schweben.
Dann wurde ich wieder langsamer und leiser, und ich konnte das Knistern in der Luft hören, das irgendwie von den anderen Kindern kam.
Ein letztes Mal strich ich über die Saiten und drehte mich dann grinsend zu Miss Lawrence um. Ganz kurz war noch alles still, keiner bewegte sich, als müssten sie darüber nachdenken, was ich gerade gespielt hatte, und es sich noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Oder als ob sie warten würden.
Dann brachen sie in schallendes, kreischendes Gejubel aus.
"Super, Jessie!"
"Zugabe!"
"Krass!"
Die Lehrerin starrte mich mit großen Augen und offenem Mund an. Anscheinend war sogar sie überrascht.
"Wow, Jessie...", stammelte sie. "Ich... Ich wusste ja gar nicht, dass du das kannst. Wie... wie lange hast du dafür geübt?"
"Einen Monat."
"Nein, ich meine, wie lange spielst du schon?"
"Ja, einen Monat", wiederholte ich, "letzten Monat hatte ich ja Geburtstag, und da hab' ich sie bekommen."
"Das kann nicht sein", entgegnete sie und schüttelte den Kopf.
"Doch, wirklich! Sie können meine Eltern fragen!"
Sie wirkte immer noch baff.
"Ja... wahrscheinlich mache ich das... Jedenfalls super gespielt, Jessie, dafür bekommst du auf jeden Fall ein dickes Plus aufgeschrieben. Sag' mal, woher kennst du das Lied eigentlich? Ein Kinderlied ist es ja nicht."
"Ich weiß es nicht", sagte ich, "die Melodie war irgendwie in meinem Kopf."
Wieder starrte sie mich komisch an, sagte aber erstmal nichts.
"Also, zumindest habe ich vergessen, wo ich es gehört habe."
"Das ist ein deutsches Lied. Ich glaube, es ist irgendwann zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges entstanden. Mein Großvater war dort, er wurde in Deutschland geboren, und er singt es ab und zu. Ich werde ihn mal fragen, wie es heißt. Vielleicht kennst du es ja auch von deinen Großeltern?"
"Nein, ich glaube nicht."
"Hmmm... Na ja, egal. Jedenfalls großes Lob, du scheinst ja ein echtes Naturtalent zu sein."
"Dankeschön."
Aber ich fand überhaupt nicht, dass es egal war. Plötzlich wollte ich wissen, woher ich das Lied kannte. Irgendwie war es plötzlich dagewesen, und ich hatte es gespielt, aber es konnte ja nicht einfach so in meinem Kopf sein- oder doch?
Ich nickte lächelnd und ging dann wieder an meinen Platz.
"Oh Mann, Jessie!", flüsterte Annie und schlug mir auf die Schulter, "das war super!"
"Danke", murmelte ich, war aber immer noch in Gedanken. Die restlichen vier Stunden zerbrach ich mir den Kopf darüber, aber mir fiel nicht ein, woher ich das Lied kennen konnte.
Als es nach der letzten Stunde leutete, packte ich sofort meine Sachen und rannte aus dem Klassenzimmer. Ich wollte Miss Lawrence noch erwischen, bevor sie nach Hause gehen würde. Hinter mir hörte ich Annies Stimme, die mir noch irgendetwas zurief, aber ich war zu sehr in Eile, um mich nach ihr umzudrehen. Aufgeregt eilte ich zum Lehrerzimmer, wo die Tür schon offen stand, und blieb keuchend vor dem ersten, der mir begegnete- meinem Sportlehrer- stehen.
"Ist... ist Miss Lawrence noch da?"
"Du hast es aber eilig", entgegnete er, "ist alles in Ordnung?"
"Ja, ja, alles klar", krächzte ich und schnappte erschöpft nach Luft.
"Ja, sie ist noch da." Er zeigte in das Zimmer, und in dem Moment kam sie dann auch auf mich zu, als hätte sie meine Frage gehört. Aber sie wirkte etwas überrascht, als sie mich sah.
"Hallo, Jessie. Ich habe schon einigen Kollegen von deinem tollen Auftritt heute morgen erzählt, sie sind schon alle ganz neugierig, dich mal spielen zu hören. Vielleicht möchtest du ja bei dem nächsten Schulfest mal vorspielen?"
"Ja, klar", sagte ich hastig, interessierte mich in dem Moment aber nur für eins: "Ich.. wollte nochmal nachfragen, ob Sie ihren Großvater wirklich nach dem Lied fragen. Ich muss unbedingt wissen, wie es heißt."
"Ja, natürlich. Wenn ich zuhause bin, schreibe ich es mir sofort auf einen Zettel. Morgen gehe ich ihn besuchen, und dann frage ich ihn."
"Versprochen?"
"Versprochen." Sie lächelte. "Ich wünsche dir noch einen schönen Tag, Jessie. Bis morgen."
Ich bedankte mich, wünschte ihr auch einen schönen Tag und wartete dann, um mit meinen Freunden nach draußen zu gehen. Sie waren alle ganz verdutzt, dass ich so aufgeregt aus dem Klassenzimmer gelaufen war, und Peter dachte schon, ich wäre aufs Klo gerannt oder so etwas.
Das Lied ließ mir nun keine Ruhe mehr, ich überlegte krampfhaft, wo ich es gehört haben könnte, und spielte es auch meinen Eltern vor, doch auch sie hatten keine Idee.
Meine Mutter meinte dann, es könnte mit meinem fotografischen Gedächtnis zusammenhängen- wahrscheinlich hätte ich es irgendwann einmal im Fernsehen oder Radio gehört, und es wäre sofort in einem Kopf hängengeblieben. Damit war wirklich alles einfacher zu erklären, alle seltsamen Sachen, die manchmal in meinem Kopf passierten. Aber zufriedengeben will ich mich trotzdem nicht; nicht, bevor ich weiß, wie das Lied heißt.

 

 

 

 

24 . 08.

Heute morgen habe ich mich extra beeilt, um früher in der Schule zu sein, damit ich vor der ersten Stunde noch mit Miss Lawrence sprechen konnte. Ich war mit Abstand das erste Kind, das vor der Tür stand, und sogar einige Lehrer kamen noch nach mir. Als ich um sieben endlich hineingehen durfte, eilte ich sofort zum Lehrerzimmer und wartete dort, denn ich wollte nicht klopfen- das Gerücht geht um, dass die Lehrer vor der ersten Stunde, wenn sie ihren Kaffee noch nicht getrunken hatten, besonders leicht wütend werden und manchmal sogar aus Spaß Strafarbeiten verteilen, wenn sie einen nur sehen. Wie viel davon tatsächlich stimmt, weiß ich nicht, aber ich wollte es auch nicht unbedingt ausprobieren. Langsam schlenderte ich ein wenig auf und ab, ging ein paar Schritte vom Lehrerzimmer weg, damit es so aussah, als wollte ich gar nicht dorthin, und irgendwann kam meine Mathelehrerin die Tür herein.
"Guten Morgen, Jessie! Was machst du so früh hier? Die meisten Kinder kommen immer erst ganz knapp vor der ersten Stunde."
Sie wirkte überrascht, aber sie lächelte. Glück gehabt.
"Guten Morgen. Ich... ich wollte Miss Lawrence etwas fragen."
"Dann sehe ich einmal nach, ob sie schon da ist. Ich glaube, sie unterrichtet erst zur zweiten Stunde, deswegen kann es gut sein, dass sie später kommt."
Sie wollte gerade das Lehrerzimmer betreten, drehte sich dann aber noch einmal herum und fragte: "Es ist doch alles in Ordnung, oder? Du wirkst so aufgeregt."
"Nein, alles gut." Ich versuchte, zu grinsen.
"Schön. Sollte doch irgendetwas sein, kannst du natürlich auch jederzeit zu mir kommen."
"Ja, danke." Jetzt beeilen Sie sich doch!
Endlich ging sie hinein, ich musste ein wenig warten, und irgendwann kam Miss Lawrence heraus. In der linken Hand hielt sie eine große, dampfende Kaffeetasse, in der Rechten ein Blatt Papier, und sie grinste mir triumphierend entgegen.
"Du kannst es ja wirklich gar nicht abwarten", sagte sie.
"Haben Sie mit ihrem Opa gesprochen?"
Ich konnte mir vorstellen, wie riesig meine Augen vor Aufregung gewesen sein mussten, sie glänzten bestimmt voller Erwartung.
"Natürlich. Er hat mir das Lied einmal von Anfang bis Ende vorgesungen, und ich wette, mit deinem Gitarrenspiel zusammen hätte es sich super angehört.
Er hat mir den Text aufgeschrieben, allerdings auf Deutsch. Es gibt auch eine englische Fassung, aber die kennt er leider nicht. Das Lied heißt "Lili Marleen" ".
"Kann ich den Text haben?"
"Klar", sagte sie, "aber, wie gesagt, er ist Deutsch. Da wirst du leider nichts verstehen."
Trotzdem gab sie mir das Blatt, ich las es kurz durch und begann dann, in meinem Kopf die Melodie, die ich gestern noch gespielt hatte, mit dem Text zu verbinden. Die erste Strophe musste ich ablesen, aber der Rest kam nach und nach von selbst in meinen Kopf, und die letzten beiden Strophen konnte ich dann völlig ohne das Blatt aufsagen:

Deine Schritte kennt sie
Deinen zieren Gang
Alle Abend brennt sie
Mich vergaß sie lang
Und sollte mir eine Leids geschehn
Wer wird bei der Laterne stehn
Mit dir
Lili Marleen?
Mit dir
Lili Marleen?

Aus dem stillen Raume
Aus der Erde Grund
Hebt mich wie im Traume dein verliebter Mund
Wenn sich die späten Nebel drehn
Werd' ich bei der Laterne stehn
Wie einst
Lili Marleen

Ich grinste breit und presste das Blatt fest an mich. "Vielen Dank!", rief ich fröhlich, aber Miss Lawrence antwortete nicht. Sie stand mit noch größeren Augen und noch weiter geöffnetem Mund als gestern vor mir, doch ich kümmerte mich nicht weiter darum.
"Das war wirklich nett von Ihnen!", lachte ich und hüpfte dann voller Energie ins Klassenzimmer. Jetzt kannte ich endlich den Namen und den Liedtext; zuhause würde ich sofort damit anfangen, das Internet danach zu durchsuchen. Mama und Papa wollten zwar nicht, dass ich zu lange am Computer saß, aber dafür würden sie es mir bestimmt erlauben, solange ich keine... wie nennen sie es... Baller-Spiele spiele.
Und wieder hatte ich einen Grund, im Unterricht nicht zuzuhören, denn jetzt sang ich in meinem Kopf die ganze Zeit über das Lied. Irgendwie gefiel mir auch der Text, obwohl ich nicht sagen kann, warum. Gerade die letzten beiden Strophen erinnern mich irgendwie an das Bild, das ich von dem rothaarigen Mädchen gezeichnet habe. Ist sie diese Lili Marleen? Ich stellte mir vor, wie sie unter einer Laterne steht und wartet, auch wenn ich nicht wusste, auf wen.
Zuhause setzte ich mich dann sofort an den Computer und fand heraus, dass das Lied in der Zeit des Zweiten Weltkrieges bekannt geworden ist. Ich las auch einiges von verschiedenen Leuten, die den Text gedeutet und analysiert haben, aber das interessierte mich nicht sonderlich. Für mich ist diese Lili das rothaarige Mädchen.
Aber eine Antwort, woher ich das Lied nun kenne, habe ich trotzdem nicht gefunden. Es taucht in keinem Film auf, den ich gesehen habe, und so alt, wie es ist, läuft es auch bestimmt nicht im Radio.
Also machte ich den Computer irgendwann aus und ging hinunter ins Wohnzimmer, wo Mama und Papa auf der Couch saßen.
"Hallo."
"Ach, Jessie! Wir dachten, du bist bei Peter. Haben dich gar nicht hereinkommen hören."
"Ich... Ich musste etwas im Internet suchen."
"Was denn?"
"Hier", sagte ich und reichte ihnen den Text. "Das ist das Lied, das ich auf der Gitarre gespielt habe. Ich weiß jetzt, wie es heißt, aber ich weiß immer noch nicht, woher ich es kenne."
Mama nahm den Zettel entgegen, griff nach der Lesebrille, die auf dem Tisch lag, und betrachtete das Blatt. Nach nur wenigen Augenblicken hatten sich auf ihrer Stirn vom vielen Nachdenken tiefe Furchen gebildet, und sie legte den Kopf schief.
"Was willst du denn mit dem deutschen Text? Da versteht man ja kein Wort."
"Doch", sagte ich, nahm ihr den Zettel wieder ab und begann, vorzulesen. Irgendwie wusste ich genau, wie ich die einzelnen Wörter aussprechen muss, und seltsamerweise wusste ich außerdem, was sie bedeuteten. Als ich fertig war, übersetzte ich die einzelnen Strophen noch ins Englische, damit Mama und Papa auch verstehen konnten, worum es in dem Lied überhaupt ging, und sie hörten mir ganz fasziniert zu.
"Ich stelle mir da das Mädchen vor, das ich gezeichnet hab'."
Zuerst sagte keiner etwas.
Dann, nach einer halben Ewigkeit, schüttelte Papa den Kopf und rieb sich die Augen, als wäre er gerade erst aufgewacht und müsste noch darüber nachdenken, ob er tatsächlich schon wach war oder immer noch träumte, ehe er sagte: "Wieso... Habt ihr das schon in der Schule gelernt?"
"Nein. Ich hab' das doch in Musik vorgespielt, und jetzt hat Miss Lawrence ihren Opa nach dem Text gefragt."
"Nein, ich meine, Jessie..."
Mama unterbrach ihn: "Warum kannst du Deutsch?!"
Papa gab mir mit einer kurzen Handbewegung zu verstehen, dass das auch seine Frage gewesen war, aber irgendwie wirkte er jetzt wieder sprachlos- Mama dagegen starrte mich fast schon wütend an, als hätte ich etwas Falsches gesagt.
"Ich... Keine Ahnung."
Darüber hatte ich mir bis jetzt keine Gedanken gemacht, ich war einfach froh gewesen, den Text, den Namen und die Herkunft des Liedes zu kennen- ich hatte ja nicht einmal darüber nachdenken müssen, was die Wörter heißen könnten, es war sofort klar gewesen. Aber jetzt, wo Mama und Papa so erstaunt, ja fast schon entsetzt wirkten, fragte ich mich dann doch, wieso ich die Sprache problemlos übersetzen konnte.
"Wahrscheinlich... Im Kindergarten wurde doch gesagt, dass ich hochbegabt bin. Vielleicht kann man dann einfach so andere Sprachen."
"Nein, Jessie, jeder muss eine Sprache erstmal lernen. Die einen schneller, die anderen langsamer, aber man kann nicht... Du..." Sie brach ab und rieb sich mit der Hand über das Gesicht.
"Mama? Alles okay?"
Wieder dauerte es, bis jemand antwortete. "Ja, ja, alles okay. Ich möchte nur... Du... "
Jetzt ergriff Papa das Wort: "Jessie, möchtest du nicht zu Peter rübergehen? Das Wetter draußen ist doch super, da willst du doch nicht den ganzen Tag im Haus bleiben, oder?"
"Nein, auf keinen Fall!"
Ich bin nicht doof, ich merkte, dass sie mich loswerden wollten. Es gab ein paar Tage im Jahr, an denen ich gefragt wurde, ob ich nicht zu Peter rübergehen wollte, oder an denen Peters Eltern ihn zu mir schickten: Weihnachten (Mama sagte zwar immer, dass das Christkind die Geschenke unter den Baum legt und ihn schmückt, aber ich habe schon einmal heimlich gesehen, dass Papa das gemacht hat); mein Geburtstag, wenn das Geschenk noch nicht eingepackt war, und Ostern, kurz bevor der Osterhase die Eier bei uns versteckte. Natürlich konnte ich an diesen Tagen nicht zu Peter ins Haus, da auch dort Eier versteckt und Bäume geschmückt wurden, aber dann trafen wir uns eben draußen. An allen anderen 362 Tagen ging ich früher oder später sowieso von selber zu Peter, oder ich hatte eben keine Zeit oder ganz selten auch keine Lust, aber dann wussten Mama und Papa das

und brauchten mich nicht zu fragen.
"Dann gehe ich jetzt mal."
"Ja, bis später."
Ich ging aus dem Raum, zog mit einem lauten: "Mensch, ich krieg' den Reisverschluss nicht zu!" Jacke und Schuhe an, machte die Haustür auf, schloss sie so laut, dass meine Eltern es auf jeden Fall hören konnten, und schlich dann so leise ich konnte in die Küche. Ein paar Sekunden lang war alles still, dann sah ich, wie Papa seinen Kopf aus dem Wohnzimmer streckte und in den Flur spähte, als hätte er Angst, belauscht zu werden.
"Er ist draußen, seine Schuhe sind weg."
Er ging wieder ins Wohnzimmer und ich hörte, wie er sich auf die Couch setzte. Geräuschlos schlich ich aus der Küche und kauerte mich in den Flur, direkt neben die Wohnzimmertür.
"So langsam mache ich mir Sorgen."
"Sorgen... Ich weiß nicht. Es geht ihm ja nicht schlecht, er hat ja keine Krankheit oder so etwas."
"Aber normal ist er doch nicht!"
Das zu hören gab mir einen kurzen, schmerzhaften Stich.
"Ich sage ja nicht, dass es etwas Schlechtes sein muss, aber... Es kann doch nicht sein, dass er alles kann. Er weiß unheimlich viel, er spielt fantastisch Gitarre, er zeichnet wie ein professioneller Künstler, er spricht und versteht einfach so eine andere Sprache, ohne sie jemals gelernt zu haben. Er muss nichts lernen oder üben, es ist einfach schon da."
"Na ja, das Meiste. In Mathe muss ich ihm ja manchmal helfen."
"Manchmal, ja. Aber alles andere... Man könnte meinen, er hätte schon sechzig anstatt sechs Jahren hinter sich, bei dem, was er alles macht".
"Jetzt übertreibst du aber. Er benimmt sich wie ein normaler Sechsjähriger. Klar, er ist schlauer als die anderen, und er ist sehr begabt, aber er spielt wie ein normales Kind, er trifft sich mit Gleichaltrigen, tobt im Wald... Eigentlich sehe ich keinen wirklichen Grund, sich Sorgen zu machen".
"Du verstehst nicht, was ich meine", zischte Mama. Sie wirkte schon fast wütend.
"Hochbegabt sein, ist eine Sache. Schön, das Zeichnen hat er einfach im Blut, meinetwegen. Und wenn er extrem schnell Gitarrespielen lernen würde, wäre das ja super. Es ist ja auch super, aber... Dieses Lied, zum Beispiel. Er kann so begabt sein, wie er will, aber irgendwo muss er es doch gehört haben. Oder die Sprache. Schnell lernen, extrem schnell lernen, ist eine Sache, aber er muss das Ganze doch irgendwo aufgeschnappt haben. Wie, um Himmels Willen, kommt das alles in seinen Kopf rein?"
Ich fing an, zu zittern.
Wenn Mama sich schon so große Sorgen machte, dann musste etwas nicht in Ordnung sein. Sie weiß doch sonst immer irgendeine Lösung! Ich bekam Angst.
"Und was willst du jetzt tun?"
"Ich weiß nicht... Zu einem Arzt gehen?"
"Und was willst du dann sagen? Unser Sohn weiß alles, wie können wir ihm helfen? Ich würde sagen, wir warten einfach mal ab. Irgendwann können wir ihn ja auch mal fragen. Aber, seien wir ehrlich: Wirkt er, als würde es ihm nicht gutgehen?"
"Nein", flüsterte Mama, "nein, ihm geht es super."
"Eben. Ich glaube, wenn wir jetzt irgendetwas unternehmen würden, ihn untersuchen lassen, würde ihn das nur unter Druck setzen. So genießt er seine Kindheit, und alles ist gut."
Bis jetzt war es das auch. Aber jetzt mache ich mir Sorgen. Ich wartete noch eine Zeit, dann krabbelte ich wieder zur Tür, öffnete sie leise, schlüpfte nach draußen und klingelte dann. Während die Klingel läutete, schloss ich die Tür schnell, damit meine Eltern nichts davon hören konnten.
"Das ging aber schnell", sagte Mama erstaunt, als sie mir öffnete, "hat Peter keine Zeit?"
"Er macht gerade Hausaufgaben, vielleicht gehe ich später nochmal hin."
"Seit wann macht der denn Hausaufgaben?", lachte sie, "na ja, dann komm' wieder rein."
Ich sagte nichts und folgte ihr ins Haus. In meinem Kopf drehte sich alles, als hätten meine Gedanken zu lange auf einem Karussell gesessen und wüssten nicht, in welche Richtung sie gehen müssen. Wenn Mama und Papa mich extra wegschickten, um über mich zu reden, konnte doch nicht alles in Ordnung sein, oder? Vor allem, wenn Mama sich schon Sorgen machte, obwohl ich immer noch nicht genau weiß, weshalb. Papa scheint es ja auch nicht wirklich zu wissen. Aber ich wusste nicht, und weiß immer noch nicht, ob ich mit ihnen darüber reden sollte, was ich eben gehört hatte, und beschloss, zuerst einmal nichts zu sagen. Wie Papa schon sagte, einfach mal abwarten.
Verwirrt und ohne besonders viel zu sagen ging ich in mein Zimmer, um ein bisschen zu zeichnen, und schließlich hatte ich wieder das rothaarige Mädchen auf dem Papier, das sich an das Geländer einer Brücke lehnte und in die Ferne starrte. Im Hintergrund hatte ich eine große Kirche mit zwei hohen, spitzen Türmen gezeichnet, und unter der Brücke floss ein breiter, glitzernder Fluss. Wie könnte sie heißen? Zuerst dachte ich, sie wäre vielleicht das Mädchen aus dem Lied, aber irgendwie passt der Name "Lili" nicht zu ihr. Er ist zu... ich weiß nicht, zu kurz und zu langweilig. Und klingt eher wie ein Katzenname.
Als ich mit meiner Zeichnung zufrieden war, legte ich sie auf meinen Nachttisch und ging wieder nach unten, wo ich wieder Mamas und Papas Stimmen hörte, aber dieses Mal redeten sie nicht über mich.
"Ich gehe nochmal zu Peter rüber, vielleicht ist er jetzt fertig."
Also ging ich, und blieb auch den ganzen restlichen Tag bei Peter, bis die Sonne unterging. Zuhause habe ich noch zu Abend gegessen, dann bin ich in mein Zimmer gegangen. Jetzt sitze ich hier seit eine Stunde auf meinem Bett, halte die Zeichnung in der Hand und starre sie an. Ich weiß nicht, warum. Ich überlege, wer das sein könnte, wo das sein könnte, und was sie gerade denken könnte. Ohne es zu merken, habe ich ihr Gesicht irgendwie traurig gezeichnet. Traurig, aber gleichzeitig auch ein bisschen hoffnungsvoll, als würde sie auf etwas warten. Oder auf jemanden.
Ich werde dich jetzt weglegen, Tagebuch, und versuchen, zu schlafen. Heute Nacht kann ich sowieso nichts an allem ändern. Also dann, gute Nacht.

 

 

 

Ich kann nicht schlafen. Es sind zwei Uhr, und ich habe nicht einmal kurz gedöst. Meine Gedanken wirbeln in meinem Kopf herum wie ein Sturm, und ich hoffe, es hilft, wenn ich ein bisschen schreibe. Das Gespräch von Mama und Papa geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf, und ich frage mich, ob sie auch wach im Bett legen und sich den Kopf darüber zerbrechen, über mich und meine... Krankheit?
Ich glaube, und das haben sie ja auch gesagt, das ist das falsche Wort, denn eigentlich fühle ich mich ja großartig. Es ist doch toll, wenn man, naja, in vielen Sachen gut ist, oder? Das macht es einem doch eigentlich nur leichter, sollte es zumindest.
Aber ich fühle mich im Moment alles andere als leicht, vor allem mein Kopf. Er fühlt sich an wie ein großer, bis zum Rand gefüllter Eimer, in dem das Wasser wild hin- und her schwappt und jeden Moment überläuft.
Vor allem muss ich daran denken, was zuletzt bei Peter geschehen ist, das war nämlich alles andere als schön. In einem ganz kurzen Moment habe ich wirklich gedacht, ich sterbe, solche Todesangst hatte ich, und irgenwie schien ich auch ganz woanders zu sein, und die Menschen, die ich gesehen habe... Es war wie in einem Horrorfilm, so kam ich mir vor, obwohl ich noch nie einen angeschaut habe. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Ich hoffe einfach, dass ich irgendwo doch einmal etwas Ähnliches gesehen, gelesen oder gehört habe, vielleicht irgendeinen Kriegsfilm, vielleicht in irgendeinem Buch geblättert, woran ich mich nicht mehr erinnern kann, was aber noch in meinem komischen Hirn hängengeblieben ist und meinte, noch einmal zum Vorschein zu kommen. Eine andere Erklärung habe ich auch einfach nicht.
Vielleicht wäre es doch das Beste, wenn ich mit irgendjemandem rede. Die Vorstellung, dass ich ewig für mich behalten soll, was ich eben mit angehört habe, lässt mich zittern, und ich glaube nicht, dass ich das lange aushalten kann.
Ich will ehrlich sein. Am liebsten würde ich meinen Stift und das Buch hinschmeißen und sofort zu meinen Eltern ins Schlafzimmer rennen, weinen, ihnen alles erzählen, mich zu ihnen ins Bett kuscheln und mich fest an ein Kuscheltier klammern.
Aber irgendwie... Ich weiß nicht, was mich davon abhält. Das wäre doch nicht falsch, oder? Man darf doch Angst haben. Trotzdem will ich hier bleiben. Vielleicht werde ich morgen darüber sprechen.
Da ich jetzt alles aufgeschrieben habe- na ja, alles wahrscheinlich nicht, aber zumindest alles, was mir gerade im Kopf herumschwirrt- werde ich jetzt den Stift weglegen und versuchen, zu schlafen. Vielleicht hat es ja ein bisschen geholfen.
Eine gute Rest-Nacht.


25. 08. 2002

Nachdem ich gestern den Stift weggelegt habe, hat es noch einige Zeit gedauert, bis ich eingeschlafen bin. Zuerst habe ich mich gar nicht bewegt, sondern einfach starr dagelegen, dann begonnen, mich hin- und herzuwälzen, und schließlich das Fenster aufgemacht, um die Bäume leise im Wind rascheln zu hören. Darüber bin ich dann endlich eingeschlafen.
Mama und Papa haben natürlich nichts von dem gesagt, was sie gestern besprochen haben, und sich so verhalten, als wäre alles wie immer. Als ich heute morgen zum Frühstückstisch geschlendert bin und sie mir fröhlich Guten Morgen gesagt hatten, merkte ich, dass ich wütend wurde. Sie hatten geplant, meinetwegen mit einem Psychiater zu sprechen, ohne mich mitzunehmen und ohne mir davon zu erzählen, und nun taten sie so, als wäre überhaupt nichts geschehen. In dem Moment war die Unsicherheit, ob ich mit ihnen darüber sprechen sollte, verflogen, und ich beschloss, ebenfalls so zu tun, als wäre alles völlig normal.
Da ich das meinen Gedanken allerdings nicht vorspielen konnte und die noch immer verunsichert in meinem Kopf umherflogen, musste ich Peter davon erzählen.
Wir trafen uns nachmittags, und ich überlegte die ganze Zeit, wie ich am besten anfangen könnte, Peter zu erklären, was mich beschäftigte, aber merkwürdigerweise brauchte ich das gar nicht.
"Sag' mal, Jessie", fragte der, als wir im Stall auf einem Strohballen saßen, "ist alles ok? Irgendwie bist du heute... Ich weiß nicht. Ruhig."
"Echt?" Ich war überrascht. "Merkt man das?"
Einerseits war ich froh, dass Peter es von selbst bemerkte- andererseits war es meinen Eltern dann vielleicht auch aufgefallen.
"Du hast nicht einmal versucht, mich mit Kuhmist zu bewerfen, du bist in keinen Matschhaufen gesprungen, du hast mich nicht beleidigt, und du hast nichts Angeberisches rausgehauen. Also, das ist schon echt komisch." Er grinste, aber ich sah, dass er ein bisschen besorgt war.
"Ja, es ist schon etwas. Ich weiß nur nicht..." Ich drehte mich nervös, fast schon panisch zu ihm um. "Peter, du hältst mich nicht für verrückt, oder?"
"Quatsch, nein."
"Egal, was ich sage oder mache?"
"Na ja... egal vielleicht nicht, aber... Erzähl einfach."
Ich atmete tief ein.
"Meine Eltern wollen zu einem Psychiater gehen und über mich sprechen. Über meine... Na ja, die ganzen Sachen, die so passieren eben."
"Kommst du dann in die Klapse?" Er riss entsetzt die Augen auf. "Nein, verdammt!", zischte ich, "Blödmann! Sie wollen nur reden." Wollen sie doch, oder?
"Weißt du noch, als wir das Schwein gefangen haben?"
Er nickte.
"Da bin ich doch hingefallen. Und als ich im Schlamm lag, hab' ich mich plötzlich gefühlt wie im Krieg."
"Im Krieg?"
"Ja. Ich habe überall tote Menschen gesehen und Schreie gehört und gedacht, dass ich jeden Moment erschossen werde... Aber nur ganz kurz, und dann war es weg. Haben wir... Haben wir mal irgendein Ballerspiel gespielt oder so?"
"Ballerspiel?"
"Ja, so ein Kriegsspiel oder so. Am Computer. Oder einen Film geguckt. Irgendwas?"
"Nein, das dürfen wir doch gar nicht."
"Stimmt." Ich seufzte. "Darüber machen meine Eltern sich Sorgen. Und... Ich halt auch. Weil ich gar nicht weiß, was das bedeutet."
"Vielleicht warst du ja mal im Krieg.", sagte Peter. Ich starrte ihn verwirrt an, aber er schien es völlig ernst zu meinen. "Vielleicht hast du ja schonmal gelebt. Ich hab' mal einen Film gesehen, da wurde eine Katze immer wieder geboren und hat ihren alten Besitzer gesucht. Vielleicht ist dir das ja auch passiert."
"Peter, ich bin aber keine Katze in irgendeinem Film."
"Ja, aber vielleicht gibt es sowas ja trotzdem."
"Quatsch! Mann, Peter, ich mein's ernst. Ich habe auch ein bisschen Angst. Sowas ist doch schon komisch."
"Ja, ist es."
"Danke", zischte ich.
"Ist es nunmal! Sorry, dass ich das sage. Aber es ist komisch. Und ich hab' keine Idee, warum dir sowas passiert. Ich weiß nur, dass du mein bester Freund bist und auch mein bester Freund bleibst, und dass ich dich nicht für durchgeknallt halte. Wenn dir das hilft." Er grinste. "Und ich komme dich natürlich in der Klapse besuchen."
Ich lachte. Es war nicht gestellt, darüber musste ich wirklich lachen. Eigentlich wusste ich ja, dass Peter mich nicht auslachen würde, es aber dann von ihm selber zu hören, tat gut. Und es half, überhaupt mit jemandem darüber gesprochen zu haben. Aber, ehrlich gesagt, besonders hilfreich war Peters Antwort nicht.


30. 08. 2002

Liebes Tagebuch,
das hier ist deine letzte Seite. Fünf Tage lang habe ich gar nichts geschrieben, und das hatte verschiedene Gründe: Seit meiner Unterhaltung mit Peter ist nichts allzu Interessantes mehr passiert, zumindest nichts Ungewöhnliches. Ich habe mir alles von Anfang an noch einmal durchgelesen und festgestellt, dass ich fast nur dann hier hineingeschrieben habe, wenn irgendetwas Seltsames passiert ist. Und jetzt, im Nachhinein, stelle ich fest, dass das schon ziemlich viel war. Am Anfang wollte ich nicht mit "Liebes Tagebuch" beginnen, doch mir ist nichts Besseres eingefallen, nichts, was besser passen würde- aber ich habe ja gar nicht jeden Tag hineingeschrieben, sondern nur, wenn irgendetwas passiert ist, das ich unbedingt festhalten wollte. Sollte ich also ein Zweites schreiben, nenne ich es nicht mehr Tagebuch, sondern "Buch der merkwürdigen Ereignisse." Wobei, nicht alles, was ich geschrieben habe, war wirklich merkwürdig, zum Beispiel das Treffen mit Annie und ihrem Bruder. Wir benutzen merkwürdig ja als Ersatz für das Wort "komisch", oder? Wenn man sich das Wort aber einmal genauer ansieht, bedeutet es doch eigentlich nur, dass etwas würdig ist, es sich zu merken. Oder es zu bemerken. Da ich alles, was nun in meinem Tagebuch steht, mit dem Ziel hineingeschrieben habe, es mir immer wieder durchlesen und so auf ewig merken zu können, finde ich den Titel "Buch der merkwürdigen Ereignisse" eigentlich ziemlich treffend.
So, ich habe nicht mehr allzu viel Platz, also muss ich mich wohl nun von dir verabschieden. Vielen Dank, dass du so ein guter Zuhörer warst, liebes Buch. Ich verspreche, dass du einen schönen Platz in meinem Zimmer bekommst und dass ich dich für immer behalte. Du hast mein Wort.

 

Das Buch der merkwürdigen Ereignisse

04. 10. 2002

Liebes Buch der merkwürdigen Ereignisse!
Das klingt tatsächlich noch um einges bescheuerter als "Liebes Tagebuch", aber da ich gesagt habe, ich würde dich so nennen, und, wie in meinem alten Tagebuch ausführlich erklärt, dieser Titel definitiv zu dem passt, was ich hineinzuschreiben plane, lasse ich es jetzt so stehen.
Dass ich überhaupt heute etwas hineinschreibe, verdanke ich eigentlich nur meinen Eltern, denn in den letzten zwei Monaten hat sich nicht eine merkwürdige Sache ereignet, die es wert gewesen wäre, hier niedergeschrieben zu werden.
Es ist Freitag, und wie jeden Morgen stand ich um halb sieben auf, um mich für die Schule fertig zu machen. Ich frühstückte, putze mir die Zähne, zog mich an, wollte gerade meine Bücher einpacken, als Mama sagte: "So, Jessie, heute geht es für dich nicht in die Schule. Du brauchst deine Bücher nicht einzupacken. Du hast gleich einen Arzttermin."
Ich drehte mich mit skeptisch zusammengekniffenen Augen zu ihr um. "Arzttermin? Ich bin doch gar nicht krank." Natürlich wusste ich, was für eine Art von Arzt sie meinte, und ich spürte, wie sich Enttäuschung in mir ausbreitete.
Wie gesagt, in den letzten zwei Monaten war nicht eine merkwürdige Sache passiert, abgesehen von dem, was ich immer tue- zeichnen, Gitarre spielen und gut in der Schule sein- , aber nichts, weshalb ein Besuch beim Psychiater nötig gewesen wäre.
"Das ist unfair!", knurrte ich, "warum habt ihr mich nicht gefragt? Wisst ihr überhaupt, ob ich zu einem Psychiater gehen möchte?"
Mama weitete verwirrt die Augen.
"Woher weißt du..."
Wut flammte in mir auf, und ich ballte die Fäuste. Ich konnte, nein, ich wollte mich nicht zurückhalten, die Worte drängten geradezu, herausgelassen zu werden, wie eine Gruppe Gefangener, die sich gegen die Gitterstäbe eines Gefängnisses pressen, darauf wartend, dass endlich die Tür geöffnet wird.
"Woher ich das weiß? Ich hab' gehört, wie ihr darüber gesprochen habt, deshalb. Dass ihr über mich gesprochen habt." Meine Stimme wurde zu einem Krächzen.
"Dass ihr denkt, ich wäre nicht normal!"
Ich schluchzte. Tränen quollen aus meinen Augen und liefen an meinem Gesicht hinab. Verschwommen sah ich, dass sich auf Mamas Gesicht Trauer ausbreitete, und sie streckte die Hand aus, um mich zu beruhigen. "Jessie..." Ich wich zurück. "Jessie, es tut mir leid. Aber glaub mir, es ist besser."
"Besser? Mir ging es doch gut!"
Das stimmte. Den merkwürdigen Vorfall bei Peter hatte ich nach dem Gespräch mit ihm völlig aus meinen Gedanken drängen können, aber jetzt flammte alles wieder auf, die Verwirrung, die Angst. Ich hatte Angst, was sich dort möglicherweise herausstellen konnte. Was auch immer ich hatte oder war, solange es niemand belegen konnte, galt es für mich nicht, aber wenn ich zu einem Arzt ging, würde irgendetwas festgestellt werden.
Sie öffnete ein paarmal den Mund, um etwas zu sagen, um mich zu beruhigen, aber es kam nichts heraus. Wieder streckte sie die Hand aus, und dieses Mal wich ich nicht zurück, als sie sanft die Tränen von meinen Wangen wischte.
"Wirst du mitkommen?"
Ich seufzte. "Ja." Was sollte ich auch sonst tun? Ließ sie mir tatsächlich die Wahl?
"Es wird alles gut. Es ist ja nur zur Sicherheit."
Ich nickte, auch wenn ich ihr nicht zustimmen konnte.
"Würdest du mir noch einen Gefallen tun?" Ich schwieg.
"Könntest du eins von deinen Bildern mitnehmen? Und... und vielleicht dein Tagebuch?"
"Mein Tagebuch?!"
"Der Arzt würde es sehr gerne lesen."
Wusste sie nicht, was der Sinn eines Tagebuchs war? Dass niemand außer dem Besitzer darin lesen durfte, es sei denn, der gab es einer Person seines Vertrauens? Woher wusste Mama überhaupt von dem Tagebuch? Sie hatte doch nicht... Ich riss die Augen auf.
"Hast du es gelesen?"
"Nein."
Es folgte Stille. Ich dachte nach. Was stand in diesem Tagebuch, das niemand lesen durfte? Alle Situationen hatte Mama dem Psychiater wahrscheinlich sowieso erzählt, vor allem die Sache bei Peter. Aber trotzdem sträubte sich etwas in meinem Innern dagegen, das Buch holen zu gehen- ich glaube, es war mein Stolz.
"Muss ich es wirklich mitnehmen?"
"Nein, musst du nicht. "
Ich glaube, das war es, was mich schließlich dazu brachte, es doch mitzunehmen. Dass sie mich nicht dazu zwangen, sondern dass es meine Entscheidung war, ob ich es ihnen zeigen wollte oder nicht. Vor allem wollte ich nicht, dass sie dachten, ich würde etwas verbergen, denn das würde die ganze Situation noch merkwürdiger machen.
Also packte ich es ein, zusammen mit dem letzten Bild, das ich gezeichnet habe, wo natürlich wieder das rothaarige Mädchen zu sehen ist.
Während der ganzen Autofahrt saß ich schweigend auf dem Rücksitz, den Kopf gegen die kalte Fensterscheibe gelehnt, und ich beobachtete die dicken Regen tropfen, die daran zerbrachen und langsam hinabrannen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Mama, vom Beifahrersitz aus ab und an zu mir nach hinten sah und etwas sagen wollte, doch ich drehte mich nicht zu ihr um.
Meine Hände krallten sich an das Tagebuch, und irgendwann merkte ich, dass ich meine Zähne fest zusammengebissen hatte.
Was könnte schon passieren? Sie würden mich schon nicht einweisen- Oder doch?
Wieder spürte ich Tränen, die aus meinen Augen hervorzuquellen drohten, doch ich zwang mich, sie zurückzuhalten und gegen die Angst anzukämpfen.
Die Fahrt schien unendlich, und als wir schließlich angekommen und ins Wartezimmer geschickt worden waren, starrten meine Augen bewegungslos auf die Uhr, die über der Tür hing. Jede Sekunde, diese kurze Stille zwischen zwei Schlägen, kam mir wie eine Unendlichkeit vor, und ich spürte, wie sich meine Finger unruhig ineinander verkrallten.
Ich war nervös, ich hatte Angst, und ich war immer noch wütend. Nur, weil ich ein Kind bin, heißt das doch nicht, dass ich nicht selbst über mich entscheiden kann, oder?
Tick.... Tack
Ich erinnerte mich an die Momente vor meinem Gitarren-Vorspiel, da hatte ich genauso auf die Uhr gestarrt wie jetzt, jede Sekunde hatte sich so unendlich lange gezogen- aber da hatte ich mich trotz aller Aufregung gefreut. Jetzt gab es definitiv nichts, worauf ich mich freuen konnte.
Irgendwann ertönte ein leises Quietschen, als sich die Tür langsam öffnete und eine Frau ihren Kopf in das Zimmer streckte. "Jessie, du darfst jetzt kommen."
Dürfen? Trifft müssen es nicht besser?
Mit einem langgezogenen Seufzen folgte ich der Frau durch den Flur, meine Eltern dich hinter mir.
"So, einmal bitte hier herein", flötete sie und wies mit einer ausladenden Handgeste auf eine Tür, die mit bunten Buchstaben und Tierbildern zugekleistert war. Dann war das hier wohl eine nur für Kinder gedachte Praxis, oder zumindest war dies das Zimmer eines Kinderpsyschologen. Oder fahren durchgeknallte Erwachsene auch wieder auf bunte Buchstaben und Tierbilder ab? Vielleicht entwickelt man sich irgendwann wieder zurück und wird zu einem Kind, wenn irgendwo ein Schräubchen locker ist.
Die Frau öffnete die Tür, dieses Mal gingen meine Eltern voran, und ich folgte ihnen verunsichert, mein Tagebuch und das Bild fest an mich drückend.
Vielleicht bildete ich es mir nur ein, doch als ich eintrat und das erste, worauf mein Blick fiel, zwei breite Bücherregale zu beiden Seiten waren, schien es, als würde mich der vertraute, angenehme Duft von Papier, wie ich ihn in der Schulbibliothek immer wahrzunehmen glaube, einhüllen und beruhigend streicheln, und ich atmete tief ein.
"Guten Morgen, Jessie." Eine tiefe Stimme ließ mich zusammenzucken.
In der Mitte des Raums stand ein breiter, ebenfalls mit Büchern und Unmengen an Papier-Kram überhäufter Schreibtisch, hinter dem ein bärtiger Mann mit silbrigem Haar in seinen Sessel gelehnt saß und mich durch die schmale Brille eingehend musterte.
"Setzt euch."
Vor dem Schreibtisch standen drei Stühle, als hätten sie mich und meine Eltern schon ewig erwartet. Na schön, wahrscheinlich haben sie das auch. Dennoch fand ich die Stühle auf merkwürdige Art beunruhigend.
"Also, Jessie", begann der Mann, "da konntest du dich ja heute schön vor der Schule drücken, nicht wahr?" Er lächelte freundlich.
"Na ja, Mama hat den Termin ausgesucht, also... Ich finde Schule gar nicht so schlimm."
Ich wäre jetzt tausendmal lieber in der Schule, als hier zu sitzen! Doch das behielt ich für mich, der Mann war schließlich nicht Schuld an dieser ganzen Geschichte.
"Das habe ich bereits gehört. Deine Mama sagte, du wärst sehr gut in der Schule?"
Ich wurde verlegen. "Ja, so... Einigermaßen schon."
"Du gehst in die erste Klasse, nicht wahr?"
Ich nickte.
"Und du kannst schon alles lesen und schreiben, was du möchtest, sagte deine Mama, während die anderen Kinder nur vereinzelte Buchstaben schreiben können."
Ich erzählte, dass ich schon im Kindergarten lesen und schreiben konnte, weil ich es mir irgendwann selbst angeeignet und es von da an ständig getan hatte, und Papa fügte hinzu: "Wir haben ihn zu nichts gedrängt. Anfangs wussten wir nicht einmal, dass er das alles schon kann, bis er plötzlich mit einer Zeitung am Frühstückstisch saß und entsetzt fragte, warum denn diese Leute alle gestorben seien." Ich merkte, wie Papa sich ein Kichern verkneifen musste. Auch der Arzt verzog sein Gesicht zu einem Schmunzeln, doch er wurde schnell wieder ernst, als er sich mir zuwandte.
"Wie fühlst du dich denn allgemein in der Schule? Hast du Probleme, oder fällt dir das meiste eher leicht?"
"Viele Sachen weiß ich schon, deswegen ist es oft langweilig. Manchmal kommt auch etwas Neues, aber vieles habe ich schon irgendwo gelesen."
"Und wenn etwas erklärt wird, das du schon weißt, kannst du dann jedes Mal sagen, woher du es weißt? Oder ist es einfach so da?"
"Meistens weiß ich nicht, woher ich die Sachen habe."
Es schien, als würde er die Antworten auf seine Fragen bereits kennen, ohne sie von mir hören zu müssen. Entweder hatte Mama am Telefon schon alles erzählt, oder er konnte tatsächlich in meinen Kopf hineinsehen.
Er fragte mich noch einiges, vor allem in Bezug auf die Schule, und irgendwann begann ich, mich zu langweilen- vor allem, da ich nicht das Gefühl hatte, als würden diese Fragen, wie lange ich für meine Hausaufgaben brauchte oder ob ich schnell Dinge auswendig lernte, allzu viel nützen. Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte der Mann schließlich: "Wenn du nichts dagegen hast, Jessie, würde ich gerne in deinem Tagebuch lesen. Deine Mutter hat mir erzählt, dass du öfter darin schreibst. Während ich es lese, habe ich eine Aufgabe für dich." Er hielt inne, als erwartete er meinen Protest, doch ich erwiderte seinen geduldigen Blick schweigend.
"Ich werde dir ein Bild zeigen, du hast fünfzehn Sekunden Zeit, es dir anzusehen, und dann möchte ich, dass du es so genau nachzeichnest, wie du kannst. In Ordnung?"
Zögernd nickte ich.
Er begann, in einer Schublade herumzukramen, zog einen in dunkelbraunes Leder gehüllten Ordner heraus und blätterte darin, bis er schließlich zufrieden nickte. "Das kannst du zeichnen. Hier, bitte. Dort drüben"- er wies auf einen kleinen Tisch mit Papier und einem Becher voller Buntstifte- "kannst du dich hinsetzen. Dürfte ich dann dein Tagebuch haben?"
Innerlich widerstrebte es mir, doch ich zwang mich dazu, ihm das Tagebuch hinzuhalten und den Ordner entgegenzunehmen. Das Bild, das er ausgewählt hatte, zeigte eine gezeichnete Bauernhof-Szene im Cartoon-Stil, ein typisches Bild für ein Grundschulkind, fand ich. Im Vordergrund war ein braunes Pferd abgebildet, das von einem Mädchen am Zügel gehalten wurde, links daneben stand ein Schäferhund, und im Hintergrund sah man eine Wiese mit einem Apfelbaum. Angestrengt versuchte ich, mir alles genau einzuprägen, was nicht sonderlich schwer sein sollte, schließlich waren es nur wenige Dinge, die zu sehen waren- Pferd, Mädchen, Hund, Baum. Mitte, rechts, links, Hintergrund.
"So, die Zeit ist um. Leg' bitte das Bild weg, und dann kannst du anfangen, zu zeichnen."
Ich klappte den Ordner zu, schlurfte zu dem kleinen Tischchen hinüber und ließ mich auf eins der noch kleineren Stühle plumpsen, wobei ich noch einen misstrauischen Blick auf den Arzt zurückwarf. Der Gedanke, dass er jetzt in meinem Tagebuch lesen und all meine Gedankengänge, die noch nicht einmal meine Eltern kannten, erfahren würde, gefiel mir absolut nicht, und ich dachte kurz nach, ob nicht doch irgendetwas darin stand, das besser niemand lesen sollte. Nicht wirklich, oder? Und wenn doch, war es sowieso zu spät, ich konnte es ihm ja schlecht wieder aus den Händen reißen.
Also nahm ich mir ein Blatt Papier, kramte aus dem Becher einen Bleistift und einen Radiergummi hervor, und begann, die Umrisse zu zeichnen. Zunächst das Pferd.
Der Kopf sah bereits nach wenigen Strichen sehr echt aus, zumindest, was die Form betraf- ich fand sogar, er glich Dragon, Peters schwarzem Pferd. Dann zeichnete ich den Körper, und versuchte angestrengt, mich genau daran zu erinnern, in welcher Position das Pferd gestanden hatte. Das rechte Vorderbein war angewinkelt gewesen, glaube ich.
Nachdem ich das Pferd skizziert hatte, zeichnete ich das Mädchen, und stellte fest, dass das deutlich schwieriger war, doch ich glaubte, es recht genau nachzuzeichnen.
Dann der Hund, der Baum, und die Wiese.
Ich ließ meinen Blick prüfend über die Bleistiftskizze schweifen und überlegte kurz, ob ich irgendetwas vergessen hatte, doch als mir nichts auffiel, begann ich mit dem Ausmalen. Die Stifte waren wirklich nur für Kinder gedacht, die nichts als ein paar Strichmännchen zeichnen konnten, denn sie waren wirklich sehr schlecht. Ich musste viel zu fest aufdrücken, um überhaupt eine Farbe auf dem Papier erkennen zu können, so wenig deckten sie.
Das Bild selbst war sehr einfach gehalten, keine Schattierungen, das gesamte Pferd war in ein und demselben Braun dargestellt. Da dies überhaupt nicht mein Stil war, versuchte ich, mir von jeder Farbe zumindest zwei verschiedene Töne herauszusuchen, um das Ganze ein bisschen interessanter zu machen.
Ich malte das Pferd aus, dann den Hund, dann den Baum, und schließlich das Mädchen, und als ich fertig war, hätte niemand darauf schließen können, dass ich ein Bild im Kinderbuch-Stil nachgezeichnet habe.
"So, ich bin fertig!", rief ich zufrieden und schaute auf die Uhr, die auf dem Tisch des Arztes stand. Ich hatte eine halbe Stunde gebraucht.
"In Ordnung. Ich habe dein Tagebuch überflogen, aber ich denke, das reicht."
Mir wurde kalt. Das reicht? Für was reicht es? Um festzustellen, dass ich total übergeschnappt bin?
Unsicher schlich ich auf den Platz zwischen meinen Eltern zurück und betrachtete den Arzt mit ängstlich geweiteten Augen, doch sein Gesicht zeigte keinerlei Emotion, nichts, woraus ich eine Antwort hätte schließen können.
"Möchtest du mir zuerst einmal das Bild zeigen?"
Ich legte es auf den Tisch, und bevor er einen Blick darauf werfen konnte, fragte ich: "Wie finden Sie das Tagebuch?"
"Wie gesagt, ich habe es überflogen. Wenn es für dich in Ordnung ist, würde ich mir die Seiten kopieren und es noch einmal in Ruhe durchgehen. Aber für einen ersten Eindruck reicht das, was ich bisher gelesen habe."
Einen kurzen Moment war alles still. Ich glaube, sogar meine Eltern hielten kurz den Atem an.
"Was mir sofort aufgefallen ist, ist dein Schreibstil, Jessie. Vor allem die Entwicklung in dieser extrem kurzen Zeit. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist?", fragte er mit einem Blick auf Mama und Papa, doch die schüttelten den Kopf. "Wir haben noch nicht darin gelesen."
"Das ist anständig", sagte er lächelnd. "Es ist überhaupt ungewöhnlich, dass ein Kind schon zu Beginn der ersten Klasse perfekt lesen und schreiben kann, aber in den ersten paar Seiten ließ zumindest die Ausdrucksweise darauf schließen, dass es ein Kind geschrieben haben könnte. Wüsste ich nicht, wie alt du bist, hätte ich, anhand dieser ersten Seiten, dein Alter vermutlich auf zehn Jahre geschätzt. Die letzten Seiten allerdings könnten ebenso gut von einem Erwachsenen stammen- ich kenne einige Erwachsene, sogar Kollegen, man soll es nicht glauben, die sich weniger... Weniger gewählt ausdrücken als du. Und das ist wirklich erstaunlich. Liest du viel?"
"Ja, schon."
"Und was?"
"Na ja, Bücher eben, und manchmal die Zeitung."
"Keine Bücher für Sechsjährige, nehme ich an."
Jetzt musste ich grinsen. "Meistens lese ich die Bücher, nachdem Mama damit fertig ist. Das sind oft so... historische Romane, so heißen sie, glaube ich."
"Ja, das erklärt es."
Jetzt fing er an, das Bild zu mustern. "Das ist unglaublich. Ja, wie ich vermutet habe. Deine künsterlischen Fähigkeiten entsprechen denen eines gelernten Erwachsenen. Doch wenn du ein komplett ausgeprägtes fotografisches Gedächtnis hättest, dann wären die Haare des Mädchens blond, nicht rot."
Ich erstarrte. Natürlich wusste ich, dass das Mädchen auf dem Bild blond gewesen war. Mir war nicht aufgefallen, dass ich es rothaarig gezeichnet hatte.
"Und der Schäferhund hätte vier Beine, nicht drei."
"Oh.. ups. Das habe ich wohl vergessen." Wieso war mir das nicht aufgefallen?
"Meine Vermutung ist..." Seine Stimme wurde etwas lauter und er rückte sich die Brille zurecht, wie ein Richter, der sein endgültiges Urteil verkündet, "... dass du einfach eine ungewöhnlich starke Auffassungsgabe hast, Jessie. Dein Gehirn saugt Dinge, zumindest die, für die es sich interessiert, auf wie ein Schwamm. So etwas ist sehr ungewöhnlich, kommt aber durchaus vor. Hinzu kommen deine motorischen Fähigkeiten, die es dir ermöglichen, überhaupt so zu zeichnen. "
"Also ist er einfach hochbegabt?", fragte Mama.
"Das könnte man so sagen. Eine sehr ausgeprägte Form von Begabung. "
"Und..." Mama sah mich kurz mit einem Anflug von Besorgnis an. "Ich habe Ihnen ja von diesem einen Vorfall erzählt..."
"Dazu wollte ich noch kommen. Jessie, würdest du mir davon erzählen, was damals bei deinem Freund Peter passiert ist? Deine Mama sagte, dort wäre etwas passiert, wovor du Angst hattest."
Wenn Mama es doch schon erzählt hatte, wieso musste ich es dann noch einmal tun? Na ja, es half wohl nichts. Ich dachte kurz nach und versuchte, die merkwürdigen Visionen, die ich bei Peter gehabt hatte, möglichst genau zu beschreiben. Wie ich plötzlich an einem völlig anderen Ort, inmitten von Schmerz und Zerstörung, zu sein geglaubt hatte, wie um mich herum Menschen starben. Der Mann, der ein Bild in der Hand hielt...
Ein Zittern durchfuhr mich, als ich mich wieder in den Augenblick hineinversetzte, und ich stockte. Ich spürte, wie ihre Blicke auf mir ruhten, aber ich schwieg, und für einige Momente herrschte eine bedrückende Stille.
"Und du kannst dich nicht daran erinnern, so etwas jemals im Fernsehen oder einem Videospiel gesehen zu haben?"
"Nein."
"Na ja, man erinnert sich nicht an alles. Und das ist manchmal auch gut so. Ich vermute, dass du irgendwann, vielleicht auch schon vor ein paar Jahren, irgendeine Kriegsszene im Fernsehen gesehen hast, oder vielleicht ein Bild in einem Buch. Du fandest es derart erschreckend, dass dein Gehirn es ebenso aufgesogen hat, wie es das mit interessanten Informationen tut. Gleichzeitig hat es aber die Erinnerung an sich verdrängt, sodass du dich nicht mehr daran erinnerst, wann du es gesehen hast. So etwas kommt auch bei Traumata vor."
"Ich bin traumatisiert?!", rief ich aus.
"Vielleicht war es tatsächlich ein leichtes Trauma. Aber nichts, worüber man sich ernsthaft sorgen müsste. Wenn es, wie deine Mama gesagt hat, nur ein einziges Mal vorgekommen ist, denke ich nicht, dass es Sinn macht, es wieder auszugraben, verstehst du? Sollten sich solche Situationen irgendwann häufen, ist es natürlich etwas anderes, dann müsste man dagegen vorgehen. Aber zur Zeit ist aus meiner Sicht alles in Ordnung."
Ich nickte. Und mit einem Mal spürte ich, wie die Anspannung aus meinem Körper wich. Die ganze Zeit hatte ich innerlich gezittert und geglaubt, dass ich als bestätigter Verrückter wieder nach Hause kommen würde, dass ich irgendeine spezielle Behandlung bräuchte, dass sich mein gesamtes Leben mit diesem Tag verändern würde. Aber es war alles in Ordnung. Der Gedanke gab mir ein so befreiendes Gefühl, dass ich die Luft tief einsog und voller Erleichterung aufatmtete.
Der Arzt erzählte meinen Eltern noch einige Dinge, warf mit Fachbegriffen um sich, um meine Art der Begabung genauer zu erklären, und stellte ihnen verschiedene Arten der Förderung vor.
Ich könnte auf eine spezielle Schule gehen, eine Klasse überspringen, irgendwelche Kurse belegen, dies machen, das machen. Mich interessierte nichts davon. Das Einzige, was mich interessiert, ist, dass ich ein normales Kind sein kann.

 

 

 

 

 

 

25. 05. 2010

Die Sonne legte ein warmes, goldenes Leuchten über den Wald wie eine dünne Decke, und es wehte ein lauer Wind, ein warmer, wohltuender Wind. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass der Wald jemals so schön aussah.
Neben uns plätscherte der Bach träge durch die Bäume, und niemand sagte etwas. Das einzig Hörbare war das Wispern des Windes und das Wasser- nur ab und zu störten die Geräusche unserer Schritte, wenn jemand auf einen Ast oder Laub trat, die abendliche Stille.
Annie, Peter und ich wollten zu der alten Holzbrücke- ich glaube, ich habe sie bisher noch nicht erwähnt, diese Brücke; Ziemlich tief im Wald führt sie bestimmt schon seit Ewigkeiten über den Bach, und von dort hat man eine wundervolle Aussicht auf eine große, weite Wiese. Wir sind vor einiger Zeit zufällig dort vorbeigekommen, und Peter meinte, seine Eltern hätten berichtet, dass sie dort schon als Kinder regelmäßig spazieren gegangen wären, um Rehe und andere Waldtiere beim Grasen auf der Wiese zu beobachten. Wir waren recht spät losgegangen, um den Sonnenuntergang betrachten und die Tiere, die sich in der Abenddämmerung zeigen würden, fotografieren zu können.
Ich hatte mir die Kamera meines Vaters geliehen, die nun schwer um meinen Hals baumelte, ein ziemlich großes Gerät, das hoffentlich halten würde, was es versprach.
"Ich bin gespannt", flüsterte Annie irgendwann, "was uns so alles über den Weg läuft."
"Noch brauchst du nicht zu flüstern", kicherte Peter, "wir haben noch ein kleines Stück bis zur Brücke."
Ich grinste. "Ich bin auch gespannt. Vielleicht sehen wir ja irgendwas richtig Cooles, riesige Wildschweine, Wölfe, Menschenfresser."
Unauffällig warf ich einen flüchtigen Blick auf Annie und sah, wie ein erschrockener Schatten über ihr Gesicht huschte.
"Wölfe?"
"So ein Blödsinn!", entgegnete Peter, "als gäbe es hier Wölfe."
"Aber Menschenfresser sind doch nicht so unrealistisch." Ich drehte mich zu den beiden um und blickte verstohlen von einer Seite zur anderen. "Die können schließlich überall sein."
"Du hältst es nicht einen Tag lang aus, ohne jemanden zu ärgern, stimmt's?", zischte Annie und boxte mir spielerisch gegen die Schulter.
"Deswegen sehe ich euch so gerne, ihr seid die perfekten Opfer."
"Warte es nur ab." Peter kniff die Augen zusammen und grinste verschlagen. "Eines Tages kommt die Rache."
Wir gingen noch einige Minuten, und als sich schließlich die Silhouette der Brücke zwischen den Bäumen abzeichnete, wurden wir alle wie auf einen stillen Befehl hin langsamer und begannen, uns mit lautlosen Schritten heranzuschleichen. Ich glaube, Annie hielt sogar zwischendurch den Atem an.
Leise bewegten wir uns auf die Brücke, das dunkle Holz knarrte ein wenig unter unseren Füßen, doch die Balken wirkten fest und stabil.
Ich lehnte mich gegen das Geländer und spähte mit einem langgezogenen, wohligen Seufzer in die Ferne, wo sich die Sonne immer weiter den Horizont hinabzubewegen schien. Vor mir erstreckte sich die große Wiese, deren hohes Gras im sanften Wind wogte wie die Wellen eines ruhigen Meeres, und dahinter lag ein gewaltiger, hügeliger Wald, der so weit reichte, dass das Grün der Bäume immer mehr einem dunklen Blau wich und irgendwann mit dem Himmel verschwamm.
Am Rande bemerkte ich, wie sich neben mir etwas bewegte, als Annie sich ebenfalls gegen das Geländer lehnte, und ihre Stimme holte mich schließlich in die Wirklichkeit zurück.
"Ich könnte mir niemals vorstellen, in einer Stadt zu leben."
"Niemals. Die frische Luft, die Bäume, die Farben..."
"He, Leute, was haltet ihr hiervon?" Peters krächzende Stimme vertrieb die Magie, die ich eben noch gespürt hatte, schließlich gänzlich, während er in seinem Rucksack herumzukramen begann und eine große Flasche herauszog.
"Hmmm... Eine hübsche Flasche Wasser, Peter", murmelte Annie verstört, und ich schüttelte amüsiert den Kopf. "Annie, ich glaube, das ist kein Wasser. Gib' mal her, Peter."
Er reichte mir die Flasche mit einem fast stolzen Grinsen.
"Korn?"
"Jep. Hab' ich von zuhause mitgehen lassen."
Ich öffnete die Flasche mit einem skeptischen Blick auf Peter, und als ich daran roch, stach mir ein beißender, scharfer Geruch in die Nase. "Willst du uns umbringen?", krächzte ich und hielt Annie die Flasche hin, "hier, riech' mal!"
Sie streckte ihre Nase in Richtung der Flasche, atmete einmal kurz ein und schrie angeekelt: "Igitt!"
"Ich dachte mir, wenn wir hier übernachten, können wir ja auch ein bisschen feiern, oder?"
"Du meinst besaufen?" Annies Augen wurden groß. "Aber... Ich hab' noch nie Alkohol getrunken. Ich..."
"Ach, komm", entgegnete ich, "musst ja nicht gleich die ganze Flasche wegkippen."
"Wenn unsere Eltern das rauskriegen, gibt's riesigen Ärger."
"Na ja, Peter kriegt den meisten Ärger."
"Deswegen", sagte der, "bleibt das auch unter uns!"
Er nahm die Flasche, setzte sie an und nahm einen gewaltigen Schluck. Annie und ich starrten ihn erwartungsvoll an. Als er die Flasche wieder abstellte, waren seine Augen geweitet, sein Gesicht rot, und seine Nasenlöcher gebläht.
"Das... brennt..!", ächzte er und fasste sich an den Hals. "Verdammt!"
Neugierig griff ich meinerseits nach der Flasche, roch noch einmal skeptisch daran und nahm dann auch einen Schluck.
Das Zeug schmeckte noch schärfer, als es roch. Es brannte in meinem Hals, in meiner Nase, in meinen Augen, und ich betete, dass mir nicht die Tränen kamen.
Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich so das Brennen in meinem Innern loswerden, und gab die Flasche wortlos an Annie weiter.
"Ich... Ich dachte, wir warten noch, bis es dunkel ist. Sonst vergessen wir nachher die Fotos."
"Zu spät", keuchte Peter.
Annie betrachtete die Flasche, dann uns, dann wieder die Flasche, hielt sich die Nase zu und trank. "Heee! Geschafft!", schrien Peter und ich und brachen in schallenden Jubel aus.
Die Flasche drehte noch zwei Runden, doch danach befahl Annie, sie noch einmal zur Seite zu stellen. Ich spürte schon, wie meine Sicht langsam verschwommener wurde und mein Gehirn sich weich anfühlte. Irgendwie ein witziges Gefühl.
Peter saß mit dem Rücken gegen das Geländer gelehnt auf dem Boden, die Arme von sich gestreckt, und ein seliges Grinsen lag auf seinem Gesicht. Er sah aus, als würde er gleich in dem Holz versinken oder wie ein Eis in der prallen Sonne wegschmelzen, während Annie mit völlig klarem, aufgeweckten Gesicht am Geländer stand und auf die Wiese schaute.
"He, Annie!", sagte ich und griff nach der Kamera, "posier' mal für mich. Du bist jetzt unser Model."
Sie drehte sich mit einem verlegenen Grinsen um schaute in die Kamera. "Willst du nicht lieber auf die Tiere warten?"
"Kannst du vergessen."
"Na gut. Dann sag' mir, was ich machen soll."
"Keine Ahnung. Was Models so machen. Schön aussehen halt."
Ich kniete mich auf das Holz und sah durch die Kamera, wie sie ihre Lippen zu einem frechen Grinsen verzog und ihren Zopf öffnete. Ihr glänzendes Haar fiel locker auf ihre Schultern und in ihr Gesicht, einzelne Strähnen wehten im sanften Wind, und die untergehende Sonne tauchten sie in ein goldenes Licht. Ihre Augen funkelten, die kaum wahrnehmbaren Sommersprossen auf ihren Wangen ummalten ihr verschmitztes Lächeln, und ich machte unzählige Fotos, während sie ihr Gesicht in verschiedene Richtungen drehte und ab und zu durch ihr Haar strich. Wieso sah ich jetzt erst, wie schön sie war? Die Sonne schien auf ihr Haar und ließ es in einem feurigen Rot aufleuchten, und plötzlich schien es, als würden sie sich zu kleinen Locken zusammenziehen. Ich sah in ihr Gesicht, das glänzende Braun ihrer Augen wich einem klaren, tiefen Blau, ihre Lippen wurden dunkler, ihre Gesichtszüge veränderten sich. Entsetzt hielt ich den Atem an, taumelte rückwärts und stürzte mit einem erstickten Schrei zu Boden. Dann wurde alles schwarz.

Unter mir rauschte der Fluss, ruhelos schob er seine Wassermassen vorwärts, und über mir zwitscherten die Vögel ihre Lieder, mit dem sie den Tag verabschiedeten.
Eigentlich hätte es genossen, wie die untergehende Sonne ihr goldenes Licht auf den Fluss und über die ganze Stadt legte, doch jetzt brannte in meinem Innern ein tiefer Schmerz.
Von Weitem erkannte ich bereits ihre an das Geländer der Brücke gelehnte Silhouette, das frech gelockte Haar wehte sanft im Wind, und beim Näherkommen sah ich, dass sie mit abwesendem Blick in die Ferne schaute.
"Susannah!", rief ich.
Sofort wurde ihr Blick klar und sie fuhr herum, rannte auf mich zu, warf sich in meine Arme und presste sie sich an mich, so fest, dass ich ihren Herzschlag und das Zittern in ihrem Körper spüren konnte.
"Hab' keine Angst", wisperte ich und strich sanft durch ihr Haar, "es wird wieder gut."
Sie setzte zum Sprechen an, doch aus ihrem Mund kam nur ein ersticktes Schluchzen.
"Schon gut. Ich weiß ja, was du sagen willst." Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, und ich merkte, wie auch mir Tränen aus den Augen quollen. Sie legte ihren Kopf auf meine Brust, und so standen wir dort noch eine Ewigkeit, schweigend, uns gegenseitig so fest haltend, as wären wir miteinander verschmolzen.
"Ich will dich nicht verlieren", brachte sie irgendwann heraus und trat einen Schritt zurück, um mir in die Augen zu sehen.
"He, du verlierst mich nicht. Wenn etwas zu dir und nur dir gehört, dann kannst du es gar nicht wirklich verlieren. Ich werde die ganze Zeit an dich denken. Und wenn ich dein Gesicht vor mir sehe, glaub' mir, dann kann mir niemand etwas. Dann werde ich alles tun, was ich kann, um es wiederzusehen."
Sie versuchte, zu lächeln, doch ihre Miene verfinsterte sich sofort wieder.
"Wenn ich mir vorstelle, dass... dass du nicht zurückkommst... Allein der Gedanke..." Sie schluckte, schlenderte zum Geländer hinüber und blickte in die Tiefe, wo sich das trübe Wasser wälzte. "Ich würde mich am liebsten hier hineinstürzen, wenn ich daran denke."
"Susannah, ich wünschte, ich könnte schwören, dass ich zurückkommen werde, aber das kann ich nicht. Ich kann nur versprechen, dass ich alles tun werde, was ich kann, um zu überleben. Um dich nicht zu verlieren. Aber dafür musst du mir auch etwas versprechen."
"Was?"
"Wenn ich nicht zurückkomme..." Das auszusprechen tat weh, doch ich musste es sagen. Den Gedanken zu verdrängen, so zu tun, als bestünde nicht die Möglichkeit, dass ich im Schützengraben mein Leben lassen könnte, wäre naiv gewesen. "...Dann musst du mir versprechen, dass dein Leben weitergehen wird. Wenn ich nicht zurückkomme, musst du von vorne anfangen, verstehst du?"
Sie schüttelte den Kopf. "Ich will mir das nicht vorstellen."
"Ich weiß. Das will ich auch nicht. Aber wenn ich sterben sollte, dann ist das Letzte, was ich will, dass du es mir nachmachst. Susannah, versprichst du mir, dass du stark bleibst, egal, was passiert?"
Seufzend senkte sie den Kopf und legte eine Hand auf ihren Bauch. "Ja, ich verspreche es."
Ich hielt inne und sah sie einfach nur an. Die vergangenen Jahre zogen an mir vorbei, der Tag, an dem ich sie traf, ich hörte wieder das erste Wort, das sie zu mir sagte, spürte den ersten Kuss, sah alles, was wir gemeinsam erlebt hatten, noch einmal vor mir. Dann zog ich sie zu mir heran, küsste sie, und ein Fluss aus Tränen rann an meinen Wangen hinab. Zum ersten Mal weinten wir zusammen.
"Ich liebe dich, Susannah."

"Komm' schon, wach' auf!"
Entsetzt fuhr ich auf und starrte mit aufgerissenen Augen in Annies und Peters erschreckte Gesichter, die mit scheinbar angehaltenem Atem vor mir knieten und mich besorgt musterten. "Mein Gott, Jessie!", keuchte Peter, "geht's dir gut?"
Ich hielt kurz inne und merkte, dass sich ein pochender Schmerz in meinem Hinterkopf ausbreitete- ich musste auf das Geländer oder den Boden geknallt sein.
Doch dann spürte ich wieder die Trauer in meinem Innern, sah Susannahs weinendes Gesicht, und der Schmerz wanderte von meinem Kopf direkt ins Herz.
Ich schloss die Augen.
So viele Bilder tauchten in meinen Gedanken auf, so viele Gesichter, so viele Namen. Mein eigener Name, und mein Gesicht. Ich war kein vierzehnjähriger Junge aus England, der heimlich mit seinen Freunden zum ersten Mal Schnaps probierte. Ich war fünfundzwanzig, mehr oder weniger verlobt, hatte als Soldat im Zweiten Weltkrieg gekämpft- und war dort gestorben.
Dann sah ich Caren, ich schaute zu ihr nach oben, wie sie grinsend einen Hundenapf mit Wasser füllte, blickte an mir herab und sah schwarze Pfoten. Ich sah das Auto, das schräg auf der Straße stand, die Menschenmenge, die mit verzerrten Gesichtern davor stand und auf die regungslose Gestalt blickte, die dort in ihrem eigenen Blut lag.
Ich seufzte und vergub das Gesicht in meinen Händen. Plötzlich hörte ich wieder die Worte, die ich eben in meinem Traum, bei dem allerletzten Treffen mit Susannah vor meinem Tod, gesagt hatte- dass ich alles tun würde, um zu ihr zurückzukommen, und dass sie mich nicht verlieren könnte. Ich hatte es versprochen. Und plötzlich spürte ich eine so tiefe Zuversicht, eine merkwürdige Gewissheit, dass es meine Aufgabe war, sie wiederzufinden, und dass ich deshalb noch immer oder immer wieder auf dieser Erde war, in welcher Gestalt auch immer.
Wieso war das alles so lange fort gewesen? Ich hatte so viel Zeit verloren.
"Jessie, was ist los?" Ich spürte Annies Hand auf meiner Schulter und sah zu ihr auf.
"Leute, ich muss euch etwas erzählen."
Sie sahen mich verwirrt an.
"Ihr werdet mich für verrückt halten."
Dann fiel mir plötzlich etwas ein, das Peter vor Ewigkeiten zu mir gesagt hatte, und ich hätte am liebsten laut losgelacht. Es war lange her, doch ich erinnerte mich an die ganzen merkwürdigen Dinge, die mir am Anfang meiner Schulzeit passiert waren, die Erinnerungen, von denen niemand wusste, wo sie herkamen. Jetzt, acht Jahre später, machte alles einen Sinn.
"Peter, weißt du noch, was du damals in der ersten Klasse zu mir gesagt hast?"
"Ähmm..." Er starrte mich verwirrt an. "Die erste Klasse war ein Jahr lang, Jessie. Da hab' ich wohl das ein- oder andere gesagt."
"Einmal, als ich Angst hatte, mit mir würde etwas nicht stimmen. Als ich so merkwürdige Visionen hatte. Da hab' ich mit dir drüber gesprochen, weißt du das noch?"
Er schloss die Augen und schwieg lange Zeit. "Ja, stimmt, da war etwas."
"Du hast gesagt, ich wäre ja vielleicht wiedergeboren worden. Dass ich deswegen so viel wüsste und mich an so vieles erinnern könnte."
"Keine Ahnung, was ich da gesagt habe. Das ist acht Jahre her, Mann."
Ich atmete ein. Einen Augenblick herrschte Stille.
"Du hattest recht."
"Was?" Beide starrten mich verwirrt an. "Was soll das heißen, ich hatte recht?"
"Damals war ich traurig, dass du mir keine sinnvollere Antwort geliefert hast. Ich hatte so große Angst, ich wäre irgendwie psyschich krank oder so. Die Lehrer dachten, ich hätte ein fotografisches Gedächtnis. Der Psychiater dachte, ich wäre hochbegabt. Und ich dachte, ich hätte einfach nur eine Schraube locker. Der Einzige, der es geschnallt hat, war der sechsjährige Peter." Ich musste lachen.
"Tut mir leid, aber gerade schnalle ich überhaupt nix."
"Ich weiß, wie sich das anhören muss. Und ich vermute, ihr werdet mir nicht glauben. Aber ich bin nicht Jessie, und ich bin keine vierzehn Jahre alt. Mein richtiger Name ist Matthias."
"Peter, er hat bestimmt eine Gehirnerschütterung oder so! Lasst uns nach Hause gehen!", rief Annie panisch und sah mich entgeistert und besorgt zugleich an.
"Ich hab' keine Gehirnerschütterung, und ich bin auch nicht betrunken. Bitte, hört mir einfach nur zu. " Ich wartete, bis ich wieder ihre volle Aufmerksamkeit hatte.
"Dieser Matthias, der ich mal war, wurde im Jahr 1915 in Köln geboren. Ich bin dort aufgewachsen, habe dort als Soldat gekämpft, und bin dort gestorben. Deswegen kannte ich damals das deutsche Lied, und deswegen habe ich alles verstanden.
Und das war der Grund für meine Halluzinationen.
Einen Tag vor meinem Tod- und das war es, wovon ich gerade geträumt habe, woran du mich wieder erinnert hast, Annie- habe ich meiner Freundin, Susannah, ein Versprechen gegeben. Und zwar, dass ich alles tun würde, um zu ihr zurückzukommen. Ich glaube, nur deswegen bin ich noch hier. Deswegen sterbe ich nicht. Damit ich sie wiedersehen kann."
"Jessie... Wenn du uns mal wieder verarschst, dann ist es diesmal nicht wirklich lustig", sagte Annie.
"Na ja, wenn ich einer von euch wäre, würde ich mir auch nicht glauben. Ich weiß, wie sich das für euch anhören muss, und ich kann nicht von euch erwarten, dass ihr mir glaubt. " Ich überlegte. "Wenn ich es irgendwie beweisen könnte..."
Die beiden sahen sich an, als würden sie sich in Gedanken absprechen, ob sie mir nun glauben sollten oder nicht. Peter sah noch immer ein wenig angetrunken aus, doch Annies Blick war klar, und man konnte sehen, wie sie mit ihren Gedanken kämpfte- Sie wollte mir glauben, doch es fiel ihr sichtlich schwer.
"Du bist also vor... vor siebzig Jahren gestorben, und jetzt wieder hier, um deine Freundin zu finden. Müsste die nicht inzwischen uralt sein? Wenn sie überhaupt noch lebt."
Mein Herz zog sich zusammen und meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich spürte, wie Tränen in meinen Augen aufzusteigen drohten, doch ich versuchte, die Trauer herunterzuschlucken. Natürlich würde Susannah alt sein. Aber sie war nicht tot. Das wusste ich.
"Sie... Sie ist jetzt fünfundneunzig." Es fiel mir schwer, das auszusprechen. Solange ich darüber schwieg, war der Gedanke nicht so präsent, doch jetzt konnte ich es nicht mehr verdrängen- würde ich Susannah wiederfinden, dann als uralte Frau.
"Und woher weißt du, ob sie noch lebt?", fragte Peter.
"Das spüre ich."
Beide nickten.
"Jessie, ich weiß nicht... Wenn das ein Scherz ist, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt, es zuzugeben. Sonst bin ich wirklich enttäuscht von dir."
"Annie, ich schwöre auf alles, was ich habe, auf das Leben meiner Eltern, auf euer Leben. Auf meins kann ich schlecht schwören, ich werde ja sowieso wiedergeboren." Ich musste grinsen, doch die Gesichter meiner Freunde blieben ernst. "Wenn ich lüge, dann soll mich eine Rotte tollwütiger Wildschweine überrennen."
"In Ordnung. Ich versuche, dir zu glauben. Ich möchte dir unbedingt glauben, weil ich dich mag, Jessie. Aber du verstehst, dass das echt verdammt schwer ist, oder?"
"Natürlich verstehe ich das."
"Ich schätze, ich glaube dir auch. Weil du mein bester Freund bist", sagte Peter. "Oh Mann, was für eine Geschichte."
"Danke. Wirklich. Ich weiß, dass das bescheuert klingt. Ich finde es nach all der Zeit immer noch schwierig, zu glauben. "
Die Sonne war inzwischen untergegangen, und über das Gespräch hatten wir unseren Plan, Tiere zu fotografieren, völlig in den Hintergrund gedrängt.
Wir übernachteten auf der Brücke, vor allem deshalb, da niemand von uns Lust hatte, den doch recht weiten Weg nach Hause im Stockdunkeln zurückzulegen. Annie hatte zwar zunächst darauf beharrt, dass wir zurückgehen sollten, falls ich mir bei meinem Sturz doch etwas Schlimmeres zugezogen haben sollte, doch ich versicherte ihr, dass es mir gut ging.
Die Flasche Schnaps blieb die ganze Nacht dort, wo Peter sie abgestellt hatte, und ich spürte deutlich, dass eine seltsam angespannte Stimmung herrschte, die nicht nur von mir ausging. Wir unterhielten uns normal miteinander, aber niemand machte irgendwelche Scherze oder erzählte lustige Geschichten, wie es sonst üblich war, und schließlich legten wir uns, vermutlich gegen zwei, drei Uhr, zum Schlafen hin.
Stundenlang sitze ich nun mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Boden und starre in den Himmel, der von leuchtenden Sternen gesprenkelt ist, und schreibe diese merkwürdigen Ereignisse des heutigen Tages auf, denn Schlaf kann ich nun ohnehin nicht finden.
Ist Susannah bereits dort oben, zwischen all diesen Sternen? Immer wieder atme ich die Luft ein und versuche, in mich hineinzuspüren, meine Gedanken und mein Herz nach ihr zu durchsuchen, und ich spüre fest, dass sie noch irgendwo unter diesen Sternen existiert. Vielleicht sitzt sie gerade irgendwo und blickt ebenso in den Himmel, sieht sich die gleichen Sterne an wie ich in diesem Moment.
Ich darf keine Zeit mehr verlieren. Ich muss sie finden.


26. 05. 2010

Kaum kroch das rote Licht der aufgehenden Sonne am Horizont empor, machten wir uns auf den Rückweg. Wir sprachen zuerst nichts, und aus den Augenwinkeln sah ich immer wieder, wie Annie mich skeptisch ansah, als erwartete sie , dass ich mich lachend umdrehte und "April, April!" schrie.
"Habt ihr gut geschlafen?", fragte ich irgendwann, um die drückende, unangenehme Stille zu durchbrechen.
"Na ja, es hat einige Zeit gedauert", murmelte Peter, "und mein Kopf tut weh."
"Du hast ja auch ordentlich was von der Pulle weggehauen". Ich zwang mich zu einem Grinsen. "Kein Wunder."
"Ich habe nicht viel geschlafen", sagte Annie, "ich... " Sie brach ab, doch ich wusste, was sie sagen wollte. Ich sah, wie verwirrt, wie wütend sie auf sich selbst war, dass sie mir nicht mit völliger Sicherheit glauben konnte.
"Und du?"
Ich schüttelte den Kopf. "Ich werde mich gleich sofort an den Computer setzen und nach allem suchen, was mir etwas über..."
"...Über Susannah sagen könnte. Möchtest du, dass wir dir helfen?", fragte Peter, und ich sah ihn überrascht an. Er hatte die ganze Zeit noch viel weniger gesprochen als Annie, und ich war überzeugt gewesen, dass er mir nicht geglaubt und sich auch nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht hatte, sondern damit beschäftigt war, gegen seinen Kater anzukämpfen, doch jetzt sah ich in seinem Blick eine Ernsthaftigkeit, die ich bei ihm noch nie zuvor wahrgenommen hatte.
"Ja, wenn ihr wollt. Natürlich."
Als wir schließlich bei mir zuhause ankamen, schlichen wir uns leise herein um meine Eltern nicht zu wecken, doch als ich spähte lautlos in die Küche spähte, saßen die bereits am Frühstückstisch.
"Peter, hast du die Flasche versteckt?", wisperte ich, woraufhin er nickte und auf seinen Rucksack zeigte.
"Guten Morgen, wir sind wieder da!", rief ich und ging hinein, gefolgt von meinen Freunden.
"Na, ihr Nachteulen?", lachte mein Vater, "und, habt ihr gute Fotos gemacht? Lass mal sehen."
Ich erstarrte.
"Wir haben kein einziges Tier gesehen!", sagte Annie sofort, "richtig schade. Nur einmal ist ein Reh vorbei, aber..."
"... Das war viel zu schnell, als dass ich ein Foto hätte machen können."
"Na, sowas. Dann war eure Tour ja umsonst. Na ja, wahrscheinlich haben die Tiere euch gerochen und sind dann absichtlich fern geblieben."
"Dann hätte ich doch besser mal duschen sollen, was?", scherzte ich. "Können wir uns ein paar Brote mit in mein Zimmer nehmen? Wir müssen noch... Wir müssen im Internet was für die Schule suchen."
"Natürlich. Bedient euch."
Schnell schmierten wir uns Brote, kippten uns etwas Kaffee in eine Kanne und eilten dann sofort in mein Zimmer.
Auf der Treppe machte ich noch einmal Halt und blickte zurück in die Richtung meiner Eltern, mit einem plötzlichen, schmerzenden Stich. Ich würde ihnen früher oder später sagen müssen, oder zu sagen versuchen, wer ich war, und dass mir endlich klar geworden war, was mit mir schon als Kind nicht gestimmt hatte. Denn in meinem Inneren wusste ich, dass ich nicht mehr viel Zeit mit ihnen verbringen würde.

"Jessie?" Annies Stimme riss mich aus meinen Gedanken, und ich schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zunächst zu verdrängen, doch die Gesichter meiner beiden Freunde sagten mir, dass sie genau wussten, woran ich dachte.
Ich folgte ihnen in mein Zimmer, schloss die Tür und fuhr den Computer hoch, während Annie und Peter sich, mit Broten und Kaffee ausgestattet, auf dem Boden niederließen. Beiläufig nahm ich ebenfalls ein Brot und biss gedankenverloren hinein; ich hatte keinen Appetit, doch es schien, als würde das Essen mich zumindest ein wenig von meinen aufgebracht umherwirbelnden Gedanken ablenken.
Ich klickte mich ins Internet, öffnete eine Suchmaschine und starrte dann auf den Bildschirm. Was sollte ich am besten eingeben, um möglichst schnell ein Ergebnis zu finden?
S-u-s-a-n-n-a-h W-i-n-ter
"Na toll", zischte ich genervt, "viermillionen und sechzigtausend Eregbnisse."
"Klick' mal auf Bilder", schlug Peter vor, ich dankte ihm im Stillen für diesen Einfall
und folgte seinem Rat.
Es erschienen unzählige Bilder von Frauen in allen Altersklassen, Formen und Farben, doch keine sah Susannah auch nur ansatzweise ähnlich. Ich ließ meinen Blick prüfend über jede Reihe schweifen, über manche sogar zweimal, um sicherzugehen, und scrollte langsam nach unten. Immer weiter. Am Rande bemerkte ich, wie sich Annie und Peter neben mich gestellt hatten und den Bildschirm ebenfalls mit neugierigen Blicken fixierten.
"Susannah hat rote Haare", beschrieb ich, damit sie mir bei meiner Suche auch tatsächlich behilflich sein konnten, "gelockte, feuerrote Haare, und blaue Augen."
"So wie auf deinen Zeichnungen."
"Genau."
Ich scrollte so weit herunter, bis schließlich nur noch Bilder angezeigt wurden, die so wenig mit Susannah zu tun hatten wie ein Hund mit einem Fernseher- Landschaftsbilder, Tiere, kleine Kinder, Gebäude.
"Ich will dir nicht zu nahe treten, aber jetzt hat sie wahrscheinlich keine roten Haare mehr, oder?", murmelte Annie vorsichtig, und ich nickte. "Ich hatte gehofft, es wäre vielleicht ein altes Bild von ihr drin."
Beschämt musste ich mir eingestehen, dass ich nicht auf die Bilder älterer Frauen geachtet, sondern tatsächlich nur nach der Susannah, wie ich sie kannte, Ausschau gehalten hatte- eine hübsche, junge Frau mit leuchtend rotem Haar und ohne Falten in ihrem schönen Gesicht.
"Allerdings hab' ich auch kein Bild von einer alten Frau gesehen."
Wir suchten noch bestimmt eineinhalb Stunden, fügten verschiedene Jahreszahlen mit ein, klickten diverse Bilder an, die in Frage kommen könnten, doch keins davon zeigte oder gab auch nur den kleinsten Hinweis auf Susannah.
"Ich glaube nicht, dass wir noch etwas finden", merkte Peter an, und ich spürte, wie Wut in mir aufstieg.
"So einfach mach' ich es mir nicht", zischte ich, "irgendwas muss da doch sein."
Ich scrollte, tippte und klickte weiter, und plötzlich...
Mein Atem stockte. Ich riss die Augen auf und starrte wie gelähmt auf den Bildschirm.
Es war nur ein winziges, unscheinbares Bild, schwarz-weiß und bereits sehr verwaschen, doch ich erkannte es ganz genau. Ein Junge, nicht älter als sechzehn, mit dunklem Haar und dem leichten Ansatz eines Grinsens auf dem Gesicht, der verzweifelt versuchte, nicht in lautem Gelächter auszubrechen.
Es war der Tag der Klassenfotos gewesen, gerade zu Beginn des neuen und letzten Schuljahres, und während ich mit meinem Einzelfoto an der Reihe war, hatte einer meiner Klassenkameraden hinter dem Rücken des Fotografen getanzt und Grimassen geschnitten.
Das musste im Sommer 1931 gewesen sein, einige Jahre vor Beginn des Krieges, und einige Jahre vor meinem Tod. Ich hob meine zitternde Hand, streckte den Zeigefinger aus und tippte ungläubig auf den Bildschirm, wie jemand, der noch nie zuvor einen Computer gesehen hat und verzweifelt versucht, die darin gefangenen Männchen zu befreien.
"Das bin ich."
Die beiden schwiegen. Ich starrte das Bild an. Zitternd bewegte ich die Maus, klickte auf das Bild, und eine Seite öffnete sich. Die Seite meiner damaligen Schule.
"Unsere Schule früher und heute" war die Überschrift, und darunter waren unzählige Schwarz-Weiß-Bilder angebracht, einige mit einem Text versehen. Meine Augen wanderten von Bild zu Bild, und ich merkte, wie sich eine Gänsehaut auf meinen Unterarmen bildete, während ich das Gebäude betrachtete, wo ich vor so langer Zeit täglich ein- und ausgegangen war. Es waren Bilder von dem Schulhof, von den Räumlichkeiten, Klassenfotos, und schließlich auch Fotos von einzelnen Schülern.
"Da muss sie doch dabeisein", wisperte ich und reckte den Hals, bis mein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von dem Bildschirm entfernt war. Am Rande merkte ich, dass ich meinen Atem angehalten hatte, während ich langsam weiterscrollte und jedes Bild genau musterte, obwohl ich wusste, dass ich nicht übersehen hätte, wenn Susannah auf einem der Bilder zu erkennen gewesen wäre.
Dann sah ich sie.
Ich wollte daraufzeigen, wollte etwas sagen, doch meine Hände rührten sich nicht, und aus meinem Hals drang nur ein heiseres Krächzen, während sich meine Augen mit Tränen füllten und das Bild sofort verschwamm. Mit lautem Schluchzen sackte ich zu Boden, die Hände ballten sich zu Fäusten und ich zitterte am ganzen Körper, während ein Fluss aus Tränen an meinem Gesicht herabströmte.
Dort war sie, jung, schön wie sie gewesen war, dieses leichte, warme Lächeln auf den Lippen, und das freche Funkeln in den strahlenden Augen. Ich sah das leuchtende Blau und das feurige Rot in ihrem Haar vor mir, fügte sie im Geiste dem farblosen Bild hinzu, und wollte aufstehen, um es zu betrachten, aber meine Füße wollten sich nicht rühren. Ich lag einfach auf dem Boden, zitternd, wimmernd wie ein kleines Kind, und es war mir egal, dass Annie und Peter mich so sahen. Es war mir auch egal, ob sie meine Geschichte glaubten, ob sie mich für verrückt hielten- denn ich war meinem Ziel einen erheblichen Schritt näher gekommen.
Eine warme Hand legte sich sanft auf meine Schulter, und ich hörte, wie Annie einatmete, um zum Sprechen anzuheben. Dann folgten allerdings noch einige Herzschläge Pause, und ich glaubte zu merken, wie sie sich noch einmal zu Peter herumdrehte. Schließlich flüsterte sie: "Du hast recht. Das ist das Mädchen auf deinen Zeichnungen."
Ich nickte nur.
Annies Hand löste sich von meiner Schulter, sie stand auf, und dann hörte ich ein Klicken und die Geräusche eines arbeitenden Computers.
"Ich drucke sie mal aus. Ihr Bild und das von dir. Wo war es... Da!"
"Ich glaube es nicht", murmelte Peter, "ich... ich meine, schon, aber... Aber das kann doch nicht..."
Noch immer zitternd sog ich die Luft ein, unterdrückte ein weiteres Schluchzen und hievte mich mit einem angestrengten Knurren auf die Beine, während ich mich gedanklich darauf vorbereitete, Susannahs Bild wieder zu sehen. Atmen, befahl ich mir im Stillen, ruhig bleiben.
Ich biss die Zähne zusammen und öffnete die Augen. Da war es. Ihr Gesicht. Ihre Augen sahen in die Kamera, als würden sie mich ansehen. Sechzehn musste sie damals gewesen sein, ein Jahr, bevor ich sie kennengelernt hatte. Sie war so jung... Und ich war, ich bin, zwei Jahre jünger als sie auf diesem Bild.

Susannah Winter, Klasse 8a, Mai 1931. Ihre Lieblingsfächer waren Mathe und Religion.

Das stand darunter. Nur ein Satz- dabei hätte es so viel gegeben, was man über sie hätte schreiben können, so unendlich viel. Andererseits...
"Woher kennen die ihre Lieblingsfächer?", murmelte ich mehr zu mir selbst als zu den anderen, "das muss doch bedeuten... Sie müssen mit ihr gesprochen haben. Woher sollen die das sonst wissen?"
"Wie lange gibt es die Webseite?"
"Das ist doch egal", entgegnete ich, "von wann ist der Beitrag? Mal schauen..."
Ich scrollte ganz hinunter, bis zum letzten Bild, und tatsächlich standen dort die winzigen Zahlen in der Ecke : 06. 04. 2009.
"Das heißt, sie haben diese Information und das Bild wahrscheinlich auch letztes Jahr bekommen."
"Und du denkst, dass sie die von ihr persönlich bekommen haben."
"Na ja, woher sonst?"
"Das Bild könnte noch in der Schule irgendwo gewesen sein."
"Und ihre Lieblingsfächer waren dort aufs Klo gekritzelt, oder wie?" Ich fuhr herum und merkte, wie sich meine Hände zu Fäusten ballten. "Hallo, ich heiße Susannah Winter, und meine Lieblingsfächer sind..."
"Schon gut, Jessie", entgegnete Peter, "ich wollte nur... "
"Was?"
Er seufzte. "Nichts. Schon gut."
Wortlos drehte ich mich wieder herum und schaute auf das Bild.
"Sie war schön", sagte Annie und lächelte, "wirklich schön."
Ihre Stimme war zaghaft, und es schwang ein merkwürdiger, wenn auch kaum wahrnehmbarer Ausdruck in ihren Worten mit, den ich nicht richtig deuten konnte. Es klang fast wie Melancholie, oder eine seltsame Art von Sehnsucht, und ich sah aus dem Augenwinkel, wie sie mir einen kurzen Seitenblick zuwarf.
Ich konnte nun schlecht sagen, dass Susannah das schönste Mädchen war, das ich je kennengelernt hatte, oder? Also warf ich ihr ein kurzes Grinsen zu und sagte: "Keine Sorge, Annie, das beste Foto-Modell bist immer noch du."
Dann widmete ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Computer und klickte mich durch die Webseite der Schule. Dort musste doch irgendwo...
"Da! Kontakt! Leute, kann mir jemand das Telefon holen?"
Die beiden sahen sich an.
"Du willst da anrufen?"
"Klar."
"Nach Deutschland telefonieren? Das wird teuer."
"Teuer?", entgegnete Annie, "die Frage ist eher, was willst du sagen? Davon abgesehen sprichst du kein Deutsch."
"Die können doch bestimmt Englisch", warf Peter ein, und ich musste lachen.
"Natürlich kann ich deutsch. Ich hab' fünfundzwanzig Jahre dort gelebt, Freunde. Und ein paar Monate als Hund."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 04.06.2016

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