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Prolog

 

 

 

 

Blitzartig schoss die pechschwarze Silhouette durch die von blassem Mondlicht erhellten Gassen und verschmolz hin und wieder mit den langen Schatten, die von breiten Mauern auf den grauen Asphalt geworfen wurden. Geschmeidig und mit der Eleganz einer Raubkatze presste sich die Gestalt an die blutrot funkelnden Backsteinwände, rannte wie eine Eidechse an ihnen hinauf und überquerte sie mühelos, bis sich plötzlich eine weitere Gestalt aus den Schatten löste und die erste zu verfolgen begann.

Geräuschvolle Schritte durchschnitten die nächtliche Stille wie eine scharfe Klinge, als sich beide schnell und mit zackigen Bewegungen durch die Schatten glitten. Immer wieder änderten sie ihre Richtungen, verschwanden irgendwo inmitten der Dunkelheit und tauchten nach einiger Zeit wieder auf, als seien sie niemals verschwunden gewesen. Einige Male vermochte man nicht zu erkennen, wer der Jäger und wer der Gejagte war, bis eine der Gestalten vor einer hoch in den Himmel ragenden Mauer zum Stehen kam. Panisch legte sie den Kopf in den Nacken und blickte hinauf, als könne sie nur schwer die so weit über ihr liegende Kante der Mauer erkennen, und fuhr dann hektisch herum. Ihr Verfolger rannte mit der Geschwindigkeit eines Geparden auf sie zu, seine Schritte schienen von Siegessicherheit zu zeugen und er verlangsamte sein Tempo, als wüsste er, dass seine Beute nun ohnehin keine Chance zu entkommen hätte. Diese jedoch warf einen kurzen Blick zu Boden, trat dann dicht an die Mauer heran und begann, sich mit vor Aufregung zitterndem Körper hinaufzuarbeiten.

Mühelos krallte sie sich in den winzigen, scheinbar nur haaresbreiten Spalten zwischen den rötlichen Steinen fest und zog sich mit gewaltiger, von der mit jedem Herzschlag wachsenden Angst verliehener Kraft hinauf, ihre Hände führten jede Bewegung flüssig aus und ihre Füße trafen jeden winzigsten, zentimeterdicken Vorsprung mit einer derartigen Präzision, dass es an eine problemlos an einer Wand hinaufkrabbelnde Spinne erinnerte.

Der Verfolger blickte in den Himmel und tat einen Schritt auf die Wand zu, als wäre er ebenfalls im Begriff, diese hinaufzuklettern, schüttelte dann jedoch mit unverkennbarer Enttäuschung den Kopf. Er stieß ein scharfes, von Wut durchschnittenes Zischen aus, fuhr dann herum und rannte davon, hinein in die tiefe Dunkelheit.

"Wieso ist er entwischt?"

Die von Wut mit der Schärfe eines funkelnden Messers durchzogene Stimme durchstach die Stille.

"Ich bin über jede Mauer gesprungen, und ich hatte ihn fast eingeholt, aber..."

"Wieso ist er dann entwischt?!"

"Es war unmöglich! Er ist eine glatte Mauer einfach hochgeklettert, als wäre es eine Leiter! Ich dachte, ich hätte es mit einer Spinne zu tun, es war... "

Die erste Stimme sprach erneut: "Ich kann es mir vorstellen."

Einige Augenblicke kehrte Schweigen ein, ein eisiges Zögern, dass die sternenklare Nacht einfrieren zu wollen schien, dann ein höhnisches Lachen: "Dann wissen wir also, womit wir es zu tun haben".

 

Der Bonebreaker

 

Wie dichter, von winzigen Schneeflocken durchdrungener Nebel lag die schwere Wolke weißen Staubs über dem Raum und raubte den an Felsstrukturen erinnernden Klötzen, die sich in allen Farben über die in verschiedensten Winkeln aneinandergeschmiegten Wände zogen, ihre Leuchtkraft.

Geräuschvolle Rufe, manche voller Freude, manche frustriert, hallten an den von schwarzen Striemen überzogenen Wänden wieder und ein leicht unangenehmer Geruch lag in der stickigen Luft, die nur hin und wieder von durch einen schmalen Schlitz in der Tür dringendem Wind erfrischt wurde.

"Alléz, das schaffst du!", ertönte ein lauter Schrei, auf welchen ein weiterer folgte: "Ja, komm, sauber."

In den dunkelbraunen Augen des Mädchens funkelte Entschlossenheit, pechschwarzes Haar fiel ihr in wilden Strähnen in das verbissene Gesicht und ihre von weißem Staub bedeckten Hände zitterten, als sie sich krampfhaft an dem tiefroten Griff festzuhalten suchte. Wenige Meter unter ihr ruhten die angespannten Blicke ihrer Zuschauer auf ihr, während sie sich langsam an der leicht überhängenden Wand hinaufarbeitete und ihre Hand vorsichtig nach oben gleiten ließ, dem nächsten Griff entgegen.

"Mach' langsam!" Aus der Menge erhob sich eine Gestalt und rannte mit ausgestreckten Armen auf die Stelle zu, wo das Mädchen zweifellos landen würde, lockerte sie nun ihren Griff um die breite, rote Kugel.

"Ich spotte dich, Isa, keine Angst!"

"Ist der nächste gut?", rief das Mädchen an der Wand daraufhin.

"Nein, pass auf, das ist ein verdammter Sloper!"

Isa zischte etwas Unverständliches, ehe sie die über ihr hängende, riesenhafte Kugel mit scharfem Blick fixierte und mit einer raschen Handbewegung danach griff.

"JA!"

Es schien zunächst, als drohten ihre Finger den Halt zu verlieren, doch dann lehnte sie sich mit einer derartigen Belastung gegen den Griff, dass ihr Körper beinahe waagerecht in der Luft hing und ihr Arm völlig ausgestreckt war, sodass das Abrutschen beinahe unmöglich schien.

"Schön!", rief die unter ihr stehende Person, "und jetzt schieb' dich ganz vorsichtig nach links, stütze dich mit der linken Hand an der Wand ab..."

Sie brach ab, als Isa kurz einen undefinierbaren Punkt zu ihrer Linken anpeilte, Schwung zu nehmen schien und wie eine hervorschießende Kobra zur Seite sprang, die Kante der dort aufragenden Wand sicher greifend, ehe sie sich mühelos hinaufzog.

"So viel zum Thema "vorsichtig nach links schieben", murmelte die Gestalt, welche soeben noch unter ihr gestanden hatte, um ihre Landung im Falle eines Sturzes zu dämpfen. Sie wandte den Blick der steilen, hoch über ihr aufragenden Wand zu, und ihre hellblauen Augen ruhten auf dem vollmondähnlichen, dunkelroten Griff, der auf der weiß-gräulichen Wand an ein riesenhaftes Geschwür erinnerte.

"Wer denkt sich so etwas aus?" Sie fuhr sich mit der von weißem Pulver bedeckten Hand durch das kurze, strohblonde Haar, als wolle sie ihr recht langes Pony möglichst weit aus ihrem Gesicht fernhalten.

"Hast du den beim ersten Versuch geschafft, Tassy?", ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihr, sie drehte sich herum und blickte in Isas neugierige Augen, als diese plötzlich unmittelbar hinter ihr stand. "Wie bist du... Warst du nicht vor einer Sekunde noch da oben?" Sie wies mit einem knappen Nicken auf die sich über ihr erstreckende Wand, schüttelte dann jedoch den Kopf.

"Egal. Ja, ich hab' ihn beim ersten Versuch geschafft."

"Geflasht!", sagte Isa und schenkte Tassy ein breites Grinsen, wodurch sie an ein Grundschulkind erinnerte, das gerade eine schwierige Frage korrekt beantwortet hatte.

"Genau", antwortete diese mit einem belustigten Funkeln in den Augen. Unwillkürlich machten sich die Bilder des Tages, an denen Isa zum ersten Mal jene Boulderhalle besucht hatte, in ihrem Gedächtnis breit, und sie erinnerte sich mit einem Anflug von Bewunderung an die scheinbar unerschütterliche Energie sowie den Ehrgeiz des Mädchens. Vor welche Aufgabe man sie auch stellte, sie setzte stets alles daran, sie möglichst perfekt auszuführen, und obgleich Isa nicht so hochgewachsen war wie einige andere Kletterer, konnte sie dennoch problemlos mit den meisten von ihnen mithalten.

"Also, da wir den Roten ja alle geschafft haben- was machen wir jetzt?"

"Wir könnten..." hob Isa zu Sprechen an, doch eine aufgebrachte Stimme, welche mit einem Mal hinter Tassy ertönte, unterbrach sie: "Leute, ich glaube, sie wissen, dass wir hier sind!"

Kaum waren jene Worte an ihre Ohren gedrungen, verspürte Tassy eine Woge des Unbehagens in sich aufsteigen, bevor sie die in der trüben Wolke weißen Staubs nur als Silhouette erkennbare Gestalt eines Jungen ausmachen konnte, der sich mit unruhigen Schritten näherte.

"Was ist passiert, Nick?" vernahm sie die vorsichtige Stimme Isas, die an den Jungen herantrat, bei dem ernsten Ausdruck in seinem Blick jedoch prompt zum Stehen kam.

"Sie haben mich gestern verfolgt, fast bis hierher, und ich glaube, sie wissen jetzt, dass wir immer hierherkommen!", stieß Nick hervor und versuchte sichtlich, seine Aufregung zu verbergen. "Irgendeiner von ihnen hat mich gejagt wie ein Irrer, ist über alle Mauern gesprungen... Nur durch Klettern konnte ich ihn abhängen."

"Oh nein..."

Tassy sah den sorgenvollen Ausdruck in Isas geweiteten, dunklen Augen, als diese herumfuhr und schnellen Schrittes auf sie zueilte, woraufhin Nick sich schwerfällig auf die staubige Matte sinken ließ. "Was machen wir jetzt?"

Zögernd, die sich in einem einzigen Herzschlag vor ihrem inneren Auge auftuenden Bilder der Zukunft zu verarbeiten suchend antwortete Tassy: "Ich... Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie uns bis in die Halle verfolgen werden, aber... Zumindest bis vor die Tür. Diesen Vollpfosten traue ich wirklich alles zu."

"Die können uns nicht leiden! Und wir haben ihnen nicht einmal etwas getan!"

Isa ballte die Fäuste, als wolle sie ihre Erscheinung möglichst gefährlich wirken lassen sowie ihre Kampfbereitschaft zum Ausdruck bringen, und der angriffslustige Schleier, der über ihren dunklen Augen lag, unterstrich ihre Wut.

"Na ja, wir haben ihnen ihr Revier gestohlen", fügte Nick schließlich keuchend hinzu, woraufhin Tassy entgegnete: "Aber nur, um hierher zu kommen! Ich verstehe gar nicht, was die für ein Problem mit uns haben."

"Wie hat das alles eigentlich angefangen?", erkundigte sich Isa, und das aufgeregte Funkeln in ihrem Blick wich Neugier, "so lange bin ich ja noch nicht dabei."

"Wir kommen eigentlich hierher, seitdem die Halle eröffnet wurde. Irgendwann ist uns dann aufgefallen, dass sich hier in der Gegend so eine... na ja... Gruppe herumtreibt", erklärte Nick, woraufhin Tassy einwarf: "Eine Gruppe, die überall, wo sie ist, Unruhe stiftet. Einmal haben wir sie daran gehindert, diesem dicken Jungen, der manchmal hier rumspaziert, sein Geld zu klauen, und seitdem haben sie es ständig auf uns abgesehen."

Sie zögerte und warf einen flüchtigen Blick auf die gläserne, das in allen Farben erstrahlende Licht von an den Decken befestigten Scheinwerfen nur schwach reflektierende Eingangstür, als glaubte sie, jeden Augenblick würde ein Angreifer mit lautem Schrei durch diese hindurchbrechen.

Gerade war sie im Begriff, diesen unwirklich scheinenden Gedanken zu verwerfen, merkte dann jedoch mit einem leisen Anflug des Entsetzens, dass die Möglichkeit eines solchen Ereignisses gar nicht so weit entfernt war, wie sie es vor wenigen Minuten noch geglaubt hätte. Die Nibos- so wurde jene Gruppe von ihnen genannt, wobei sie diesen Namen als Abkürzung für "Nicht-Boulderer" nutzten- hatten bisher jede Möglichkeit genutzt, die Boulderer aus dieser Gegend zu vertreiben- durch seltsame Nachrichten, die sie ohne jegliche künstlerische Begabung -wie Tassy zu beurteilen wusste- an eine der alten Backsteinwände gesprüht hatten, durch Drohungen oder durch misslungene Fallen, wo sie vergeblich versucht hatten, einen der Boulderer zu schnappen.

Bisher jedoch waren sie nie so nah an sie herangekommen, und sie hatten seltsamerweise nie von der Existenz dieser Halle gewusst. Womöglich würde sich von nun an einiges ändern, und irgendetwas sagte Tassy, dass dieses Ereignis die Sicherheit ihrer Gruppe sowie die der Halle gefährden könnte.

"Wir sollten Kat und Lilly bescheid sagen", murmelte sie mehr an sich selbst gewandt und dachte an die überraschten Ausdrücke in den Gesichtern ihrer Freundinnen, wenn sie von jener Nachricht erführen. Tassy, Kathrin und Elisa, die bei den meisten jedoch bloß als Lilly bekannt war, hatten sich schon einige Jahre vor der Eröffnung dieser Halle kennengelernt- obgleich Tassy zu Beginn ihrer Bekanntschaft von Elisas übertriebenem Selbstvertrauen sowie einem Funken Arroganz nicht besonders angetan gewesen war , stellten sie nun ein scheinbar untrennbares Dreiergespann dar.

"Wo sind die beiden überhaupt schon wieder?", riss Isa sie aus ihren Gedanken.

"Keine Ahnung. Ist mir momentan auch egal. Wir sollten ihnen aber spätestens morgen bescheid sagen." Sie zögerte und schüttelte dann den Kopf. "Ich glaube, die nächste Zeit wird spannend."

 

Leichtfüßig und sich nach scheinbar jedem Herzschlag vorsichtig umblickend schlich Tassy über die schmalen Mauern, die vom wie feiner Staub zu Boden rieselnden Regen glatt geschliffen wurden und ihr so das Gefühl gaben, jeden Augenblick auf dem roten Stein auszurutschen, um dann auf den harten Asphalt einige Meter unter ihr zu stürzen.

"Warum müssen wir den Weg nehmen?", wisperte Nick, der mit hörbar unsicheren Schritten hinter Tassy herschlich, gefolgt von Isa, deren Bewegungen über die dünnen Steinmauern deutlich präziser sowie von weniger Angst geprägt waren als die des Jungen.

"Weil diese Pis... 'Tschuldigung. Weil diese Blödmänner sich bestimmt dort unten herumtreiben."

"Das Dumme ist... Verdammt!", zischte Nick mit unwillkürlich erhobener Stimme, woraufhin Tassy blitzschnell herumfuhr und eine Flamme des Entsetzens in sich aufsteigen spürte. "Was?!"

"Nichts. Ich dachte, ich würde ausrutschen."

Nick grinste, wobei ein Anflug von Verlegenheit um seinen Mund spielte, und Tassy spürte sofort, wie ihr Entsetzen tiefer Erleichterung wich.

"Lappen", wisperte sie daraufhin und schenkte Nick ein amüsiertes Lächeln, woraufhin dieser mit gespielt genervtem Gesichtsausdruck die im Mondlicht silbern funkelnden Augen verdrehte.

"Das Dumme ist", begann er dann erneut, "dass sie jetzt scheinbar jemanden gefunden haben, der auch keine Probleme damit hat, über Mauern zu hüpfen. Soweit ich das beurteilen konnte, ist dieser Kerl nicht einfach irgendwie irgendwo drübergeklettert. Das sah stark nach Parkour aus."

"Aber er hat dich nicht bekommen", entgegnete Tassy und blickte über die Schulter zurück, als wolle sie sich vergewissern, Isa nicht verloren zu haben.

"Schon, aber nur, weil ich mich erstens oft versteckt habe, und zweitens bin ich ihm stellenweise davongeklettert. Bei weiten Sprüngen, Wallrun oder ähnlichem hatte er keine Probleme, mitzuhalten."

Daraufhin kehrte Stille ein, und Tassy hatte Mühe, die nur von fahlem Mondlicht beleuchteten Mauern, welche die niedrigen Dächer des riesigen alten Firmengeländes übersäten, auszumachen. Sie hatten noch einige Stunden in der Boulderhalle verbracht und jegliches Zeitgefühl verloren, doch da der Mond bereits seit einiger Zeit am Himmel stand, schätzte Tassy die Zeit auf etwa zehn Uhr. Für sie und Nick spielte dies keine Rolle- abgesehen davon, dass am nächsten Morgen keine Schule war, hatten sie beide gerade ihren fünfzehnten Geburtstag hinter sich und für ihre Eltern stellte es somit keinerlei Probleme dar, wenn sie an Wochenenden erst etwas später nach Hause kämen. Isa jedoch war beinahe vier Jahre jünger als Tassy, und obgleich sie behauptete, so spät nach Hause kommen zu dürfen, wie sie wolle, konnte Tassy sich nicht vorstellen, dass ihre Eltern ihr tatsächlich so lange fortzubleiben erlauben würden.

In ihre Gedanken versunken achtete sie kaum auf die bei jedem Schritt auf den maroden Backsteinmauern entstehenden Laute, doch plötzlich ertönte hinter ihr ein scharfes Zischen und sie spürte, wie ihr Unterarm mit festem Griff umklammert wurde.

"Pssst!", wisperte Isa und zog sie hinab, worauhin Tassy mit fragendem Gesichtsausdruck auf die Knie sank. "Was ist?", fragte sie, als Nick und Isa ihr mit hektischen Gesten bedeuteten, sich dicht an die über ihr aufragende Wand zu pressen, die sie von der sich tief unter ihnen erstreckenden Straße trennte.

"Da redet jemand. Und ich glaube, ich weiß auch, wer es ist", flüsterte Nick beinahe lautlos, und Isa verengte ihre dunklen Augen zu misstrauisch funkelnden Schlitzen.

"Sind das die Nibos?"

Tassy zögerte und tat leichtfüßig einen Schritt vorwärts, um über die Kante des hohen Gebäudes hinabblicken und die Sprechenden genau betrachten zu können. Die Gestalten waren dunkel gekleidet und drohten mit den alles verschluckenden Schatten der Nacht zu verschmelzen, doch ihre leicht nach vorne gebeugten sowie steifen Haltungen zeugten von einer Schwerfälligkeit, die sie selbst in einer dunklen Nacht unverkennbar machten.

"Ja", antwortete sie schließlich, presste sich erneut an die Mauer heran und fügte dann mit einem beinahe höhnischen Grinsen hinzu: "Und sie wissen nicht, dass wir hier sind. He, lasst uns irgendwas auf sie werfen!"

"Nein, sonst erwischen sie uns noch! Hast du eigentlich nur Blödsinn im Kopf?", flüsterte Nick, woraufhin Tassy den Kopf schüttelte- dann wenige Sekunden zögete und schließlich mit einem Lächeln nickte. "Ja. Und die kommen hier nicht rauf."

"Aber sie könnten uns sehen"

"Stimmt auch wieder."

Daraufhin kehrte Schweigen ein, und Tassy hielt mit dicht an die Wand gepresstem Körper den Atem an, um das auf der Straße Gesprochene verstehen zu können.

"Wie weit ist das denn?", grunzte ein Junge mit tiefer Stimme, woraufhin eine weitere folgte: "Sie meinte, es muss hier in der Nähe sein. Ich kann sie ja nochmal fragen, wo genau."

Daraufhin ertönte eine Stimme, die zwar sehr dunkel, jedoch eindeutig weiblich war: "Also, wir steigen einfach durchs Fenster ein und klauen Sachen, oder wie?"

"Ich hab aber kein Bock, durchs Fenster zu klettern!"

Keinen Bock, dachte Tassy nur, ehe sie den Worten weiterhin lauschte.

"...geht aber nicht anders. Und außerdem, wer in 'ne Kletterhallte einbricht, der muss auch klettern können." Das dumpfe Lachen, welches auf diese Worte folgte, ließ Tassy unwillkürlich die Fäuste ballen und sie spürte eine Woge des Entsetzens in sich aufsteigen, als sie mit geweiteten Augen zu ihren Begleitern herumfuhr. "Sie wollen in die Halle einbrechen!", zischte sie und sah, wie ihr Entsetzen auf Nick und Isa überzugehen schien. "Wie... Wie wollen sie das denn machen? Und wa..."

"Psst! Hört weiter zu". Sie brachte das Mädchen mit einer knappen Handgeste zum Schweigen und schloss die Augen, als könne sie so die gesprochenen Worte besser verstehen.

"Wann sollen wir das machen?"

"Keine Ahnung. Können wir ja noch überlegen. Aber am besten warten wir noch, weil die jetzt bestimmt mit was rechnen, weil wir ja gestern erst versucht haben, einen von denen zu fangen."

"Hast recht. Und was..."

Verdammt, dachte Tassy und senkte den Kopf, ihre Finger krallten sich wütend in die kalten, vom Dunst des Nebels mit einer hauchdünnen Schicht von Nässe überzogenen Steine, deren Kälte mit der Schärfe einer Klinge in ihre aufgeschürften Fingerspitzen drang. Sie mussten irgendwie herausfinden, wann die Nibos in die Halle einzubrechen planten, und sie würden dies zu verhindern versuchen müssen.

Langsam und noch immer dicht an die kühle Wand gepresst erhob sie sich, eilte lautlos auf die gegenüberliegende Seite des Gebäudes und suchte mit den Augen die Umgebung nach dem grünlich schimmernden, vom matten Schein einer Lampe erhellten Eingangsschild der Boulderhalle ab.

"Bone-Breaker", las sie mit einem leisen Lächeln auf den Lippen und drehte sich langsam um, als sie näherkommende Schritte hinter sich vernahm.

"Hoffentlich werden sie dadurch abgeschreckt." Nick trat neben sie, gefolgt von Isa, und richtete seinen Blick ebenfalls auf das unauffällig grüne Schild. "Wenn sie überhaupt lesen können."

"Ja, wir sollten ein Schild hinhängen mit "hier sind nur Leute erlaubt, die das Schild lesen können."

"Das hast du aber nicht...", begann Tassy und versuchte, ruhig einzuatmen, um nicht in geräuschvollem Gelächter auszubrechen. "Hast du das gerade ernst gemeint?"

"Was?"

"Das mit dem Schild."

Isa nickte.

"Isa." Tassy blickte zu Boden, ehe sie weitersprach. "Wenn man ein Schild nicht lesen kann... Ach, verdammt. Das hat gerade einfach gar keinen Sinn gemacht."

Isa verzog plötzlich das Gesicht, konnte ein lautes Lachen nicht zurückhalten und vergrub ihren Kopf in den Händen, während Tassys verwirrter Blick auf ihr ruhte. Sie schien etwas antworten zu wollen, brach jedoch bei jedem Versuch zu sprechen ab und lehnte sich mit vor Belustigung verzerrtem Gesicht gegen die Wand.

"Das war jetzt wirklich richtig sinnvoll, Isa", bemerkte Nick mit unverkennbarer Ironie in der Stimme und brachte seinerseits ein leises Lächeln zustande- kaum wahrnehmbar und nur einen Sekundenbruchteil anhaltend, aber dennoch eindeutig vorhanden. Tassy fuhr sich mit der Hand durch das blonde Haar, das nunmehr vom sich wie eine schwere Decke über die Stadt gelegten Nebel benetzt war, und verlor die Belustigung, die sie soeben noch erfüllt hatte, an einen neuen Anflug von Enttäuschung. Wie sollten sie die Boulderhalle vor diesen Unruhestiftern beschützen, ohne irgendeine Information über sie sowie ihr Vorhaben zu haben?

Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, sagte Isa mit wiederkehrendem Ernst in der Stimme: "Wir kriegen diese blöden Affenköpfe schon davon abgehalten, in unsere Halle einzubrechen. Im Notfall müssen wir eben die ganze Zeit Wache halten!"

"Wir werden morgen jemandem bescheid sagen. Vielleicht gibt es dort ja schon Überwachungskameras, oder sowas. Irgendwie werden wir es schon verhindern können. Hoffentlich."

Sie richtete ihren Blick auf einen undefinierbaren Punkt in der von den schwach durch den Nebel dringenden Lichtern der Stadt erhellten Ferne und wiederholte jenes letzte Wort im Stillen mehrmals. Hoffentlich.

 

Kat und Lilly

 

Das ohrenbetäubende Pochen durchschnitt die Luft und hallte an den sterilen Wänden, die selbst neben einem unbemalten Stück Papier eine triste, öde Farblosigkeit ausgestrahlt hätten, wieder, als die Hand heftig gegen die hölzerne, weiße Tür schlug.

Einige Augenblicke kehrte Stille ein, bis sich die Tür lautlos öffnete und eine Gestalt mit einem genervten Ausdruck in dem schmalen Gesicht hinaustrat.

"Was soll das? Musst du so fest gegen die Tür schlagen?" Die von einem bräunlichen Schimmer, durch den sich ein schwarzer Strich zog, umsäumten Augen der Frau blitzten Tassy wütend entgegen und ließen sie unwillkürlich zu Boden blicken, wobei das grelle Rot auf den vollen Lippen ihres Gegenübers zu einem undeutlichen Fleck verschwamm.

"Tut mir leid. Ist mir gar nicht aufgefallen, dass das so fest war."

"Dann arbeite eben daran." In ihrer Stimme lag ein schnippischer, beinahe gestresster Unterton, als wäre ihr allein die Tatsache, nur wenige Augenblicke ihrer kostbaren Zeit für jemanden herzugeben, unangenehm.

"Ist Kat da?", fragte Tassy dann. Die Frau drehte sich ruckartig herum, wobei ihr aufwallendes, platinblondes Haar wie eine sanfte Welle in der Luft jene hektische Bewegung dämpfte.

"Kathrin!", rief sie aus, und Tassy wunderte sich über die Schärfe in ihrer Stimme- wenn ihre eigene Mutter ihr gegenüber überhaupt jemals einen derartig wütenden Ton in der Stimme anschlug, dann nur in Situationen, wo dies allzu berechtigt war.

"Ich komme!", ertönte dann aus irgendeinem Zimmer des geräumigen Hauses, dessen Inneres einem reich verzierten Palast glich, das geräuschvolle Rufen Kathrins, auf welches die nicht zu überhörenden Laute sich schnell nähernder Schritte folgte.

"Trampel doch nicht so durch das Haus, mein Gott", zischte ihre Mutter, woraufhin sich Kathrin an dieser vorüberschob und mit einem zaghaften Lächeln zu Tassy hinaustrat.

"Hallo", sagte sie mit jenem vertrauten Ausdruck von Freundlichkeit in der Stimme, der sich auch in ihren tiefblauen, schmalen Augen spiegelte. Ihr blondes Haar war zu einem einst strengen, sich immer mehr zu lösen scheinenden Pferdeschwanz zusammengebunden und ihre hellgraue Strickjacke hatte sie möglichst weit zugeknöpft, als versuchte sie vergeblich, sich völlig zu bedecken.

Sähe Tassy sie nun zum ersten Mal, wäre ihr jene brave, unschuldige Ausstrahlung, die von dem Mädchen ausging, vermutlich stärker aufgefallen- doch sie kannte Kat, sie wusste, welche Hemmungslosigkeit diese schüchterne, ruhige Fassade hin und wieder in sich barg.

Schließlich hob Tassy zum Sprechen an: "Wir wollten dich in die Boulderhalle entführen. Kommst du mit?"

"Ich weiß nicht, ob ich Zeit habe. Kann ich?" fragte sie an ihre Mutter gewandt.

"Wenn du nichts mehr zu tun hast, dann geh", sagte diese nur, und Tassy glaubte beinahe zu sehen, wie sie ihre schwarz umrandeten Augen verdrehte.

"Dankeschön", sagte Kat und sah Tassy mit einem Blick an, der sagen zu wollen schien: "Schnell weg hier!"

"Aber du bleibst nicht wieder bis tief in die Nacht hinein, hast du verstanden?"

"Nein, mache ich nicht!" Bei diesen Worten nahm auch der Klang in Kats Stimme eine leise Schärfe an, und Tassy verspürte einen Anflug von Erleichterung, als die Mutter ihrer Freundin schließlich mit einem letzten Blick auf die Mädchen die Tür schloss.

"Na, wie geht's?", fragte Tassy dann, während sie hinter Kat den langen, schneeweiß gestrichenen Flur entlangschlurfte. Diese zögerte, bis sie die shwarze, von in der Mittagssonne glänzendem Sonnenlicht durchschienenen Glaselementen gezierte Tür öffnete und ins Freie trat. "Meine Mutter geht mir in letzter Zeit einfach nur auf die Nerven", zischte sie und blickte unsicher über die Schulter zurück, als glaubte sie, diese könne sich unmittelbar hinter ihr befinden und ihren Worten lauschen.

"Immer nur meckern. Ich muss für die Schule lernen, ich muss Klavier spielen, ich muss auf meinen Bruder aufpassen. Und Bouldern ist ja angeblich überhaupt kein Sport für mich! Da macht sich die arme Kathrin die Finger schmutzig."

"Du tust mir leid", murmelte Tassy und blickte Kat mit bedauerndem Gesichtsausdruck entgegen, während sie durch den gewaltigen Vorgarten schritten, dessen ihn umsäumende, perfekt gestutzte Hecken den sterilen Ausdruck des auf einer kleinen Anhöhe kauernden Hauses unterstrichen.

Kat streckte ihre Hand aus, drückte die Klinke des kunstvoll gefertigten Eisentores, welches jenen Garten von der Straße trennte, nach unten und sprang schließlich mit einer solchen Energie hinaus, als breche sie nach einer Ewigkeit der Gefangenschaft durch ein scheinbar unzerstörbares Eisengitter in die Freiheit hinaus.

"Kat!", ertönte ein schriller Ruf, woraufhin plötzlich zwei Gestalten aus den schützenden Schatten der Hecke hinausliefen und mit von Euphorie erfüllten Blicken auf Kat zusprangen. "Isa! Lilly!", rief sie aus, als sich das kleinere Mädchen an ihr festklammerte und sie somit beinahe zu Fall gebracht hätte, wäre Lilly nicht im rechten Moment hinübergestürmt, um Kat zu stützen.

"Geh' von mir runter, du Arschgesicht!", rief Kat spielerisch aus und wand sich unter Isas festem Griff, die sich mit einem beinahe gehässigen Grinsen an ihren Schultern festhielt und wie ein riesenhafter Rucksack auf ihrem Rücken lastete.

Tassy verschränkte die Arme und blickte mit gespielt besorgtem Blick zu Kat hinüber, die sich noch immer vergeblich zu befreien suchte. "Du hast da ein Geschwür auf dem Rücken, Kat."

"Tass, würdest du das von mir runter holen?!"

Diese brachte nur ein verstohlenes Grinsen zustande, sprang zu der unter Isas Gewicht nachzugeben drohenden Kat hinüber und stützte sich mit ihren Händen auf ihr ab, woraufhin Kathrin das Gleichgewicht verlor und mit einem geräuschvollen Lachen zu Boden sank.

"Ihr seid fies", sagte Lilly, die sich fest an eine neben die sattgrüne Hecke grenzende Mauer gelehnt und das Geschehen somit aus einiger Entfernung beobachtet hatte, ehe sie langsam zu der noch immer unter Isa am Boden liegenden Kat hinüberschritt.

"Hol´ sie runter!" rief Kat, deren Augen sich vor Lachen mit klaren Tränen gefüllt hatten, woraufhin Tassy, nachdem sie sich wieder erhoben hatte, Lilly mit festem Griff an den Handgelenken packte. "Ich halte Lilly fest, Isa! Kitzel sie zu Tode!"

Tassy blickte in Lillys angriffslustiges Grinsen sowie ihre funkelnden, grünlichen Augen und vernahm hinter sich ein ohrenbetäubendes Quieken, woraus sie schloss, dass Isa tat, wie geheißen.

Nach einiger Zeit ließ jenes Geräusch zusammen mit Tassys Kraft, Lilly weiterhin zurückzuhalten, nach und schließlich erhoben sich die beiden anderen Mädchen vom Boden, keuchend und mit vom Staub des grauen Asphalts befleckten Gesichtern.

"Ihr habt mir gefehlt, Leute", sagte Kat mit einem Lächeln sowie einem leisen Hauch von Ironie in der Stimme.

"Also, nachdem wir uns hier alle gegenseitig umgebracht haben", warf Lilly ein, "lasst uns endlich Bouldern fahren."

Kat warf Tassy einen verwirrten Blick zu. "Fahren?"

"Wir haben Fahrräder dabei. Du stellst dich einfach auf die Stangen an meinem BMX."

Sie drehte sich um und wies mit der Hand auf die Stelle, wo die im Sonnenlicht glänzenden Fahrräder zwischen einem parkenden Auto und einer Mauer verborgen lagen, während Kat ein langsames Nicken zustande brachte. "Meine Mutter wäre nicht begeistert."

"Ja, also wirklich, Kat", antwortete Tassy grinsend und erhöhte dabei ihre Stimme um einige Frequenzen, als wolle sie dieser den Ausdruck einer schimpfenden Lehrerin verleihen, während sie die übereinandergelegten Fahrräder voneinander zu trennen suchte, "du prügelst dich auf der Straße, und du fährst ganz ohne Helm bei jemandem auf den Stangen mit. Du solltest dich schämen, wirklich!"

"Das ist aber wirklich gefährlich! Was, wenn uns die Polizei sieht?"

"Reg dich ab, Lilly", seufzte Tassy nur und platzierte ihr schwarz-grün funkelndes BMX-Rad auf der trockenen, kargen Straße, als wäre sie im Begriff, sofort daraufzuspringen und davonzufahren.

"Tassy! Überleg' doch mal. Das ist verboten, und wir sind hier in einer Stadt. Wenn das jemand sieht, dann hast du-"

"Wir machen das doch ständig, und es ist nie etwas passiert. Außerdem nehmen wir ja immer den nicht so häufig benutzten Weg, wo uns sowieso niemand sieht", entgegnete Isa, die Tassy sowie Kat einen beinahe genervten Blick zuwarf.

"Aber..."

"Lilly, alles wird gut gehen, okay? Jemanden auf seinem BMX-Rad mitzunehmen ist kein Schwerverbrechen, für das wir ins Gefängnis kommen."

Nur am Rande bemerkte Tassy die in Kats Stimme aufsteigende Ungeduld, und sie vermutete, dass auch Lilly, die nun schwieg, diese wahrgenommen hatte. Wortlos setzte auch sie sich auf ihr Fahrrad, während Kat versuchte, auf den dünnen, schwarz funkelnden Stangen an den Seiten des BMX-Rades Gleichgewicht zu finden.

"Geht's?", fragte Tassy schließlich und wandte ihr Gesicht Kat zu, die ein bestätigendes Nicken hervorbrachte. Unwillkürlich fuhr Tassy mit einer derartigen Ruckartigkeit los, dass Kat auf den Stangen auszurutschen drohte und sich mit einem erschreckten Zischen an Tassys breiten Schultern festhielt, um nicht rückwärts auf den harten Grund zu stürzen.

Mit einer Geschwindigkeit, dass es Tassy mitzuhalten Schwierigkeiten bereitete, schossen die beiden anderen Mädchen über die zerschundene, über Jahrzehnte von unzähligen Autos geschliffene Straße hinweg und zogen eine kaum wahrnehmbare Spur ihrer Reifen wie einen endlosen, pechschwarzen Schleier hinter sich her.

Tassy trat in die Pedale, so stark sie vermochte, und genoss das Gefühl des eine kühle Brise mit sich tragenden, sanft ihr Gesicht streifenden Windes, während sich der feste Griff Kats um ihre Schultern zu lockern schien. Zu ihren Seiten verschwamm die Umgebung zu einem undeutlichen Spiel verschiedenster, ineinandergemischter Farben wie ein sich weit erstreckendes Feld von unzähligen Blumen, und sie sog einmal tief die von einer Frische getränkten Luft ein, wie sie es nur in dieser fern von der Innenstadt gelegenen Gegend zu geben schien.

"Ich bin ein Vogel!", rief Kat freudig aus, woraufhin Tassy einen kurzen Blick zurückwarf. Ihre Freundin hatte die Arme von sich gestreckt und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf einen undefinierbaren Punkt in der Ferne, ihr blondes Haar wallte wie die Wellen eines goldenen Flusses im Wind.

Unwillkürlich und auf das verschwommene Farbenspiel zu ihren Seiten konzentriert schlug Tassy den wohlbekannten Weg ein, den sie so oft zurückkelegt hatten, während Isa und Lilly bloß als undeutliche, immer kleiner zu werden scheinende Punkte erkennbar waren.

Irgendwann verebbte die vom Wind mitgetragene, leise Brise von Pflanzenduft, während die Luft eine zunächst kaum wahrnehmbare, jedoch immer intensiver werdende Schärfe annahm und die entfernten Laute von unzähligen Fahrzeugen sich mehr und mehr näherten.

"Hallo, zugemüllte, miefende Stadt, wir kommen!", rief Tassy aus und beschleunigte ihr Tempo, während die neben ihr aufragenden Gebäude an Höhe sowie Unförmigkeit, so schien es ihr, zunahmen.

Mitlerweile funkelte das Farbenspiel zu ihren Seiten nicht mehr in verschiedenen Grüntönen, sondern hatte ein tristes Grau, Blassgelb oder das grelle Rot des Eingangsschildes eines heruntergekommenen, scheinbar unzählige Male in jener Gegend aufzufindenden Kiosks angenommen, und mehrmals wich Tassy ruckartig einigen Fußgängern aus, die ihr entweder verwirrte Blicke oder aufgebrachte Worte in den unterschiedlichsten Sprachen entgegenwarfen, was jedoch keines der Mädchen zu verstehen vermochte.

"Isa, Lilly!", rief Tassy, "wartet mal!" Diese hatten jedoch nunmehr einen derartigen Vorsprung, dass sie das kaum durch den Lärm der zu ihrer Linken vorüberzischenden Autos dringende Rufen vermutlich nicht zu hören imstande waren.

Mit zusammengekniffenen, von in Autoabgasen getränkter Luft tränenden Augen konnte Tassy nur schwer erkennen, wie Isa und Lilly ruckartig an einer Ampel zum Stehen kamen und schließlich die Straße überquerten, ohne nur einen Blick zurückzuwerfen.

Abermals beschleunigte sie ihr Tempo, erreichte die Ampel im rechten Moment mit dem Schimmer des grünen, grellen Lichtes auf ihrem Gesicht und überquerte ihrerseits die Straße, wobei ihr einige Autofahrer bei dem Anblick der auf den Stangen balancierenden Kat verwirrte Blicke schenkten.

Nach langer Zeit, so schien es, nahmen die Laute des Staßenverkehrs zusammen mit der Belebtheit der engen Gassen ab und Tassy spürte einen Anflug von Erleichterung, als sie von der Einsamkeit des geheimnisvollen, im matten Sonnenlicht tiefrot funkelnden Firmengeländes empfangen wurde.

Isa und Lilly hatten ihr Tempo verlangsamt, sodass Kat und Tassy sie einzuholen vermochten, bis sie alle schließlich zum Stehen kamen. Langsam stieg Kat von den rutschigen Stangen des BMX-Rades hinab und unterdrückte ein wohliges Seufzen bei dem Gefühl von festem, unbeweglichen Asphalt unter ihren Füßen, welcher sie nicht bei jedem Schritt ihres Gleichgewichts zu berauben drohte.

Sie tat einen Schritt vorwärts und blickte in Tassys eisblau funkelnde Augen, die auf einen undefinierbaren Punkt in der Ferne gerichtet waren- Kat wusste, wie sehr ihre Freundin diese Gegend liebte, jenen stillen Ausdruck von Einsamkeit. So oft hatten sie diesen Weg bereits zurückgelegt, waren die roten Backsteingebäude hinaufgeklettert und hatten von den flachen Dächern aus das endlose Bild der leuchtenden Stadt betrachtet, dass sie alle mit diesem Gebiet sehr vertraut waren.

"Also dann, lasst uns mal weiterfahren, oder?"

Sie sah, wie Tassy den Kopf schüttelte und sich mit beinahe bedauerndem Gesichtsausdruck zu ihr herumdrehte, ehe sie antwortete: "Wir müssen dir noch was verklickern."

Sie zögerte und blinzelte einige Male. "Diese Affen von Nicht-Boulderern wollen in den Bonebreaker einbrechen."

"Was?!"

Kat spürte Verwirrung in sich aufsteigen und hatte Mühe, ihre Gedanken zu sortieren. Eigentlich hätte sie Tassys Worten niemals Glauben geschenkt, doch jenes amüsierte Funkeln in deren Blick, welches sie sonst immer die Unwahrheit zu sprechen verriet, war erloschen und in ihrer Stimme lag ein tiefer Ernst.

"Du verarschst mich nicht, stimmt's?", fragte sie nur, woraufhin Tassy den Kopf schüttelte. "Wir haben sie zuletzt belauscht und gehört, was sie vorhaben. Leider wissen wir aber nicht, wann und wie sie das geplant haben. Irgendwie müssen wir es noch herausfinden."

"Ja, super", zischte Kat mit einem Anflug von Wut in der Stimme, "und wie sollen wir sie dann davon abhalten? Wir können sowieso nichts gegen sie ausrichten."

Aus den Augenwinkeln bemerkte Kat, wie Isa ihre Hände zu kleinen Fäusten ballte und das Gesicht zu einer wütenden, beinahe angriffslustigen Grimasse verzog, als sie zischte: "Wir machen sie kalt!"

 

Die Tür öffnete sich lautlos und ließ die Mädchen die geräumige Halle betreten, wo die dichte, weiße Wolke sie mit trockenen Händen zu packen schien. Kat unterdrückte ein geräuschvolles Husten, als der kühle, einen leisen Hauch von Frische mit sich tragende Wind der Außenwelt der stickigen Hallenluft sowie dem leisen Geruch lange getragener, schweißgetränkter Kletterschuhe wich.

"Ich liebe diese Atmosphäre, Mann", murmelte Tassy mit einem Lächeln, woraufhin Lilly entgegnete: "Du liebst den Geruch von miefenden Kletterschuhen? Mit dir stimmt was nicht, Tass." Kat bemerkte jenen überheblichen Ausdruck in Lillys Stimme, als diese zu sprechen aufhörte und darauf zu warten schien, dass jemand über ihre Bemerkung lachte; Beiden daraufhin ein amüsiertes Grinsen schenkend folgte Kat ihnen schließlich an die Kasse und wurde dort von einem freundlichen Lächeln empfangen.

"Ach, Lilly und Kat! Euch gibt es also auch noch. Ihr wart ja richtig lange nicht mehr hier."

Die breitschultrige Frau blickte ihnen mit ihren warmen, dunkelbraunen Augen entgegen und ihre nunmehr verfilzten, von in allen Farben funkelnden Perlen durchflochtenen Dreadlocks umrahmten ihr kantiges Gesicht, das an einigen Stellen von weißen Striemen durchzogen war.

"Tine, du hast Chalk im Gesicht", sagte Lilly, woraufhin die Frau auf ihre schneeweißen Hände herabblickte. "Das macht nichts. Ihr seid sofort dran, Leute, ich muss nur noch das Mädel da drüben registrieren, in Ordnung?"

Mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken des Kopfes wies sie auf ein Mädchen mit leicht gewelltem, braunen Haar, das sich gerade in dem neben der Eingangstür stehenden Computer eingetragen hatte und nun leichtfüßig zu der Kasse hinüberschritt.

Kat schenkte ihr jedoch keine weitere Beachtung und ließ ihren Blick über die von bunten Griffen überzogenen Wände gleiten- ihr fielen sofort unzählige Veränderungen auf und sie spürte die Neugier in sich aufsteigen, jede einzelne Route auszuprobieren.

Während die Augen Kathrins auf den schiefen, von schwarzen Striemen übersäten Wänden hafteten, musterte Tassy das vor ihr stehende Mädchen genau. Ihr Gang war von der Eleganz einer geschmeidigen Katze und ließ ebenso wie ihre knochigen Handgelenke sowie ihre zierlichen Arme darauf schließen, dass sie nicht oft mit einem Klettergriff in Berührung gekommen war- Tassy hatte schon unzählige Kletterer kennengelernt und nunmehr bemerkt, dass diese zumeist eine leicht gekrümmte Haltung sowie einen kräftigen Körperbau aufwiesen, was auf dieses Mädchen keineswegs zutraf.

"Also dann, viel Spaß beim Bouldern, Cecilia. In dem Regal dort drüben stehen die Leihschuhe. Nimm' dir einfach deine Größe heraus und lege sie wieder dorthin, wenn du fertig bist."

Schließlich neigte das Mädchen bejahend den Kopf und entfernte sich mit beinahe vorsichtigen Schritten von der Kasse, woraufhin sich Tine schließlich an die Übrigen wandte: "Ihr habt ja alle Jahreskarten, stimmt's?"

Lilly bestätigte ihre Frage als Erste mit einem ausladenden Nicken, und Tassy antwortete: "Jo, haben wir."

"Na dann, immer rein mit euch", sagte sie dann mit einem fröhlichen Ton in der Stimme und gab den Mädchen mit einer kurzen Handgeste zu verstehen, die Boulderhalle betreten zu können. Beinahe unwillkürlich schlug Tassy den bekannten Weg zu den in einer engen Nische zwischen einer Kletterwand sowie dem Eingang der Umkleiden gelegenen Schränken hinüber, wo sie ihre Sachen aufbewahrten. Sie kramte den winzigen, immer in der Tasche ihrer nunmehr an einigen Stellen zerrissenen Lederjacke liegenden Schlüssel heraus und öffnete die von olivgrüner Farbe überzogene Schranktür, woraufhin ihr ein beißender Geruch mit harter Faust ins Gesicht zu schlagen schien. Sie kämpfte gegen das Verlangen an, einen gewaltigen Schritt nach hinten zu tun, wobei sie am Rande bemerkte, wie auch Isa, Lilly und Kat ihre Spinde öffneten und sie im selben Augenblick mit vor Ekel verzerrtem Gesicht zuschlugen.

"Jedes Mal!", rief Kat, "Jedes-verdammte-Mal!"

Isa senkte den Kopf und spielte vor, sich übergeben zu müssen, dann krächzte sie: "Pfuuii, das stinkt nach Schimmelkäse!"

Tassy trat mit höhnischem Grinsen an Kathrin heran und flüsterte: "Lecker, sowas isst du morgens zum Frühstück auf deinem Brot, stimmt's? Gammelbrötchen mit Kletterschuh-Käse, Kat's Spezialität."

Diese schüttelte bloß den Kopf, sog einmal die Luft ein und öffnete den Spind dann erneut, woraufhin Tassy abermals grinsen musste.

"Stellt euch nicht so an. Das macht doch eine gute Kletterhalle aus!", sagte Tassy nur, woraufhin die anderen Mädchen schwiegen. Während sie schließlich ihre eigenen Schuhe sowie das Chalkbag, in dem sie das pulvrige, von den Boulderern als Chalk bezeichnete Magnesia aufbewahrte, herausnahm, sah sie das braunhaarige Mädchen nur wenige Meter von ihr entfernt auf einem der verschlissenen Sessel sitzen und sich vergeblich in einen Kletterschuh hineinzuzwängen versuchen.

Tassys auf ihr ruhenden Blick bemerkt zu haben scheinend sah sie plötzlich mit beinahe schmerzvollem Gesichtsausdruck auf, woraufhin Tassy ihr ein mitfühlendes Lächeln schenkte. Sie war sich über die Mühe, derer es einen Kletterschuh anzuziehen bedarf im Klaren und ahnte auch, welche Schmerzen das Mädchen nach einiger Zeit in diesen engen, jeden einzelnen Zeh eindrückenden Schuhen würde ausstehen müssen- Obgleich Tassy selbst seit drei Jahren mit jenem Sport vertraut war und eigentlich auch an die damit verbundenen Schmerzen gewöhnt sein müsste, liebte sie das Gefühl der Erleichterung, wenn sie sich am Ende des Kletterns ihrer Schuhe entledigte.

"Au... Verdammt... Ich bin drin!", stöhnte sie dann, als sie ihre eigenen Schuhe mühsam über ihre Füße streifte, und erhob sich schließlich unter dem unangenehmen Gefühl zusammengepresster Zehen; aus den Augenwinkeln sah sie, wie Kat ihr bei jenen letzten Worten ein kurzes Lächeln zuwarf und sich dann ihren eigenen Schuhen zuwandte.

"Jaaa!" Ein lautes Rufen ertönte unmittelbar hinter Tassy, dann zischte eine Gestalt mit einer sie bloß als dunkle Silhouette erkennen lassenden Geschwindigkeit an ihr vorüber und eilte geradewegs an dem noch immer ihre Schuhe anzuziehen versuchenden Mädchen vorüber. Tassy lief hinter ihr her, verspürte jedoch aufgrund der Tatsache, dass sie jene Halle nunmehr jeden Tag besuchte und ihre Boulder-Griffe somit scheinbar auswendig kannte, nicht mehr ein derartig gewaltiges Verlangen, sich sofort an die Wände zu stürzen.

Während sie sich, gefolgt von Lilly und Kat, auf eine nur leicht überhängende Wand im hinteren Teil der Halle zubewegte, dehnte sie ihre Finger und ließ ihre Arme schwungvoll hin-und her kreisen. "Ich mache erst ein paar Einfache", verkündete sie an Lilly und Kat gewandt, "was ich euch auch raten würde. Ihr wart ja länger nicht mehr hier."

"Kein Bock", murmelte Kat bloß, woraufhin Lilly sofort entgegnete: "Doch, mach das, Kat. Sonst kannst du dich verletzen, das ist dir schon klar."

"Ja, ich weiß, aber..."

"Überleg' doch mal, Kat..."

Tassy schüttelte nur den Kopf und entfernte sich ein wenig, um an der aufkommenden Diskussion zwischen Kat und Lilly nicht teilhaben zu müssen- sie wusste, dass Lilly nicht aufgeben würde, bis man ihr zustimmte und in solchen Fällen schnell die Ruhe verlor.

Unwillkürlich trat sie an den in einem grellen Orange leuchtenden, taschenförmigen Startgriff einer sich diagonal über die überhängende Wand ziehendend Route heran und begann mühelos, sich diese hinaufzubewegen, als erklimme sie eine Leiter. Ihre Hände und Füße arbeiteten sich parallel zueinander hinauf- griff sie mit einer Hand nach der nächsten Tasche, setzte sie gleichzeitig auch ihren Fuß um einen Griff höher und hatte somit schnell den mit einem Schild markierten Topgriff erreicht.

Ihre Füße hingen frei in der Luft und sie hielt die Tasche fest gepackt, als sie jenes vertraute Gefühl von Freiheit in sich aufsteigen spürte. Sie wandte den Kopf und ließ den Blick über die sich vor ihr erstreckende Halle sowie die aus jener Perspektive klein wirkenden Kletterer schweifen, dann schloss sie die Augen. Obgleich sie sich in nicht mehr als vier Metern zu befinden wusste, stellte sie sich einen nicht lange anhaltenden Augenblick vor, an einer hoch in den Himmel ragenden Felswand zu hängen, mit den sanften Wellen eines tiefen Meeres unter sich, und beinahe glaubte sie, einen den süßen Duft von Wasser mit sich tragenden Windeshauch zu vernehmen...

"Hey, Tassy! Komm auf die Erde zurück!" Das laute Rufen riss sie aus ihren Gedanken und ihre Finger verloren vor Schreck den Halt, woraufhin sie abstürzte und scheinbar eine Ewigkeit durch die stickige Luft zischte, ehe sie unsanft auf den rutschigen Matten aufkam.

"Du nimmst einfach alles zu wörtlich." Einen Augenblick in jener leicht verdrehten Position verharrend drehte sie sich schließlich herum und sah in Nicks belustigt funkelnde, blaue Augen, die auf sie herabschauten.

"Seit wann bist du denn hier?", fragte sie nur, woraufhin er nachdenklich den Kopf neigte.

"Schon recht lange. Ich habe euch beobachtet, wie ihr panisch eure Schränke zugeknallt habt."

Tassy stöhnte nur, ehe sie sich schließlich erhob und nach einiger Zeit antwortete: "Dieser Gestank ist aber auch heftig, Mann. Ich sage immer, Kletterschuhe sind tödliche Waffen."

Nick grinste zustimmend und wandte dann den Kopf, als blickte er sich nach jemandem um, woraufhin Tassy sagte: "Kat und Lilly sind auch hier. Und sie..."

Unwillkürlich brach sie ab und ließ ihren nunmehr von Neugier erfüllten Blick an Nick vorüberschweifen, als sie eine schmale, von braunem Haar umsäumte Gestalt sich elegant die Wand hinaufarbeiten sah- zwar kletterte das Mädchen bloß eine orangefarbene und somit eine der einfachsten Routen, tat dies jedoch mit einer für einen Anfänger sehr ausgeprägten Sicherheit sowie Präzision, dass Tassy den Blick abzuwenden nicht imstande war.

"Was ist denn los?", vernahm sie Nicks spöttische Stimme am Rande, "hast du dich in die verknallt, oder was?"

Tassy schüttelte grinsend den Kopf. "Sie ist noch nie geklettert, und dafür ist sie gut."

Sie zögerte. "Verdammt gut."

 

Auf dem Skaterplatz

 

"Wir sind irgendwie nie vollständig", warf Lilly ein und wandte ihre Augen für einen nicht lange anhaltenden Augenblick von der vor ihr liegenden Pizza mit dem Durchmesser eines Fahrradreifens ab. "Heute sind ich und Kat-"

"Kat und ich", berichtigte Nick, der seinen mit Apfelmus überzogenen Pfannkuchen ebenfalls kurz unbeachtet ließ.

"Von mir aus. Heute sind Kat und ich mal wieder da, und Isa fehlt. Wo steckt sie?"

Tassy konnte ein höhnisches Lachen nicht unterdrücken, als sie, ohne ihren Salat vorher hinunterzuschlucken, antwortete: "Sie hat Hausarrest bekommen, weil sie sich zu lange mit mir und Nick draußen herumgetrieben hat."

Nick sah abermals auf und schenkte Tassy einen beinahe vorwurfsvollen Blick, ehe er mit zaghafter Stimme sagte: "Mit Nick und mir."

"Verdammt, Nick, ich steck' dir gleich meinen dämlichen Salat in deinen Aaaapfelpfannkuchen."

"Lecker", murmelte Kat mit einem leisen Grinsen, woraufhin Lilly plötzlich die umliegenden Tische genau zu mustern begann, als hoffe sie, dass niemand Tassys Bemerkung wahrgenommen hatte. Doch nur wenige Leute hatten sich in dem nicht sehr geräumigen, von dem Geruch nach gebratenem Fleisch sowie Frittierfett durchzogenen Imbiss eingefunden und Tassy konnte das Gefühl, von der hinter der Theke stehenden, etwas fülligeren Frau beobachtet zu werden, nicht verdrängen.

"Futter lieber dein Grünzeug, bevor es welkt, kleine Vegetarierin", spottete Nick, ehe er sich wieder seinem Pfannkuchen zuwandte. Tassy glaubte beinahe, das spielerische Funkeln in ihren eigenen Augen aufblitzen zu spüren, als sie ein in weißlicher Soße triefendes Salatblatt auf ihre Gabel legte und diese blitzartig nach vorne flitschen ließ, woraufhin das die Soße als winzige Tröpfchen in alle Richtungen verteilende Salatblatt mit einem grotesken Geräusch auf Nicks dunkelblauem Hemd landete.

"Lappen!", lachte Tassy und deutete mit dem Finger auf den sie mit gespielter Wut in seinem Blick anfunkelnden Nick. "Du willst Krieg, oder?", sagte er, füllte seinen silbrig glänzenden Löffel mit einer gewaltigen Masse an breiartigem Apfelmus und schien im Begriff, diesen geradewegs auf Tassy zu schleudern, als Lilly ihre Hand vor jenen Löffel hielt und sagte: "Hört damit auf, Leute, wir sind in einem Restaurant!" "Ja, keine Eskalation", warf Kat lächelnd ein.

"Nennen wir es eher "nach Frittenfett miefender Saftladen-Imbiss"", sagte Tassy an Lilly gewandt, "alles andere klingt ein bisschen zu vornehm, wenn man die Tatsache betrachtet, dass vor der Tür ein zermatschter Hamburger liegt."

Daraufhin schwieg Lilly, und die übrigen taten es ihr gleich, während Nick mit hin und wieder aufblitzenden, angriffslustigen Blicken auf Tassy die weißen Streifen auf seinem Hemd zu entfernen suchte.

Nachdem sie ihren Salatteller geleert und ihn zurück auf die Theke gestellt hatte, ließ sich Tassy erneut auf der von rötlichen Sitzkissen gepolsterten Eckbank nieder und brach schließlich das Schweigen: "Morgen ist übrigens Nachtbouldern, weil Pia Geburtstag hat."

"Wer ist Pia?", fragte Lilly.

"Tines Hund. Der helle Labrador, der öfter in der Halle herumläuft."

"Und deswegen machen die Nachtbouldern?" Daraufhin nickte Tassy nur und hielt dann inne, während Lilly aufstand und ihren gewaltigen Teller ebenfalls zu der Frau hinter der Theke zurückbrachte, welche ihr ein freudiges Lächeln schenkte.

"Geht ihr hin?", fragte sie dann, als Lilly sich ihrerseits mit einem beinahe traurigen Ausdruck in den grünlichen Augen, vermutlich aufgrund der nicht mehr vor ihr liegenden Pizza, wieder auf die Bank sinken ließ.

"Ich gehe auf jeden Fall hin", antwortete Nick sofort, während sich über Kats Blick ein unsicherer Schleier legte. "Ich muss fragen, ob ich Zeit habe. Ich kann dich ja dann anrufen, Tass."

"Musst du nicht", entgegnete Tassy, "ich sehe ja, ob du kommst oder nicht. Aber wieso musst du fragen? Ich meine, ich weiß immer, ob ich Zeit habe. Na ja, das könnte auch daran liegen, dass ich fast immer Zeit habe. Außerdem würdest du sowieso vergessen, anzurufen, Kat."

"Ich muss auch fragen, aber ich glaube, dass ich kommen kann", sagte Lilly, "andererseits ist das so spät. Lilly braucht ihren Schönheitsschlaf!"

"Bei dir ist sowieso nichts mehr zu retten, Lilly", spottete Tassy und fuhr dann fort: "Außerdem kannst du ja tagsüber pennen. Ist ja auch egal, wir sehen ja, wer kommt. Sollen wir dann mal hier abhauen?"

"Moment!", rief Nick aus und zwengte sich mühsam die Reste seines Apfelpfannkuchen in den Mund, bevor er diese mit einem geräuschvollen Schlucken hinunterschlang, "okay, jetzt können wir gehen."

Somit erhoben sie sich und schlenderten aus dem nicht sehr geräumigen Imbiss hinaus, während die Frau hinter der Theke, ihnen ein verabschiedendes Winken schenkend, rief: "Macht's gut!"

"Ja, tschüss", antwortete Tassy und trat dann aus der Tür hinaus, wo sie der beißende Geruch von in jeden Winkel sowie hinter jede Mauer zu dringen scheinenden Autoabgasen empfing, der sie unwillkürlich die Augen zusammenkneifen ließ.

Lange Streifen kurzgeschnittenen Grases zogen sich durch das rötliche Meer der den Boden bedeckenden Steine, und in der stickigen, aus der Innenstadt hinüberziehenden Luft lag jener leise Ausdruck von Abgeschiedenheit, wie er in der Umgebung des alten Firmengeländes um die Kletterhalle wohl nirgendwo stärker zu sein schien. Über die schmale, vermutlich nicht mehr als einem einzigen Fahrzeug Platz bietende Straße zogen sich dunkle, von unzähligen Skateboards sowie Fahrrädern hinterlassene Striemen und neben einigen von bunten Schriftzügen überzogenen Mauern waren im leisen Wind raschelnde Hecken gepflanzt worden. Tassy hasste die grelle, hektische und beinahe angespannte Atmosphäre im Kern der Stadt, jene ruhigen, abgeschiedeneren Plätze jedoch, wo man nicht sofort in einem reißenden Fluss unzähliger Gesichter verschwand, zogen sie wie mit unsichtbaren Seilen zu sich.

"Hier ist wirklich kein Schwein auf der Straße", murmelte sie mehr an sich selbst gewandt, während sie gemächlich an der Straße entlangschritten. Zu ihren Seiten zogen sich vereinzelte Wohnhäuser sowie winzige, vermutlich kaum besuchte Läden entlang und am Rand des Bürgersteiges ragten breite Buchen mit beinahe lautlos raschelnden Blättern in den von einem gräulichen Schleier bedeckten Himmel hinauf.

"Wo gehen wir eigentlich hin?", fragte Lilly nach einiger Zeit des Schweigens, als der in einem gelblichen Farbton gestrichene Imbiss bloß als undeutlicher Fleck inmitten grauer Häuserfassaden sowie raschelnder Blätter zu erkennen war.

"Skaterplatz, würde ich sagen", antwortete Tassy.

"Welcher?"

"Der mit den Mauern und dem Stangengerüst natürlich! Der andere ist langweilig."

"He, Tassy", rief Kat dann aus und trat schnellen Schrittes neben sie, "sieh dir mal die ganzen Graffitis an." Sie wies mit einem kurzen Nicken auf eine breite Mauer, die die Parkplätze zweier Häuser voneinander trennte, und Tassys Augen weiteten sich bei dem Anblick der unzhähligen ineinander übergehenden Farben vor Staunen zu hellblau funkelnden Kreisen.

"Das müssen wir uns als Vorlage für unsere eigenen Gemälde merken, Kat. Ich finde, wir zwei sollten nochmal sprayen gehen", sagte sie dann, woraufhin Lilly mit überraschtem Gesichtsausdruck neben sie trat und beinahe vorwurfsvoll fragte: "Ihr habt das schon gemacht?!"

"Ja, wir zwei sind Schwerverbrecher, weißt du."

"Ähm, Tass, du weißt schon..."

Kat schnitt ihr mit einem amüsierten Lächeln das Wort ab: "So, jetzt kommt wieder Lillys Moralpredigt!"

"Das ist total teuer, so etwas entfernen zu lassen! Stell dir mal vor, du hast ein Haus frisch gestrichen, und dann kommt jemand und sprüht es an!"

"Es war ja nicht frisch gestrichen, Lilly, es war eine ganz alte Mauer, und..."

"Die können davon kaputt gehen", entgegnete Lilly schnippisch.

"Wieso das denn?"

"Das ist so. Würdest du in Chemie aufpassen, Tassy..."

"Lilly!", unterbrach Tassy sie, "ich mag zwar in Chemie ein bisschen unaufmerksam sein, aber ich bin sicher, wir hatten noch nie das Thema "Graffiti macht Mauern kaputt"."

"Lilly, das ist doch jetzt auch wirklich egal", zischte Kat mit aufsteigender Gereiztheit in der Stimme, "es war eine alte Mauer, die keiner mehr braucht. Fertig."

Aus den Augenwinkeln sah Tassy, wie Lilly den Mund öffnete und widersprechen zu wollen schien, sich dann jedoch scheinbar eines Besseren entsann und mit wütendem Funkeln in den Augen ihre bräunlichen Locken aus dem Gesicht strich.

Kat warf ihr einen kurzen Blick zu und verdrehte ihre schmalen, tiefblau glänzenden Augen, woraufhin Tassy mit einem leisen Lächeln ihre Zustimmung zum Ausdruck brachte- sie wusste, dass jene Diskussion für Lilly nun nicht beendet war und sie zweifellos erneut darauf zu sprechen käme, sobald sie mit Tassy allein wäre.

"Deine Mutter wäre tierisch enttäuscht von dir, Kat", murmelte Tassy und gab Kat einen spielerischen Schubs, "jetzt fährst du nicht nur bei fremden Leuten auf den Fahrradstangen mit, sondern machst auch noch Mauern kaputt".

Kat schenkte ihr ein kaum wahrnehmbares Augenzwinkern, ehe sie entgegnete: "Ich kann ihr ja sagen, dass mich so ein durchgeknallter Großstadt-Junge mit Straßenköterfrisur dazu gezwungen hat."

"Ein durchgeknallter, aber verdammt hübscher und sportlicher Großstadt-Junge, bitte." Tassy brachte ein ironisches Grinsen zustande, ehe sie ihren Weg dann schweigend fortsetzten; jedoch brauchte sie nicht das Gesicht zu wenden, um die sie beinahe wütend anfunkelnden Blicke Lillys auf sich und Kat ruhen zu spüren.

Nach einiger Zeit hatten sie jegliche bewohnten Gebäude hinter sich gelassen und waren einem schmalen, den sich lang erstreckenden Grünstreifen wie ein scharfes Messer durchschneidenden Pfad gefolgt, bis der riesenhafte Platz hinter einer nunmehr welkenden Hecke hervorgetreten war. Im Hintergrund zogen sich breite, wie mit einer runden Klinge aus dunkelgrauen Blöcken herausgeschnittene Skaterrampen über die von unzähligen Füßen plattgetretenen Wiesen, und unmittelbar vor ihnen ragten einige im schwach durch den Nebel dringenden Sonnenlicht funkelnde Stangengerüste über einer langen Sandgrube auf.

Jene waren von einigen, sich in den unterschiedlichsten Höhen sowie Längen über den Boden ziehenden Mauern gesäumt, auf deren Flächen sich beinahe alle erdenklichen Farben zu einem bunten Spiel vereinigten.

"Das sieht so cool aus", murmelte Tassy bei dem Anblick der von bunten Schriftzügen überzogenen Mauern sowie Skaterrampen, hinter welchen sich der das Sonnenlicht wie winzige Diamanten reflektierende, breite Fluss seinen Weg am Horizont entlangbahnte. Sie ahnte, dass niemand jenen Kontrast bemerkte, den die Verwirrung sowie die Wildheit der grellen, bunten Schriftzüge mit der Harmonie des von sanft im Wind raschelnden Bäumen gesäumten Fluss bildeten, und wie so oft bedauerte sie es, jenes Bild nur mit den Augen einfangen zu können. "Erinnert mich daran, beim nächsten Mal eine Kamera mitzunehmen", sagte sie dann, vernahm jedoch bloß einen unsicheren Ausdruck in den Blicken ihrer Begleiter- abgesehen von Kat. "Das sieht schön aus, oder?" "Ziemlich", antwortete Tassy und ließ unwillkürlich den Blick über ihre Umgebung schweifen, als sie plötzlich beinahe erschreckt zusammenzuckte: Nur wenige Meter von ihr entfernt saß eine zusammengekauerte, ihren Blick auf das in ihren Händen liegende Buch gerichtete Gestalt mit wie Wellen über ihre Schultern fallendem, braunem Haar auf einer der Mauern, und Tassy erkannte jene zierliche Statur sowie die dünnen, zarten Hände sofort. "Cecilia", murmelte sie an sich selbst gewandt.

"Was?", fragte Lilly.

"Dort drüben", antwortete sie und wies mit einer unauffälligen Handgeste auf das scheinbar in ihre Gedanken sowie ihr Buch, wenn man nicht beides zusammenfassen mochte, versunkene Mädchen. "Sie war doch in der Boulderhalle und ist ziemlich gut geklettert. Na ja, für einen Anfänger."

"Woher zum Teufel weißt du ihren Namen?", erkundigte sich Nick, woraufhin Tassy sich an Kat und Lilly wandte: "Sie ist doch direkt vor uns reingegangen, und Tine hat ihren Namen gesagt."

Lilly zögerte. "Hab' ich nicht mitbekommen." Bei jenen Worten stieg ein Anflug von Verwirrung in Tassy auf, und sie entgegnete: "Aber sonst bist du doch diejenige, die von jedem alles weiß und sich für alles interessiert, und ich bin die, an der irgendwie alles vorbeigeht."

"Ich hab' ja gesagt, du stehst auf sie", spottete Nick, während sich Tassy umwandte. "Sie heißt Cecilia, hundertprozentig."

"Frag sie doch", sagte er dann, woraufhin Tassy mit geweiteten Augen den Kopf schüttelte. "Ich kann nur Leute ansprechen, wenn ich mich in einer Boulderhalle befinde. Frag du sie doch."

"Okay. He, Cecilia!", rief er dann aus und erzeugte somit ein gespanntes Schweigen unter seinen Begleitern, doch das Mädchen regte sich nicht. "Cecilia!", rief er noch einmal lauter, erhielt jedoch wiederum keine Reaktion.

Tassy spürte Unsicherheit in sich aufsteigen, und mit einem Mal fragte sie sich, ob sie sich womöglich getäuscht hatte, als sie Tine den Namen des Mädchens sagen gehört zu haben glaubte. Doch wieso sollte sie ausgerechnet einen derartig augefallenen Namen wie Cecilia verstanden haben, wenn die Frau in der Boulderhalle nichts dergleichen gesagt hatte?

"Aber Tine hat sie Cecilia genannt, ich hab's doch gehört."

Niemand antwortete, und nach einigen Augenblicken des Schweigens trat Tassy schließlich an das Stangengerüst heran, woraufhin die Übrigen es ihr gleichtaten. "Ich muss den Schwinger nochmal probieren", sagte sie an sich selbst gewandt und sprang dann nach oben; ihre Hände schlossen sich fest um die dicke, die Wärme der Sonne anzuziehen und diese in Tassy übergehen zu lassen scheinende Stange, welche über ihr aufragte. "So, jetzt seht ihr mich verkacken!"

Sie hielt die Stange mit festem Griff gepackt und ihr entschlossener Blick war fest auf die parallel zu jener Stange verlaufende gerichtet, die sich etwa zwei Meter vor ihr befand, dann begann sie, Schwung zu nehmen. Als trete sie mit aller Kraft nach einem unsichtbaren, frontal auf sie zulaufenden Gegner, schmiss sie ihre Beine in die Höhe und ließ die Stange schließlich los, zunächst mit der rechten, dann mit der linken Hand.

Kaum befand sie sich in der Luft, beugte sie ihren Oberkörper nach vorne, um im Fall des Abrutschens von der nächsten Stange nicht auf dem Rücken zu landen, und schoss mit ausgestreckten Armen auf diese zu. Nur einen Herzschlag lang zischte sie durch die den Geruch des Flusses mit sich tragende Luft, dann streiften ihre Finger die warme Eisenstange wie ein nur knapp verfehlter Schuss sein Ziel und Tassy kam leichtfüßig in dem wie eine Welle aufwirbelnden Sand auf.

"Verdammter Arschkackenblödmanns-Bullshit!", zischte sie und wandte sich mit enttäuschtem Gesichtsausdruck zu ihren Freunden um, die sich ebenfalls an das Stangengerüst sowie die Mauern begeben hatten. Nick versuchte gerade, von einer schmalen Mauer aus auf eine niedrig gelegene Eisenstange zu springen, die in einiger Entfernung von ihm etwa eine Mauslänge über dem sandigen Grund hing. "Pass' auf, Nick. Wenn du Rückenlage hast und dann nicht präzise genug landest, machst du 'ne schmerzhafte Rückenbombe auf den Boden oder landest mit deinem Kopf auf der Mauer."

"Die ist zu weit weg, als dass ich mit dem Kopf dort aufschlagen könnte", entgegnete der Junge, konnte den sich wie ein Schleier über seinen Blick legenden Ausdruck der Unsicherheit aber nicht verbergen.

"Mist, ich traue mich nicht", sagte er dann mit fest auf die Stange gerichtetem Blick.

"Doch, du kannst das, Nick. Du darfst nicht nachdenken", ermutigte Tassy ihn, doch Nick schüttelte den Kopf. "Nein. Ich hab' Schiss, wirklich. Es ist zwar nicht hoch, aber..."

"Dann mach's doch einfach", sagte sie und setzte dann ein gespielt höhnisches Grinsen auf, "oder bist du ein kleiner Schisser?" Sie stieß ein spottendes Lachen aus, dann fuhr sie singend fort: "Nick ist 'ne Pussi! Er traut sich nicht, zu springen! Määädchen!"

Mit einem Mal wich die Unsicherheit in den blauen Augen des Jungen tiefer Entschlossenheit, dann ging er mit die Stange fest fixierendem Blick in die Knie und sprang. Er beugte sich nach vorne, seine Fußballen trafen mit der Präzision eines in die Mitte einer Zielscheibe dringenden Pfeils auf die Stange und er blieb dort mit derartigem Gleichgewicht stehen, dass er nicht einen Herzschlag lang hinunterzukippen drohte.

"Geht doch", sagte Tassy dann, "siehst du, man muss dich nur mal ein wenig beleidigen, dann schaffst du alles!" Sie zögerte und blickte auf die über die Mauern balancierende Lilly und auf Kat, die gerade von einem quaderförmigen Stein herabsprang und sich mit einem eleganten Abrollen schließlich zu ihnen hinüberbewegte. "Das sah schön aus, Kat", sagte Tassy mit einem Lächeln und wandte sich dann ab, um sich ihrerseits zu einigen der Mauern zu begeben.

"Übst du irgendwas Bestimmtes?", fragte sie an Nick gewandt, und als dieser gerade zum Sprechen anheben wollte, ertönte eine helle Stimme hinter ihnen: "Hallo."

Kat wandte den Kopf und sah das Mädchen, das nur wenige Augenblicke zuvor auf einer am Rande gelegenen Mauer gesessen hatte, auf sie zugehen. "Ihr wart gestern auch in der Kletterhalle, oder?", fragte sie zaghaft und mit einem Ausdruck von Unsicherheit in den dunkelbraunen Augen, woraufhin Kat antwortete: "Ja, du bist direkt vor uns gekommen, oder?"

"Ich... Ich glaube schon, ja."

"Und jetzt bist du auch hier, um Parkour zu üben?", fragte Nick, woraufhin das Mädchen den Kopf schüttelte: "Nein, nein. Ich kann das nicht. Eigentlich wollte ich nur ein wenig spazieren gehen und mir einen guten Platz zum Lesen suchen. Klingt etwas seltsam, was?"

"Also, für uns eigentlich nicht so", sagte Kat grinsend, "wir haben alle einen Hang zum Seltsamen. Tass ganz besonders". Sie wies mit einer Handgeste auf Tassy, die jedes sich ihr in den Weg stellende Hindrniss problemlos überwindend quer durch das gewaltige Feld aus Stangen sowie Mauern rannte.

"Wow, das ist... Wirklich gut", sagte das Mädchen, und Kat bemerkte den unverkennbaren Ausdruck von Bewunderung in ihren funkelnden Augen.

"Ja, das stimmt", antwortete Kat und dachte mit einem Mal erneut an das Gespräch, das sie vor wenigen Minuten noch geführt hatten, woraufhin sie sich erkundigte: "Also, ich heiße Kat. Du bist...?"

"Cecilia", antwortete das Mädchen lächelnd, woraufhin Kat fröhlich nickte.

"Also doch! Einer von uns hat gesagt, er hätte deinen Namen gehört, aber irgendwie haben wir anderen es nicht geglaubt. Na ja, weil diese Person oft irgendwelche Dingen falsch versteht, weißt du. Ist ja auch egal."

"Ähmm... Okay... Jedenfalls ist das mein Name", wiederholte Cecilia noch einmal, woraufhin Nick sich erkundigte: "Als du vor ein paar Tagen im Bonebreaker warst- war das dein erstes Mal in einer Boulderhalle? Hast du das vorher noch nie gemacht?"

Sie schüttelte den Kopf. "Nein, habe ich nicht. Aber es macht wirklich Spaß! Wisst ihr, ich dachte eigentlich immer, eher der unsportliche Typ zu sein, aber es hat eigentlich ziemlich gut geklappt. Na ja, finde ich, aber ich kann das ja nicht beurteilen."

"Nein, aber Tassy hat dich beobachtet und die ganze Zeit davon geredet, wie gut du doch für einen Anfänger warst. Ich habe dich leider gar nicht gesehen, also kann ich nichts dazu sagen, aber auf Tass' Meinung kannst du vertrauen."

"Manchmal", warf Nick ein, woraufhin Cecilia lächelte. Kat zögerte, zunächst unwissend, was sie noch zu dem Mädchen sagen könnte, ehe sie fortfuhr: "Kommst du morgen zum Nachtbouldern? Da macht die Halle erst so gegen Zehn auf und schließt am nächsten Tag irgendwann morgens. Irgendjemand ist auf die Idee gekommen, die Halle bei Sonnenuntergang zu öffnen und bei Sonnenaufgang wieder zu schließen."

"Die Idee ist eigentlich ziemlich gut", sagte Cecilia, "ich denke, ich werde kommen. Wenn ihr da seid, kenne ich ja sogar ein paar Leute."

"Ich bin noch nicht sicher, ob ich kommen darf, aber ich denke, dass das gehen wird. Dann sehen wir uns also morgen?"

"Ja, bestimmt", sagte Cecilia und warf Kat sowie Nick noch einen letzten freundlichen Blick zu, ehe sie kehrtmachte und irgendwann aus Kats Blickfeld verschwand.

 

Cecilia

 

Grelle, in allen erdenklichen Farbtönen über die kargen Backsteinwände huschende Lichter spiegelten sich in den Blicken derer, die sich ihren Weg durch die lange Schatten auf den Boden werfenden Gebäude bahnten, und der Wind trug die geräuschvollen Töne der aus der Halle dringenden Musik zu ihnen heran.

"Wenn die Nibos die Halle heute nicht finden, dann weiß ich auch nicht weiter", murmelte Lilly, woraufhin Tassy antwortete: "Stimmt, ich meine, wie zum Geier kommen die Lichter bitte von der Halle aus hier hin? Lilly, erklär's dem Physikmuffel."

"Musst du selbst drauf kommen", antwortete Lilly schnippisch, woraufhin Kat beinahe unwillkürlich ihre Augen verdrehte. "Lilly, du weißt es doch selbst nicht" antwortete sie nur und sah, wie Tassy ihr flüchtig einen dankbaren Blick zuwarf, während sie ihr Tempo beschleunigte. "Kat rennt schon wieder vor", sagte Nick und tat es ihr dann zusammen mit den anderen gleich, bis sie schließlich um eine Kurve traten und der wie ein in den unterschiedlichsten Farben funkelnder Stern in der nächtlichen Dunkelheit kauerenden Halle gegenüberstanden. "Ich bin mal auf die neuen Boulder gespannt", murmelte Tassy, "es wurde ja komplett umgeschraubt." Kat spürte die ihr Gesicht erhellenden Lichter und musste unwillkürlich die Augen zusammenkneifen, als sie nach oben blickte und das in einem neongrünen Farbton glänzende Eingangsschild betrachtete. "Sind dort Lichter hinter dem Schild?"

"Ja, sonst würde das wohl kaum so leuchten", antwortete Lilly, Kat ignorierte ihre einen überheblichen Ton mit sich tragende Antwort jedoch. "Was steht da drunter?"

Tassy trat neben sie und wies auf den unter dem vertrauten Eingangsschild befestigten Schriftzug, bevor sie mit einem freudigen Grinsen antwortete: "Rockwalls- open dusk till dawn"

"Och nein, ernsthaft?", sagte Lilly und trat neben ihre Freundinnen, "Tassy, sag mal... Warum??"

"Weil's lustig ist", antwortete diese, woraufhin Kat bloß grinsend den Kopf schüttelte. "Ich hab's mir gedacht, dass diese Öfnnungszeiten heute deine Idee waren. Sollen wir jetzt endlich rein?"

"Gute Idee", antwortete Tassy und öffnete dann die Tür, woraufhin Kat die grellen, aus der Halle in die tiefe Dunkelheit dringenden Lichter in ihr Gesicht zu schlagen schienen, und das geräuschvolle Dröhnen der in einer undefinierbaren Richtung entspringenden Musik durchfuhr ihren gesamten Körper. "Was Lautstärke angeht, machen die ja keine halben Sachen", sagte sie an sich selbst gewandt und blickte sich dann in der funkelnden Halle um- noch nie zuvor hatte sie eine derartig große Anzahl an Besuchern dort gesehen, und an den Wänden schien es kaum einen nicht besetzten Fleck zu geben, doch sofort vielen ihr die unzähligen neuen Routen auf, die sich wie bunte Auswüchse über die rauen Wände zogen.

"So, wo ist unsere Pia?", fragte Kat und bahnte sich durch die Menschenmenge hindurch ihren Weg zur Kasse, wo sie von Tines fröhlich glänzenden, braunen Augen empfangen wurde. "Hallo! Ich habe schon gehofft, dass ihr kommen würdet. Heute ist der Eintritt selbstverständlich frei, für unser kleines Geburtstagskind."

"Hi, Tine", sagte Tassy und Kat sah aus den Augenwinkeln, wie sie neben sie trat. "Tagchen, Tass. Und alle anderen. Also, Pia liegt dort drüben"- sie wies mit einer ausladenden Handgeste auf einen an die Schließfächer angrenzenden Gang- "und schläft. Hat natürlich keine Ahnung, was hier vor sich geht und wie viel Zeit wir hier investiert haben, um dieses Nachtbouldern zu planen. Und es ist ja nicht so, dass sie nichts davon hätte. Geht einfach mal zu ihr und seht es euch an."

Kat und Tassy wechselten einen flüchtigen Blick, ehe sie sich von Tine abwandten und sich mühsam in die Richtung jenes Ganges zwängten, wo sich der Labrador befinden sollte.

"Habt ihr ein Geschenk für Pia dabei?", fragte Lilly schließlich, woraufhin Nick den Kopf schüttelte. "Nein, leider nicht."

"Und ihr beiden?"

Wiederum blickten sich Kat und Tassy kurz an, ehe sie gleichzeitig in die Innentaschen ihrer Jacken hineingriffen und jeweils einen in buntes Papier gehüllten Gegenstand herausnahmen. "Ein Ball?", fragte Kat mit einem Lächeln, woraufhin Tassy den Kopf schüttelte. "Wirst du gleich sehen. Und du, hast du einen Kauknochen, oder was ist das?"

"Quietscheknochen", antwortete Kat dann und setzte ihren Weg fort.

Als sie das Gedränge hinter sich gelassen hatten, sah Kat bereits einen in sich zusammengekugelten Schatten, der von den bunten Lichtern an die hölzerne Wand geworfen wurde und sich nur schwer erkennbar regte. "Pia", wisperte Lilly und trat an Kat sowie Tassy vorbei, "wo ist die kleine Maus? Pia, komm her".

Plötzlich sah Kat, wie sich die Ohren des Schattens aufstellten und dieser dann den Kopf hob, bevor eine kleine, helle Gestalt um die Ecke trat und mit beinahe amüsiertem Schwanzwedeln auf die Mädchen zutrabte.

"Pia!", riefen Lilly und Kat zugleich aus und strichen dem Hund sanft über den Kopf, während dieser mit freudig blitzenden, bernsteinfarbenen Augen um sie herumlief.

"Hey, Pia! Na, wo ist mein Mädchen?", rief Tassy dann, woraufhin der Hund mit einem erfreuten Wimmern auf sie zueilte. Belustigt beobachtete Kat, wie er sich gegen Tassy drückte und mit erwartungsvoll erhobener Vorderpfote die Ohren kraulen ließ. "Ja, bist ein feines Mädchen! Hier, das ist für dich, Pia", sagte Tassy und befreite den aus ihrer Tasche herausragenden Gegenstand von seiner bunten Verpackung, "he, weißt du was? Ich war mal in einer anderen Kletterhalle, und da gab es auch einen Hund." Kat blickte lächelnd zu Lilly und Nick hinüber und vermutete, dass auch ihnen aufgefallen war, wie sich Tassys Stimme verändert hatte, als sie mit dem Hund zu sprechen begonnen hatte. Diese fuhr fort: "Das war auch ein Labrador, genau wie du- aber er war schwarz. Und er hieß Mia- was für ein Zufall."

Als sie zu sprechen aufhörte, entnahm sie das Hundespielzeug schließlich gänzlich seiner Verpackung, und Kat konnte ein beinahe verstörtes Lachen nicht unterdrücken, als sie das aus Gummi bestehende Hühnchen sah. "Happy birthday, Pia." Tassy reichte es grinsend dem Hund, welcher es sanft mit den Zähnen entgegennahm und es dann vor sich ablegte, woraufhin ein groteskes, ohrenbetäubendes Geräusch aus dem Inneren des Spielzeuges drang. Zunächst vermutete Kat, der Hund würde sich vor jenen Lauten fürchten und das Spielzeug nicht noch einmal anrühren, dann jedoch packte dieser es erneut und hielt es Tassy entgegen, sodass diese es für sie werfen konnte. Irgendwann verschwanden beide aus dem Blickfeld der drei Freunde und das letzte, was Kat von Tassy hörte, war das verstörende Quietschen des mit leerem Blick auf einen undefinierbaren Punkt starrenden Plastikhühnchens.

"So, die haben wir für den Rest des Abends beschäftigt", murmelte Lilly, "Kat, leg' dein Geschenk für Pia einfach dort ab, wo sie eben gelegen hat."

Daraufhin nickte Kat und trat um die Ecke, als sich ihre schmalen Augen plötzlich zu gewaltigen, im bunten Licht funkelnden Kreisen weiteten: Dort, wo der Hund soeben noch gelegen hatte, befand sich ein gewaltiger Haufen unzähliger eingepackter Kauknochen sowie aller erdenklichen Spielzeuge- Bälle, Frisbeescheiben, Gummitiere und vieles mehr. Zögernd packte Kat den von ihr mitgebrachten Knochen aus und legte ihn auf den gewaltigen Haufen, bevor sie sich aus jener Ecke entfernten.

"So viel bekomme ich ja nichtmal zu Weihnachten", sagte Lilly beinahe empört, "wie dieser kleine verwöhnte Köter!"

"Also, lasst uns mal die Kletterschuhe holen", schlug Kat vor und blickte sich beinahe unwillkürlich noch einmal nach Tassy um, doch diese schien inmitten der unzähligen Menschen untergegangen zu sein.

Aufgrund des beißenden Geruchs, der aus dem Inneren der Schränke drang, warteten sie mit dem Öffnen, bis sich niemand mehr in ihrer Nähe befand und schlugen die Türen dann sofort wieder zu, als sie ihre Sachen entnommen hatten.

"So viele neue Boulder", flötete Lilly, "und Isa hat immer noch Hausarrest? Da bin ich ja ein bisschen schadenfroh!"

"Ach, Lilly, das ist fies", entgegnete die sich in ihre Kletterschuhe hineinzwängende Kat, woraufhin Nick einwarf: "Finde ich nicht. Dieser kleine Zwerg macht einfach nie, was ihre Eltern ihr sagen. So gut Isa auch Bouldern kann, so unverschämt und frech ist sie auch."

Daraufhin antwortete niemand, doch Kat musste eingestehen, dass Nick die Wahrheit sprach. So oft hatte sich Isa dem widersetzt, was ihre Eltern, verschiedene Lehrer oder ihre älteren Freunde ihr gesagt hatten und sich somit schon unzählige Male in Schwierigkeiten gebracht.

In ihre Gedanken versunken ließ Kat den Blick über die bunt funkelnden Wände schweifen, über die riesenhaften, gelblichen Halbkugeln, die von diesen in den Raum hineinragten und über die sich an der Wand entlangziehenden, prismaförmigen Volumen.

"Hallo!", ertönte plötzlich eine fröhliche Stimme und riss Kat somit aus ihren Gedanken, und als sie erschreckt aufsah, blickte sie in die freundlich funkelnden Rehaugen Cecilias.

"Hi", antwortete Kat, "na, wie geht's?"

"Bist du Cecilia?", erkundigte sich Lilly, ehe das Mädchen zu antworten imstande war.

"Ja, genau. Und du? Mit dir habe ich ja gestern nicht gesprochen."

"Ich bin Lilly. Ich habe dich auch zuletzt hier in der Halle gesehen, und gestern auf dem Skaterplatz. Warst du auch dort, um über Mauern zu hüpfen, oder bist du nicht so lebensmüde?"

"Nein, eigentlich nicht", antwortete Cecilia zögernd, "ich wollte nur ein wenig spazieren gehen."

"Also", unterbrach Nick, "sollen wir uns jetzt an die Wände begeben? Dann kannst du das arme Mädel ja da weiter zuquasseln, Lilly."

Kat nickte und sah aus den Augenwinkeln, wie sich Cecilias Lippen zu einem amüsierten Lächeln formten, bevor sie ebenfalls nickte. "Ich bin aber viel schlechter als ihr. Das ist doch dann blöd für euch."

"Ach, Quatsch." Kat schüttelte den Kopf. "Wir können ja mit dir ein paar einfache Routen klettern und dir das ein bisschen beibringen. Wenn du Lust hast."

"Das wäre cool!"

Somit drängten sie sich durch die Menschenmenge auf die dunkelblauen, weichen Matten und eilten schnellen Schrittes auf eine nur leicht überhängende, von den anderen deutlich überragte Wand zu, die von unzähligen taschen- sowie henkelförmigen Griffen übersät war. "Also, die orangefarbenen Routen sind am einfachsten, deswegen solltest du mit denen anfangen", sagte Lilly sofort und drängte sich an Kat und Nick vorbei, um Cecilia eine der für Anfänger geeigneten Routen zu zeigen.

"So einfach sieht das nicht aus", sagte Cecilia zögernd und Kat fiel das unverkennbare Funkeln der Unsicherheit in ihren Augen auf, als sie an der Wand hinaufblickte.

Über Lillys breites Gesicht legte sich jener scheinbar undurchsichtige Schleier der Überheblichkeit, den Kat ihr schon so oft herunterreißen wollte, während sie sprach: "Ist es aber. Darf ich es dir mal vormachen? Bitte!"

"Also... Ja, von mir aus."

Kaum hatte sie jene Worte gesprochen, begann sich Lilly an der Wand hinaufzuarbeiten- sie schien dies mit so viel Schnelligkeit sowie Eleganz zu tun, wie es in ihrer Macht stand, doch Kat bemerkte mit einem beinahe schadenfrohen Lächeln, wie viel Kraft sie dies kostete.

"Oh Gott", murmelte Cecilia mit tiefem Erstaunen in der Stimme, "das schaffe ich doch nie."

"Ich mache das ja auch schon länger als du!", rief Lilly geräuschvoll, ehe sie sich erneut auf die Matten zurückbegab. "Und auch länger als Tassy und Isa. Weißt du", fuhr Kat an Cecilia gewandt fort: "Isa, die leider heute nicht dabei ist, klettert erst seit zwei Jahren und ist gerade mal zwölf- sie ist wirklich gut. Tassy war auch von Anfang an nicht schlecht."

"Wer ist denn eigentlich Tassy?"

"Oh, Tassy ist heute auch dabei, spielt aber gerade mit dem Hund."

"Tassy erkennst du sofort", warf Lilly ein, "kurze, blonde Haare und ein rot kariertes Hemd- obwohl, beim Bouldern trägt sie wohl eher irgendein übergroßes T-Shirt. Das sind die Markenzeichen einer Tassy in freier Wildbahn."

Daraufhin nickte Cecilia lächelnd, ehe sie mit unsicherem Gesichtsausdruck an die Wand herantrat und vorsichtig nach den beiden großen, mit silbrig funkelnden Klebebandstreifen markierten Startbouldern griff. "Hier fängt es also an?"

Kat nickte, woraufhin sich Cecilia mit der Vorsicht eines an seine Beute heranschleichenden Raubtiers an den Griffen hinaufzog und ihre in den engen Kletterschuhen noch zierlicher wirkenden Füße auf den kleinen, walnussförmigen Tritten platzierte. "Und jetzt musst du einfach immer den nächsten Griff mit der jeweiligen Hand greifen und den Fuß auf den Tritt auf der anderen Seite setzen. Also, linke Hand... Ja, genau! Gut so!" Gespannt sah sie zu, wie sich das Mädchen an der Wand hinaufarbeitete und konnte das in ihr aufsteigende Staunen nicht unterdrücken, als Cecilia in ungewöhnlich kurzer Zeit sowie scheinbar ohne jegliche Schwierigkeiten den markierten Topgriff erreichte- Obgleich sie Tassys Worte keineswegs angezweifelt hatte, war sie nun sichtlich verblüfft über die ungewöhnlichen Fähigkeiten dieses Mädchens, und in ihr machte sich die Vorstellung breit, dass sich Cecilia mit regelmäßigem Training zu einem herausragenden Kletterer entwickeln könnte. Krampfhaft hielt sich das Mädchen an dem wie eine untergehende, glühende Sonne funkelnden Stein fest und ihre Füße hatten sich von den Tritten gelöst, sodass sie nun frei in der vom weißen Staub durchzogenen Luft hingen.

"Keine Angst, Cecilia, hier sind Matten. Du kannst einfach..." Gerade wollte Kat jenen Satz vollenden, als Cecilia ihren Griff lockerte und nach nur einem Herzschlag mit einem dumpfen Geräusch auf dem weichen Boden aufkam, wo sie in einer seltsam verdrehten Position liegen blieb.

"Alles in Ordnung?", erkundigte sich Kat und trat mit aufsteigender Besorgnis an sie heran, doch in den geweiteten Augen des Mädchens glomm tiefer Stolz und sie ballte die knochigen Hände zu Fäusten, ehe sie sich schließlich erhob.

"Ich hab's geschafft! Wow, ich hätte nicht gedacht..."

"Du hast es nicht nur geschafft", wurde sie von Lilly unterbrochen, "du hast es geflasht. Das bedeutet, beim ersten Versuch geschafft."

Das helle Funkeln des Stolzes sowie Selbstvertrauens in den Augen des Mädchens schien an Intensität zuzunehmen, während sie sich zögernd an Kat wandte: "War das... In Ordnung?"

"Das war mehr als in Ordnung, Cecilia, das war wirklich ziemlich gut. Ziemlich gut. Tassy hat definitiv Recht gehabt." Gerade hatte Kat diese Worte gesprochen, tauchte unmittelbar hinter Lilly eine Gestalt auf, die die ihr gegenüberstehende Kat mit einem hinterhältigen, verräterischen Grinsen anblickte, das Gummihühnchen unauffällig an Lillys Ohr hielt und es vorsichtig zusammendrückte. Nur schwer konnte Kat ein belustigtes Lachen unterdrücken und spürte jene Spannung aufsteigen, während Tassy, den rechten Moment abzuwarten scheinend, inne hielt. Sie blickte mit ihren tiefblauen Augen von einer Seite zur anderen und bedeutete der in Gelächter auszubrechen drohenden Kat mit einer kaum wahrnehmbaren Handgeste, Lilly nicht zu warnen. Als Kat ihr höhnisches, lautes Lachen nicht länger zurückhalten zu können glaubte, lockerte Tassy ihren Griff um das Hühnchen und ein ohrenbetäubendes Kreischen, als wäre das Spielzeug tatsächlich ein sich seinem sicheren Tod gegenübersehendes Tier, drang aus seinem Inneren. Lilly schrie auf und fuhr mit aufgerissenen Augen herum, während Tassy ebenso wie Kat geräuschvoll zu lachen begann.

"Du Arschloch! Du hässliches, kleines, verdammtes Arschgesicht!", kreischte Lilly und ließ sich mit ihrem gesamten Gewicht auf die vor Lachen auf ihre Knie gesunkene Tassy fallen, woraufhin diese mit einem Stöhnen in sich zusammensackte. "Geh' von mir runter, du Kamel!", keuchte sie und versuchte vergeblich, sich irgendwie unter Lilly herauszuwinden, schien jedoch bei jedem Versuch mehr Kraft zu verlieren und blieb schließlich reglos liegen. "Okay, du hast gewonnen, du Riesenarsch".

"Wie hast du mich genannt?", fragte Lilly spöttisch.

"Gar nicht!", keuchte Tassy, "geh' einfach von mir runter."

Schließlich ließ Lilly von Tassy ab, woraufhin sich diese mit einem erleichterten Seufzen erhob und auf das noch immer in starr in ihrer Hand ruhende Gummihühnchen blickte. "Gut gemacht."

"Neuer bester Freund?", fragte Kat belustigt, woraufhin Tassy grinsend nickte. "Klar. Aber ich glaube, Pia will es zurückhaben. He, Pia!", rief sie dann, als die bernsteinfarbenen Augen des Hundes plötzlich inmitten der unzähligen Kletterer, die sich ihren Weg an den Matten entlangbahnten, auftauchten, und warf ihr das Hühnchen schließlich zu, sodass Pia es geschickt mit den Zähnen auffangen konnte.

"Also, Cecilia", hob Kat dann zu sprechen an und legte Tassy die Hand auf die Schulter, "das ist Tassy. Tassy, das ist Cecilia."

"Oh, hi!", antwortete Tassy, "ich habe dich vor ein paar Tagen schon hier gesehen. Bist erst zum zweiten Mal in der Halle hier, stimmt's?"

"Ja, ich bin vorher auch noch nie geklettert."

"Und, gefällt's dir?"

"Ja, sehr sogar. Weißt du, eigentlich bin ich eher etwas ängstlicher, deswegen hätte ich auch nicht gedacht, dass ich zu einer Sportart wie dieser fähig bin."

"Ich bin auch ein ziemlicher Schisser!", antwortete Tassy, woraufhin die neben ihr stehende Kat bloß den Kopf schüttelte. "Ich habe Höhenangst. Alles, was höher ist als.."- sie demonstierte mit einer Handgeste eine Höhe, wie sie ungefähr der eines Pferderückens entsprach- "macht mir Angst."

"Na ja", sagte Cecilia ruhig, "so ängstlich kannst du ja nicht sein, nach dem, was ich gestern auf dem Parkour-Platz von dir gesehen habe. Über diese ganzen Mauern springen und so weiter ist auch nicht so ungefährlich."

"Aber nicht hoch", entgegnete Tassy, woraufhin Cecilia bloß nickte.

"Also, sollen wir ein paar der neuen Boulder probieren?", fragte Tassy, woraufhin die übrigen mit einem Nicken antworteten.

Kat sah zu, wie sie ihren Blick kurz über die schräge Wand schweifen ließ und dann auf eine Route mit schmalen, leistenförmigen Griffen zutrat.

"So- die Rote probier ich mal... Nur so zum Spaß." Kaum hatte sie jene Worte ausgesprochen, begann sie sich an der Wand hinaufzubewegen. Scheinbar mühelos hielt sie die ihren Fingern kaum Platz bietend aussehenden Griffe gepackt und vermochte sich auch festzuhalten, als sie ihre Füße einmal mit einer schwungvollen Bewegung von den Tritten lösen und im selben Augenblick nach dem schmalen, unter einem großflächigen Volumen befestigten Griff schnappen musste.

"Allez, Tassy!", rief Kat aus und stellte sich mit ausgestreckten Armen unter ihre Freundin, "ich spotte dich!"

Hinter sich vernahm sie die an Lilly gewandte Stimme Cecilias: "Spotten?"

"Sie stellt sich unter Tassy, um im Fall eines Sturzes die Landung zu dämpfen. Beim Spotten muss man aufpassen, dass der Kopf oder der Oberkörper des Kletterers nicht gegen die Wand oder so kracht, verstehst du."

Tassy hatte den letzten Griff erreicht und bedeutete Kat nun mit einem vielsagenden Blick, aus dem Weg zu gehen. "Wenn ich auf dir lande, bist du platt!"

Somit trat Kat zur Seite und sah, wie Tassy mit einem triumphierenden Funkeln in den blauen Augen auf der Matte aufkam, woraufhin sie ihrer Freundin die zu einer Faust geballte Hand entgegenstreckte. "Schön geflasht. Check!" Tassy berührte Kats Faust mit der ihren, ehe sie mit einem Nicken auf die Wand hinter sich wies und sagte: "So, jetzt du."

"Denkst du, ich schaffe das?"

"Wenn ich das flashe, kannst du es auch machen, Kat. Beweg' deinen Hintern dort rauf", sagte sie, woraufhin Kat ihrerseits an die Wand herantrat und sich die schmalen, mit schwarzem Klebeband markierten Startgriffe ansah- wie auch die darauffolgenden Griffe schienen sich nicht mehr als drei Fingerspitzen an den schmalen Leisten halten zu können, beim Berühren der steinähnlichen Plastikstücke fiel Kat jedoch eine erstaunliche Griffigkeit auf.

Präzise traf sie jeden der schmalen Tritte und es kostete sie nur wenig Kraft, sich schließlich an dem letzten, schmalen Griff hinaufzuziehen sowie dann mit einer schnellen Bewegung nach dem rundlichen, großen Topgriff zu greifen. Rasch zog sie ihre zweite Hand hinzu und hielt die tiefrot funkelnde Kugel sicher, während sie im Stillen die für das tatsächliche Beenden einer Route erforderlichen Sekunden abzählte.

Eins, zwei, drei. Dann ließ sie von dem aus Plastik bestehenden Stein ab und kam auf den sie mit ihrer kalten, weichen Oberfläche empfangenden Matten auf, wo Tassy ihr fröhlich entgegenblickte. "Hab' ich doch gesagt. Schlag ein!", sagte sie, und als sich Kat gerade erhoben hatte, zeigte Tassy mit beinahe aufgeregtem Gesichtsausdruck auf eine ihr gegenüberliegende Wand. "Sollen wir das probieren?!", rief sie aus, "ein Laufboulder! Da muss man an den Volumen hochlaufen, das wird lustig!"

"Nicht so stürmisch", sagte Lilly, "ich bin müde."

"Du bist immer müde", entgegnete Tassy, woraufhin Kat ein belustigtes Lächeln nicht unterdrücken konnte. Während Lillys hin und wieder träges sowie zum Teil humorloses Verhalten eher dem eines überarbeiteten Erwachsenen ähnelte, hatte Tassy die Energie und oft auch den Charakter eines fünfjährigen Kindes- nicht, dass sie keine vernünftigen Entscheidungen zu treffen imstande war, doch wenn Kat an einige das blonde Mädchen in Lachtränen ausbrechen lassende Dinge dachte, fiel ihr auf, dass Lilly darüber womöglich leicht das mürrische Gesicht verziehen würde.

"Ja, kommt, lasst uns rübergehen", sagte Kat schließlich und sah, wie Tassy Cecilia anblickte: "Willst du einfach mal mitmachen, oder traust du dir das noch nicht so zu? Ist gar nicht so schwer, weißt du, du musst einfach hochlaufen."

Das von Unsicherheit geprägte Zögern in Cecilias Stimme war unverkennbar, doch schien die Sorge des Mädchens nicht ihrer Unfähigkeit zu gelten. Kat vermutete eher, dass sie jenen Boulder zu schaffen glaubte, sich jedoch vor ihren neuen Freunden als angeberisch sowie arrogant dazustehen fürchtete.

"Also... Ich kann's mal versuchen, warum nicht."

"Also, Cecilia", sagte Lilly und trat neben das Mädchen, "diese Wand dort nennt sich Platte. Das bedeutet, dass sie nicht überhängt, sondern... Na ja, in die andere Richtung geneigt ist."

"Die Pladdeee!", flötete Tassy und trabte neben Lilly her, die erneut an Cecilia gewandt zum Sprechen anhob: "Solche Boulder sind ja nicht so meins. Ich laufe nicht gerne irgendwo hoch, zumindest nicht beim Bouldern. Beim Parkour ist das ja etwas Anderes. Machst du sonst noch irgendeinen Sport? Ich war ein Schwimmer, bevor ich die Liebe zum Bouldern entdeckt habe."

"Cool", brachte Cecilia nur zustande, dann sprach Lilly bereits weiter, doch Tassy hörte ihren Worten nur am Rande zu. Natürlich würde Lilly dem Mädchen nun ihre gesamte Lebensgeschichte erzählen und alles, was sie in irgendeiner Weise in Cecilias Interesse zu liegen glaubte, sodass Tassy nicht die geringste Chance hätte, ein Gespräch mit dem Mädchen zu beginnen und sich mit ihr anzufreunden.

Als sie den Volumen-Boulder erreicht hatten, schenkte Tassy Lillys Worten erneut Aufmerksamkeit: "Ich fahre außerdem gerne Fahrrad", hatte diese gerade gesagt, woraufhin Cecilia den Kopf schüttelte: "Also, einfach Fahrrad fahren macht mir nicht so viel Spaß. Was ich gerne machen würde, ist BMX-Rad fahren. Da kann man coole Tricks mit machen."

"He, ich fahre BMX", warf Tassy schnell ein, woraufhin sich Cecilia mit interessiertem Blick zu ihr umwandte. "Wirklich?"

"Na ja, ein wenig. Ein paar Anfängertricks habe ich schon drauf, das war's aber auch."

"Welche denn?"

Tassy ging ihre nächsten Worte in ihren Gedanken durch. Sollte sie Cecilia alles sagen, was sie konnte, oder sollte sie, wie sie es immer tat, ein wenig untertreiben? Denn wenn jemals der Fall eintreten sollte, dass das Mädchen ihre Fähigkeiten zu Gesicht bekam, wäre sie womöglich enttäuscht, da sie zu viel erwartet hätte.

"Also, ich kann einen ganz kleinen Sprung", begann sie, woraufhin Kat einwarf: "So klein ist der nicht." Sei doch still, dachte Tassy verzweifelt, fuhr jedoch fort: "Ich konnte mal dieses... wie heißt es noch... Cross-up, oder so, wo man den Lenker so umdreht. Hab's aber lange nicht mehr gemacht. 'Ne Drehung müsste drin sein, kurz auf einem Rad fahren... Ja, das war's. Nichts Großartiges."

"Ich kann gar nichts davon", sagte Cecilia, "vielleicht willst du mir das ja irgendwann beibringen?"

"Klar doch, wäre cool", sagte Tassy, bevor Lilly erneut das Wort ergriff und Cecilia mit Unzähligen ihrer Lebensgeschichten zu durchlöchern begann.

"Wer fängt an?", fragte Kat an Tassy gewandt, woraufhin diese lächelnd antwortete: "Ladies first. Du fängst also an, Nick."

"Hahaha, lustig", murmelte dieser bloß, "nein, du fängst an. War deine Idee."

Daraufhin nickte Tassy und ließ ihren Blick kurz über die prismaförmigen, sich quer über die beiden in einem stumpfen Winkel aufeinandertreffenden Wände zog. Sie trat zögernd an diese heran und ging in Gedanken die Schrittfolgen durch, um zu überlegen, welchen Fuß sie auf das erste Volumen setzten sollte.

Dann tat sie einige Schritte nach hinten, nahm ein wenig Anlauf und sprang schwungvoll auf das sich an die Wand schmiegende, hölzerne Volumen, von welchem sie in nur wenigen Herzschlägen die restlichen zu überqueren imstande war. Sie sprang nach links, drückte sich dort mit dem Fuß ab und trat auf ein höher gelegenes Volumen, wo sie dann schließlich zum Stehen kam. "Bin oben!", rief sie und bemühte sich, ihr Gleichgewicht auf dem leicht nach unten geneigten Holz nicht zu verlieren, während sie ihre Hände langsam in das mit neongrün leuchtendem Tape abgegrenzte Quadrat legte. "Eins, zwei, drei- Geschafft!", rief sie dann und blickte zu Kat hinab, "hey, sieh dir das an, die haben nachtleuchtendes Tape!"

"Herzlichen Glückwunsch!", antwortete Nick, bevor sich Tassy umwandte und nach einem kaum wahrnehmbaren Zögern zu Boden sprang. "War eigentlich ganz in Ordnung. Wenn man seinen Fuß mal dort hinaufbekommen hat"- sie wies auf ein eher schmales Dreieck- "ist der Rest easy."

Kat brachte jene Route mit kaum mehr Anstrengung als Tassy hinter sich, während es Nick einige Anläufe kostete- nicht etwa, weil er nicht an der Wand hinaufzulaufen vermochte, sondern aufgrund der Überwindung, derer es bedarf. Auch Cecilia versuchte es zu Tassys sowie Nicks Überraschung und traf einige der hölzernen Volumen mit ungewöhnlicher Präzision, schien jedoch bei einem der letzten Schritte das Gleichgewicht zu verlieren und stürzte unsanft zu Boden, woraufhin Tassy ein erschrecktes Zusammenzucken nicht unterdrücken konnte. "Das war gut", bemerkte sie, als das Mädchen erneut aufgestanden war, "willst du's nochmal probieren?"

 

Das erste Treffen

 

"Nein, lieber nicht. Ich sollte besser Dinge üben, die meinem niedrigen Niveau entsprechen", antwortete Cecilia mit einem Lächeln. Dies tat sie auch im weiteren Verlauf des Abends; während die vier Freunde sich an einigen weißen und somit auf dem vorletzten Schwierigkeitsgrad befindlichen Bouldern die Hände blutig kletterten- Tassy spürte letztendlich ein unangenehmes Ziehen in ihren Fingerspitzen und von ihren Handinnenflächen hatten sich einige nun auf penetrante Art wabbelnde Hautfetzen gelöst, während an Nicks schmalen Fingern Rinnsale dunkelroten Blutes herabflossen- brachte Cecilia mit ungewöhnlicher Ausdauer sowie scheinbar nie ermüdender Kraft alle orange- und lilafarbenen Routen, den ersten sowie zweiten Schwierigkeitsgrad also, hinter sich.

Nun saßen sie auf einigen verschlissenen, mit rotem, lederähnlichen Stoff überzogenen Sesseln, welche in einem Kreis um einen aus Paletten bestehenden Tisch aufgestellt waren, und teilten sich eine riesenhafte Pizza. Da nur vier jener Sessel vorhanden waren, hatte sich Kat auf Tassys Schoß niedergelassen und anschließend ihre Füße auf der ihr gegenübersitzenden Lilly platziert, die ihr daraufhin einen vorwurfsvollen Blick geschenkt hatte.

"Wie lange hat die Halle heute auf? Es sind nämlich längst nicht mehr so viele Leute da wie vorhin, als wir gekommen sind."

"Bis Sonnenaufgang", antwortete Tassy und grinste daraufhin, bevor sie blitzschnell ein großes Stück aus Kats Pizza herausbiss und diese dann mit einem unschuldigen Funkeln in den Augen anblickte. "Ich war's nicht."

"Tassy, Cecilia und du, ihr habt ein gemeinsames Hobby", sagte Lilly dann und blickte kurz zu Cecilia.

"Welches?"

"Schreiben".

"Echt?", fragte Tassy mit unverkennbarer Überraschung in ihrer Stimme an das Mädchen gewandt, welches schüchtern nickte.

"Ich schreibe nicht so oft, aber wenn ich mal einen... Na ja... Schreibfluss habe, dann bin ich auch fleißig."

"Was schreibst du so?"

Cecilia zögerte, ehe sie antwortete: "Viel. Momentan schreibe ich ein Fantasy-Buch, aber ich mag auch Kurzgeschichten und probiere mich hin und wieder an Gedichten."

"Ich auch!", rief Tassy dann fröhlich aus, "worum geht es in deinem Buch?"

"Also, hauptsächlich um solche Gestalten wie Elfen, Kobolde... Aber es ist kein Kleinkinderbuch, wie man vielleicht meinen könnte, es kommen auch Kämpfe und so weiter vor."

"Hey, sowas Ähnliches habe ich auch geschrieben! Wow, ich kenne sonst keinen, der auch ein Fantasy-Buch schreibt! Wie ist dein Stil so?"

"Schwer zu erklären", sagte Cecilia schüchtern, "müsstest du lesen, um das zu wissen."

"Tassys Stil ist so... so... wiedererkennbar", sagte Kat und blickte über die Schulter zu Tassy, die dankbar lächelte.

"Ich schreibe übrigens auch ein Fantasy-Buch", warf Lilly beinahe vorwurfsvoll ein.

"Aber nicht die Art von Fantasy, die ich meine", entgegnete Tassy.

"Stimmt", meinte Kat, "sie schreibt diese typischen Teenager-Stories, mit gutaussehenden Jungs oder diesen typischen Dämonen-Kerlen, die irgendwelche sechzehnjährigen Schulmädchen in ihre düstere Welt entführen!"

"Das ist nicht so mein Fall, ehrlich gesagt", sagte Cecilia lächelnd, "solche Filme gucke ich auch nicht gerne."

"Ich auch nicht", antwortete Tassy, "aber über meinen Musik- und Filmgeschmack lässt sich auch streiten."

"Was magst du denn so?"

"Hast du das Schild an der Tür gelesen?"

Cecilia nickte. "Kannst du damit was anfangen? Wenn ja, dann hast du die Antwort."

"Echt, auf sowas stehst du?"

Nun war es Tassy, die nickte, obgleich sie zunächst eine negative Reaktion Cecilias erwartete.

"Ich auch!", rief diese dann aus, "ich stehe generell total auf Horrorfilme und so weiter. Hab' aber leider noch nicht so viele geguckt..."

"Also, ich hab' einige zuhause", warf Tassy ein, "kann dir ja mal welche ausleihen."

"Oder wir gucken sie zusammen."

"Coole Sache!", antwortete sie, "lass machen. Wir können uns ja alle zusammen treffen und einen DVD-Abend mit Horrofilmen und ähnlichem Kram machen. Habt ihr in nächster Zeit Zeit?", fragte sie dann an die übrigen gewandt, die jedoch alle den Kopf schüttelten.

"In den nächsten Tagen definitiv nicht", sagte Kat traurig, woraufhin Lilly nickend bestätigte. "Ich auch nicht".

"Ich fahre über das Wochenende mit meinen Eltern weg", antwortete Nick, "und danach ist wieder jeden Tag irgendwas. Fußballtraining, Nachhilfe und so."

"Doof", meinte Tassy, "sonst hätten wir ja..."

"Ihr beide könnt euch ja auch alleine treffen", warf Lilly mit einem höhnischen Grinsen ein, als wüsste sie, ihre Freundin mit jenen Worten verunsichert zu haben.

"Wenn Cecilia nichts dagegen hat."

"Nein, wieso sollte ich? Ich meine, offensichtlich haben wir ja wirklich die selben Interessen..." Ihre Stimme war von derselben Unsicherheit sowie Nervosität erfüllt wie Tassys gesamte Gedanken, und nachdem sie irgendwie plötzlich auf ein anderes Thema zu sprechen gekommen waren und ihr mögliches Treffen nicht weiter erwähnt hatten, wartete Tassy, bis sie sich alle voneinander verabschiedeten, als sie dann fragte: "Also, Cecilia, sollen... Sollen wir uns dann wirklich irgendwann mal treffen, oder..."

"Ja, das wäre echt cool." Sie blickte mit einem unsicheren Lächeln zu Boden.

"Wann hättest du denn Zeit?"

"Morgen, eigentlich. Was... was ist mit dir?"

Tassy grinste. "Ich hab' immer Zeit. Sollen wir uns dann wieder am Skaterplatz treffen? Ich weiß nämlich nicht, wo du wohnst."

Cecilia nickte. "Gut."

"Gut."

Kalter, den dichten Nebel wie graue Rauchfäden aufwirbelnder Wind strich über die feuchten Wiesen und zauste Tassys blondes Haar, während sie mit in den tiefen Taschen ihrer weiten Jeans vergrabenen Händen an einer jener bunten Mauern lehnte. In ihre Gedanken versunken ließ sie die blauen Augen über den sich weit erstreckenden Platz sowie den Fluss schweifen, der sich mit nie verstummendem Rauschen seinen ewigen Weg durch die Landschaft bahnte.

Winzige Regentropfen prasselten auf den Grund, perlten an Tassys schwarz glänzender, ausladender Kunstlederjacke ab und ließen ihr nunmehr vor Nässe triefendes Pony schwer in ihr Gesicht fallen, während das Mädchen auf einen undefinierbaren Punkt in der Ferne blickte.

Obgleich Tassy noch nicht allzu lange an jenem Ort verharrte, spürte sie mit jedem vorüberstreichenden Augenblick dieses unangenehme Gefühl der Nervosität in sich wachsen und blickte schließlich zu Boden.

Was hast du dir dabei gedacht?, fragte sie sich im Stillen, du kennst das Mädchen doch gar nicht!

Tassy war in der Gegenwart anderer Personen immer zurückhaltend gewesen und hatte es nur selten zustande gebracht, jemanden anzusprechen oder gar sich aus eigenem Antrieb mit jemandem anzufreunden- und nun war sie im Begriff, sich mit einer Person zu treffen, mit der sie sich bloß ein Mal unterhalten hatte. Was ist auf einmal los mit mir?

Plötzlich ging sie schnellen Schrittes und mit dem schweren Gewicht des auf ihren schmalen Schultern lastenden Rucksacks an der grauen Straße entlang und ihr langes, glattes Haar wallte im Wind, während sie dem Rascheln der sich zu ihren Seiten erstreckenden Hecken lauschte. Die geräuschvollen Laute der langsam vorüberrollenden Fahrzeuge schienen weit entfernt und Tassy war in ihre Gedanken versunken, als eine rufende, helle Stimme hinter ihr ertönte: "He, Tassy, warte mal!"

Zögernd blickte sie mit ihren großen Augen hinter sich und sah das Mädchen mit dem langen, zu zwei ordentlichen Zöpfen geflochtenen Haar schüchtern an, als dieses fragte: "Sollen wir zusammen zur Schule gehen? Meine Mama mag nicht, wenn ich allein gehe."

"Okay. Meine auch nicht", sagte Tassy leise und blickte unwillkürlich zu Boden, während Kat sprach: "Ich habe gestern ein richtig spannendes Buch gelesen, das dich bestimmt auch interessiert. Soll ich es dir mal ausleihen?"

"Wenn du willst."

"Sollen wir uns mal zum Spielen treffen?"

"Okay."

"Tassy?"

"Ja."

"Tassy!" Eine freundliche Stimme riss sie aus ihren Gedanken, und als sie mit einem leisen Anflug von Verwirrung aufblickte, fand sie sich in den wie flüssiger Bernstein leuchtenden Augen Cecilias wieder.

"Hi", sagte diese, woraufhin Tassy mit einem Grinsen nickte. "Hey. Tut mir leid, ich war gerade woanders."

"Wo denn?"

Sie blickte zu Boden, ehe sie lächelnd antwortete: "Auf dem Weg zur Schule, in der fünften Klasse. Nichts Besonderes."

"Mit wem?"

Tassy legte fragend den Kopf schief, woraufhin Cecilia fortfuhr: "Wenn man so in Erinnerungen schwebt, dann ist da doch meistens jemand dabei, oder?"

"Ach so, das meinst du", antwortete diese, "Kat war dabei. Als Zehnjährige."

"Du kennst sie seit der fünften Klasse?"

"Ja, schon ziemlich lange, was?" Cecilia nickte daraufhin und blickte zu den im dichten Nebel nur als verschwommene Silhouette erkennbaren Skaterrampen hinüber, dann sagte Tassy: "Ich würde sagen, es ist ein bisschen zu nass, um Tricks zu üben. Vor allem auf diesen Rampen. Weißt du, ich will dich nicht auf dem Gewissen haben."

"Wäre ja nicht deine Schuld, wenn ich mich verletzen würde", antwortete sie lächelnd, "aber du hast Recht, bei dem Wetter ist das wohl nicht die beste Idee."

"Wir haben ja immer noch die Möglichkeit, zu mir nach Hause zu gehen und uns diesen Film anzugucken. Und..." Sie zögerte. "Na ja, meine Mutter und ich wohnen zwar nicht in dem größten aller Häuser, aber bestimmt in dem ungewöhnlichsten."

"Was ist denn so ungewöhnlich?"

"Wirst du dann sehen", antwortete Tassy mit einem Grinsen, "lass uns gehen."

Tassy öffnete lautlos die hölzerne, eine tiefbraune Färbung tragende Tür und wollte gerade in den nicht sehr geräumigen Flur hineintreten, drehte sich jedoch noch einmal mit dem sie von nun an ständig zu begleiten scheinenden Gefühl der Nervosität zu Cecilia um.

"Ich hab' ganz vergessen, zu fragen, ob du Angst vor..."

"BONNIE!", unterbrach eine schrille, aus irgendeiner Richtung im Inneren des Hauses dringende Stimme ihre Worte, als eine Gestalt mit der Geschwindigkeit eines Pfeiles auf Tassy zustürmte und sich mit vor Freude geweiteten, dunkel leuchtenden Augen an dieser vorüberzuzwengen versuchte. Der hochgewachsene, breitschultrige Schäferhund mit den an die Pranken eines Löwen erinnernden Pfoten stellte die spitzen Ohren auf und blickte Cecilia mit seinem wohlgeformten, wolfsähnlichen Gesicht entgegen, woraufhin Tassy diese aus den Augenwinkeln lächeln sah.

"Ich habe keine Angst vor Hunden", sagte sie mit freundlicher Stimme und bückte sich, bis ihre Augen auf einer Höhe mit denen der Hündin waren.

"Darf ich vorstellen, Cecilia? Das ist Bonnie, meine beste Freundin auf der ganzen Welt!", sagte Tassy und tätschelte den pelzigen, von einem breiten Lederhalsband gezierten Hals des Tieres. "Sie ist süß", antwortete das Mädchen, "wie alt ist sie?"

Einen nicht lange anhaltenden Augenblick zögerte Tassy, ehe sie antwortete: "Ähm... Vier. Ja, sie müsste inzwischen vier sein."

"Ein sehr verspieltes Mädchen, was, Bonnie?"

"Definitiv", antwortete Tassy lächelnd und bedeutete Cecilia dann mit einer Handgeste, ihr in das Haus hineinzufolgen, "da du dieses Ungeheuer ja gut überstanden hast, kannst du dich auf das nächste vorbereiten."

"Oh, du hast noch einen Hund?"

"Nein", antwortete sie mit einem ironischen Grinsen, "sondern meine Mutter." Cecilia schenkte ihr einen zunächst unsicheren Blick, dessen Ausdruck jedoch tiefem Erstaunen wich, als sie schließlich in den Flur getreten war: Über die gesamten gelblich-weißen Wände sowie die recht niedrige Decke zogen sich unzählige bunter Griffe wie ein kräftiger Regenbogen über einen wolkenlosen Sommerhimmel und an einigen der sich zu ihren Seiten auftuenden Türen waren keine Türklinken vorhanden; sie schienen sich sofort, ohne einen Schlüssel benutzen zu müssen, aufstoßen zu lassen.

"Oh Mann", murmelte sie an Tassy gewandt, woraufhin diese ein zufriedenes Grinsen aufsetzte. "Überrascht?"

"Das ist eine echte Kletterer- Wohnung. Macht deine Mutter das auch?"

Daraufhin schüttelte Tassy mit unwillkürlicher Belustigung den Kopf. "Nein, meine Mutter ist nicht wirklich eine Sportskanone. Normale Leute dürfen hier auch gerne die Treppe oder- stell's dir vor- den Fußboden benutzen, aber ich bevorzuge die Decke, um mich von Raum zu Raum fortzubewegen."

"Also, was soll ich sagen, das ist wirklich, wirklich verdammt cool! Dass deine Eltern dir das erlauben! Meine Mutter würde mir den Vogel zeigen, wenn ich vorhätte, unser Haus zur bewohnbaren Boulderhalle umzubauen. Meine Mutter ist manchmal sowieso etwas streng. Sie erlaubt mir zum Beispiel nicht, ein Feuerzeug mitzunehmen. Komisch, oder?"

"Meine Mutter ist ziemlich locker", antwortete Tassy lächelnd, "soll ich sie dir vorstellen?"

Cecilia nickte zögernd, woraufhin Tassy ihr abermals bedeutete, ihr zu folgen. Sie öffnete die hölzerne Tür am Ende des kleinen Flures, wo sie eine weiße Wolke von dichtem Dampf sowie der verführerische Duft unzähliger Kräuter empfing und eine geräuschvolle, eine undefinierbare Melodie trällernde Stimme an ihre Ohren drang.

"Ich glaube, sie kocht irgendetwas. Und sie singt", sagte sie an Cecilia gewandt und erhob dann die Stimme: "Hey, ich bin wieder da, Rosita"" Der durchdringende Gesang verstummte mit einem Mal und durch den dichten Dampf hindurch sah man eine sehr voluminöse Gestalt aus der vom Rest des mit einem schmalen, von alten Holzstühlen umgebenen Tisch gefüllten Raums abgetrennten Küche treten.

"Oh, hallo, Tassy!", sagte die Frau mit warmer Stimme und trat an die Mädchen heran, woraufhin sich ihr rundes, von tiefschwarzem Haar umsäumtes Gesicht zu einem freundlichen Lächeln verformte.

"Das ist Cecilia", sagte Tassy, woraufhin das Mädchen höflich ihre Hand ausstreckte.

"Hallo."

"Hallöchen, Cecilia", antwortete Tassys Mutter und schüttelte vorsichtig die Hand des Mädchens, "ich hoffe, Bonnie hat dich nicht erschreckt."

"Nein, nein", antwortete diese, "ich hatte selbst mal einen Hund, wissen Sie."

"Oh, du brauchst nicht... Nenn mich einfach Rosita, in Ordnung?"

"In Ordnung."

"Wollt ihr was essen? Ich koche gerade Suppe", fragte sie dann und bewegte sich tänzelnd in die von undurchdringlichem Wasserdampf angefüllte Küche, woraufhin Tassy nickte. "Ja, von mir aus. Willst du auch was futtern, Cecilia? Meine Mutter holt immer jegliches Gemüse- wir essen kein Fleisch, weißt du- und klatscht es in die Suppe rein."

"Ja, warum nicht. Ähm... könnte ich mal eure Toilette benutzen?"

"Klar, du musst einfach den"- sie wies mit dem Finger auf die sich an der Wand entlangziehenden, tiefgrünen Griffe- "grünen Bouldern folgen."

"Okay, bin sofort wieder da", sagte Cecilia dann und trat mit lautlosen Schritten aus dem Raum hinaus, woraufhin sich Tassy mit einem Seufzen auf einen der knarrenden, von verschlissenen Stoffüberzügen bedeckten Stühle sinken ließ. "Oh Mann", murmelte sie dann an sich selbst gewandt und bemerkte nur am Rande, wie ihre Mutter mit geräuschvollem und schwerfälligen, aber dennoch beschwingten Gang hinter sie trat.

"Nicht Lilly und nicht Kat, was?" fragte sie, und Tassy konnte sich das beinahe höhnische Grinsen in ihrem Gesicht vorstellen.

"Nein, verdammt, ich kenne Cecilia kaum!"

"Warum dann mit ihr treffen?"

"Wie es scheint, haben wir ziemlich ähnliche Interessen, und anfangs habe ich gedacht, wir könnten uns alle zusammen treffen- also, mit Kat und Lilly. Na ja, jetzt sitze ich mit ihr allein hier."

"Was habt ihr vor?"

" 'Nen Film angucken, und vermutlich Bouldern. Mal sehen, wenn's nachher aufhört zu regnen, wollte ich ihr ein paar BMX-Tricks beibringen."

"Dann seit ihr wenigstens beschäftigt", sagte Rosita mit einem erleichterten Ausdruck in der Stimme, "sie scheint aber nett zu sein. Netter als diese Lilly!"

"Hey, das ist nicht nett", sagte Tassy, konnte ein Lächeln jedoch nicht zurückhalten.

"Was? Darf doch Meinung sagen?"

"Ja, klar", murmelte Tassy nur, als sich die Tür mit einem kaum wahrnehmbaren Quietschen öffnete und Cecilia vorsichtig den Raum betrat.

"Hier, pflanz dich hin", sagte Tassy zu ihr und wies auf einen der Stühle, woraufhin sich Cecilia langsam und mit vorsichtigen Schritten an den Tisch setzte.

Der süße Geruch unzähliger Kräuter, den Tassy seit ihrem Betreten des Hauses nur am Rande wahrgenommen hatte, nahm an Intensität zu, als sich ihre Mutter mit einem großen, silbrig glänzenden Topf näherte und ihn sowie drei mit kunstvollen Mustern gezierte Suppenteller auf dem runden Tisch abstellte.

"So, guten Appetit", flötete sie dann und ließ sich ihrerseits auf einem der Stühle nieder, der ein derartiges Knarzen erzeugte, als drohte er unter dem Gewicht der Frau zusammenzubrechen.

"Also, Cecilia", sagte sie an das Mädchen gewandt, während sie mit ihrer fleischigen Hand nach der Suppenkelle griff und sich eine gewaltige Menge des rötlichen, dickflüssigen Breis in ihren Teller goss.

"Sieht aus wie Kotze", sagte Tassy beiläufig, woraufhin ihre Mutter ihr einen amüsierten, jedoch vorwurfsvollen Blick schenkte.

"Tassy, du solltest vor dem Mädel hier mal ein wenig Anstand zeigen!" Aus den Augenwinkeln sah sie ein belustigtes Lächeln um Cecilias Lippen spielen, dann murmelte Tassy grinsend: "Reg' dich ab, Mama, es ist ja leckere Kotze."

"Schmeckt wirklich lecker", sagte Cecilia nach einiger Zeit, woraufhin Tassy lachte: "Ja, nicht wahr, wenn man die Augen schließt. Meine Mutter kocht generell leckere Sachen. Sehen zwar nicht so lecker aus, aber..."

"Jetzt reicht's aber!"

Als Tassy und Cecilia ihre Teller geleert hatten, nahm die Frau sie entgegen und verschwand damit in der noch immer von Dampf umwobenen Küche, woraufhin sich Tassy dann erhob und an Cecilia gewandt fragte: "Also... Sollen wir rauf in mein Zimmer gehen und uns diesen Film reinziehen, oder hattest du irgendwas..."

"Nein, das ist eine ziemlich gute Idee."

"Was wollen die Damen denn gucken?", ertönte Rositas durchdringende Stimme aus der Küche, "wahrscheinlich wieder diesen Kram, den du dir immer anguckst, Tassy, dieses..."

"Nein, nein, Mama, wir gucken so einen Mädchenfilm. Über so eine... ähm... hochgeschminkte, aufgetakelte Cheerleader-Zicke und... und ihre... potthässliche, unbeliebte Schwester. Genau."

"Von wegen, ich kenne doch meine Tassy, und ich kenne auch Tassys Freundinnen! Cheerleader-Zicke, von wegen! Cheerleader-Zicke, die von Elefant zertrampelt wird, das würde ich noch glauben!"

"Okay, lass uns gehen", sagte Tassy dann zu Cecilia und eilte die unter ihrem Gewicht groteske, knarrende Töne erzeugende Holztreppe hinauf, die geradewegs in einen weiteren schmalen, von an den Wänden befestigten Griffen in ein Spiel unzähliger Farben verwandelten Flur führte.

Cecilia folgte ihr mit zaghaften, auf dem von einem rötlichen Teppich bedeckten Boden kaum hörbaren Schritten in ein geräumiges Zimmer hinein, und Tassy glaubte, den Ausdruck der Überraschung in den braunen Augen des Mädchens spüren zu können.

"Du hast einen... warum hast du einen..."

"...Traktor-Reifen von der Decke hängen?", beendete Tassy den Satz grinsend, "weil's lustig ist."

Sie schenkte Cecilia ein kurzes Lächeln und betrat dann den Raum, der sie in seine vertraute, gemütliche Atmosphäre eintauchen ließ.

Tassys Bett sowie der schmale Kleiderschrank und das sich in eine Ecke hineinzupressen scheinende, mit Büchern sowie DVDs angefüllte Regal bestanden aus hellem Holz und die breite, von bunten Kissen übersäte Sitzbank hatte sie selbst aus einigen mit einem durchsichtigen Lack überzogenen Paletten erbaut, was dem Zimmer eine Art warmen Ausdrucks verlieh.

"Okay", fuhr Cecilia fort, während sie sich umblickte, "aber, ich meine... Warum hängt da ein Reifen von deiner Decke?"

"Da kann man verdammt gut dran hochklettern. Ist irgendwie gutes Training, glaube ich. Ich habe das mal im Internet bei einem ziemlich bekannten und sehr guten Kletterer gesehen, und dachte, ich überrede meine Mutter, auch so etwas in mein Zimmer bauen zu dürfen", antwortete sie verspielt grinsend und deutete mit einem kurzen Nicken auf den silbrigen, kastenförmigen Fernseher, der auf einem schmalen Regal in der dem Bett sowie der Palettenbank gegenüberstehenden Ecke stand.

"Darf ich sagen, dass du irgendwie schräg bist? Also, im guten Sinne."

"Klar", antwortete sie abermals, "ist 'n Kompliment. So, soll ich irgendeinen Film reinschmeißen?"

"Klar."

"Welchen?"

Cecilia zögerte kurz und antwortete dann: "Ist mir egal, ich lass' mich überraschen."

"Okay, also, du kannst dich irgendwo hinpflanzen. Aufs Bett oder den Palettensitz. Kannst dich von mir aus auch an den Reifen hängen, aber das könnte nach einiger Zeit unbequem werden."

"Lass mal, ich hänge mich lieber nicht irgendwo dran. Sonst kommt der Krankenwagen, bevor ich überhaupt eine halbe Stunde hier war." Mit diesen Worten schritt Cecilia zu der Palettenbank hinüber und ließ sich mit jener nunmehr vertrauten Vorsicht darauf sinken, während Tassy zu dem Bücherregal hinüberschlenderte und die unzähligen, sich über einige Zeit darin gesammelten Filme durchsuchte.

"Okay, hab's gefunden", sagte Tassy, zog eine der DVD-Hüllen mit einem zufriedenen Grinsen heraus und zeigte sie Cecilia, nachdem diese gefragt hatte: "Was gefunden?"

Den Drang, sich jeden Augenblick mit einem nervösen Funkeln in den Augen nach Cecilia umzusehen unterdrückend schaltete Tassy den Fernseher an und ließ sich dann auf ihrem Bett nieder, während sie hin und wieder einen flüchtigen Blick auf das Mädchen warf, das in den nächsten vorüberstreichenden dreißig Minuten unbeweglich und mit gespannt auf den Fernseher gerichtetem Blick auf der hölzernen Bank saß.

"Das ist jetzt cool", sagte sie irgendwann mit beinahe abwesender Stimme, hatte den Blick jedoch starr nach vorne gerichtet und blickte Tassy nicht einen Herzschlag lang an.

"Tassy, kommst du mal kurz?!", ertönte plötzlich eine durchdringende Stimme, woraufhin sich Tassy schnell erhob und an Cecilia gewandt sagte: "Ich lasse dich mal ganz kurz alleine, Cecilia, okay?". Diese brachte nur ein kaum wahrnehmbares Nicken zustande, woraufhin die sich um leise Schritte bemühende Tassy aus dem Zimmer hinaus und die steile Treppe hinuntereilte.

"Was ist?", fragte sie dann, als ihre Mutter mit schwerfälligen Schritten aus der Küche hinaustrat und verkündete: "Ich bin mal kurz mit Bonnie weg".

"Dafür hast du mich jetzt gerufen?", fragte Tassy mit einem gespielten Ausdruck der Wut in ihrer Stimme, "ich verpasse gerade die coolsten Szenen!"

"Hmm, kann ich mir denken.", murmelte Rosita nur und bedeutete Tassy dann, in ihr Zimmer zurückzugehen. Diese machte kehrt und eilte erneut die Treppe hinauf, während sie an ihre Mutter gewandt rief: "Bis gleich!"

Als sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, erblickte sie die sich fest an die hölzerne Lehne der Bank pressende Cecilia, die noch immer mit weit aufgerissenen Augen auf den ihr einige verstörende Bilder entgegenwerfenden Fernseher blickte und die den Raum betretende Tassy nur am Rande oder gar nicht zu bemerken schien.

Irgendjemand schrie gerade mit schmerzerfüllter Stimme, das laute Brüllen grotesker Kreaturen ertönte und Tassy sah, wie sich Cecilias Augen mit jedem verstreichenden Moment stärker zu weiten schienen.

Lautlos ließ sie sich erneut auf der Matratze nieder, beschloss dann jedoch, sich bei Cecilia zu erkundigen, ob alles in Ordnung wäre.

"Hey, geht's...." Plötzlich sprang das Mädchen mit einem durchdringenden Schrei auf und tiefes Entsetzen ergriff ihren Blick mit scheinbar eiskalten Händen, während sie einen gewaltigen Satz nach hinten tat und sich zitternd an die gelbliche, von einem schwarz-weißen Schriftzug überzogene Wand presste.

"Oh Gott!", keuchte sie dann mit vor Erleichterung zu versagen drohender Stimme, "jetzt hab' ich so einen Schock bekommen! Ich habe gar nicht gemerkt, dass du wiedergekommen bist, und... und dann warst du plötzlich da, und diese gruselige Szene, und... Und die arme Frau ist ja tot!"

"Ach was", antwortete Tassy und zögerte kurz, ehe sie fortfuhr:"tut mir leid, Mann. Ich wollte dich echt nicht erschrecken."

"Ich weiß, ich weiß", murmelte Cecilia und setzte sich dann wieder mit noch immer geweiteten Augen auf die Palettenbank, "ich bin nur ein wenig schreckhaft."

"Dann ist es vielleicht nicht so ideal, einen Horrorfilm zu gucken."

"Nein, nein, ist okay. Ich habe mich nur gerade so dort hineinversetzt und gar nicht gemerkt, dass du plötzlich da warst. Egal, ich hab's ja überlebt."

"Ja, im Gegensatz zu manchen anderen", sagte Tassy grinsend, dann kehrte erneut Schweigen ein.

Eine sanfte Brise wurde vom kalten Wind über die im Mondlicht glänzenden Straßen getragen und die Laute des Straßenverkehrs sowie die grellen Lichter der Stadt durchstachen die von den leuchtenden Sternen erzeugte Ruhe wie ein scharfes Messer, als die Mädchen mit gemächlichen Schritten an der schmalen Straße entlanggingen.

"Das war so peinlich, als du plötzlich ins Zimmer kamst und ich beinahe vor Angst ohnmächtig geworden wäre!", sagte Cecilia lachend, "aber im Nachhinein finde ich es ziemlich lustig."

"Am besten war sowieso deine Arschbombe auf den Boden, als du durch den Flur bouldern wolltest."

"Ich fange ja gerade erst an", wiedersprach sie mit einem Lächeln, "aber trotzdem vielen Dank für deine BMX-Tips. Kann ich gut brauchen."

"Zum Glück hat es letztendlich doch noch mit dem Regnen aufgehört."

Ein langsam an den Mädchen vorüberziehender, den beißenden Geruch von Abgasen wie einen unsichtbaren Schleier mit sich ziehender Bus übertönte Tassys Worte, und sie blickte dem mehr und mehr in den dunklen Schatten der Straße verblassenden Fahrzeug lange nach, ehe sie fragte: "Sag mal, wo genau wohnst du eigentlich?"

"Nicht mehr weit entfernt; Ich wohne ziemlich in der Nähe von der Schule, die ich besuche."

"Warte...", murmelte Tassy dann mehr an sich selbst gewandt, "gehst du auf dieses Gymnasium mit den vielen blauen Fenstern? Mir fällt gerade der Name nicht ein..."

"Ja, genau", antwortete Cecilia, woraufhin Tassy fortfuhr: "Meine Schule ist nämlich ziemlich nah an deiner! Vielleicht sieht man sich ja mal auf'm Weg."

"Das wäre cool. Ich kann mich ja auf dem Heimweg oder in den Pausen nach dir und deinen Freunden umsehen. Schade eigentlich, dass wir nicht dieselbe Schule besuchen."

"Stimmt", sagte Tassy und blickte dann zu Boden, während sie den Rest der Strecke schweigend zurücklegten. Dabei spürte sie wiederum dieses vertraute Gefühl des Unbehagens und in ihrem Inneren suchte sie nach den passenden Worten, die sie zu Cecilia sagen könnte, doch sie hatten sich gerade vor einem Tag kennengelernt und somit derartig geringe Menge an Gesprächsinhalt, dass Tassy weiterhin zu schweigen beschloss- vermutlich war das Schweigen besser als der vergebliche Versuch, nach irgendwelchen ohnehin uninteressanten Themen für eine Unterhaltung zu suchen.

Irgendwann hatten sie eine von dicht aneinandergedrängten, scheinbar mit unzähligen kleiner Wohnungen angefüllten Gebäuden eingekesselte Straße erreicht, und schließlich brach Cecilia jene seltsame, wie eine schwere Decke über ihnen liegende Stille: "Okay, ich wohne dort drüben. Du hättest mich wirklich nicht bis hierher begleiten müssen."

"Ich hätte irgendwie ein schlechtes Gewissen gehabt, dich alleine gehen zu lassen. So 'n Mädchen in einer großen Stadt im Dunkeln, das ist wahrscheinlich nicht die beste Idee."

"Jetzt musst du aber auch alleine durch die Stadt und durch die Dunkelheit gehen, das ist dir schon bewusst?"

"Ja, schon", entgegnete Tassy, "aber das macht mir nichts aus, ich bin diesen Weg schon öfter im Dunkeln gegangen. Und wenn sich jemand nähert, der irgendwie zwielichtig aussieht, klettere ich eben schnell auf ein Dach", fügte sie lächelnd hinzu.

"Dann vertraue ich mal darauf, was du sagst", sagte Cecilia dann zögernd, blickte kurz zu Boden und sah Tassy dann erneut an: "Also dann, wir sehen uns."

 

Zu dritt auf dem Klo

 

Der keine Unterbrechung zu finden scheinende Monolog des am Ende des Raumes von einer Seite zur anderen schlendernden Mannes mit dem rot-weiß karierten, in jedem Punkt ausgefüllten Hemd war nur noch als verschwommenes, hintergründiges Rauschen zu hören, als Tassy den Blick auf Kat gerichtet hielt. Sie saß auf der gegenüberliegenden Wandseite und einige Tischreihen vor Tassy, sah jedoch hin und wieder über die Schulter zu dieser hinüber.

Schließlich nahm Tassy ihr mit unzähligen Rissen sowie grotesken, während hunderten uninteressanter Unterichtsstunden entstandenenen Kritzeleien versehenes Hausaufgabenheft hervor, schlug eine noch unversehrte, jedoch bereits beschriebene Seite auf und riss eine Ecke des gräulichen Papiers heraus, ehe sie mit ihrer kaum zu entziffernden Schrift zu schreiben begann:

Na, Kat,wie geht's so? Mir ist langweilig, hab keinen Bock mehr auf Mathe, also muss ich dir jetzt ein bisschen auf die Nerven gehen. Ich will wieder neben dir sitzen, das ist voll unfair, dass die Schwarz die Sitzordnung geändert hat. Ist voll doof allein hier hinten :(

Dann faltete sie jenen Zettel unordentlich zusammen und reichte ihn dem neben ihr sitzenden Mädchen, das ihn wortlos entgegennahm.

"Kannst du den weitergeben, an Kat?"

"Okay", antwortete sie schließlich und reichte den Zettel weiter.

Plötzlich ertönte eine tiefe, mahnende Stimme vom anderen Ende des Raumes, als der Lehrer ihr mit strengem Ausdruck entgegenblickte: "Konzentrierst du dich etwa nicht auf meinen Unterricht?"

"Doch, doch", antwortete Tassy daraufhin, "Cocs brauchte einen Spitzer, und ich hab' ihr einen gegeben."

"Wer?"

"Cora."

Daraufhin nickte der Lehrer nur skeptisch und wandte sich dann wieder dem aus unzähligen Strichen, Linien sowie vereinzelten Zahlen bestehenden, Tassy Kopfschmerzen zu bereiten drohenden Tafelbild zu, woraufhin diese ihren Blick wieder auf Kat richtete.

Gerade beschrieb das Mädchen das kleine, aus Tassys Hausaufgabenheft herausgerissene Stück Papier und gab es nach einiger Zeit ihrem Sitznachbarn, der es wiederum weiterreichte. Irgendwann versetzte das zu Tassys Linken sitzende Mädchen dieser einen leichten, deren Aufmerksamkeit erregenden Schubs und reichte ihr dann den zusammengefalteten Zettel, woraufhin Tassy murmelte: "Danke, Cocs."

Sie schenkte Kat ein kurzes Lächeln, ehe sie den Zettel mit sich dann vorsichtig auf den Lehrer richtenden Augen entfaltete und im Stillen zu lesen begann:

Auch langweilig. Mit meinen Sitznachbarn kann man sich nicht gut unterhalten, & wenn, würden die Lehrer 's merken.

Aus der Entfernung kannst du mir wenigstens nicht so gut auf die Nerven gehen ;) Ne, war Spaß, ich will auch die alte Sitzordnung zurück. Wie wars mit Cecilia?

Noch einige jener Zettel bahnten sich ihren Weg durch den Klassenraum:

Cool. Hab ihr BMX-Tricks beigebracht & wir haben nen Film geguckt. Hab sie versehentlich voll erschreckt.

Versehentlich, ist klar. Ist sie nett?

Ja, bis jetzt schon. Können uns ja mal alle zusammen treffen. Wann hast du nochmal Zeit?

In nächster Zeit eigentl. immer. Muss jetzt Schluss machen, der Fettsack guckt dauernd so misstrauisch hier rüber.

Du machst Schluss?!?! Das bricht mir das Herz ! ;)

Lass den Mist. So, wir sehen uns nach der Schule.

Bei den Klos?

Wo sonst? :) Dann bis gleich.

Unwillkürlich lächelnd vergrub Tassy den mit aneinandergepressten Sätzen gefüllten Zettel in der Unordnung ihres einst weinroten, von nunmehr verblassenden Zeichnungen überzogenen Mäppchens und blickte dann auf die Tafel, die nach den unzähligen Versuchen des Lehrers, die verschiedensten Formeln anhand verwirrender Beispiele zu erklären, beinahe eine völlig weiße Färbung besaß. Obgleich Tassy für kurze Zeit dessen Worten zu lauschen versuchte, verlor sie sich nach nur wenigen Minuten in ihren Gedanken- in der Kletterhalle, auf dem Skaterplatz sowie in den spannenden Geschichten, die in ihrem Kopf entstanden und irgendwann niedergeschrieben würden.

Auch in der darauffolgenden Unterrichtsstunde, als sie einen anderen Raum aufgesucht hatten, schenkte Tassy den Worten der vor der Klasse stehenden Lehrerin nur hin und wieder Aufmerksamkeit, während sie auf dem weißen Rand ihres recht unübersichtlichen, von Unmengen nicht eingeklebter Blätter gefüllten Heftes einige wiedererkennbare Karikaturen verschiedener Lehrer zeichnete.

Schließlich riss sie das ohrenbetäubende, an die schrillen Töne einer Pfeife erinnernde Läuten der Schulglocke aus ihren Gedanken und sie begann beinahe unwillkürlich, ihre unordentlich auf dem hölzernen Tisch gestapelten Hefte sowie Ordner in ihren schwarz-weiß gestreiften Rucksack zu packen. Kaum hatte die Lehrerin ihnen mit einer kurzen Handgeste den Raum zu verlassen erlaubt, streifte sich Tassy ihre schwarze Kunstlederjacke über und eilte sofort hinaus, durch die sich lang erstreckenden Flure und über den von grauem Asphalt bedeckten Schulhof, bis sie vor den gelblichen, zu den Toiletten führenden Türen eine in einen blauen Mantel gehüllte Gestalt erblickte. "Hi", sagte Kat und blickte Tassy mit diesem vertrauten, freundlichen Lächeln entgegen, welches diese daraufhin unwillkürlich erwiederte.

"Oh Mann, Latein bei Frau Schwarz war mal wieder so langweilig", sagte Tassy dann, woraufhin Kat fragend den Kopf schief legte.

"Latein ist langweilig? Du schreibst doch ständig eine Eins."

"Der Unterricht ist trotzdem langweilig. Man kann ihr einfach nicht lange zuhören, weil sie immer so schnell vom Thema abschweift. Na ja, egal. Ist Lilly nicht mitgekommen?"

"Nein, Lilly musste weg. Die ist mir ja heute wieder so auf die Nerven gegangen, mit ihrer blöden Deutscharbeit und ihrer blöden Französisch-Mitarbeitsnote."

"Französich habt ihr auch bekommen? Wusste ich gar nicht."

"Sie hat eine Drei bekommen und die ganze Zeit geheult. Mira hat mir dann später gesagt, dass sie zu ihr gesagt hätte, ich hätte doch eigentlich eine viel schlechtere Note verdient als Lilly selbst."

"Mira? Lilly kann Mira doch überhaupt nicht ausstehen."

"Das ist es ja, was mich so aufregt, weißt du. Und mir heult sie dann die Ohren voll."

"Warte", sagte Tassy, "wenn du "heulen" sagst- meinst du dann, dass sie einfach gejammert hat, oder hat sie tatsächlich geweint?"

"Letzteres."

"Okay... na ja, wenn ihr danach ist", sagte Tassy beiläufig und fuhr fort, nachdem sie über den Schulhof in die Richtung der Straße zu gehen begonnen hatten, "ehrlich gesagt, ich bin ja ein bisschen neidisch, dass sie eine bessere Note in der Deutscharbeit hat als ich."

"Du solltest dich nicht mit Lilly vergleichen, Tass."

"Tu ich ja auch nicht, nur..."

"Ich weiß, dass es dich wurmt, wenn Lilly andauernd angibt, aber du kannst nichts daran ändern."

"Ist ja auch egal", sagte Tassy schließlich, woraufhin Kat dann das Thema wechselte: "Also, erzähl' mir mal ein bisschen über Cecilia und was ihr so gemacht habt. Du hast sie also erschreckt?"

"Ja, versehentlich", antwortete sie, "ich bin einfach ins Zimmer gekommen und habe mich neben sie gesetzt, was sie allerdings nicht bemerkt hat. Als ich sie dann irgendwas fragen wollte, ist sie aufgesprungen und hat geschrien."

"Wer weiß, für wen oder was sie dich im ersten Moment gehalten hat", sagte Kat mit spottender Stimme, woraufhin Tassy grinsend zu Boden blickte. "Sie muss mich ohnehin für gestört halten, Mann. Zuerst die Sache mit Lilly und dem Gummihühnchen- ich hätte das doch nicht gemacht, wenn ich gesehen hätte, dass Cecilia bei euch stand! Sie ist mir erst dann aufgefallen, als ich wieder aufgestanden bin, nachdem Lilly..."

"Darüber hat Lilly übrigens noch gemeckert", unterbrach Kat, "sie meinte, du hättest sie vor Cecilia blamiert."

"Was? Erstens ist Cecilia das sicher total egal- eher habe ich mich blamiert- und zweitens hat Lilly doch selbst darüber gelacht."

"Vermutlich, weil Cecilia dabei war und Lilly bei ihr möglichst... na ja... humorvoll wirken wollte."

"Na toll", murmelte Tassy, "und mich hält sie wahrscheinlich für total durchgeknallt. Zuerst war ich total in Gedanken und habe sie nicht bemerkt, als sie gekommen ist. Dann die ganzen Boulder und der Traktorreifen in meinem Zimmer, und dann, als wir 'nen Horrorfilm geguckt haben- über Szenen, wo sie sich vor Entsetzen an die Wand gepresst hat, musste ich lachen. Klasse."

"Es gibt Schlimmeres als das. Ich glaube nicht, dass sie ein schlechtes Bild von dir oder uns anderen hat."

"Meinst du?" Daraufhin nickte Kat mit plötzlich ernstem Blick, und Tassy wollte gerade zu sprechen anheben, als sie in einiger Entfernung eine nunmehr vertraute, sich an einen Metallzaun pressende Silhouette erblickte, die einer sie an Größe sowie Breite deutlich übertreffenden Gestalt gegenüberstand- auch diese ein seltsames Gefühl in Tassy hervorrufende Gestalt war ihr auf unangenehme Weise vertraut.

"Das ist Cecilia", sagte sie mit aufgebrachter Stimme, woraufhin Kat antwortete: "Mit einem der Nibos!"

"Verdammt, Kat, ich glaube, der will ihr an den Kragen!" Kaum hatte Tassy jene Worte gesprochen, beschleunigte sie ihr Tempo und konnte wenig später die zitternde Stimme Cecilias vernehmen: "Lass' mich doch einfach in Ruhe, bitte!"

"Hey!", rief Tassy und eilte auf die beiden zu, unmittelbar gefolgt von Kat.

"He, wir kennen uns doch. Ihr seid zwei von diesen dämlichen Kids, die sich immer in unsere Gegend rumtreiben!", sagte der hochgewachsene Junge mit tiefer Stimme und tat einen Schritt auf die Mädchen zu.

"Lass sie in Ruhe, Mann, sie hat dir nichts getan!"

"Wieso sollte ich?"

Nun ergriff Kat das Wort: "Ganz einfach, weil die dämlichen Kids dir sonst das Gesicht zermatschen!"

"Lass gut sein, Kat", sagte Tassy an ihre Freundin gewandt und griff vorsichtig nach deren Unterarm, nicht etwa, weil sie selbst Angst verspürte, sondern weil sie wusste, dass Kat in bestimmten Fällen auch nicht vor dem Zuschlagen zurückschrecken würde- und sie selbst, Tassy, wollte eine Eskalation jener Situation vermeiden.

"Ja, lass gut sein, Kat. Traust dich ja sowieso nicht, mir was zu tun."

"Hör auf damit. Komm schon, lass uns einfach in Ruhe und zieh' Leine", sagte Tassy, deren Stimme sich mit jedem gesprochenen Wort zu verschärfen schien, "wir sind hier nicht auf eurem Gebiet, wie ihr es nennt, und wir wollen keinen unnötigen Streit!"

"Kat würde mir zu gerne eine reinhauen, was?", spottete der Junge nur, und um seine schmalen Lippen bildete sich ein höhnisches Grinsen.

"Ja, würde sie!", antwortete Kat, dann streckte der Junge die Hand in Cecilias Richtung aus.

"Lass sie...", zischte Tassy, dann ging alles schnell: Kat entriss sich ihrem Griff und sprang auf den Jungen zu, der sie mit einem festen Stoß abwehrte, sie somit ins Stolpern brachte und dann mit angriffslustig funkelnden Augen einen gewaltigen Schritt auf sie zutat. Sie riss die Augen auf, sie wich zurück, im Hintergrund Cecilias angsterfüllter Schrei, dann traf Tassys harte Faust mit der Kraft eines austretenden Pferdes auf das Gesicht des Jungen- dieser stieß einen tiefen, an das Röhren eines Hirsches erinnernden Schrei aus und taumelte nach hinten, während Tassy Cecilias zitternde Hand ergriff. "Komm schon, wir müssen hier weg!"

Mit der Schnelligkeit eines Geparden, die ihnen von ihrer Aufgebrachtheit sowie dem plötzlich in ihnen aufgestiegenen Adrenalin verliehen wurde, rannten sie die Straße entlang und mussten sich hin und wieder gegenseitig vorantreiben, um nicht an Geschwindigkeit zu verlieren.

Niemand wagte einen Blick nach hinten, bis die die beiden Mädchen hinter sich herziehende Tassy geradewegs in einen zwischen zwei hellgrau gestrichene Wohnhäuser gepressten Imbiss hineinstürmte, unter von ihr nur am Rande bemerkten, verwirrten Gesichtern an der Theke vorüberrannte und scheinbar unwillkürlich die Tür öffnete, über welcher ein ihr sofort ins Auge stechendes Schild befestigt war: "Damen".

"Du willst in die Toilette?!", schrie Cecilia, doch Tassy antwortete nicht. Sie öffnete die Tür, trat ein, schloss dann erneut ab, blickte sich einen Herzschlag lang in dem von weißen Fliesen bedeckten Raum um und eilte schließlich in eine der drei durch dünne Wände voneinander getrennten Kabinen herein, gefolgt von Kat und Cecilia. Als sie alle in der engen Toilettenkabine Platz gefunden hatten, schlug Kat mit einem geräuschvollen Krachen die Tür zu und verschloss diese, woraufhin Cecilia mit ängstlich geweiteten Augen auf den Deckel der in einem reinen Weiß glänzenden, offenbar vor nicht allzu langer Zeit gereinigten Toilette stieg und von einer Seite zur anderen blickte, als erwarte sie jeden Augenblick einen durch die dünne Wand hindurchbrechenden Angreifer.

"Ernsthaft? Wir verstecken uns im Damenklo?", fragte Kat mit unverkennbarer Aufgebrachtheit in der Stimme, woraufhin Tassy den auf ihrem Rücken lastenden Rucksack abestellte und dann nickte. "Was Besseres ist mir nicht eingefallen, verdammt!"

"Ich glaub's nicht", sagte Cecilia mit zitternder Stimme, "wir verstecken uns zu dritt auf der Toilette, weil irgendein Junge uns verprügeln will!"

"Was sollen wir sonst machen? Kat und ich können Parkour, wir hätten flüchten können, aber was wäre dann aus dir geworden? Das ist zwar 'ne tierisch beschissene Idee, Leute, aber ich würde sagen, es ist immernoch das Beste, wenn man unsere jetzige Situation betrachtet!"

"Wahrscheinlich", sagte Kat.

"Ich meine, wir stecken gerade wirklich bis zum Hals in der Scheiße! Okay, also, wir müssen uns jetzt alle beruhigen, und wir sollten auch, verdammt nochmal, nicht allzu viel Lärm machen!"

"Wieso hast du mich ihn nicht vermöbeln lassen?", zischte Kat dann, woraufhin Tassy flüsterte: "Du siehst ja, was passiert ist! Ich wollte die Sache nicht explodieren lassen, und..."

"Aber er hat seine Hand nach Cecilia augestreckt, und er wollte sie anpacken."

"Nein, er wollte dich provozieren", sagte Cecilia dann mit ernster Stimme. "Ich glaube, er wollte mir nicht wirklich etwas antun."

"Ist jetzt auch egal", unterbrach Tassy, "wir sollten unsere Schnäbel halten und ein paar Minuten abwarten."

Somit kehrte Schweigen ein, doch die stickige Luft schien in tiefer Anspannung zu zittern und Tassy sah die Flamme der Wut in den blau glänzenden Augen Kats sowie den dunklen Schleier der Angst über Cecilias klarem Blick. Tassy senkte den Kopf, sog einmal tief die Luft ein und spürte ein gewisses Unwohlsein in sich aufsteigen, als sie sich an das Gefühl ihrer Faust in dem Gesicht des Jungen erinnerte- sie hatte in jenem Moment eine derartige Aufregung verspürt, bei dem Anblick der zitternden Cecilia sowie dem von Kat, die gestolpert war und im Begriff war, von dem Jungen angegriffen zu werden, dass sie keinen anderen Ausweg gesehen hatte. Doch vermutlich hatte ihnen dies eine sichere Flucht beschert, da der Junge wahrscheinlich einige Augenblicke verharren musste, ehe er den Mädchen zu folgen vermochte.

"Hey, geht's euch gut?", flüsterte sie irgendwann, woraufhin Cecilia nickte. "Er hat mir nichts getan."

"Kat?" Sie blickte Kat mit einer plötzlich aufkommenden Besorgnis an, welche jedoch verging, als das Mädchen sie mit noch immer in ihren Augen funkelnder Wut anblickte. "Es ginge mir besser, wenn ich auch einen Treffer in dem hässlichen Gesicht von diesem Kerl gelandet hätte!"

"Das glaube ich nicht, Kat, weil er dich dann zu Brei geschlagen hätte", sagte Tassy nur, und wiederum schwiegen sie dann für einen kurzen Moment. Plötzlich jedoch ertönte ein dumpfer Schlag gegen die hölzerne, den Raum vom Rest des heruntergekommenen Ladens abtrennende Tür, woraufhin Tassy Cecilia erschreckt zusammenzucken sah.

"Macht auf, ihr Schisser! Oder ich schlag' die Tür ein!", rief eine wutverzerrte Stimme, und Cecilia gab ein beinahe lautloses Schluchzen von sich.

"Versuch's doch!", schrie Kat, woraufhin Tassy ihr mit geweiteten Augen zu schweigen bedeutete. "Pssst! Der sollte doch nicht merken, dass wir hier sind, verdammt!"

"Der darf hier sowieso nicht rein", wiedersprach Kat, woraufhin Tassy jedoch den Kopf schief legte. "Ich glaube, das ist ihm herzlich egal."

"Also, ich komme jetzt rein", ertönte die dröhnende Stimme des Jungen erneut, und schließlich öffnete Tassy die Tür der Toilette.

"Wirst du ihn reinlassen?", fragte Cecilia ängstlich, woraufhin Tassy den Kopf schüttelte und mit der rechten Hand auf eines der über den schmalen Waschbecken angebrachten, quaderförmigen Glasfenstern wies. "Wir werden hinausklettern. Schnell, kommt schon!", wisperte sie, eilte sofort zu der gegenüberliegenden Wand hinüber und öffnete mit erneut aufsteigender Aufregung das am weitesten von der Tür entfernte, welches die Mädchen von ihrem auf einen Kampf zu hoffen scheinenden Feind trennte.

"Ich komme da nicht raus!", wimmerte Cecilia, woraufhin Tassy bloß nach ihrem Arm griff und sie an das Fenster heranzog. "Du schaffst das, ich helfe dir. Greif nach der Kante", forderte sie, woraufhin das verängstigte Mädchen zögernd tat, wie ihr geheißen. Mit zitternden Händen ergriff sie die Kante der glatten, steinernen Fensterbank und zog sich mit aller von ihr aufgebracht zu werden vermögenden Kraft hinauf, während Tassy ihre Hände unter die schwarz glänzenden Schuhe legte und Cecilia somit hinaufzudrücken begann. Diese krallte sich mit ihren knochigen Händen in die Kante des Fensterbretts hinein und begann in ihrer Anstrengung unwillkürlich nach der Luft zutreten, sodass Tassy sie an den Füßen hinaufzuschieben Schwierigkeiten hatte.

"Zappel nicht so rum, verdammt, und zieh' dich rauf!" Mit einem langgezogenen Stöhnen versetzte sie Cecilia einen letzten Stoß und diese zog sich im selben Moment mit aller Kraft hinauf, sodass sie schließlich ihr Bein auf das Fensterbrett legen sowie dann ihren gesamten Körper hinauswinden konnte.

"Geschafft! Okay, jetzt du, Tassy!"

Gerade eilte Tassy zu jenem Fenster hinüber und wollte ebenfalls rasch hinausklettern, fuhr dann jedoch blitzartig herum, als das geräuschvolle Pochen an der Tür wiederum ertönte und eine drohende Stimme folgte: "Ich hab echt gedacht, ihr würdet Schiss kriegen und rauskommen, ihr kleinen Pussis, aber anscheinend wollt ihr ja da hocken bleiben. Ich komm' jetzt ernsthaft rein und poliere euch die Fressen." Das Pochen an der Tür wurde häufiger und mit jedem Schlag lauter, und Tassy ahnte, dass der Junge in nur wenigen Augenblicken die instabil scheinende Tür eingetreten hätte- vermutlich, bevor Kat es aus dem Fenster zu klettern geschafft hätte.

"Keine Zeit mehr!", rief sie an Kat gewandt, ließ von der Kante ab und eilte zu dieser hinüber, woraufhin sie den Kopf schüttelte. "Nein, Tassy, geh schon!"

"Er würde dich kriegen!"

"Geh doch!"

"Nein, ganz sicher nicht! Wenn der uns angreift, müssen wir uns eben so gut wie möglich zur Wehr setzen!"

Gleichzeitig taten sie einen Schritt auf die Tür zu, die Hände zu zum Schlag bereiten Fäusten geballt und die Augen zusammengekniffen, als das Pochen erneut ertönte. Nun war einige Herzschläge nichts zu hören, nicht der leiseste Ton, und Tassy wusste es ebenso wie Kat- der Junge holte mit seiner gesamten Kraft zum letzten Schlag aus, mit dem die Tür schließlich nachgeben würde. Nervös ließ sie ihre wachsamen Augen einen winzigen Augenblick lang in Kats Richtung huschen, dann blickte sie wieder nach vorne. Nun würde er zuschlagen, nun würde die Tür mit einem lauten Krachen aufbrechen, und nun... Eine schrille, scheinbar zu einer älteren Frau gehörende Stimme ertönte irgendwo im Inneren des Gebäudes: "Sag' mal, Junge, was soll der Krach? Wenn du nicht aufhörst, wie ein Irrer gegen die Tür zu treten, dann rufe ich die Polizei!"

Kaum war der Klang jener Worte an Tassys Ohren gedrungen, spürte sie ihre Anspannung tiefer Erleichterung weichen und ihre vorhin noch von verzweifelter Kampfbereitschaft erfüllte Haltung nahm unwillkürlich einen entspannten, sich lockernden Ausdruck an. Sie sah mit einem freudigen Glänzen in den Augen zu der ein geräuschvolles Seufzen ausstoßenden Kat hinüber, die ihren Blick lange Zeit erwiderte und irgendwann sagte: "So ein Glück!"

Die Stimme außerhalb jenes Waschraums fuhr fort: "Was um Himmels Willen suchst du denn im Damenklo?"

Der Junge zögerte, und in Tassys Gedanken taten sich die sie mit Belustigung erfüllenden Bilder des ratlosen Ausdrucks in dessen breitem Gesicht auf, bis er murmelte: "Äh, meine Freundin ist da drin und will sich umbringen!"

"Was?!"

"Ja, sie will sich umbringen, hat sie gesagt! Sie..." Die Frau spürte tiefes Entsetzen in sich aufsteigen, als sie die Wut und die Verzweiflung in den braunen Augen des Jungen glimmen sah. Schlagartig griff sie in ihrer Hosentasche nach einem kleinen, nunmehr von dunklen Flecken überzogenen Schlüssel, steckte ihn mit zitternden Händen in das Schloss, ihre Augen vor Aufregung geweitet und ihr Mund von einer plötzlichen Trockenheit erfüllt.

Kaum hatte sie den Schlüssel herumgedreht, stieß sie die Tür auf- und spürte, wie die sie mit festem Griff gepackte Panik von einer Flamme der Überraschung in einen winzigen Hügel von Asche verwandelt wurde: Vor den runden, über den Waschbecken befestigten Spiegeln stand ein nicht sehr hochgewachsenes, zierliches Mädchen und war mit einem dünnen Stift einen schwarzen Strich über ihre mandelbraunen Augen zu zeichnen im Begriff, während neben ihr zwei weitere Mädchen standen; das mit dem kurzgeschnittenen, blonden Haar und dem ausladenden, rot-schwarz karierten Hemd blickte jenes mit den funkelnd blauen Augen durch den Spiegel hindurch an und lächelte kurz, dann sagte die Frau: "Ist alles in Ordnung?"

Alle drei Gesichter wandten sich ihr zugleich zu, und ihre Augen zeugten von tiefer Verwirrung, bis das Mädchen mit den kastanienbraunen Locken sagte: "Nein, nichts ist in Ordnung. Meine Schminke ist verschmiert!"

"Und ihr zwei?", fragte sie an die blonden Mädchen gewandt, welche sofort nickten. "Alles klar hier. Wieso fragen sie?"

"Dieser junge Mann hier"- sie wies mit einer kurzen Geste auf den Jungen, dessen Blick auf den Boden gerichtet war- "hat gesagt, seine Freundin wäre hier auf der Toilette und wollte sich umbringen! Wer von euch ist seine Freundin?"

"Keiner", antwortete das kurzhaarige Mädchen, "hab' ihn noch nie gesehen. Ihr beiden?"

Die anderen Mädchen schüttelten mit noch immer verwirrten Gesichtern den Kopf, woraufhin die Frau bloß nickte und dann aus dem Raum hinaustrat, bevor die Tür mit einem verstörenden Quietschen ins Schloss fiel.

 

Besprechungen

 

"Richtig cool, Leute! Wir könnten Schauspielerinnen werden, alle drei!", sagte Tassy mit einem in ihrer Stimme mitschwingenden Lachen der Erleichterung, als sie beide ihrer Hände in die Höhe hob. "Klatscht ein!"

"Was für einen Stift hast du da benutzt, Cecilia?", fragte sie dann, woraufhin diese mit einem gespielt überheblichen Grinsen einen schmalen Kugelschreiber aus der Tasche ihrer dunkelblauen Weste zog.

"Scheiße, Mann! Hätte die Frau gesehen, dass das nur ein Kugelschreiber ist... Oh Gott, wir hatten so ein Schwein! Der Typ hat hier sicher jetzt Hausverbot."

"So viel steht mal fest", antwortete Kat und nahm dann ihren Rucksack, welchen sie ebenfalls in der nicht sehr geräumigen Toilettenkabine abgestellt hatte.

Tassy blickte ihr unwillkürlich nach und konnte noch immer jene tiefe Erleichterung spüren, die sie in dem Moment ergriffen hatte, als die verwirrte Stimme der Frau zum ersten Mal zu vernehmen gewesen war. Sofort hatte sie Cecilia sich wieder in den Raum hineinzubewegen geholfen und ihr bedeutet, etwas möglichst Gewöhnliches, möglichst Unauffälliges zu tun, für den Fall, dass die Frau die Tür öffnen würde.

Die tiefe Verwirrung in deren von schwarzem Haar gesäumten Gesicht und das nicht lang anhaltende Entsetzen in ihren Augen war unverkennbar gewesen, als sie mit ihrer in tiefrot lackierte Nägel übergehenden Hand die Tür aufgestoßen und jenes allzu gewöhnliche Bild dreier Mädchen, von welchen sich eines gerade zu schminken vortäuschte, erblickt hatte.

"Wir sollten noch etwas warten, für den Fall, dass der Typ noch irgendwo lauert", sagte Cecilia dann, und Tassy glaubte, in ihrem fein geschnittenen Gesicht noch immer einen leisen Schimmer der Unsicherheit zu sehen.

"Ich schlage vor, wir setzen uns kurz in diesen Laden und futtern was", sagte Tassy und erhielt daraufhin ein zustimmendes Nicken von Kat, welche in ihren Schulrucksack hineingriff. "Ich hab' Geld dabei, wir können uns von mir aus kurz hier niederlassen."

"Ich hab' gar keinen Schulranzen dabei", sagte Cecilia, "weil wir heute eine Stunde früher frei hatten und ich schon zuhause war, um meine Sachen abzustellen."

"Was hast du denn dann dort getrieben, wo der Typ dich angegriffen hat?"

"Also..." Sie zögerte. "Eigentlich wollte ich nachsehen, ob ich dich irgendwo treffe, Tassy."

"Oh", sagte diese mit einem leisen Funken der Überraschung in der Stimme und fuhr dann fort: "Ich hab auch Geld dabei, Cecilia, ich kann dir 'ne Pommes spendieren. Dafür, dass ich es ja indirekt zu verschulden habe, dass wir hier in der Scheiße gesteckt haben."

"Wieso das denn?"

"Weil Cecilia meinetwegen dort entlanggegangen ist; ansonsten hätte der Typ sie ja nicht in die Pfoten bekommen."

"Sagt mal...", begann Cecilia plötzlich, "dieser Typ hat gesagt, er würde euch kennen. Wer ist er?"

Einen kaum anhaltenden Moment wechselten Kat und Tassy einen Blick, als überlegten sie, ob sie Cecilia von den Plänen der Jungen, in den Bonebreaker einzubrechen, berichten sollten.

"Das ist ziemlich kompliziert", sagte Tassy dann, "dieser Typ ist ein Mitglied in so einer... nennen wir's mal Gang, die unsere Gruppe nicht wirklich leiden kann, um's nett auszudrücken."

"Wieso?"

"Wir halten uns in ihrem "Gebiet" auf, also das Gelände um die Boulderhalle, und haben sie schon hin und wieder davon abgehalten, Scheiße anzustellen. Also, wir machen auch Scheiße, aber nicht solche Scheiße wie sie: Leute beklauen, Leute attackieren, heftige Sachbeschädigung und so ein Kram. Okay, wenn wir Grafitti irgendwo... Egal."

"Aber wieso sucht der Kerl dann hier nach euch?", erkundigte sich Cecilia, woraufhin Tassy den Kopf schüttelte. "Nein, nein. Er hat nicht nach uns gesucht, schätze ich. Der wohnt wohl hier in der Nähe und ist zufällig vorbeigekommen."

"Warum er Cecilia angegriffen hat, ist mir trotzdem ein Rätsel", warf Kat ein, "er kann ja eigentlich nicht wissen, dass sie uns kennt."

"Nö", antwortete Tassy, "das war auch Zufall. Er ist 'n Arschloch, und Cecilia stand halt zufällig alleine da rum- ein leichtes Opfer, dachte er wahrscheinlich."

Schließlich traten sie aus dem von weißen Fliesen überzogenen Raum hinaus und schritten durch den engen Gang auf einen der dunkelbraunen Tische zu, als hinter ihnen eine Stimme ertönte: "He, Mädels, was war das eben für 'ne Aktion?"

Tassy drehte sich um und sah die dunkelhaarige Frau, die an der Theke lehnte und einen dichte rauchschwaden ausstoßenen Zigarettenstummel zwischen den Fingern hielt.

"Keine Ahnung", sagte Tassy, "dieser Typ hatte wohl eine Schraube locker. Bei uns war jedenfalls alles in Ordnung."

"Ah", murmelte die Frau nur und drehte sich dann elegant herum, wobei ihr sehr kurzer, tiefschwarz glänzender Rock in schwungvollen Wellen jene Bewegung unterstrich.

"Also, ihr kleinen Unruhestifter, was darf's sein?"

"Pommes", sagte Kat, woraufhin Tassy bestätigend nickte."Pommes. Cecilia?"

"Pommes.

"Pommes!", rief Kat dann an die Frau gewandt, welche sich noch einmal kurz umblickte. "Alle drei?"

"Ja."

Somit ließen sie sich an einem runden Tisch nahe der Theke nieder und stellten ihre schweren, von unzähligen Büchern gefüllten Rucksäcke unter den hölzernen, eine eher unbequeme Sitzfläche bietenden Stühlen ab, während Tassy, sich vorsichtig nach allen Seiten umblickend, wisperte: "Wir sollten Lilly und Nick sagen, was passiert ist. Ich weiß nicht, irgendwie hab' ich das ungute Gefühl, dass die Nibos diese Geschichte hier zum Anlass für ihren beschissenen Einbruch nehmen."

Kat nickte mit unsicher auf ihre dunkelblauen Schuhe gerichteten Augen, ehe sie fragte: "Was ist mit Isa?"

"Ich will sie eigentlich aus der Sache raushalten." Tassy zögerte und blickte sich abermals mit misstrauischem Funkeln nach der Frau um, in der Hoffnug, diese würde ihren Gesprächen nicht aus einer sie vor den Blicken der Mädchen verbergenden Ecke heraus lauschen. "Ich meine, wenn wir die Typen beobachten oder sie von jeglichem Scheiß abhalten wollen und dann flüchten müssen, sollte kein leichtsinniges Kind wie sie dabei sein."

"Das wäre auch mein Vorschlag gewesen", sagte Kat, "aber du kennst sie ja. Sie fühlt sich dann ausgeschlossen und will nichts mehr mit uns zu tun haben, wie damals, als wir sie nicht auf unseren nächtlichen Graffiti- Trip mitgenommen haben."

"Das war lustig! Auf einmal stand da so'n Polizist, und wir sind einfach abgehauen, durch die halbe Stadt!"

"Leute", unterbrach Cecilia sie mit erneut aufsteigender Verwirrung in der Stimme, "was habt ihr eben von Einbruch gesagt?"

Tassy seufzte tief und lehnte sich dann unwillkürlich ein wenig in Cecilias Richtung, ehe sie mit geheimnisvoller Stimme murmelte: "Die Typen wollen in den Bonebreaker einbrechen. Wir haben sie einmal zufällig belauscht und mitbekommen, wie einer von ihnen diesen Vorschlag gemacht hat. Das Problem ist nur, dass wir nicht wissen, wann genau sie das vorhaben."

"Wie du schon sagtest, könnte ich mir auch vorstellen, dass diese Situation hier das ganze wieder auffrischen kann und sie jetzt erst recht irgendetwas planen. Am besten solltet ihr in den nächsten Tagen versuchen, sie auszuspionieren."

"Am besten gleich heute", schlug Kat vor, woraufhin Tassy zustimmend nickte. "Ich werde Lilly und Nick anrufen, dann dich, Kat, damit wir 'nen Treffpunkt ausmachen können."

"Könnte ich...", murmelte Cecilia zögernd und Tassy konnte deutlich die Nervosität aus ihrer zaghaften Stimme heraushören, "Könnte ich euch vielleicht begleiten? Diese ganze Situation ist irgendwie... aufregend. Und... und irgendwie geht sie mich ja jetzt auch etwas an, oder?

"Eigentlich schon", antwortete Tassy, "aber- ohne dir jetzt was zu wollen, Cecilia- du sagst ja selbst, dass du nicht gerne über Mauern hüpfst und so weiter. Je nachdem müssen wir aber genau das tun. Wenn sie uns nämlich sehen und wir flüchten müssen..."

"Cecilia muss kein Profi sein, um ihnen zu entkommen, Tass. Du weißt doch selbst, wie lahm sie sind", widersprach Kat.

"Ach ja? Weißt du noch, was Nick erzählt hat? Der Kerl ist wirklich schnell und springt über fast alles einfach drüber, aber selbst er wäre beinahe von einem dieser Arschgeigen geschnappt worden. Er hat ihn nur durch Klettern abgehängt."

"Stimmt ja, hab' ich ganz vergessen."

"Anscheinend haben die Zuwachs bekommen, und in Zukunft könnten wir etwas mehr Probleme haben, mitzuhalten. Deswegen weiß ich nicht, ob Cecilia..."

"Ich werde euch keine Probleme machen, versprochen. Ich halte mich im Hintergrund, und ich werde mich verstecken, falls ihr weglaufen müsst. Ihr werdet mich gar nicht bemerken!"

"In Ordnug", sagte Tassy nickend, "dann wird das heute Abend womöglich sehr spannend werden."

"Wir sehen uns dann", sagte Cecilia, "ich schreibe dir noch schnell meine Handynummer auf, dann muss ich gehen, weil ich noch was erledigen muss."

"Was denn?

"Och... Hausaufgaben", antwortete sie mit einem kurzen Lächeln, schrieb schnell ihre Telefonnummer auf eine der gelben, unordentlich gefaltet auf dem Tisch liegenden Servietten und machte dann schließlich kehrt.

 

Eine von einer ausladenden, von seltsamen Schriftzügen überzogenen Kapuze verhüllte Gestalt hatte den Kopf gesenkt und lehnte in einer grotesken, krummen Haltung an der grauen Wand, ehe eine von Wut durchzogene Stimme erklang: "Der Freund von dieser Blonden hat mir voll in die Fresse gehauen, obwohl er 'n Kopf kleiner ist als ich!"

"Das war ein Mädchen. Die blonden sind beide Mädchen. Nein, warte, da ist noch ein blonder Junge, aber der ist viel größer. Dann noch dieses kleine Pisskind und so 'ne Tussi mit Locken." Er zögerte, und als er schließlich fortfuhr, klang in seiner Stimme ein höhnischer Ausdruck mit: "Und jetzt ist auch noch so eine Braunhaarige dabei, so 'ne ganz dünne."

"Das war ein Mädchen, verdammt, wie beschissen ist das denn?"

"Ja, Mann, hast dich von 'nem Mädchen schlagen lassen."

Eine dritte Stimme, die offenbar weiblich war, entgegnete: "Ich wette, dass sie durch diese Aktion ängstlich geworden sind. Wir hatten doch vor, in ihre blöde Halle einzubrechen, oder? Also, ich finde, wir sollten das so schnell wie möglich machen, bevor sie alles von heute wieder vergessen haben."

"Eigentlich 'ne gute Idee. Wann willste das durchziehn?"

"Willst du meine Meinung dazu hören?"

Der Junge mit der weiten, sein scheinbar schmales Gesicht völlig verbergenden Kapuze nickte nur kurz, woraufhin das Mädchen fortfuhr: "Wir sollten uns nochmal treffen, wenn alle dabei sind. Am besten schon heute abend, am üblichen Treffpunkt, und dann noch einmal überlegen, wann und wie wir es durchziehen."

"Wenn die zufällig auch da sind?"

"Diesmal würde ich sie schnappen", sagte das Mädchen dann mit höhnischem Lachen, "dass ich den Jungen zuletzt nicht erwischt habe, war einfach Pech."

"Okay", sagte der Junge mit dem verhüllten Gesicht, "also treffen wir uns heute abend wieder. Ich ruf' euch an."

Daraufhin kehrte Schweigen ein, und alle der drei Gestalten verschwanden irgendwo inmitten der hoch in den Himmel ragenden, kargen Gebäude.

 

Nächtliche Schlägerei

 

Ein wie die Glut eines erloschenen Feuers am violetten, in einen dunkelblauen Farbton übergehenden Himmel stehender Streifen war der letzte Nachruf der untergegangenen Sonne, die gesamte Umgebung war in einen einzigen, dunklen Schatten gehüllt und vereinzelte Sterne funkelten bereits wie winzige, grelle Punkte hoch über ihren Köpfen, als sie durch die blutrot funkelnden Backsteinmauern schlichen.

"Die können hier wirklich überall sein", wisperte Tassy, "wir müssen verdammt gut aufpassen."

"Sobald jemand etwas hört, sofort bescheid sagen", sagte Kat an die drei Mädchen gewandt, blickte jedoch hauptsächlich Cecilia an, die mit einem verhaltenen Nicken bestätigte.

"Wieso mache ich das nur mit?", murmelte Lilly dann, woraufhin sich Tassy zu ihr herumdrehte und sagte: "Du musst ja nicht mitkommen."

"Doch, muss sie", entgegnete Kat, "das betrifft schließlich uns alle."

"Schon, aber wenn Lilly..." Das leise Geräusch sich nähernder Schritte ertönte mit einem Mal und ließ Tassy unwillkürlich mit geweiteten Augen zum Stehen kommen, während sie sich blitzartig herumdrehte. "Psst! Da ist jemand!"

Sofort pressten sich die drei Mädchen an die sich zu ihrer Rechten auftuende Wand heran und niemand wagte es, den leisesten Ton von sich zu geben, als die Schritte mit jedem verstreichenden Augenblick näherzukommen schienen. Verdammt, dachte sie, Cecilia wird nicht schnell genug abhauen können!

Plötzlich trat eine völlig in ein tiefes Schwarz gehüllte, hochgewachsene Gestalt aus den Schatten hinaus und eilte schnellen Schrittes auf die Mädchen zu, die sich aus ihren Verstecken lösten und kampfbereit in die Mitte des asphaltierten Weges traten, bereit, sich ihrem Angreifer mit aller Kraft zur Wehr zu setzen, als dieser... - Was wird aus Cecilia?, dachte Tassy- ...langsam zum Stehen kam.

Er zog die dünne, von einigen grauen Mustern überzogene Kapuze von seinem Kopf hinab und schenkte den Mädchen ein freundliches Lächeln, woraufhin diese beinahe gleichzeitig voller Erleichterung seufzten. "Nick, du dämlicher Sack!", sagte Tassy und trat auf ihn zu, "wir dachten schon, du wärst einer von diesen Affen!"

"Ja, du hast Glück gehabt, dass wir dich nicht attackiert haben", warf Kat ein, woraufhin der Junge mit einem skeptischen Grinsen den Kopf schief legte. "Wir? Ich glaube, du, Kat, wärest die einzige gewesen, die mich angegriffen hätte." Gerade öffnete diese den Mund, um zum Sprechen anzuheben, als plötzlich eine weitere Gestalt hinter einer schmalen Mauer hervorsprang und sich mit scheinbar zufriedenem Lächeln neben Nick stellte. "Hallo!"

"Isa?", fragte Tassy verwirrt, "was zum Geier machst du hier?"

"Ähm... wollen wir sie überhaupt dabei haben?", erkundigte sich Lilly, woraufhin Tassy ihr einen unauffälligen, leichten Tritt verpasste.

"Isa, woher wusstest du, dass wir hier sind?"

Nick senkte scheinbar unwillkürlich den Kopf, ehe er mit einem Anflug von Schuldbewusstsein in der Stimme sagte: "Sie hat mich angerufen und gefragt, ob wir heute abend in die Boulderhalle gehen, und... Na ja, irgendwie hat sie es dann aus mir herausgekitzelt."

"Ist mir egal, ob ihr mich nicht dabei haben wollt", sagte Isa trotzig und stellte sich auf ihre Zehenspitzen, als versuchte sie vergeblich, möglichst bedrohlich und einschüchternd auf ihre älteren Freunde zu wirken, "ich komme trotzdem mit. Ihr könnt mir nicht verbieten, irgendwo hinzugehen."

"Hör zu, Isa", sagte Tassy dann mit ruhiger Stimme, während sie die Wut in Lillys Augen aufglimmen zu sehen glaubte, "dass wir dich immer gerne überall dabei haben, weißt du selbst, und wir lassen dich auch nie irgendwelche lustigen Sachen verpassen. Aber was wir heute vorhaben, könnte erstens die Existenz unserer Kletterhalle retten- wenn wir nichts verbocken, und das wäre schlecht- und zweitens tierisch gefährlich werden."

"Gefahr? Ich hab' keine Angst vor Gefahr!", widersprach das Mädchen bloß, woraufhin Tassy einen Augenblick zögerte.

"Du bist mutig. Das wissen wir alle. Aber wenn dir 'was passiert, ist deine Mutter nicht gerade erfreut und wir kriegen alle riesigen Anschiss. Vor allem- stell' dir mal vor, du brichst dir bei der Aktion hier ein Bein. Weißt du, wie lange du dann nicht mehr bouldern kannst?"

Einen Herzschlag lang weiteten sich die funkelnden Augen des Mädchens und über ihren Blick huschte ein leiser Ausdruck des Entsetzens, welcher jedoch sofort wieder verflog.

"Damit kriegst du mich nicht", widersprach sie, "ich komme mit."

"Komm schon, Isa, lass mich dich nach Hause bringen. Hör mal, hier treibt sich 'ne Gruppe von Jungs herum, die doppelt so groß und zehnmal so stark sind wie du, und die drücken auch vor einem kleinen Mädchen kein Auge zu! Willst du von denen vermöbelt werden?"

"Ist mir egal!", sagte Isa mit aufgebrachter Stimme, und Tassy wusste, dass sie niemals von ihrem Vorhaben, sie zu begleiten, abgebracht werden könnte- nicht durch die flehendste Bitte und nicht durch die blutrünstigste Geschichte über die Nibos.

"Ach, kommt schon, Leute, dann nehmen wir sie eben mit", sagte Nick dann, woraufhin Lilly sofort mit erhobener Stimme zischte: "Spinnst du? Sie würde uns nur aufhalten!"

"Das stimmt nicht", warf Tassy sofort ein und versah Lilly mit einem mahnenden Blick, "aufhalten würde Isa uns bestimmt nicht. Dass sie schnell ist, wissen wir alle. Aber es ist verdammt gefährlich für sie!"

"Einer muss sie nach Hause bringen!"

"Ich gehe aber nicht nach Hause", widersprach Isa schnippisch und verschränkte ihre zierlichen Arme, woraufhin Tassy bloß den Kopf senkte. "Also schön. Wir können dich eh nicht davon abhalten. Also dann, Leute, lasst uns weitergehen. Und immer schön leise! Ach, Cecilia", sagte sie dann an das Mädchen gewandt, "das ist Isa. Isa, das ist Cecilia."

"Hallo, Isa", flüsterte diese, ehe sie ihren Weg nicht das leiseste Geräusch zu erzeugen versuchend fortsetzten. Nur am Rande bemerkte Tassy, dass Cecilia der kleinen Gruppe voranschritt, jeden ihrer Schritte mit Bedacht zu wählen scheinend, und die übrigen folgten ihr wortlos. Nach einiger Zeit kam sie neben einem niedrigen, scheinbar ebenfalls zu einer ehemaligen Lagerhalle gehörenden Gebäude zum Stehen und wisperte: "Sollen wir vielleicht hier raufklettern, um von dort aus über die Dächer weiterzugehen?"

"Das ist 'ne tierisch gute Idee", antwortete Tassy mit aufkommendem Erstaunen, "sag mal, kennst du dich hier aus?"

"Nein", sagte Cecilia, "aber ich habe hier auf diesen unübersichtlichen Wegen die ganze Zeit so ein... Na ja... mulmiges Gefühl. Ehrlich, auf den Dächern würde ich mich wohler fühlen. Und da ich nicht so gut klettern kann wie ihr, dachte ich, dieses niedrige Häuschen hier wäre praktisch für mich."

"Stimmt. Gute Idee, Cecilia", ertönte Kats Stimme, "na dann: Alle Mann rauf!"

Sofort tat Lilly einige Schritte nach hinten, nahm Anlauf und drückte sich mit dem Fuß an der steinernen Wand ab, sodass sie nach der Kante zu greifen und sich langsam hinaufzuziehen vermochte; Kat, Nick und Isa taten es ihr gleich, wobei diese jedoch aufgrund ihrer geringen Größe beinahe die Kante des Gebäudes verfehlt hätte und im letzten Moment von Kat hinaufgezogen wurde.

"Okay, Cecilia, denkst du, du schaffst das?", fragte Tassy, woraufhin diese unsicher nickte. "Ich glaube schon. Obwohl... Ich probier's." Somit nahm sie ebenfalls Anlauf, setzte ihren Fuß an der Wand auf und drückte sich schwungvoll nach oben, verfehlte die Kante jedoch.

"Mist", wisperte sie nur, woraufhin Tassy auf sie zutrat. "Ist nicht schlimm. Versuch's nochmal."

Wiederum rannte Cecilia mit vor Entschlossenheit zusammengekniffenen Augen auf die sich vor ihr auftuende Wand zu, sprang zunächst ab und setzte dann ihren Fuß auf, wodurch sie sich mit derartigem Schwung abzudrücken vermochte, dass ihre ausgestreckten Hände noch einige Fingerlängen über dem Rand ins Leere zu greifen vermochten. Sie hielt sich krampfhaft an dem scharfkantig aussehenden Stein fest, woraufhin Kat sowie Nick ihre dünnen Arme packten und sie mühelos hinaufzogen. Schnell arbeitete sich auch Tassy an dem Gebäude hinauf und erhob sich sofort, als sie auf dem von schwarzem Kunststoff überzogenen Dach angekommen war. "Gut gemacht", sagte sie dann an Cecilia gewandt, welche dankbar den Kopf neigte. "Okay..." Sie ließ den Blick über das sich weit erstreckende, ihnen einen Weg über einige weitere Mauern sowie etwas höher gelegene Gebäude zu bieten scheinende Dach schweifen, während Kat zunächst schweigend neben sie trat. "Und jetzt?"

"Gute Frage. Da wir nicht wissen, ob sich die Typen heute überhaupt hier irgendwo aufhalten, und wenn, wo sie sich aufhalten, ist es theoretisch egal, wo wir hingehen. 'Nen festen Treffpunkt oder so eine Art Lager haben die ja nicht, oder?" Sie blickte Kat fragend an, welche den Kopf schüttelte und dann antwortete: "Die halten das ganze Gelände hier für ihr Revier und halten sich überall auf. Deswegen spielt es wirklich keine Rolle, in welche Richtung wir gehen."

"Ich kann sowieso nicht auf allen Wegen mitkommen", warf Cecilia ein, "nur auf den einfachen."

"Dann wäre es doch am besten", schlug Tassy vor, "wenn Cecilia vorangeht, auf einem Weg, der nicht zu schwer für sie ist, und wir folgen ihr einfach."

"Super. Willst du das einfach auf gut Glück probieren?", fragte Lilly gereizt an Tassy gewandt, woraufhin diese ruhig antwortete: "Ja, da wir sowieso keine Ahnung haben, wo sich diese Typen aufhalten- wenn sie überhaupt hier sind. Also, Cecilia, dann geh' mal vor. Und wenn etwas nicht in Ordnung ist, sag's einfach."

Daraufhin nickte das Mädchen bloß und setzte sich mit zunächst zögerlichen, dann mit jedem Augenblick sicherer werdenden Schritten in Bewegung, während die Gruppe ihr schweigend folgte. Sie überquerten einige breite Mauern und arbeiteten sich an unzähligen, vom nunmehr hoch am Himmel stehenden Mond beschienenen Dächern hinauf, bis Tassy das aufgebrachte Wispern Cecilias vernahm: "Da, ich höre etwas!" Scheinbar unwillkürlich ließ sie sich auf die Knie sinken und wies mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken über den Rand des breiten, hoch aufragenden Daches, woraufhin sich Tassy diesem leichtfüßig näherte und mit zusammengekniffenen Augen auf den sich unter ihr erstreckenden Platz spähte. Unter einer sie in ein mattes, eine trübe Färbung tragendes Licht tauchenden Laterne hatten sich einige durch ausladende Kapuzen oder Kappen unkenntlich gemachte Gestalten eingefunden, die sich zweifellos mit tiefen Stimmen unterhielten- durch die Höhe jedoch zu weit entfernt, um einzelne Wörter aus dem unverständlichen Gröhlen hinaushören zu können. "Ich kann nichts verstehen", wisperte Kat und blickte zu Tassy hinüber, die den Kopf schüttelte. "Ich auch nicht. Wir müssen näher heran."

"Am besten, zwei oder höchstens drei von uns gehen lauschen, und die übrigen bleiben hier oben." Sie hob die Stimme ein wenig, als sie sich an die übrigen wandte: "Falls dann etwas passiert, können die, die warten, immer noch zu Hilfe kommen."

"In Ordnung", flüsterte Nick, und auch Lilly nickte bestätigend, ehe Tassy fortfuhr: "Also, Isa und Cecilia bleiben auf jeden Fall hier oben. Nick, Lilly, Kat- wer von uns geht, ist mir eigentlich egal."

"Sollen wir beide gehen?", fragte Kat sofort an Tassy gewandt, welche langsam nickte. "In Ordnung. Oder habt ihr zwei was dagegen?"

"Nein, nein", antwortete Nick, und Lilly sagte: "Geht ihr zwei ruhig."

Tassy und Kat wechselten einen kurzen Blick, ehe sie sich zugleich erhoben und das Dach nach einem geeigneten Weg, auf den tief unter ihnen liegenden Grund zurückzukommen, absuchten. "Kat, hier ist 'n Ding, da kann man runterrutschen."

"Was für eins?", fragte diese und eilte zu Tassy hinüber, welche bloß mit der Schulter zuckte. "Keine Ahnung, ein Regenrohr oder so. Irgendein Rohr. Und da unten ist noch ein kleineres Dach, von wo aus man herunterspringen kann."

Sofort trat sie an den Rand des Daches heran und verspürte bei dem Anblick jener Höhe, in welcher sich das Gebäude über dem Boden auftat, ein stechendes Gefühl der Angst, das sich mit scharfer Spitze tief in sie hineinzubohren schien. "Scheiße, ist das hoch", wisperte sie, als sie sich auf die Knie sinken ließ, ihre Füße über die Kante schob und dann nach dem kalten, eisernen Rohr griff, das unmittelbar unterhalb jener Kante in das Innere des Gebäudes hineinzuführen schien. Mit festem Griff sowie sich mit aller Kraft an das Rohr pressenden Füßen ließ sie sich langsam herabsinken, den von unverkennbarer Unsicherheit erfüllten Blick auf die über ihr aufragenden Sterne gerichtet.

"Okay, Kat, du kannst kommen!", flüsterte sie dann, als sie mit in ihr aufwogender Erleichterung die Festigkeit des von größtenteils zerbrochenen Platten überzogenen Dachs unter ihren dünnen Schuhen spürte. Mit deutlich höherer Geschwindigkeit als ihre Freundin glitt Kat elegant an dem Rohr hinab und kam nach nur kurzer Zeit neben Tassy zum Stehen, woraufhin diese sie mit geweiteten Augen anblickte.

"Immernoch Höhenangst, Tass?" Diese nickte mit einem kurzen Grinsen und sprang dann leichtfüßig von dem niedrigen Dach hinab, wobei sie annähernd geräuschlos auf dem steinernen Boden aufkam. Ein leises Tippen, als legte man einen kaum Gewicht mit sich tragenden Schuh auf einer Wiese ab, verriet, dass Kat es ihr gleichgetan hatte, bevor sich beide unwillkürlich an die Wand jenes hohen Gebäudes pressten und vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzten, der Quelle der Stimmen immer näher kommend. Als Tassy die von dem Licht der Laterne auf den kargen Grund geworfenen, langgezogenen Schatten unmittelbar vor sich ausmachen konnte, kam sie schließlich zum Stehen und begann, den lauten Stimmen der Gruppe zu lauschen.

"Das sah mega kacke aus, Mann!"

"Isso. Als der da rübergekrochen is wie so'n Bescheuerta, und dann der Hot Dog."

Ein seltsames Lachen ertönte. "Echt so behämmert, Alta!"

Sie spürte, wie Kat sie zaghaft anstupste und wandte sich zu ihr, woraufhin diese mit den Lippen ihre Worte formte: Was sagen die?

"Nur unzusammenhängende Scheiße", wisperte sie so leise, dass nur Kat es zu verstehen imstande war, und lauschte dann weiter.

"Wird langsam mega kalt. Ich frier mir'n Arsch ab", sagte einer der Jungen, und Tassy sah, wie sich der Schatten, vermutlich der zu ihm gehörende, stark hin-und her zu bewegen begann.

"Weichei. Kannst kein Blut sehen und frierst dir direkt 'n Hintern ab. Du verpisst dich hier jetzt ganz bestimmt nicht."

"Hast Recht, Mann, ich heiß ja nicht Kim. Dass die einfach nicht gekommen ist. Mega asozial."

"Dann nehmen wir die auch nicht mit, wenn wir in die Dings-Halle... Wie hieß das noch?"

"Bouldern, oder so." Bei dem Klang dieser Worte spürte Tassy, wie sich ihre Muskeln unwillkürlich anspannten und sie von einer plötzlich aufsteigenden Aufregung ergriffen wurde, als sie sich auf die nächsten Worte zu konzentrieren suchte.

"Scheiß drauf. Dann nehmen wir die da auch nicht mit."

"Ey, wann wollten wir nochmal gehn?"

"Ja, Mittwoch, weil ihr ganzen Arschlöcher vorher ja kein Bock habt!"

Keinen Bock, verdammt nochmal!, dachte Tassy nur, als hinter ihr plötzlich eine kaum hörbare Stimme ertönte: "He, Tassy!"

Oh nein, dachte sie verzweifelt, ohne sich herumzudrehen, Isa, bitte verschwinde!

"Hat mit Bock nix zu tun, Mann, vorher haben nicht alle Zeit!"

"Isso, lass das doch echt machen, wenn alle da sind-" Isa wollte zu Tassy hinüberschleichen, drohte jedoch, zu stolpern und erzeugte somit ein nicht zu überhörendes Geräusch auf dem steinernen Grund- "ey, da war'n Geräusch!"

"Wo?"

"Um die Ecke". Der Schatten bewegte sich schnellen Schrittes auf sie zu, und Tassy spürte, wie ein gewaltiger Schub von Adrenalin durch ihre Adern schoss.

"Lauft!", schrie sie, fuhr blitzartig herum und riss die einen schrillen Schrei ausstoßende Isa mit sich, als sie den wutverzerrten Ruf eines Jungen unmittelbar hinter sich vernahm: "Ey, die haben uns belauscht!"

Ohne sich nur einen Herzschlag lang umzublicken, rannten sie auf das niedrige Gebäude zu, welches Kat innerhalb weniger Augenblicke erklommen hatte. "Kat, zieh' Isa rauf! Isa, mach 'nen Wallrun und greif nach Kat's Händen!", schrie Tassy und verlangsamte ihr Tempo ein wenig, um sich zwischen dem sich ihnen nähernden Jungen und dem mit vor Schreck geweiteten Augen vor ihr rennenden Mädchen zu befinden. Dieses rannte an der rauen Wand hinauf, verfehlte Kats ausgestreckte Hände jedoch knapp und stürzte unsanft zu Boden, woraufhin Tassy sie mit hektischen Bewegungen wieder auf ihre Füße zog. "Ich heb' dich hoch!", rief sie panisch und wollte das Mädchen gerade an den Seiten packen, um sie zu Kat emporzuheben, als sie mit einem gewaltigen Schubsen gegen die steinerne, sie mit ihrer kalten Härte empfangenden Wand gestoßen wurde. Sie spürte einen pochenden Schmerz in ihre rechte Schulter fahren, als sie mit dieser gegen die harten Backsteine prallte, und fuhr dann mit zusammengekniffenen Augen herum. Nur wenige Schritte trennten sie von dem breitschultrigen Jungen, der sich mit wütend funkelnden, braunen Augen vor ihr aufbaute und die gewaltigen Hände zu drohenden Fäusten geballt hatte.

"Willste nochmal gegen die Wand krachen?", knurrte dieser und tat einen Schritt auf die ihm fest in die Augen blickende Tassy zu, als dann jedoch das leise Wimmern der sich in eine von dunklen Schatten pressenden Isa ertönte.

"Oder will deine Freundin gegen die Wand krachen?" Er stieß ein höhnisches Lachen aus, sprang zur Seite und streckte seine mit den dunklen Schatten verschmelzende Hand aus, woraufhin ein ohrenbetäubendes Kreischen ertönte. Als er seine Hand zurückzog, hatte er sie fest um Isas pechschwarzes, zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar geschlossen und zog das am gesamten Körper zitternde Mädchen an sich heran.

"Lass sie in Ruhe!", rief Tassy und widerstand dem Drang, ihre Hand fest auf die einen ziehenden Schmerz durch sie hindurchjagende Schulter zu pressen, "sie ist ein Kind, verdammt, sie hat keine Chance gegen dich! Lass sie!"

"Okay", flötete der Junge bloß und stieß Isa mit einer derartigen Kraft von sich weg, dass deren Beine unter ihrem Gewicht nachgaben und sie fest auf dem harten Boden aufschlug. "Isa!", rief Tassy aus und wollte zu dem sich am Boden windenden Mädchen hinübereilen, wurde jedoch von zwei an die tödlichen Pranken eines Bären erinnernden Händen zurückgehalten und abermals fest gegen die kalte Wand gepresst. "Hast du Schiss, Mädchen?"

"Nö", wisperte Tassy, sog einmal tief die Luft ein und versetzte dem Jungen dann einen gewaltigen Tritt in dessen Bauch, woraufhin dieser einige Schritte nach hinten taumelte und ein schmerzerfülltes Knurren ausstieß.

"Verdammt!", zischte er und rannte dann erneut auf Tassy zu, welche jedoch mit der Schnelligkeit einer über einen Felsen huschenden Eidechse auswich, irgendwie hinter den seine geballten Fäuste ausstreckenden Jungen gelang und diesen mit aller Kraft, die sie aufzubringen imstande war, gegen die Wand stieß. Ein unheimliches Geräusch ertönte, als dieser zu Boden sank und zunächst regungslos in jener seltsam verdrehten Position verharrte, sich dann aber mit für seine gewaltige Masse ungewöhnlicher Geschwindigkeit erhob und Tassy einen gewaltigen Schlag in deren Gesich versetzte, bevor sie zu reagieren imstande war. Der von ihr erwartete Schmerz wurde von sie plötzlich ergreifender Benommenheit überdeckt und sie taumelte mit unsicheren Schritten zur Seite, während sie sich mit einer Hand an der rot funkelnden Wand abstützte. Gerade ballte sie ihre zitternde Hand zu einer Faust und wollte diese auf den Jungen schleudern, als ihr das wie ein tiefrotes Rinnsal an ihrer Stirn hinabrinnende Blut die Sicht nahm, ihre Sinne plötzlich von einer alles verschwimmen lassenden Dunkelheit umhüllt wurden und sie auf die Knie sank.

 

"Tassy, du siehst kacke aus!"

 

"Lilly! Nick!", schrie Kat mit aufgebrachter Stimme und blickte nach oben, wo ihre beiden Freunde sofort über die Kante des Daches hinuntersahen und sich nach einem geeigneten Weg nach unten umschauten. Schnell sprang sie von dem niedrig gelegenen Dach hinab und federte ihre Landung durch eine elegante Rolle, während sich der Junge mit verwirrtem Gesichtsausdruck von der zu Boden gesunkenen Tassy abwandte. "Na, willst du auch 'ne gebrochene Nase?", höhnte er und eilte mit gewaltigen Schritten auf Kat zu, welche aus den Augenwinkeln mit aufsteigendem Entsetzen die dunklen Silhouetten dreier Gestalten näherkommen sah.

Der Junge sprang mit ausgestreckter Faust auf Kat zu, die jedoch blitzschnell zur Seite sprang. "Daneben!", höhnte sie, woraufhin er mit unbändiger Wut in den zusammengekniffenen Augen herumfuhr. Einige Male versuchte er mit aller Kraft, auf die ihm geschickt ausweichende Kat einzuschlagen, bis diese ihrerseits ausholte und dem Jungen einen gewaltigen Schlag in dessen breites Gesicht versetzte. Als ihre kräftige Faust unmittelbar auf dessen Nase auftraf, vernahm sie ein geräuschvolles, ein Gefühl der Übelkeit in ihr aufsteigen lassendes Knacken wie das eines unter ihren Schuhen zerbrechenden Zweiges, als sie winzige Tropfen von wie eine Fontäne emporspritzenden Blutes auf ihren Fingern zerspringen spürte.

Der Junge schrie auf, presste die Hände fest auf sein nunmehr tiefrot gefärbtes Gesicht und schrie: "Du hast mir die Nase gebrochen! Du kleines Miststück!"

"Soll ich dir noch mehr brechen?", fragte Kat und stellte sich mit geballten Fäusten vor den ebenfalls auf die Knie zu sinken drohenden Jungen, welcher jedoch herumfuhr und so schnell ihn seine Füße zu tragen vermochten in den schützenden Schatten der Nacht entschwand. Sofort drehte sich Kat um und sah, wie die drei übrigen Jungen einige Pferdelängen von ihr entfernt standen, um das Geschehen mit vor Erstaunen einen nicht allzu intelligent wirkenden Ausdruck in ihren Gesichtern tragend zu beobachten.

"Na, Jungs, soll ich das Gleiche mit euch anstellen?", fragte sie und tat gerade einen Schritt nach vorne, als Lilly sowie Nick mit einem Mal hinter ihr auftauchten. "Dem hast du's gezeigt, Kat", sagte das Mädchen, hielt den Blick jedoch starr auf ihre Feinde gerichtet. Sechs Leute, in zwei ordentlichen Reihen aufgestellt standen sich mit kampfbereitem, entschlossenen Funkeln in den zu wütenden Schlitzen zusammengekniffenen Augen gegenüber und die vor Spannung zitternde Luft verriet, dass sie bereit waren, jeden Augenblick mit geballten Fäusten ineinander zu laufen.

"Du Mistkuh hast Marc die Nase gebrochen!", rief einer der drei Jungen, woraufhin Kat bloß lächelte. "Hat's verdient. Er ist ein Arschloch. Wie ihr alle."

"Das reicht!" Sofort stürmten die Jungen mit geräuschvollem Gröhlen auf sie zu, während sich Kat blitzartig an Nick und Lilly wandte: "Werdet ihr mit denen fertig? Ich muss Tassy und Isa helfen."

Diese nickten nur, bis sie ihrerseits auf die Jungen zurannten. Kat tat es ihnen gleich, fuhr jedoch im letzten Augenblick herum und rannte zu der Stelle hinüber, wo sich Isa und Tassy befanden, während sie sich mit einem letzten Blick über die Schulter vergewisserte, dass den Angreifern ihr Verschwinden nicht aufgefallen war.

Tassy saß mit an die Wand gelehntem Rücken am Boden und presste sich die Hand auf die Stirn, auf welcher sich eine dünne Schicht dunkelroten, nunmehr getrockneten Blutes gebildet hatte. "Hey, wie geht's dir?", fragte Kat und kniete neben ihr nieder, woraufhin Tassy langsam aufblickte. "Alles... Alles klar. Geh zu Isa."

"Kannst du aufstehen?", fragte sie, woraufhin sich ihre Freundin vorsichtig erhob, jedoch einige Male das Gleichgewicht zu verlieren drohte.

"Stütz' dich an der Wand ab", befahl sie und eilte dann zu der reglos am Boden liegenden Isa hinüber, deren ausgestreckte Hand von ihrem Sturz einige Schrammen aufwies. "Verdammt", wisperte sie nur, woraufhin Tassy mit abwesender Stimme fragte: "Was ist mit ihr?"

"Sie ist bewusstlos. Hat bestimmt eine Gehirnerschütterung."

"Sie muss ins Krankenhaus, Kat. Wir müssen... Irgendjemanden anrufen."

"Wir müssen in die Boulderhalle, da ist das am nächsten gelegene Telefon", murmelte Kat an sich selbst gewandt und hob das kleine Mädchen auf. "Komm mit, wir müssen schnellstmöglich zum Bonebreaker. Sie..." Ihre Stimme verwandelte sich unter dem schwer auf ihren nunmehr kraftklosen Armen lastenden Gewicht des Mädchens in ein angestrengtes Stöhnen, woraufhin Tassy mit leiser Stimme sagte: "Ich trage Isa. Du musst Nick und Lilly helfen."

"Auf keinen Fall lasse ich dich alleine gehen", widersprach sie dann, "du würdest ja zusammenbrechen, Tass. Die beiden schaffen das."

Schnell eilten sie durch die schützenden Schatten aus dem Blickfeld der Kämpfenden hinaus und bogen in eine enge, nur schwach vom matten Mondlicht erhellte Gasse ein, woraufhin Kat schließlich mit einem angestrengten Seufzen ihr Tempo verlangsamte. "Ist sie schwer?", erkundigte sich Tassy, die mit unsicheren Schritten neben ihr herwankte, woraufhin Kat nickte. "Aber es geht. Ist mit dir alles in Ordnung?", fragte sie mit sorgenvoller Stimme, woraufhin Tassy zu lächeln begann.

"Mach' dir keine Sorgen, ich werd's überleben."

Daraufhin setzten sie ihren Weg fort, und mit jedem verstreichenden Augenblick spürte Kat, wie die Kraft mehr und mehr ihrem Körper entschwand. Isas Augen waren noch immer geschlossen und sie regte sich nicht, doch ihr Brustkorb hob und senkte sich ruhig sowie in gleichmäßigen Abständen, was ein leises Gefühl der Erleichterung in Kat aufsteigen ließ. Tassy jedoch schien mit jedem Schritt an Geschwindigkeit zu verlieren und Kat bemerkte, dass sie einige Male den Halt auf dem harten, rauen Boden zu verlieren drohte, woraufhin sie sie schließlich zu stützen beschloss.

"Mir geht's gut, Kat", murmelte diese nur, woraufhin Kat mit aufsteigender Ungeduld entgegnete: "Von wegen! Du hättest dich mehrmals beinahe hingelatzt, und jetzt sag' mir nicht, dass das normal ist!"

Daraufhin erwiderte Tassy nichts und ließ sich von Kat stützen, bis das vertraute Leuchten eines grünen Schildes durch die scheinbar undurchdringliche Dunkelheit stach. "Es ist bestimmt schon halb Zwölf", murmelte Tassy, "denkst du, da ist noch jemand?"

Kat nickte bloß, ehe sie antwortete: "Bis elf Uhr ist die Halle geöffnet, dann wird jetzt bestimmt noch einer da sein, um die ganzen Türen abzuschließen und so."

Mit unwillkürlicher Vorsicht trat Kat an die Tür heran und öffnete diese mit dem Fuß, woraufhin sie ein matter, aus einer undefinierbaren Richtung dringender Lichtschein empfing. Ohne darauf zu achten, ob sich jemand in der Halle befand, eilte sie zu einem der rötlichen, von zerschlissenem Stoff überzogenen Sofas hinüber und legte das noch immer in ihren Armen ruhende Mädchen darauf ab, während sich Tassy mit einem langgezogenen Seufzen in einen breiten Sessel sinken ließ.

Kat hielt einen Augenblick inne und ließ ihre tiefblauen Augen über die von bunten Griffen überzogenen Wände schweifen, ehe sie mit erhobener Stimme rief: "Hallo? Ist hier jemand?!"

Sie erhielt keine Antwort.

"Hallo?!" Wiederum blieb alles still, doch als Kat gerade erneut zu rufen im Begriff war, ertönte irgendwo in einem an die Halle angrenzenden Raum eine Stimme: "Wir haben schon längst geschlossen, es tut mir sehr leid!"

Sofort erhob sich das Mädchen und eilte in die Richtung, wo sich der Ursprung der Stimme zu befinden schien, als sie sah, dass aus einem unmittelbar neben den Schränken liegender Raum ein schwacher Lichtstrahl drang.

"Tine, ich bin's, Kat! Ich brauche deine Hilfe!" Ohne eine Reaktion abzuwarten, öffnete sie die angelehnte, ein geräuschvolles Quietschen von sich gebende Tür und betrat mit unsicheren Schritten den geräumigen Raum, wo die Frau einige Klettergriffe in einer hölzernen Kiste verstaute. "Kat!", rief sie aus und blickte auf, als das Mädchen mit einem aufgebrachten Ausdruck in ihrem Gesicht auf sie zueilte.

"Tine, wir brauchen schnellstens ein Telefon. Isa und Tassy sind..."

"Hallo!", unterbrach sie eine vertraute Stimme und sie fuhr herum, als Nick, Lilly sowie Cecilia plötzlich in dem schmalen Türrahmen standen.

"Was macht ihr denn schon hier?", fragte sie ungläubig, woraufhin der Junge ihr ein triumphierendes Lächeln schenkte. "Wir haben sie fertig gemacht! Als ich einem von ihnen eine geschmiert habe und er hingefallen ist, sind sie alle plötzlich abgehauen! Wir..."

"Moment, Moment!", unterbrach Tine und trat mit verwirrtem Gesichtsausdruck neben Kat, "was ist hier eigentlich los?"

Ohne eine Antwort des Mädchens abzuwarten, zwängte sie sich an Lilly und Nick vorüber, blieb einen kaum anhaltenden Augenblick stehen und eilte dann zu dem noch immer bewegungslos auf dem Sofa liegenden Mädchen hinüber.

"Heiliger Strohsack, was ist denn hier passiert?", rief sie mit von tiefem Entsetzen erfüllter Stimme aus und kniete neben Isa nieder, woraufhin Kat die beinahe geräuschlose, zitternde Stimme Tassys vernahm: "Sie wurde von so einem Typen zusammengeschlagen."

"Und du?", fragte Tine und fuhr zu Tassy herum, woraufhin diese antwortete: "Ich auch, aber mir geht's noch... Na ja, gut will ich jetzt nicht sagen, aber ich lebe noch."

"Isa lebt auch noch, aber ihr seht beide nicht gut aus! Ich werde jetzt den Krankenwagen für die Kleine hier rufen und dann euren Eltern bescheid sagen!"

"Nein!", rief Lilly aus und eilte zu ihnen herüber, woraufhin Kat ihr folgte.

"Wir würden so einen Ärger von Isas Mutter kriegen, wenn sie herausfindet, dass ihr das unseretwegen passiert ist!"

"Scheiß auf den Ärger, Lilly", murmelte Tassy, "meine Mutter wird auch nicht happy sein. Aber Isa muss definitiv versorgt werden."

"Deswegen müssen unsere Eltern trotzdem nicht bescheid wissen!", widersprach Lilly, woraufhin Kat sofort das Wort ergriff, um Tassy das sie scheinbar Kraft kostende Sprechen zu ersparen: "Isa ist zwölf, Lilly. Wir können sie nicht einfach die ganze Nacht hier behalten, ohne dass ihre Mutter weiß, wo sie ist. Eigentlich können wir alle nicht einfach hier bleiben, ohne dass unsere Eltern bescheid wissen."

"Hört zu, Mädels" sagte Tine und senkte die Stimme, "zunächst werde ich den Krankenwagen rufen, dann sofort Isas Mutter, um ihr zu sagen, dass wir heute länger geöffnet hatten und sie beim Bouldern gestürzt ist. Dann werde ich eure Eltern anrufen und sie darum bitten, dass ihr hier übernachten dürft, weil ich eure Hilfe beim Boulderschrauben brauche, und dann werde ich mit Tassy zum Arzt fahren."

"Muss nicht, Tine. Mir geht's schon wieder besser", widersprach diese, woraufhin Tine einige Zeit zögerte. "Bist du sicher?"

"Ja."

"Gut. Ich schätze dich einfach mal so vernünftig ein, dass du richtige Entscheidungen treffen kannst. Trotzdem werde ich mir dich genauer ansehen und mich selbst davon überzeugen, ob auch alles in Ordnung ist. Geht es euch anderen gut?", fragte sie dann an die übrigen gewandt, woraufhin diese sofort nickten.

"Hört zu, Mädels. Und Nick. Ich tue euch gerade einen riesigen, riesigen Gefallen, und ich möchte euretwegen nicht in irgendeine- verzeiht mir das Schimpfwort- Scheiße hineingeraten. Eigentlich müsste ich sofort eure Eltern anrufen und ihnen sagen, dass ihr euch mit ein paar Kerlen geprügelt habt, aber da ich euch einen großen Ärger ersparen will, werde ich euch aus eurer blöden Situation heraushelfen- wenn ihr mir hoch und heilig versprecht, dass diese Geschichte unter uns bleibt."

"Natürlich", antwortete Kat sofort, woraufhin die anderen ebenfalls nickten.

"Gut. Denn wenn das hier herauskommt- dass ich eure Eltern angelogen und euch hier behalten habe- dann habe ich die längste Zeit in meiner Boulderhalle gearbeitet. Und ich will nicht die längste Zeit in der Boulderhalle gearbeitet haben, klar?"

"Natürlich. Versprochen, Tine."

"Also, während ich alles Wichtige erledige, verzieht ihr euch am besten in dieses Zimmer, wisst ihr, wo das Mini-Büro ist. Es ist wahrscheinlich besser, wenn nicht alle um Isa herumstehen, wenn sie abgeholt wird oder aufwacht."

"Okay", antwortete Nick, "also dann- Abmarsch!"

Während die übrigen bereits langsamen Schrittes davonzuschlendern begannen, trat Kat zu der sich aus dem Sessel hinauszuhieven versuchenden Tassy hinüber und fragte: "Geht's dir wirklich gut, Tassy?"

"Ja", stöhnte diese und erhob sich schließlich mühsam, "mein Schädel brummt nur, seit ich gegen die Wand und dann auf den Boden geklatscht bin."

"Vielleicht auch eine Gehirnerschütterung?"

"Ne". Sie schlurfte neben der auf jeden ihrer Schritte achtenden Kat her, wobei ihr jene ohnehin sehr stark nach vorne gebeugte, schlaff wirkende Haltung einen noch ermüdeteren, unmotivierteren Ausdruck verlieh. "Da gibt's nix zum erschüttern."

"Ich meine es ernst, Tassy", widersprach Kat und stellte sich ihr mit aufsteigender Wut in den Weg, als sie gerade die zu einem ein Stockerk höher gelegenen, sich an der Wand entlangwindenden Flur führende Treppe hinaufzubewegen im Begriff war.

"Wenn du hier irgendeine schlimme Verletzung hast und am Ende in irgendeiner Ecke verreckst, dann..."

"Oh, machst du dir Sorgen?"

"Ja!"

Tassy lächelte mit auf den Boden gerichtetem Blick und schüttelte dann den Kopf. "Mir geht's gut, Kat. Wirklich. Ich bin nur noch ein wenig am Arsch. Kannst du mir glauben."

"Okay", flüsterte Kat bloß und ließ Tassy dann vor sich die Treppe hinaufgehen, um sie im Fall eines Sturzes aufhalten zu können, während sie beinahe unwillkürlich einen kurzen Blick auf Isa warf, die noch immer mit geschlossenen Augen auf dem Sofa ruhte.

Schließlich, als sie den schmalen, durch eine nicht sehr hoch aufragende Mauer von der übrigen Halle abgetrennten Gang entlangschritt, vernahm sie die aus einem Raum an der gegenüberliegenden Wand dringenden Stimmen ihrer Freunde, woraufhin sie sich an Tassy vorüberschob und die hölzerne Tür öffnete.

Während sich Lilly und Nick auf zwei neben dem in der Ecke stehenden Schreibtisch platzierten Sitzkissen niedergelassen hatten, saß Cecilia mit nervös von einer Seite zur anderen huschenden Augen auf einem eher unbequem aussehenden Holzstuhl, der in einer Ecke stand.

"Tassy, du siehst kacke aus", sagte Lilly sofort mit jenem vertrauten Ausdruck der Überheblichkeit in der Stimme, woraufhin das Mädchen verspielt lächelte und ihr den von einigen Schrammen überzogenen Mittelfinger entgegentreckte. "Selber, Arschgesicht."

Kat konnte ein belustigtes Grinsen nicht unterdrücken und ließ sich dann neben Tassy auf einem ausladenden Sitzsack nieder, der sich wie ein gewaltiger Klumpen hellgrünen Schlamms in eine Ecke der von einer Schicht heller Bretter überzogenen Wand presste.

"Oh Gott, das war wirklich ein Abenteuer", murmelte Kat, woraufhin Tassy nur ein die Ablehnung jener Bemerkung auszudrücken scheinendes Stöhnen von sich gab.

"Findet Isa wahrscheinlich nicht. Nicht nur, dass sie sich verletzt hat, sie wird auch noch riesigen Anschiss von ihren Eltern bekommen", warf Nick ein, woraufhin Kat ihm einen verwirrten Blick zuwarf.

"Was meinst du?"

"Was wohl, sie hat sich rausgeschlichen. Ihre Eltern wissen gar nicht, dass sie weg ist. Hat sie mir erzählt, als ihr beiden bei den Typen wart. Jetzt, wo ich die erwähne- was, denkt ihr, werden sie jetzt anstellen?", fragte Nick, woraufhin Lilly sofort mit einem Zischen antwortete: "Was wohl? Die werden sich rächen! Ich habe von Anfang an gesagt, dass das eine bescheuerte Idee war."

"Wann hast du das denn gesagt?", erkundigte sich der Junge bloß.

"Die ganze Zeit!"

"Nein, hast du nicht, Lilly. Jetzt tu nicht so, als wärst du dagegen gewesen, die Typen zu beobachten!", knurrte Kat bloß mit einem Anflug von Wut und fuhr dann mit auf das sie empört anfunkelnde Mädchen gerichtetem Blick fort: "Jedenfalls werden sie jetzt nicht an dem Tag einbrechen, den sie vorhin gesagt haben. Ich meine, sie sind zwar hohl, aber nicht so hohl, dass sie denken, wir hätten dieses Gespräch nicht mitgehört."

"Ich würde trotzdem vorschlagen", murmelte Nick zögernd, "dass wir an dem Tag hier sind. Oder dass wir Tine bescheid sagen."

"Natürlich. Wir müssen ihr sowieso sagen, dass die Nibos vorhaben, hier einzubrechen."

Gerade hatte sie jenen Satz beendet, als sie sah, wie sich Cecilia mit geweiteten Augen sowie einem langgezogenen Seufzen auf den hölzernen Boden sinken ließ und ihr einen Ausdruck des Entsetzens wiederspiegelndes Gesicht in ihren zierlichen Händen vergrub.

"Alles in Ordnung, Cecilia?", erkundigte sie sich mit vorsichtiger Stimme und erhob sich sofort, um zu dem Mädchen hinüberzugehen.

"Du wurdest nicht zusammengeschlagen, Cecilia, also stell dich nicht so an!", bemerkte Lilly, woraufhin Kat ihr einen mahnenden Blick zuwarf.

"Mir... mir geht es gut", murmelte das Mädchen, als sie jedoch aufblickte, konnte Kat die sich in ihren klaren, jedoch nunmehr geröteten Augen zu sammeln beginnenden Tränen deutlich erkennen.

"Am besten, wir gehen mal kurz raus, was meinst du?"

Cecilia nickte und erhob sich dann erneut, woraufhin Tassys abwesend klingende Stimme ertönte: "Ich würde ja mitkommen, Cecilia, aber mein Kopf sowie mein Arsch sind gerade allzu froh, sich nicht bewegen zu müssen."

"Ist schon gut", antwortete Kat und schenkte Tassy ein kurzes Lächeln, ehe sie gefolgt von Cecilia den Raum verließ.

"Sind die schon da?", erkundigte sich das Mädchen mit auf den Boden gerichtetem Blick, woraufhin Kat den Kopf schüttelte. "Nein. So schnell geht das leider nicht. Komm, hier entlang", murmelte sie und bedeutete Cecilia mit einer kurzen Handgeste, ihr in einen weiteren, völlig leeren Raum zu folgen, wo eine gläserne, das matte Mondlicht reflektierende Tür auf das Dach des sich weit zu erstrecken scheinenden Gebäudes führte.

Vorsichtig öffnete Kat die nicht das leiseste Geräuch erzeugende Tür und trat in die Nacht hinaus, wo sie von der einen Hauch von Kälte mit sich tragenden Luft sowie den eine Ewigkeit entfernt scheinenden Lichtern der Stadt empfangen wurde.

"Ich mag diese Aussicht", murmelte sie an sich selbst gewandt, ehe sie zu der neben sie tretenden Cecilia blickte und fortfuhr: "Im Sommer haben wir von hier aus schon oft den Sonnenuntergang beobachtet- Tassy natürlich nie ohne ihre Kamera. Nur schade, dass diese Fabriken dort"- sie wies mit dem Finger auf einige sich als schwarze Silhouetten vom dunklen Nachthimmel abhebende, in die Sterne hinaufzuragen scheinende Gebäude- "das Bild ruinieren."

"Mit der richtigen Perspektive klappt das", murmelte Cecilia, woraufhin Kat lächelnd nickte. "Das stimmt. Ich mache auch ziemlich gerne Fotos, aber von der Aussicht hab' ich leider noch keins."

Cecilia schwieg.

"Geht's dir wieder gut?"

"Ja", antwortete sie schließlich, "ich bin so etwas nur nicht gewöhnt... Isa ist bewusstlos und muss scheinbar ins Krankenhaus, und Tassy hat einen so heftigen Schlag abbekommen, dass sie total... Na ja... sie wirkt irgendwie betrunken, oder so. Jedenfalls war diese ganze Geschichte ein bisschen... viel."

"Kann ich verstehen. Sehr gut sogar." Sie sah kurz zu Cecilia hinüber und wandte ihren Blick schließlich wieder auf die funkelnden Lichter in der sternenklaren Nacht.

 

 

Cecilias Vergangenheit

 

Kaum hörbar öffnete Tassy die weiße, in einen nicht sehr geräumigen Raum hineinführende Tür eine Spalt weit und spähte vorsichtig hinein, wo sie ein zu müden Schlitzen zusammengekniffenes Augenpaar mit scheinbar verwirrtem Ausdruck anblickte.

"Tassy?", murmelte die in einem breiten, von unzähligen Decken sowie Kissen bedeckten Bett liegende Isa, woraufhin Tassy schließlich das Zimmer betrat, gefolgt von der sich zurückhaltend umsehenden Cecilia.

"Wie geht's dir?"

"Total doof", antwortete Isa sofort und zog schließlich ihren in eine dicke Gipsschiene gehüllten rechten Arm unter der gelblichen Decke hervor, woraufhin tiefes Entsetzen in Tassy aufstieg. "Ich hab 'ne Gehirnerschütterung gehabt und mein Arm ist gebrochen! Weißt du, wie lange ich nicht mehr bouldern kann?!"

"Oh Gott, Isa... Tut mir verdammt leid."

"Du hast so recht gehabt, ich hätte nicht mitkommen dürfen! Es tut mir leid!"

Ja, und beim nächsten Mal würdest du dasselbe wieder tun, dachte Tassy bloß, sprach dies jedoch nicht aus.

"Was ist denn noch passiert? Ist ja jetzt schon drei Tage her!"

"Du bist vom Krankenwagen abgeholt worden, was du inzwischen wahrscheinlich weißt- du weißt ja auch, dass du beim Bouldern abgestürzt bist, wenn deine Mutter dich fragt, oder?"

"Ja", antwortete sie mit einem verspielten Grinsen, ehe Tassy fortfuhr: "Und von den Nibos wissen wir nichts weiter. Im Prinzip hast du nichts versäumt."

"Aber ich darf so lange nicht bouldern! Tassy, was soll ich denn jetzt machen?"

"Links- oder Rechtshänder?"

"Links".

"Glück gehabt!", murmelte Tassy mit einem erleichterten Seufzen, "dann kannst du... malen, schreiben, ähm... fernsehen, Musik hören..."

"Das ist total langweilig!", zischte das Mädchen, woraufhin Tassy bloß nickte. "Ich weiß. Aber irgendwann kannst du ja wieder Sport machen. Es gibt Leute, die..."

"Hey, die Besuchszeit ist vorbei!", unterbrach eine aus einer undefinierbaren Richtung dringende, dunkle Stimme ihre Worte, woraufhin Isa mit genervtem Gesichtsausdruck ihre Augen verdrehte.

"Das nervt so! Mein Papa meint, ich bräuchte den ganzen Tag lang Ruhe. Bitte, geht nicht weg!"

"Wir können doch nicht einfach hier bleiben, wenn deine Eltern sagen, wir sollen gehen", widerprach Cecilia, woraufhin Tassy nickte. "Tut mir leid, Isa. Wir kommen bald wieder- und dann auch mit den anderen. Versprochen."

"Ja, lasst mich nicht so lange alleine! Ich sterbe sonst vor Langeweile!"

"Natürlich nicht. Bis dann, Isa!"

Mit diesen Worten trat Tassy aus dem Zimmer hinaus, eilte aus der nicht allzu großen Wohnung und fand sich dann in dem geräumigen Treppenhaus, welches einige der Mietwohnungen miteinander verband, wieder.

"Arme Isa", sagte sie dann, als sie neben Cecilia die steinernen Treppen hinabschlenderte.

"Auf jeden Fall. So lange mit ihrem Hobby aufzuhören ist bestimmt sehr hart."

"Ist so", antwortete Tassy und trat aus dem Flur hinaus ins Freie, wo ihr der beißende Geruch des niemals Ruhe zu finden scheinenden Straßenverkehrs entgegenschlug und wie ein harter Ball an den dicht aneinandergedrängten Gebäuden abprallte.

"Aber wenigstens kann sie es irgendwann wieder machen. Wenn ich an die Leute denke, die durch einen Unfall oder so gelähmt sind und nie wieder das machen können, was sie gerne machen würden..."

"Die würden so gerne mit Isa tauschen! Jetzt, wo du es sagst- wir können so froh sein, dass es uns nicht so geht."

"You don't know what you got until you lose it."

"Was?"

"Du weißt nicht zu schätzen, was du hast, bis du es verlierst. Hab' ich mal irgendwo aufgeschnappt. In 'nem Buch oder so."

Unwillkürlich gingen sie die Straße entlang, einem unbestimmten Ort entgegen, während sie weitersprachen.

"Was hörst du für Musik?", fragte Tassy dann, woraufhin Cecilia kurz zögerte.

"Eigentlich alles. Na ja, dieses laute Gegröle nicht so."

"Ich weiß, was du meinst."

"Ich hab' mal Klavier gespielt, und da habe ich auch alles ausprobiert."

"Echt? Ich spiele Gitarre. Wir können ja 'ne Band gründen, mit Lilly als Sängerin", sagte sie lächelnd, woraufhin Cecilia den Kopf schüttelte. "Ich kann es nicht mehr so gut, weil ich sehr lange nicht mehr geübt habe. Vor einem Jahr hätte es womöglich noch geklappt." Sie zögerte. "Sag mal, wo gehen wir eigentlich gerade hin?"

"Keine Ahnung. Ist mir eigentlich egal." Wiederum hielt sie einen nicht lange anhaltenden Augenblick inne. "Willst du unser Kunstwerk sehen?"

"Was für ein Kunstwerk?" Ein unverkennbarer Ausdruck von Skepsis trat in ihre Augen, woraufhin Tassy mit einem Grinsen antwortete: "Wirst du dann sehen."

"Weißt du, was ich seltsam finde?", erkundigte sich Cecilia nach einigen Augenblicken des Schweigens und Tassy schüttelte den Kopf.

"Dass Isas Eltern ihr glauben, beim Bouldern gestürzt zu sein. Ich meine, als sie zu uns gestoßen ist, waren es bestimmt zehn Uhr, und die Halle ist nur bis elf geöffnet."

"Du hast recht. Sie müssen schon ziemlich bescheuert sein, wenn sie glauben, dass sie sich die Mühe macht, für nur eine Stunde in der Halle von zuhause abzudampfen. Denkst du, da ist irgendwas faul?"

"Keine Ahnung. Aber was soll schon faul sein, ich meine, das Schlimmste wäre ja wohl, dass sie ihr einfach nicht glauben. Hätte sie ihnen erzählt, was wirklich passiert ist, hätten ihre Eltern eben anders reagiert, denke ich. Sie hätten uns nicht so ohne Weiteres hereingelassen."

"Doch, das schon", entgegnete Tassy, "aber nur, um uns persönlich mit einem gewaltigen Arschtritt wieder nach draußen zu befördern."

"Vielleicht erzählt sie ja etwas, wenn wir sie noch einmal besuchen. Ansonsten schien ja alles in Ordnung zu sein- na ja, den Umständen entsprechend."

Daraufhin nickte Tassy bloß mit auf den Boden gerichtetem Blick, während sie in gemächlichem Tempo den schmalen Bürgersteig entlangschritten, der von den zu ihrer Rechten aufragenden Häusern sowie dem niemals ruhenden Fluss der vorüberzischenden Autos auf der Straße zu ihrer Linken begrenzt wurde.

Unzählige unterschiedlichster Gesichter kreuzten ihren Weg, und beinahe unwillkürlich suchte Tassy in jedem ihr entgegenblickenden Augenpaar den Ausdruck zu lesen- sie sahen sie an, unmittelbar, doch sie blickten durch sie hindurch wie durch die unsichtbare Luft, die man zwar unbewusst wahrnimmt, jedoch nicht eine Sekunde lang über ihre Existenz nachdenkt.

"Niemand bemerkt einen, hab' ich das Gefühl", sagte sie schließlich an Cecilia gewandt, die sie daraufhin fragend anblickte.

"Ich meine, die Leute sind alle so versunken. Glotzen auf irgendeinen entfernten Punkt, wo es nichts zu sehen gibt, und bemerken die, die ihnen entgegenkommen, gar nicht."

"Das stimmt, jetzt, wo du es sagst."

"Ich finde die Leute interessant, die einem so entgegenkommen. Ich meine, klar, die meisten ihrer Fratzen vergesse ich auch nach zwei Sekunden wieder. Aber ich überlege immer, wenn mir jemand entgegenkommt, wo derjenige herkommt, wo er hingeht und was er so macht, verstehst du?" Cecilia nickte. "Zum Beispiel, wenn wir über die Autobahn fahren und einem unzählige Autos entgegenkommen- was geht bei denen ab? Vielleicht hat einer von denen gerade total viel Geld gewonnen, 'n Kind bekommen oder irgendjemanden verloren. So viele verschiedene Schicksale und Lebensgeschichten, weißt du, und du kommst irgendwie darin vor, wenn du für den Bruchteil einer Sekunde ihren Weg kreuzst." Sie zögerte und musste dann unwillkürlich lächeln. "Tut mir leid, ich labere nur gequirlte Mäusescheiße."

"Nein, ich weiß, was du meinst. Ich kenne nur sonst keinen, der über so etwas nachdenkt. So ernste Themen, meine ich. Ist das auch das, was du so schreibst?"

"Nein, nein. Ich mag solche Texte nicht wirklich."

"Ich auch nicht. Die sind meistens langweilig."

"Geht mir genauso", antwortete Tassy lächelnd und bemerkte nur am Rande, wie sie unwillkürlich in eine enge, deutlich weniger begangene Gasse einbog. Zu beiden Seiten drängten sich schmale, von matten Farbtönen sowie einigen unsauberen, der Straße einen heruntergekommenen Ausdruck verleihenden Schriftzügen überzogene Häuser aneinander und an den Straßenrändern hatten sich einige Abfälle angesammelt. Am Ende der Gasse war ein schmaler, von wenigen Bäumen überzogener Grünstreifen zu erkennen, auf welchem ein nicht sehr hoch aufragendes Gebäude kauerte.

"Was ist das?", erkundigte sich Cecilia.

"Ich weiß nicht. Aber ich weiß, wozu es gut ist."

Bereits aus einiger Entfernung konnte man das Spiel unzähliger ineinander verschmelzender Farben erkennen, das sich in das Entziffern des Schriftzugs schwer machenden Verschnörkelungen über die weiße Wand des garagenähnlichen Gebäudes zog.

"Pollution sucks", las sie laut, "sieht wirklich schön aus. Wart ihr das?"

Tassy nickte mit einem triumphierenden Lächeln, ehe sie antwortete: "Das ist vor einigen Wochen entstanden. Nachts natürlich. Wir haben auch an anderen Orten gesprüht, aber das hier ist mit Abstand am schönsten."

"Es ist wirklich, wirklich schön." Zögernd trat sie schließlich an das Gebäude heran und ließ ihre Finger über die von unzähligen Farbtönen überzogene, steinerne Wand streichen. "Wo hattet ihr die Farben her?"

"Ähmm..." Tassy überlegte einige Augenblicke, ehe sie antwortete: "Hab' sie vor einer Ewigkeit mal in irgendeinem Baumarkt gekauft. Ich glaube, ich habe noch welche übrig."

"Ich habe so etwas noch nie gemacht. Ist das nicht beängstigend, wenn man jeden Moment gesehen werden kann?"

"Wir haben's ja nachts gemacht, da sind nicht sonderlich viele Leute unterwegs. Im Grunde ist gar keiner unterwegs. Und wir waren ja zu viert, weshalb einer oder zwei immer aufpassen konnten."

"Ihr habt wirklich schon viel zusammen gemacht, stimmt's? Du, Lilly, Kat und Nick? Und Isa." Als Cecilia jenes aussprach, glaubte Tassy beinahe, einen leisen Anflug von Bedauern in ihrer Stimme zu vernehmen.

"Ja, wir haben schon viel Mist angestellt. Wir kennen uns allerdings auch alle schon 'ne Ewigkeit, so ein eingespieltes Team, weißt du. Deswegen kommt bei der Kacke, die wir anstellen, immer was Gutes rum. Meistens."

"Ich hatte nie.." Cecilia wich Tassys Blick aus, als sie weitersprach. "Ich hatte nie so gute Freunde, mit denen man so viel erleben konnte. Eigentlich... Eigentlich hatte ich gar keine Freunde. Weißt du, bevor meine Familie und ich in diesen Stadtteil gezogen sind, war ich auf einer anderen Schule, und... " Tränen traten in ihre Augen. "Keiner konnte mich leiden. Ich war nicht wie die anderen, verstehst du, ich hatte andere Interessen als die Mädchen, und die Jungs... Keine Ahnung, was die gegen mich hatten, sie hatten einfach etwas gegen mich."

Sie zögerte, woraufhin Tassy vermutete, dass es an ihr war, etwas zu sagen. "Na ja... Manchmal suchen sich diese Arschlöcher einfach irgendein Opfer aus, ohne einen Grund zu haben."

"Sie haben mir ständig Dinge hinterhergerufen, mir Geld geklaut und im Unterricht immer gespottet, sobald ich etwas gesagt habe. Ich konnte es nicht aushalten! Deswegen sind wir weg..." Ihre Stimme versagte unter einem geräuschvollen Schluchzen, und sie vergrub das Gesicht in ihren nunmehr zitternden Händen.

Mitfühlend, aber dennoch verwirrt blickte Tassy zu ihr hinüber, unsicher, wie sie auf die plötzliche Trauer des Mädchens reagieren sollte.

"Jetzt ist es ja vorbei, Cecilia. Was mich betrifft, gehörst du jetzt zu uns. Von uns hänselt dich ganz sicher keiner. Und wenn noch einmal irgendein Arsch irgendetwas Negatives zu dir sagt, kannst du ihm ausrichten, dass das Bonebreaker-Team kommt und ihm den Hintern versohlt."

"Es ist..." Sie schluchzte abermals. "Es gibt Dinge, die passiert sind, die...oh Gott, ich kann nicht..."

"Ist schon gut", murmelte Tassy, "was immer passiert ist- ich kann verstehen, wenn du nicht über alles reden willst. Aber ich glaube, dass das alles jetzt vorbei ist. Du hast jetzt uns, und wir helfen dir auf jeden Fall, wenn irgendetwas ist."

Das Mädchen nickte bloß und lehnte sich gegen die bunte Wand, woraufhin Tassy mit nunmehr in ihr aufgestiegenem Mitleid zu Boden blickte.

Einige Zeit verharrten sie dort schweigend, bis Cecilia ihre Tränen schließlich trocknete und dann mit geröteten Augen aufblickte. "Alles geht vorbei, stimmt's?" Tassy nickte. "Auf jeden Fall. Der größte Scheiß geht vorbei, und dein großer Scheiß ist jetzt vorbei. Versprochen." Sie zögerte kurz. "In einer meiner Geschichten hab' ich mal geschrieben, dass...- ich weiß den genauen Wortlaut nicht mehr- hinter dem dichtesten Nebel der Himmel immer noch blau ist und nach der dunkelsten Nacht auch wieder blau wird."

"Klingt schön. Wahrscheinlich hast du recht. In manchen Situationen ist es nur schwer, daran zu denken."

"Ich hab' 'ne Idee", sagte Tassy dann, woraufhin ein leiser Funken von Neugier in die Augen des Mädchens trat.

"Wir gehen jetzt an die nächste Bushaltestelle, fahren zum Bonebreaker, powern uns richtig aus und gehen dann zu mir nach Hause. Du kannst deine Eltern fragen- also, wenn du möchtest- ob du mei mir übernachten darfts, dann suchen wir meine restlichen Farbdosen und verschönern irgendeine hässliche Wand. Was hältst du davon?"

"Sehr gute Idee." Tassy lächelte daraufhin kurz und wollte gerade kehrtmachen, als Cecilia sagte: "Hey, Tassy." Sie drehte sich herum. "Danke."

 

In der Kletterhalle

 

Der vertraute Geruch des weißen Pulvers sowie die geräuschvollen Stimmen derer, die in vereinzelten Gruppen auf den dicken Matten saßen und die sich an den Wänden hinaufarbeitenden Gestalten mit lauten Rufen unterstützten empfingen die Mädchen, als sie die Tür mit einem leisen Quietschen öffneten. "Tassy, dein gruseliges Schild ist ja weg", sagte Cecilia grinsend, woraufhin Tassy mit gespielt traurigem Blick zu Boden sah. "Voll unfair!"

"Vielleicht hat es Leute vergrault. Würde mich nicht wundern."

"Du denkst nicht zufällig daran, wie ich dich zuletzt versehentlich erschreckt habe?"

"Doch. Aber ich denke, die meisten Kletterer sind weniger schreckhaft, oder?"

"Das hat damit nichts zu tun", entgegnete Tassy, "ich bin ein Kletterer und werde zum riesigen Schisser, sobald ich mich in einer Höhe von über zwei Metern befinde. Außerdem", fügte sie hinzu, "bist du doch jetzt auch einer."

Cecilia lächelt daraufhin mit jenem Ausdruck von Dankbarkeit, den Tassy auch zuvor bei ihrem Gespräch an dem alten Gebäude wahrgenommen hatte. Beide zögerten einen nicht lange anhaltenden Augenblick, ehe sie zu der Kasse hinüberschlenderten, wo Tine ihnen mit erwartungsvollem Leuchten in den Augen entgegenschaute.

"Hallo, ihr zwei. Wart ihr bei Isa?", erkundigte sie sich sofort, woraufhin Tassy ein unwillkürliches Seufzen ausstieß. "Ihr Arm ist gebrochen. Sie... sie wird wohl 'ne Zeit nicht mehr bouldern können."

In Tines Gesicht trat ein schockierter sowie mitfühlender Ausdruck und sie hielt lange Zeit inne, ehe sie fragte: "Wissen ihre Eltern, dass..."

"Nein", antwortete Tassy, "sie glauben ihr seltsamerweise, beim Bouldern gestürzt zu sein. Zum Glück."

"Oh Gott, die arme Isa. Das wird bestimmt eine richtig langweilige Zeit für sie. Na ja, deswegen müsst ihr euch ja trotzdem nicht langweilen. Ihr wollt bouldern?"

"Was sonst?"

"Okay, dann kriege ich von dir sieben Euro, Cecilia, und du hast ja eine Jahreskarte"

Schnell kramte Cecilia einige Münzen aus der Tasche ihrer blauen Weste heraus und reichte sie Tine, die sie mit einem freundlichen Lächeln entgegennahm. "Danke. Dann wünsche ich euch viel Spaß."

"Danke"

Während sich Cecilia aus einem an der Wand lehnenden Regal ein Paar Schuhe heraussuchte, eilte Tassy zu den grünen Schränken hinüber und öffnete den ihren, nachdem sie tief die Luft eingesogen hatte. Sofort entnahm sie das von einer Schicht weißen Staubs überzogene Chalkbag sowie die engen, an der Spitze wie der Schnabel eines Vogels gekrümmten Schuhe und zwengte ihre Füße mühsam hinein, wobei sie jener vertraute, nicht lange anhaltende Schmerz durchfuhr.

"Warum müssen die so eng sein?", zischte sie an sich selbst gewandt und erhob sich schließlich, nachdem sich Cecilia ihrerseits auf dem hölzernen Boden niedergelassen hatte und die ausgeliehenen Schuhe überzuziehen im Begriff war.

"Die sind enger als die letzten", murmelte sie, "ich komme nicht rein!"

"Doch, das geht. Du musst dich reinpressen."

Cecilia warf ihr einen skeptischen Blick zu, griff dann nach den auf der hinteren Seite der Schuhe befestigten Schlaufen und zog mit scheinbar aller Kraft, die sie aufbringen konnte, daran. Ein angestrengtes Stöhnen entfuhr ihr und sie biss die Zähne fest zusammen, um ein letztes Mal möglichst fest an jenen Schlaufen zu ziehen, bis die Schuhe schließlich nachgaben und ihre Füße mit einem grotesken Quietschen hineingleiten ließen.

"Oh Mann, sag' mir bitte, dass man sich daran gewöhnt", ächzte sie, woraufhin Tassy nur ein bemitleidendes Lächeln zustande brachte. "Da muss ich dich enttäuschen. Es wird zwar besser mit der Zeit, aber völlig schmerzfrei wirst du nie sein, denke ich."

"Okay. Was machen wir?"

Tassy hielt einige Zeit lang inne und ließ ihren Blick durch die scheinbar jeden erdenklichen Farbton bergende Halle schweifen, ehe sie schließlich antwortete: "Ich würde sagen, wir machen zuerst ein paar einfache zum Aufwärmen, und dann sucht sich jeder ein Projekt."

"Projekt?" Ein fragender Ausdruck trat in ihre Augen.

"Also, du suchst dir 'nen Boulder, der 'n bisschen schwer für dich ist, und probierst ihn so oft, bis du ihn entweder geschafft hast oder die Versuche schlechter werden."

"Für mich ist ja der dritte Schwierigkeitsgrad schon fast zu schwer."

"Dann suchst du dir halt 'n Projekt im dritten Grad, ist ja kein Problem. Zum Aufwärmen kannst du ja einfach alle Griffe benutzen, oder so."

Cecilia nickte lächelnd, woraufhin Tassy mit einem kurzen Nicken in die Richtung der Wände wies. "Na dann, los geht's".

Sofort eilte sie über die Matten auf die am nächsten gelegene orangefarbene Route zu und arbeitete sich mühelos hinauf, während sie aus den Augenwinkeln die sich an einer gegenüberliegenden Wand entlangbewegende Cecilia ausmachen konnte.

Gerade hatte Tassy den letzten Griff erreicht, löste sie sich von dem ihr viel Halt gebenden Tritt und krallte ihre Finger unwillkürlich noch stärker in den Griff hinein, als sie sich mit zusammengekniffenen Augen an der Wand hinabzuhangeln begann. Einige Male, wenn sie sich an dem nächsten, tiefer gelegenen Griff festzuhalten versuchte, vermochte sie die Spannung nicht zu halten und fiel in ihre komplett ausgestreckten Arme hinein, was schließlich ein unangenehmes Ziehen in ihren Schultern verursachte.

Als sie sich nur noch wenige Fingerlängen über dem Grund befand, ließ sie von dem Griff ab und landete leichtfüßig auf der unter ihrem Gewicht ein wenig nachgebenden Matte, woraufhin Cecilia zu ihr hinüberschritt.

"Du hast das gerade wirklich gehangelt?", erkundigte sich diese mit einem Anflug von Erstaunen in der Stimme, woraufhin Tassy antwortete: "Ja, schon, aber nicht besonders gut."

"Wieso?"

"Hätte die Arme angewinkelt haben müssen. Oder zumindest nicht so in die Schultern reinfallen lassen. Da kann man sich nämlich sonst 'ne Zerrung holen, ist mir schon passiert."

"Das wäre doof. Hey, welche Farbe ist nochmal die Einfachste?", fragte Cecilia mit einem kurzen Blick durch die Halle.

"Blau."

"Dann mache ich ein paar Blaue. Das müsste ich doch schaffen, oder?"

Tassy nickte mit einem Grinsen und antwortete dann: "Locker."

Nachdem sie selbst einige blaue, orangefarbene sowie grüne Routen erklettert hatte, eilte sie zu der in der hintersten Ecke der Halle befindlichen, in einem Winkel von vierzig Grad überhängenden Wand hinüber, wo Cecilia inmitten weniger anderer Kletterer mit gebanntem Blick auf eine dunkelgrüne Route starrte.

"Grün?", fragte Tassy bloß und trat neben das Mädchen, welches schließlich den Kopf wandte und nickte, bevor es fragte: "Denkst du, es ist zu schwer?"

Einige Zeit ließ Tassy ihren Blick über die zum Teil recht schmalen, jedoch guten Halt zu bieten scheinenden Griffe schweifen, ehe sie zögernd antwortete: "Ich denke nicht."

"Was machst du?"

"Ich muss mir noch was suchen. Wahrscheinlich eine Rote, davon hab' ich noch nicht so viele. Zuerst will ich dir aber mal zugucken."

"Aber hier sind so viele Leute", flüsterte Cecilia, "das ist peinlich, wenn ich dann da runterfalle!"

"Ach, quatsch", widersprach Tassy, "Kletterer verspotten sich nicht gegenseitig, das kannst du mir glauben."

Als sie ihren Blick erneut auf die Wand richtete, sah sie, wie sich eine dunkelhaarige Frau mit einer ausladenden, in allen erdenklichen Farben glänzenden Hose an jener grünen Route hinaufbewegte, die Griffe scheinbar mühelos festzuhalten vermochte und nach nur weniger Zeit den letzten Griff errreicht hatte. Während sie sich erneut auf die Matten fallen ließ, drehte sich Cecilia mit plötzlicher Besorgnis in den Augen zu Tassy herum und sagte mit beinahe verzweifelter Stimme: "Das schaffe ich doch nie!"

"Probier's einfach. Ich glaube, dass du's schaffst. Und wenn nicht, ist es ja auch kein Weltuntergang. Komm, geh, bevor jemand anderes dir den Platz wegnimmt."

Mit vorsichtigen Schritten trat Cecilia an die Wand heran, ließ ihren Blick abermals darüberschweifen und griff dann zögernd nach den sehr weit unten gelegenen, sie zum Hinsetzen zwingenden Startgriffen. Den Blick nach oben gerichtet tastete sie mit den Füßen nach dem geeignetsten Tritt und zog sich dann schließlich hinauf, woraufhin sich ihr Hinterteil plötzlich von den weichen Matten abhob.

"Komm, Cecilia, das geht."

Jeden Griff genau zu mustern scheinend bewegte sich das Mädchen voran und gewann mit jedem verstreichenden Augenblick an Höhe, während Tassy sowie einige andere Kletterer, die um jene Wand herumsaßen, sie mit ihren gespannten Blicken an der Wand zu halten schienen.

"Alléz, das geht", rief ein älterer Mann, woraufhin die dunkelhaarige Frau rief: "Ja, stark. Mach's fertig."

Während Cecilia sich unter den nunmehr lauten Anfeuerungsrufen der Kletterer an dem nächsten Griff festzuhalten im Begriff war, vermochte Tassy bloß mit vor Erstaunen geweiteten Augen zu ihr hinaufzustarren. Das Mädchen streckte die Hand aus, sie fest um einen rundlichen Griff zu schließen versuchend, als ihr linker Fuß jedoch plötzlich den Halt verlor. Beide ihrer Beine zischten mit derartigem Schwung durch die Luft, dass Cecilia davon mitgerissen zu werden schien und für einen Sekundenbruchteil horizontal in der Luft lag, das entsetzte Gesicht auf den Boden gerichtet. Ihre Hände lösten sich ebenfalls von den Griffen und sie stürzte unsanft auf die Matten, woraufhin sich Tassy sowie einige andere Kletterer panisch erhoben. "Ist alles in Ordnung?" "Geht's dir gut?" "Hey, Cecilia, alles klar?"

Tassy spürte ein tiefes Gefühl der Erleichterung in sich aufsteigen, als sich das Mädchen mit verwirrtem, jedoch ebenso entschlossenen Blick wieder erhob.

"Mir geht's gut. Ich kann das schaffen." In ihrer Stimme lag mit einem Mal ein derartiges Selbstvertrauen, dass Tassy für einen kaum anhaltenden Augenblick einem völlig fremden Mädchen gegenüberzustehen glaubte- der hauchdünne Schleier der Unsicherheit sowie der Angst, der den dunkelbraunen Augen Cecilias stets ihren Glanz genommen zu haben schien, war plötzlich zerrissen.

"Auf jeden Fall", antwortete Tassy mit einem beinahe respektvollen Lächeln, "hey, während du das hier versuchst, suche ich mir mal 'ne schöne Rote, wenn's okay ist." Cecilia nickte, und Tassy wollte gerade kehrtmachen, drehte sich dann jedoch noch einmal herum und fügte hinzu: "Wenn du Hilfe brauchst oder es geschafft hast, sag' mir bescheid."

"Mache ich."

Somit eilte Tassy durch die Halle und blickte sich nach irgendeiner ihr Interesse weckenden Route um, während das Bild des entschlossenen Ausdrucks in Cecilias Blick immer wieder in ihren Gedanken auftauchte.

Vor etwa einer Stunde war sie sich über den Grund für das ängstliche sowie zurückhaltende Verhalten des Mädchens klar geworden- vermutlich hatte sie jenen Grundcharakter schon immer gehabt, doch Tassy war sich sicher, dass dies durch alles, was Cecilia in der Vergangenheit wiederfahren war, bloß verstärkt worden war. Doch als sie soeben ein derart großes Hinderniss beinahe zu überwinden imstande gewesen wäre, schien sie ein völlig neues Selbstvertrauen gewonnen zu haben, welches ihr zuvor immer gefehlt hatte.

Auch sie selbst, Tassy, erinnerte sich gut an die Zeit, als ihre nunmehr von einer dicken Hornhaut überzogenen Finger noch keinen Klettergriff berührt hatten, und sie war sich ebenfalls der Veränderung ihres Charakters bewusst: Auch sie hatte nach nur kurzer Zeit einiges an Selbstvertrauen gewonnen und Angst sowie Verschlossenheit verloren, und das schien die Art von Magie zu sein, die jenem Sport anhaftete- jede geschaffte Route war ein Erfolgserlebnis, und jedes Erfolgserlebnis ebenso wie das aufgeschlossene, hilfsbereite Verhalten der Kletterer schenkte Selbstvertrauen.

Sie muss das beibehalten, dachte sie an sich selbst gewandt, so kann sie die Vergangenheit am besten vergessen.

Die geräuschvollen, irgendwo zu ihrer Linken ertönenden Rufe einiger Boulderer rissen sie aus ihren Gedanken, und als sie schließlich den Kopf wandte, sah sie eine um eine senkrecht in die Höhe ragende Wand versammelte Gruppe weniger Leute, die einem sich langsam an der Wand entlangbewegenden Mann zuriefen.

Langsam schlenderte Tassy zu jener Gruppe hinüber und musterte die Route genauer, wobei ihr einige der sehr schmalen, sich quer über die flachen Volumen ziehenden Griffe erst auf den zweiten Blick auffielen.

Der junge Mann, dem sein langes Haar in das Gesicht fiel, streckte gerade seinen von unzähligen Tattoos übersäten Arm nach dem nächsten Griff aus, schien jedoch von diesem abzurutschen und sprang dann mit einem verärgerten Zischen zu Boden.

"Das war so knapp!", sagte eine blonde Frau mit bedauerndem Lächeln und trat dann ihrerseits an die Wand heran, während sich Tassy zu der Gruppe dazustellte.

"Hi", ertönte plötzlich eine Stimme neben ihr, woraufhin sich Tassy umsah und einen nicht sonderlich hochgewachsenen, braunhaarigen Jungen erblickte, den sie bereits einige Male in jener Halle gesehen hatte.

"Hallo", antwortete sie, richtete ihren Blick dann erneut auf die Wand und fragte: "Ist die Route schön?"

Der Junge schüttelte nur den Kopf und sagte: "Die ist richtig scheiße, und richtig hässlich."

"Dann ist es genau der richtige Boulder für mich", entgegnete Tassy grinsend, woraufhin der tätowierte Mann sich herumdrehte und durch seinen dichten Bart hindurch murmelte: "Hey, sag' das nicht nochmal."

"Wie ist der Zug?", erkundigte sie sich daraufhin und wies mit einer kurzen Handgeste auf jene Stelle, an der der Mann soeben den Halt verloren hatte. Dieser seufzte tief und antwortete dann: "Eigentlich machbar, wenn man nicht gerade abrutscht. Du musst dich halt verdammt stark in diese winzige Leiste reinkrallen und mit dem rechten Fuß Druck auf den Tritt ausüben, dann geht das."

Tassy beobachtete noch einige Boulderer beim Klettern jener Route- einigen gelang es, den Topgriff zu erreichen, während wenige an zumeist der selben Stelle scheiterten- und trat dann ihrerseits auf die Wand zu.

"Wollte noch einer rein?", fragte sie, woraufhin alle bloß den Kopf schüttelten. "Mach ruhig."

Schnell öffnete Tassy ihr beinahe völlig geleertes Chalkbag und verteilte eine dünne Schicht des weißen Pulvers auf ihren Händen, bevor sie die etwas groteske Startposition einnahm- ihr linker Fuß befand sich beinahe auf der Höhe der zugehörigen Hand, während sie sich mit der rechten Fußspitze an der rauen Wand abstützte. Sie ging in die Knie, visierte den eine Armlänge über ihrem Kopf auf einem sechseckigen Volumen kauernden Leistengriff mit zusammengekniffenen Augen an und schnellte dann in die Höhe, wobei sie die Leiste im letzten Moment festzuhalten vermochte.

"Komm, auf geht's", rief ihr einer der Boulderer zu, während sich Tassy langsam und auf jede ihrer Bewegungen achtend an den von nur wenigen der roten Griffe überzogenen Volumen entlangwandt.

Schließlich hakte sie sich mit der sehr ausgeprägten Ferse des Kletterschuhs an der Kante eines Volumens ein, sodass sie ihre linke Hand von dem Griff, den sie soeben festgehalten hatte, zu lösen vermochte und nach einem weiteren Griff schnappen konnte.

"Alléz", ertönten wiederum die Stimmen der Boulderer, "der nächste Zug ist kacke!"

Aus den Augenwinkeln sah Tassy, dass sich der nächste Tritt nicht mehr als einen halben Meter unterhalb ihrer Augenhöhe befand, sodass sie zunächst in der Lage sein müsste, ihr Bein sehr weit nach oben zu bekommen, um dann mit der rechten Hand nach einem zu ihrer Linken liegenden Griff zu greifen.

"Komm schon, das geht!"

Vorsichtig platzierte sie ihre Fußspitze auf dem kaum Platz bietenden Tritt, schob sich dann langsam zur Seite und streckte ihre Hand nach dem Griff aus, verlor dann jedoch das Gleichgewicht und kippte aus der Wand hinaus. "Verdammt", zischte sie, als ihre linke Hand von dem Griff abrutschte und sie den Boden innerhalb eines Herzschlages näher kommen sah, bevor sie mit einer schmerzhaften Bauchlandung unsanft auf den Matten aufkam. Ihr Gesicht prallte auf dem Boden auf und bremste ihre Landung, während sie ein unangenehmes Ziehen in ihrer Wange aufsteigen spürte.

"Ist alles in Ordnung?", rief die blonde Frau sofort aus und eilte auf Tassy zu, die sich mit einem leicht erschreckten Ausdruck in den blauen Augen erhob. "Ja, alles klar", murmelte sie nur, biss unter dem stechenden Gefühl in ihrem Gesicht die Zähne zusammen und wandte ihren Blick dann erneut auf die Stelle an der Wand, wo sie soeben den Halt verloren hatte.

"Du hättest mit rechts einen Toehook setzen müssen", sagte der tätowierte Mann, woraufhin Tassy nickte. "Stimmt. Dann wäre mir die Tür nicht aufgegangen."

"Beim nächsten Mal sollte jemand spotten", warf die blonde Frau ein, "damit du nicht nochmal auf das Gesicht fällst. "

Noch etwa drei Mal probierte Tassy diese Route, verlor jedoch bei jedem Versuch das Gleichgewicht oder rutschte an den nunmehr von dem Schweiß unzähliger Hände überzogenen Griffen ab.

Schließlich kam die blonde Frau mit einer an einem langen Stab befestigten Bürste herbeigeeilt und begann, jeden der Griffe von der sich mit der Zeit angesammelten Masse aus Chalk und Schweiß zu befreien, wobei sich eine dichte, weiße Wolke um die einzelnen Griffe herum bildete.

"So. Gehst du noch einmal rein?", fragte sie schließlich an Tassy gewandt, während sie die Bürste hinter sich auf dem Boden ablegte.

"Na ja", murmelte diese, "besonders scharf bin ich nicht darauf, aber... Ja, ich gehe nochmal rein."

Abermals eilte sie zu den Startgriffen hinüber und verspürte jenes vertraute Gefühl der Unsicherheit, als sie an jenen zuvor ihr Gleichgewicht geraubt habenden Zug sowie den recht schmerzhaften Aufprall auf den sich nicht immer weich anfühlenden Matten dachte, doch sie wusste, dass sie jene Route innerhalb kurzer Zeit hinter sich zu bringen imstande wäre.

Deutlich schneller und sicherer als zuvor legte sie die Strecke zu jener einen leisen Schimmer der Furcht über ihre Augen huschen lassenden Stelle zurück und hielt dann einen Augenblick inne. Abermals platzierte sie ihren Fuß auf dem recht hoch gelegenen Tritt und wollte gerade erneut die rechte Hand zu dem nächsten Griff hinübergleiten lassen, entsann sich dann jedoch eines Besseren: Vorsichtig streckte sie das andere Bein nach hinten aus und hakte sich mit der Fußspitze in der Kante eines Volumens ein, was den Gleichgewichtsverlust beim Greifen des nächsten Plastiksteines nahezu unmöglich machte. Ihre Fingerspitzen krallten sich mit aller Kraft in dessen sehr schmale Kante hinein, während sie sich langsam näher an die Wannd heranzog und schließlich ihren Fuß von dem Volumen zu lösen imstande war.

Langsam packte sie auch den nächsten Griff, vermochte sich mit einem angestrengten Stöhnen an diesem hinaufzuziehen und schnappte dann schließlich mit einer letzten schnellen Bewegung den großen, an den Griff einer Tasse erinnernden Topgriff. Unbändige Freude flammte in ihr auf sowie eine Welle tiefen Triumphs, als sie mit einem nicht unterdrückt zu werden könnenden Lächeln auf die Matten sprang.

"Schön", sagte der braunhaarige Junge, woraufhin der tätowierte Mann erwiederte: "Ja, die Route war nicht ohne."

"Wenn die Griffe mal geputzt sind, geht's eigentlich", antwortete Tassy grinsend und fügte dann hinzu: "Jetzt muss ich mir wohl ein neues Projekt suchen."

"Hast du den Laufboulder schon?", fragte der Junge daraufhin.

"Ja."

"Ich meine den neuen. Nicht den mit den vielen Volumen. Da ist noch einer an der vierzig-Grad-Wand dazugekommen."

"Echt?", fragte Tassy, "nein, den hab' ich noch nicht. Wie ist der?"

"Cool, auch wenn Laufboulder nicht so mein Ding sind."

"Meine Freundin ist sowieso gerade an der Wand, dann mach' ich den Laufboulder als nächstes."

"Tu das, ich bleibe bei dem Roten hier."

"Na dann, viel Erfolg." Mit diesen Worten machte Tassy kehrt und eilte auf jene Wand zu, wo sich Cecilia abermals gerade hinaufzuarbeiten im Begriff war. Einige der sich in einem unordentlichen Halbkreis um die Wand versammelten Boulderer riefen ihr aufmunternd zu und gaben ihr Ratschläge, und auch aus einiger Entfernung konnte Tassy das angestrengte Zittern in den zierlichen Armen des Mädchens deutlich erkennen.

Schnell lief sie zu der Wand hinüber und ließ sich neben der Gruppe auf den Matten nieder, während Cecilia sich mit aller Kraft an jenem Griff hinaufzog, welchen sie vorhin nicht mehr zu greifen imstande gewesen war.

"Komm schon, mach' es fertig!", rief einer der Boulderer, und plötzlich begannen sie alle wie auf einen stillen Befehl hin dem Mädchen zuzurufen, woraus Tassy schließen konnte, dass dieses es zum ersten Mal so weit geschafft hatte. Sie selbst war plötzlich derartig ergriffen sowie aufgeregt, ob Cecilia das Beenden dieser Route gelingen würde, dass sie ihr anfeuernde Worte zuzurufen nicht imstande war. Beinahe unwillkürlich fixierte sie jede Bewegung des Mädchens mit ihrem Blick und ballte in freudiger Erwartung die Hände zu Fäusten, als Cecilia nur noch zwei Züge von dem letzten Griff entfernt war. Plötzlich jedoch hielt diese inne und rief mit zittternder Stimme: "Ich kann nicht mehr!"

"Alléz, der Rest geht!", schrie ein Mann, woraufhin die dunkelhaarige Frau rief: "Ja, das geht! Jetzt ist es nicht mehr weit!"

"Komm, Cecilia!", rief Tassy und erhob sich dann, "zieh durch!"

Mit scheinbar letzter Kraft quälte sich Cecilia weiter nach oben, schnappte blitzschnell nach dem nächsten und somit vorletzten Griff und vermochte diesen im letzten Moment zu halten, als sich in Tassy eine neue Welle der Aufregung auftat.

"Der letzte Zug ist viel zu weit", murmelte ein ebenfalls auf den Matten sitzendes Mädchen, "dafür hat sie nicht mehr genug Kraft."

"Doch, sie schafft das", flüsterte Tassy, vermutete jedoch, dass das Mädchen dies nicht vernommen hatte.

"Das ist der letzte Zug, Cecilia, also verbocke ihn nicht!"

Einen Herzschlag lang schien diese an der Wand zu zögern, ging dann jedoch kaum merklich in die Knie, fixierte den Griff mit ihren vor Entschlossenheit glänzenden Augen an, und sprang.

Tassy war es, als sähe sie dies alles in Zeitlupe- wie sie sich mit letzter Kraft von den schmalen Tritten abdrückte, ihre linke Hand von dem dunkelgrünen Plastik löste und mit so viel Schwung, wie sie aufbringen konnte, dem letzten Griff, dem Topgriff entgegensprang. Ihre dunkelbraunen, gewellten Haare wallten in der stickigen Luft und ihre dünnen Finger spreizten sich, bevor sie sich- Tassy hielt unwillkürlich den Atem an- fest um den Griff schlossen. Im selben Augenblick ließ auch ihre rechte Hand von dem anderen Griff ab und schoss ebenfalls schnell auf den letzten zu, während ihre ausgestreckten Füße frei in der Luft baumelten.

Das Mädchen kniff die Augen zusammen und hielt sich einige Sekunden an dem Topgriff fest, bis sie sich mit einem geräuschvollen Ächzen auf die nachgebenden Matten fallen ließ und dann eine Zeit lang in jener auf dem Boden liegenden Position verharrte.

"Stark, Cecilia", sagte Tassy mit einem unverkennbaren Ausdruck von Respekt in der Stimme, woraufhin diese aufblickte. "Ich hab's geschafft."

In ihren Augen, ihrem gesamten Gesichtsausdruck hatte sich ein tiefes Meer des Stolzes sowie der Freude gebildet, aus dem die letzten Anzeichen von Unsicherheit und Angst nur noch als winzige, kaum erkennbare Inseln herausragten- jetzt, da sie diesen Punkt erreicht hatte, so glaubte Tassy, wurde es Zeit, dass jene letzten Funken von Angst in ihrem Inneren für immer erloschen.

 

Graffiti

 

"Das war krass, Cecilia! Wie du den letzten Griff einfach mal sozusagen angesprungen hast, und deine Beine sind so durch die Luft geflogen. Hättest du gesagt, dass du so einen Stunt hinzulegen geplant hast, hätte ich 'ne Kamera mitgenommen!"

"War nicht geplant", antwortete Cecilia grinsend.

"War trotzdem Hammer. Dass du das geschafft hast, ist echt... Ich meine, das war die dritte Stufe, Mann. Die dritte."

"Danach kommen immerhin noch vier weitere."

"Hey, komm, du kletterst seit... Wann war das Nachtbouldern?"

"Vor etwa einer Woche?"

"Du kletterst seit einer Woche. Na ja, dabei war das heute dein zweiter Besuch, also kann man theoretisch sagen, du kletterst seit zwei Tagen. Und du schaffst einen Boulder"- ihre nächsten Worte sprach sie unwillkürlich etwas lauter aus- "der dritten Schwierigkeitsstufe in einer vierzig-Grad-Wand!"

"Ich bin auch ziemlich stolz auf mich, muss ich zugeben."

"Kannst du auch sein", antwortete Tassy mit ernster Stimme, "wirklich, ich glaube, du hast das drauf."

Daraufhin blickte Cecilia bloß mit einem verlegenen Lächeln zu Boden und schwieg schließlich, während Tassy der Melodie des lauen Windes sowie des konstanten Klackerns der Farbdosen in ihrem Rucksack lauschte.

Die Laute des Straßenverkehrs und der Geruch nach Abgasen war nunmehr gering, da sich in jener Gegend um diese Zeit nur hin und wieder ein Auto seinen Weg durch die Wohngebäude bahnte. Vor ihnen erstreckte sich eine lange, über den breiten Fluss führende Brücke und in dem Wind lag der leise Geruch des langsam dahinfließenden Wassers, während das matte Blau des Himmels einem einen Hauch von Pastell tragenden Orange gewichen war.

"Sicher, dass du das machen willst?", fragte Tassy nach einiger Zeit, woraufhin Cecilia haltmachte und sich zu ihr herumdrehte.

"Natürlich! Ich finde so etwas total interessant, weißt du, ich wollte schon immer ein Graffiti irgendwo hinmalen. Nur kannte ich bis jetzt sonst niemanden, der es getan hätte." Sie zögerte kurz und fügte dann mit einem Lächeln hinzu: "Denk bitte nicht, dass ich zu viel Angst habe, um so etwas zu machen."

Tassy erwiderte jenes Lächeln und lehnte sich dann an das schwarze Brückengeländer. "Keine Sorge, das habe ich nicht gedacht."

Sie wandte ihren Blick auf den breiten, wie flüssiger Honig glänzenden Fluss, dessen sich kaum zu rühren scheinendes Wasser das gleißende Licht der Sonne reflektierte. Einige Zeit ließ sie ihren Blick in den das Licht wie unzählige Glasperlen spiegelnden, seichten Wellen versinken und genoss die Wärme der untergehenden Sonne auf ihrem Gesicht, ehe sie murmelte: "Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, dann kriegt man auch die schönen Seiten einer Stadt zu Gesicht."

"Das stimmt", antwortete Cecilia, "obwohl ich bis jetzt schon ein paar der schönen Seiten gesehen habe. Die Gegend der Boulderhalle zum Beispiel, oder den Skaterpark."

"Der Skaterpark ist cool, das stimmt. Vor allem, wenn die Sonne auf die bunten Rampen und den Fluss im Hintergrund scheint. Aber so wirklich schön..." Sie hielt einen Augenblick inne. "...Finde ich ihn nicht."

"Nein?"

"Na ja... Weißt du, ich war in den Ferien schon öfters in den Bergen, zum Beispiel auf so einer Hütte. Da ist es wirklich schön. Keine Hochhäuser, keine stinkenden Autos überall, sondern nur diese grünen Wiesen, freilaufende Kühe, Felsen, je nach Zeit und Höhe auch Schnee... Und frische Luft."

"Das klingt wirklich schön. Ich war noch nie in den Bergen, aber einmal am Meer. Nur leider ist das schon ziemlich lange her und ich kann mich nicht mehr allzu gut daran erinnern. Auf jeden Fall gab es am Strand auch keine stinkenden Autos."

"Tja, wir haben wohl das Pech, mitten in einer stinkenden Stadt zu wohnen", sagte Tassy mit einem bedauernden Grinsen, welches Cecilia nickend erwiderte, dann setzten sie ihren Weg fort.

Noch einige Zeit schlenderten sie in gemächlichem Tempo durch die Stadt und nahmen nur am Rande war, wie die Schwärze des Himmels mehr und mehr an Intensität zunahm, während sie sich unterhielten: über die Kunst des Boulderns, schöne Landschaften, die Hässlichkeit der Stadt, die Tatsache, dass vor dem Imbiss in der Nähe des Skaterparks ein zermatschter Hamburger lag und wie dieser wohl dorthin gelangt war- Tassy vermutete, dass irgendeine fettleibige Person ihn gekauft und dann vergessen hatte, dass sie ja aufgrund ihres Gewichtes nunmehr vegetarisch leben wollte, weshalb sie ihn unmittelbar vor der Tür zertreten musste- sowie die Auffälligkeit der von den Dosen in Tassys Rucksack erzeugten Geräusche.

Irgendwann, nachdem sie unzählige Male in schmale Gassen abgebogen waren und Cecilia nicht mehr die geringste Anhung zu haben schien, wo sie sich befanden, wies Tassy auf eine über die recht breite Straße führende Brücke, an deren Seiten ebenfalls eiserne Geländer angebracht waren.

"Du willst die Brücke ansprühen?", erkundigte sich Cecilia, woraufhin Tassy nickte.

"Hier sieht es jeder. Allerdings finde ich, dass wir nicht hier unten die Wände ansprühen sollten, sondern die richtige Brücke."

Sie wies mit einem verspielten Grinsen zu der Brücke hinauf und blickte dann Cecilia an, welche kaum merklich zögerte und dann fragte: "Du meinst, wir gehen dort hinauf, klettern über das Geländer und sprühen den Rand der Brücke an? Tassy, ich kann schlechter klettern als du, wenn ich dort hinunterfalle..."

"Ich hab' ein Seil mitgenommen", entgegnete Tassy, "damit ich oder wir uns am Geländer sichern können."

"Na dann..." Cecilia legte skeptisch den Kopf schief.

"Hey, Cecilia, wir können auch hier unten bleiben, wenn du nicht... Ich will dich hier nicht zu irgendeiner Kacke überreden, die du nicht machen möchtest, weißt du?", sagte sie verständnisvoll.

"Nein, Tassy, wir können das ruhig machen."

"Wenn du Angst hast oder..."

"Nein, ich will das machen." In Cecilias Stimme lag eine derartige Entschlossenheit, dass Tassy bloß nickte und ihr dann mit einer kurzen Handgeste bedeutete, ihr einen steilen, auf die in die Brücke übergehende Straße führenden Hang hinaufzufolgen.

Obgleich sich nirgendwo ein Auto zu nähern schien, eilten sie möglichst schnell über die Straße und auf die Brücke, wo sich ein schmaler Streifen für Fußgänger neben dem Geländer entlangzog.

"Bist du wirklich sicher?", fragte sie noch einmal an das Mädchen gewandt, welches wiederum bestätigte. Kurz blickte sich Tassy nach allen Seiten um, stellte jedoch fest, dass sie in jenem mit nur wenigen Gebäuden bebauten Gebiet und in einer derart klaren Nacht die Lichter eines herannahenden Fahrzeuges früh genug sehen würden.

"Also, da wir uns schlecht zu zweit an einem Seil festbinden können, wechseln wir uns am besten ab", schlug Tassy vor.

"Ja, der andere kann dann die Taschenlampe halten und aufpassen, ob einer kommt."

"Wir können's ja so machen, dass jeder zwei oder drei Buchstaben macht. Je nachdem, welches Wort wir holen. Ach ja, das müssen wir ja auch noch überlegen."

"Fuck."

"Was?"

"Wir sprühen das Wort Fuck." Cecilia grinste auf jene verspielte Art, wie Tassy es von sich selbst kannte.

"Eigentlich 'ne gute Idee. Andererseits fahren hier tagsüber wirklich viele Leute rüber, die das dann lesen würden. Wenn wir also irgendwas mit einer... wie soll ich sagen... tiefgründigen Bedeutung..."

"Du meinst, so etwas wie euer Pollution Sucks?"

"Zum Beispiel."

"Okay..." Lange Zeit zögerte Cecilia, und Tassy vermutete, dass das Mädchen ebenso wie sie selbst ihre Gedanken nach möglichen Ideen durchforstete, schüttelte dann jedoch den Kopf.

"Mir fällt nichts ein."

"Mir schon!", rief Tassy dann aus, "wir malen die Erdkugel irgendwo hin, aber stellenweise ganz schwarz und verkohlt, die ein total angekacktes, vielleicht auch heulendes Gesicht zieht und "Fuck" ruft."

"Ich mache den Schriftzug, du die Erdkugel."

"Von mir aus. Dann fange ich wohl an", murmelte sie und begann dann, ein dickes, breites Seil aus ihrem von unzähligen Dosen gefüllten Rucksack herauszukramen. Es war nicht von allzu großer Länge und wies zudem eine Kreisform auf, da die Enden nicht vorhanden oder miteinander verbunden waren. Schnell band Tassy sich das Seil um die Hüften sowie die Oberschenkel und schnallte es zudem an dem schwarzen Gürtel ihrer ausladenden Jeans fest, bevor sie es um das schmale Geländer herumwand und eine der sich dadurch bildenden Schlaufen an der anderen befestigte.

"Hält das?", erkundigte sich Cecilia mit einem leisen Anflug der Besorgnis in der Stimme, woraufhin Tassy zögernd nickte. "Ich hoffe es. Aber so hoch ist die Brücke ja nicht. Ich würde mir im schlimmsten Fall den Arsch brechen."

"Geht das?"

"Vermutlich nicht. Egal. Kannst du mir mal..." Sie zögerte. "...Die dunkelblaue, hellblaue und die verschiedenen grünen Dosen geben?"

Cecilia griff ihrerseits in den Rucksack hinein und stellte die Flasche dann auf dem Boden ab, als sie sich vorsichtig über das ein kaum wahrnehmbares Ächzen von sich gebende Geländer wand.

"Oh Gott, jetzt geht's los", wisperte sie an sich selbst gewandt, als sie auf dem schmalen steinernen Streifen, der nur wenige Fingerlängen über den äußeren Rand des Geländers hinausragte, in die Knie sank. Ihre sich fest um das eine eisige Kälte durch sie hindurchjagende Metall schließenden Finger glitten langsam an diesem hinab und mit den dünnen Sohlen ihrer schwarzen Turnschuhe tastete sie nach der Kante, bis sie sich schließlich an dieser hinuntersinken ließ. Das nunmehr straffe Seil schnürte sich fest um ihren Bauch und sie verspürte plötzlich einen heftigen Adrenalinschub wie eine alles zerfetzende Kugel durch sie hindurchschießen, als sie ihre wie nutzlose Stofffetzen an ihren Beinen herabhängenden Füße einige Meter über dem schwarzen Asphalt baumeln sah.

"Ach du Scheiße", flüsterte sie und versuchte, die bei dem Anblick des unter ihr aufklaffenden Abgrundes aufsteigende Angst zu unterdrücken, als sie mit zitternden sowie nunmehr feuchten Händen nach den Farbdosen griff.

"Cecilia?", rief sie dann an das Mädchen gewandt, dessen braune Augen ebenfalls vor Aufregung sowie scheinbarem Entsetzen geweitet waren. "Cecilia, ich hab' verdammte Höhenangst!" Bei dem mitleiderregenden, verweichlichten Klang in ihrer Stimme konnte sie ein belustigtes Lachen nicht zurückhalten und nahm dann schließlich die mit einem dunkelblauen Streifen versehene Dose an sich. Nachdem sie diese kurze Zeit in der Hand geschüttelt und sich Cecilia mit dem grellen Licht der Taschenlampe genähert hatte, sprühte sie schließlich einen sauberen, blauen Kreis auf den farblosen Stein- das vertraute Geräusch sowie der intensive Geruch der wie durch einen berstenden Damm hindurchschießendes Wasser aus der Dose dringenen Farbe empfing sie und sie spürte deren winzige Tropfen wie aus einer Wunde herausspritzendes Blut ihre Hände beflecken.

Je öfter Tassy mit einer schwungvollen Bewegung des Handgelenks einen weiteren Streifen des dunklen Blaus auf dem grauen Stein hinterließ, desto geringer schien die tief in ihrem Innern liegende Angst vor der sie von der Straße trennenden Höhe zu werden.

Irgendwann fügten sich zu dem dunklen Kreis die verschiedensten Grüntöne sowie weiße, an das Funkeln in den Wellen des ruhigen Flusses erinnernde Streifen hinzu und die dünne, schwarze Umrandung schienen den allein eher unauffällig sowie matt wirkenden Farben eine derartige Leuchtkraft zu verleihen, dass man es wohl bereits aus einiger Entfernung würde erkennen können.

Ein letztes Mal ließ sie die einen schmalen, weißen Streifen am Rande der Erdkugel entlangziehenden Dose durch die kalte Nachtluft gleiten, stellte sie dann neben den übrigen auf der Brücke ab und sagte mit einem zufriedenen Seufzen: "Ich bin fertig."

Schnell zog sie sich erneut an den kalten Stäben des Geländers hinauf, hievte sich mit nunmehr schmerzenden, eine Ewigkeit keinen festen Boden mehr gespürt zu haben scheinenden Füßen über dieses hinüber und ließ sich dann auf den kalten, jedoch ein seltsames Gefühl der Erleichterung in ihr aufsteigen lassenden Asphalt sinken.

"Du bist dran."

Cecilia nickte, und sie sah deutlich, wie sich vor die freudige Erregung sowie die Aufregung in den braunen Augen des Mädchens ein feiner Nebel der Verunsicherung legte. "Die Vorstellung, dort frei in der Luft zu baumeln, ist wirklich gruselig", murmelte sie, schien jedoch nicht zögern zu wollen und band sich sofort ihrerseits das stabile Seil um. "Stimmt das so?", fragte sie an Tassy gewandt, die ihren Blick prüfend darüberschweifen ließ und dann nickte. "So müsste es am besten halten."

Kaum hatte sich Cecilia ebenfalls mit einem erschreckten Quietschen an der Brücke hinabgelassen, nahm Tassy die Taschenlampe und erhellte das ein leises Unbehagen ausstrahlende Gesicht des Mädchens sowie den grauen Stein, der ihr mit seiner tristen Farblosigkeit als Leinwand dienen würde.

Tassy konnte von ihrer Position hinter dem Geländer nicht erkennen, was Cecilia auf den Stein malte, verspürte jedoch jedes Mal aufs Neue eine Welle der Überraschung sowie Neugier in sich aufsteigen, wenn das Mädchen nach einem neuen Farbton verlangte.

"Krieg' ich das Rot?", fragte sie, woraufhin Tassy ihr jene Farbe reichte. Wenige Augenblicke später fragte sie: "Gelb?"

"Okay."

"Lila?"

"Hab ich nicht."

Einige Zeit kehrte Stille ein, dann ertönte Cecilias Stimme erneut: "Pink?"

"Kommt."

Tassy war derartig auf das Heraussuchen der jeweiligen Farben aus dem Rucksack konnzentriert, dass sie sich nicht mehr auf jegliche sich nähernde Fahrzeuge oder- obgleich dies um diese Zeit sehr unwahrscheinlich war- Fußgänger zu achten bemühte.

Irgendwann vernahm sie Cecilias entschlossene, scheinbar selbstzufriedene Stimme: "So, fertig."

"Wie sieht's aus?", fragte Tassy und beugte sich unwillkürlich nach vorne, obgleich sie wusste, ohnehin nichts erkennen zu können.

"Na ja..." Das Mädchen zögerte. "Ziemlich bunt."

Sie stellte die letzte Farbdose auf der Brücke ab und zog sich dann ebenfalls mit einem angestrengten Stöhnen an dem Geländer hinauf, während Tassy die nunmehr stark an Gewicht verloren habenden Dosen erneut in den Rucksack zu packen begann.

"Das war spannend", sagte Cecilia und begann, das Seil von ihrem Körper sowie dem Geländer zu lösen, "ich hatte andauernd Angst, jemand könnte uns erwischen oder das Seil könnte reißen."

Tassy lächelte und nahm das Seil entgegen, um es ebenfalls zu den unzähligen Farbdosen in ihrer Tasche zu verstauen, ehe sie antwortete: "Ich hatte einfach nur Schiss, weil es unter mir so tief runter ging."

Schließlich entfernten sie sich von jener Brücke, eilten den Hang hinab und wollten ihr Werk aus jener Perspektive, die die unter der Brücke hindurchfahrenden Autofahrer auf diese haben würden, betrachten, doch die ihnen lange Zeit mit ihrem Licht gedient habende Taschenlampe hatte nunmehr an Kraft verloren und vermochte den Schriftzug Cecilias nicht zu erhellen. Tassy warf einen bedauernden Blick auf das sich als schwarze Silhouette über den dunklen Nachthimmel ziehende Geländer, ehe sie schließlich auf der wie ein dunkelgrauer Streifen durch das Gebiet schneidenden Straße zurückgingen und ihre Stimmen irgendwann inmitten der Dunkelheit verhallten.

 

Die Halle der Nibos

 

Etwa eine Woche war seit ihrem nächtlichen Ausflug vergangen und Tassy und Cecilia hatten sich in der Zwischenzeit beinahe täglich getroffen- meistens zusammen mit Kat, Lilly und Nick, hin und wieder jedoch auch alleine.

Obgleich sie sich in jener Nacht vorgenommen hatten, gleich am nächsten Tag die Brücke aufzusuchen und ihr Kunstwerk im Sonnenlicht betrachten zu können, hatten sie dies jedoch nicht getan und die Tage stattdessen in der Boulderhalle, in der Stadt oder in einem ihrer Zuhause verbracht. Nun hatten sich Kat und Tassy in deren Haus getroffen und warteten auf die Ankunft Cecilias.

"Wann, hat sie gesagt, kommt sie vorbei?", erkundigte sich Kat, woraufhin Tassy bloß mit den Schultern zuckte. "Ich hab' gesagt, sie soll irgendwann Nachmittags vorbeikommen, weil ich ja den ganzen Tag zuhause bin. Na ja, da wusste ich ja nicht, dass du vorbeikommen würdest."

"Okay, wir können ja warten. Hast du ein Blatt?"

"Ähmm... ich denke schon", antwortete Tassy, erhob sich von der mit weichen Kissen bedeckten Palettenbank und eilte zu ihrem Kleiderschrank hinüber, in dessen schmalen Schubladen sie ihre Schulbücher sowie jegliche Schreibutensilien aufbewahrte.

"Auch einen schwarzen Stift?"

"Klar."

Schnell nahm sie einige Blätter sowie ein paar schwarze Stifte unterschiedlicher Größe heraus und reichte sie Kat, die sie mit einem dankbaren Lächeln entgegennahm und dann fragte: "Hey, hast du einen dicken Schwarzen?"

Tassy fuhr herum und rief aus: "Was?!" Sie konnte ein lautes Lachen nicht unterdrücken und vergrub ihr Gesicht in den Händen, und erst nach einiger Zeit verstand Kat Tassys Gedanken bei ihrer Frage, woraufhin sie dann ihrerseits ein geräuschvolles Gelächter ausstieß.

"Dein Ernst, Tassy?", fragte sie dann, als diese sich die Tränen aus den Augen zu wischen begann und dann mit noch immer jeden Augenblick in einen weiteren Lachanfall überzugehen drohender Stimme antwortete: "Wenn du fragst, ob ich einen dicken Schwarzen habe, dann muss ich natürlich lachen!"

"Okay, hast du einen oder nicht?"

"Nein. Und einen dicken schwarzen Stift hab' ich leider auch nicht. Was willst du überhaupt zeichnen?"

"Kennst du diese schwarz-weißen Muster, diese verschnörkelten..."

"Ja, die sind cool", antwortete Tassy und ließ sich erneut neben Kat auf den Paletten nieder. Nach einiger Zeit erkundigte sie sich: "Hey, wann warst du zum letzten Mal bei Isa?"

"Ich habe heute Morgen vor der Schule bei ihr vorbeigeschaut."

"Oh. Ich war gestern bei ihr. Wie geht's ihr?"

"Na ja..." Ein Ausdruck des Bedauerns trat in Kats Augen. "Ihr ist langweilig, und sie will nach draußen. Ihre Eltern denken allerdings immer noch, dass sie den halben Tag im Bett verbringen muss, um sich völlig von ihrer Gehirnerschütterung zu erholen."

"Hat sie mir auch schon erzählt. Die Eltern übertreiben es aber auch. Ich meine, klar, dass sie nicht rumtoben darf. Aber ein bisschen nach draußen gehen wird doch wohl kein Problem sein."

"Ja, aber ihre Eltern haben so entschieden, und wir können nichts tun."

Tassy lächelte erstaunt und sagte dann: "Solche Worte kommen aus deinem Mund?"

"Wieso?"

"Sonst bist du doch diejenige, die sagt: Scheiß drauf, ich mache, was ich will, und jeder, der sich mir in den Weg stellt, fängt sich eine."

"Habe ich..." "Hey, Tassy!" Das laute Rufen ihrer Mutter ertönte aus einer nicht auszumachenden Richtung des Hauses und unterbrach Kats Worte, als Tassy sich dann abermals erhob und die geschlossene Tür mit einem kaum wahrnehmbaren Knarzen öffnete.

"Ja?", antwortete sie dann, als sie jedoch gerade die Treppe hinunterzueilen im Begriff war, sah sie Cecilias zierliche Gestalt inmitten der von bunten Griffen überzogenen Wände stehen, die mit ihren freundlichen, braunen Augen zu ihr hinaufsah. "Hi", sagte sie lächelnd und tat einige vorsichtige Schritte nach vorne, als warte sie auf eine Aufforderung Tassys, die Treppe hinaufgehen zu dürfen.

"Komm hoch", sagte diese dann und bedeutete Cecilia mit einem Nicken, ihr in das Zimmer zu folgen, wo sich Kat zwischen den Kissen der Palettenbank ausgestreckt hatte.

"Tassy, ich habe eine gute Idee, was wir machen können", sagte sie, während sie sich zu Tassy in deren Zimmer gesellte. "Oh, hallo, Kat."

"Hi", antwortete diese und blickte kurz auf, während sie mit eleganten Handbewegungen kunstvoll ineinander verschlungene Muster auf das weiße Blatt zeichnete.

"Schieß los", sagte Tassy an das Mädchen gewandt, welches daraufhin nickte und schließlich fortfuhr: "Ich war gestern in der Boulderhalle, und..."

"Du warst in der Boulderhalle?" Ein fragender sowie überraschter Unterton trat in Tassys Stimme; sie konnte sich die schüchterne sowie zurückhaltende Cecilia nur schwer alleine in jener Halle inmitten unzähliger fremder Menschen vorstellen.

"Ja, ich habe dich angerufen, aber du warst nicht da. Ich dachte, vielleicht finde ich dich oder einen von euch ja dort..."

"Hey, wenn ich bouldern gegangen wäre, hätt' ich dich doch gefragt, ob du mitkommst. Nein, ich war gestern bei Isa. Da sie ja immer noch nicht wirklich raus darf, dachte ich, es wäre für dich zu langweilig, mitzukommen."

"Geht es Isa besser?", erkundigte sich Cecilia, und Kat sowie Tassy nickten zugleich.

"Aber ihr Arm ist halt logischerweise immer noch gebrochen, und sie merkt ihre Gehirnerschütterung auch zwischendurch noch. Wir konnten ihre Eltern schließlich überreden, einmal die Straße auf und ab zu gehen- ich verstehe gar nicht, was die haben. Die ganze Zeit drinnen zu hocken ist meiner Meinung nach nicht gerade gesund, aber okay... kann man wohl nix machen"

"Was macht Isa denn dann nur den ganzen Tag?"

"Na ja... Gestern haben wir verschiedene Filme geguckt, und..."

"Oh nein", stöhnte Cecilia mit einem Lächeln und vergrub ihr Gesicht in den Händen, woraufhin Tassy entgegnete: "Nein, nein, keine Sorge, das war alles für ihr Alter bestimmt. Denke ich."

"Denkst du."

"Jedenfalls kam sie dann auf die glorreiche Idee, 'nen Kuchen zu backen, was darauf hinausgelaufen ist, dass Teig an der Wand geklebt hat. Oder noch klebt. Egal." Sie hielt kurz inne. "Also, du wolltest was vorschlagen, bevor ich dich unterbrochen habe."

"Ja, also, ich war gestern in der Boulderhalle, und als ich zurückgegangen bin, war es schon recht spät. Jedenfalls habe ich von weitem ein paar dieser Affen andauernd in so ein Gebäude, auch eine alte Lagerhalle oder so, rein- und wieder rausgehen sehen. Vermutlich ist das ihr Lager oder so."

"Und die haben dich nicht bemerkt?", ertönte Kats Stimme, woraufhin Cecilia den Kopf schüttelte. "Nein. Ich habe sie ja auch aus einiger Entfernung gesehen, aber- ich meine, wer soll es sonst gewesen sein? Vier Jungs, einer ganz dünn mit viel zu großer Jacke, einer dick mit Kappe, einer etwas dunkler, und den anderen habe ich nur von hinten gesehen."

"Ja gut", murmelte Tassy, "das waren die auf jeden Fall. Und du denkst, dass sie diese Lagerhalle, oder was es auch ist, zu ihrem Lager gemacht haben?"

Cecilia nickte.

"Und dein Vorschlag wäre dann, dort einzubrechen und den Typen die Hölle heiß zu machen?"

"Wartet, wartet", rief Kat aus, als Cecilia gerade zu antworten im Begriff war, "du meinst, wir brechen direkt in ihr Lager ein? Und dann stellen wir dort Mist an? Die Idee ist ja echt verlockend, aber da laufen wir ihnen doch direkt in die Arme."

"Na ja, wir würden direkt in die Höhle des Löwen laufen", antwortete Tassy, "das stimmt schon. Aber die halten sich doch sowieso nur abends und nachts da auf, tagsüber habe ich sie schon oft in der Innenstadt rumgammeln sehen."

"Echt?"

Tassy nickte. "Ja, die halten sich in letzter Zeit echt nur ab acht Uhr oder so im Bonebreaker-Gebiet auf. Warum eigentlich?", fragte sie dann mit skeptischem Gesichtsausdruck, woraufhin Kat die Achseln zuckte. "Früher waren sie den ganzen Tag über da, deswegen haben diese Streitigkeiten ja auch angefangen."

"Toll, aber wieso mögen sie uns nicht, obwohl sie seit langem nur noch abends in dem Gebiet sind? Ich meine, um die Zeit sind wir entweder bouldern oder zuhause, da stören wir sie ja nun wirklich nicht."

"Spielst du gerade ernsthaft mit dem Gedanken, das Kriegsbeil zu begraben?"

Tassy weitete die Augen. "Nein. Ich frage mich nur, warum wir sie jetzt noch stören."

"Sie mochten uns früher nicht, sie mögen uns jetzt nicht und sie werden uns auch in dreißig Jahren nicht mögen. Da kannst du keine Erklärung erwarten"

"Hast recht, das sind einfach Arschgesichter. Deswegen finde ich Cecilias Idee auch gar nicht schlecht."

"Eigentlich", warf Cecilia schließlich ein, woraufhin sich Tassy und Kat ihr gleichzeitig zuwandten, "wäre mein Vorschlag gewesen, ein schönes Graffiti auf ihre Wand zu malen, aber die Idee mit dem Einbrechen und irgendwas klauen oder so etwas ist natürlich auch nicht schlecht."

"Also, sollen wir das machen?", fragte Tassy, und Cecilia sowie Kat nickten bestätigend.

"Seit dem Tag, als sich Isa den Arm gebrochen hat, warte ich auf eine Gelegenheit, mich zu rächen", fauchte Kat dann mit einem plötzlichen Funkeln der Kampfbereitschaft in den blauen Augen, woraufhin Tassy bedauernd antwortete: "Ja, wir müssen Isa rächen. Am besten, wir holen irgendwelches Beweismaterial mit und bringen es ihr, das wird sie dann wenigstens ein bisschen freuen."

"Okay, also, wann machen wir das?", erkundigte sich Kat, und mit einem Mal formte sich ein herausforderndes, abenteuerlustiges Lächeln um Tassys Lippen: "Jetzt."

Nicht den geringsten Laut erzeugend eilte Tassy dicht an die Wand gepresst die schmale, sie von allen Seiten mit jenen roten Backsteinmauern einzuschließen scheinende Gasse entlang und achtete auf jedes verdächtige Geräusch, das das Näherkommen eines möglichen Angreifers verraten könnte.

Nur wenige Schritte vor ihr bewegten sich Kat sowie Cecilia leichtfüßig vorwärts, und das einzige zu vernehmende Geräusch war das metallische Klirren der in Kats abgenutzten Tasche bei jedem Schritt aufeinandertreffenden Farbdosen. Nach scheinbar unendlich langer Zeit, während Tassy die sich wie eine hauchdünne Decke über sie gelegte Spannung in jedem Winkel der Gasse zu spüren glaubte, brach Cecilia die geheimnisvolle Stille mit einem kaum wahrnehmbaren Wispern: "Um die Ecke müsste es sein."

Tassy ahnte, dass sie um diese Zeit die einzigen in dieser Gegend umherstreifenden Menschen wären- die Besucher des Bonebreakers nutzten für gewöhnlich einen anderen Weg, um zu der Halle zu gelangen- aber dennoch glaubte sie bei jedem entfernten Laut eines über die Straße zischenden Fahrzeugs oder dem Flügelschlag eines Vogels, den eisigen Blick eines in den Schatten der Mauern lauernden Angreifers auf sich ruhen zu spüren. Dennoch bemerkte sie, dass das in ihren Fingerspitzen kribbelnde Gefühl keine wirkliche Angst war, sondern eine groteske Art von Aufregung sowie Nervenkitzel, wie man ihn auf dem höchsten Punkt einer Achterbahn unmittelbar vor dem tief klaffenden Abgrund verspürt.

"Okay", murmelte Cecilia dann, als sie das Ende der einsamen, seit langer Zeit von niemandem mehr aufgesucht scheinenden Gasse erreicht hatten und um eine enge Kurve getreten waren, "das Gebäude hier rechts, das müsste es sein."

"Sicher?", erkundigte sich Tassy und musterte das verkommene, von einem an einigen Stellen entzwei gebrochenen Zaun umgebene Gebäude genauer, während sie Cecilias entschlossenes Nicken aus den Augenwinkeln wahrnahm.

"Sieht echt kacke aus. Das steht definitiv leer." Mit plötzlich in ihr aufsteigender Neugier ließ sie hren Blick über die an einigen Stellen mit von sich herausgelöst habenden Backsteinen erzeugten Lücken überzogenen Wände schweifen, der dann an den sich wie ein verunreinigter, weißer Streifen über das fleckige Rot ziehenden Fenstern hängen blieb: Schmale Risse zogen sich über das milchige Glas wie ein Netz hauchdünner Adern, und einige jener Fenster, deren Glas völlig herausgebrochen war, waren mit scheinbar von innen befestigten Stofffetzen verhüllt und schützten das Innere des Gebäudes somit vor neugierigen Blicken.

"Also, besonders gut haben sie ihr Lager ja nicht wieder aufarbeitet", murmelte Kat dann, woraufhin Tassy antwortete: "Ich frage mich, wie oft die sich dort herumtreiben. Ich meine, die Fenster sind nur mit löchrigen Decken bedeckt, das muss doch im Winter schweinekalt sein."

"Die werden dort ja auch nicht übernachten oder so", entgegnete Cecilia und trat dann an den einst mit weißem, nunmehr beinahe gänzlich abgesplittertem Lack überzogenen Zaun heran, gefolgt von Tassy. "Da rüberzuklettern wird kein Problem sein. Aber..." sie hielt einen Augenblick inne und musterte das Gebäude dann abermals flüchtig. "Kommen wir da rein?"

Mit einem kurzen Nicken wies Cecilia auf eines der von einem weißen, an eine abgenutzte Tischdecke erinnernden Tuch verhüllten Fenster, unter welchem ein silbrig glänzender Container platziert war. "Da scheint kein Glas vor dem Fenster zu sein, und über den Container können wir hineinklettern. Ich bin nicht sicher, aber der Weg, den sie benutzt haben, ist auf der anderern Seite. Da ist aber das Problem, dass man leichter gesehen werden kann."

"Dann klettern wir eben durch das Fenster", antwortete Kat.

"Ob die da auch hoch kommen?", fragte Tassy an sich selbst gewandt und begann dann mit noch einmal misstrauisch zu allen Seiten huschendem Blick, sich an dem bei jeder Bewegung ein bedrohliches Knarren von sich gebenden Zaun hinaufzubewegen, dessen mehr und mehr absplitternder, weißer Überzug an ihren sich fest um die Metallstangen schlingenden Händen haften blieb. Als sie die oberste Stange zu greifen vermochte, zog sie sich schnell daran hinauf und wand ihre Beine dann schwungvoll darüber, ohne einmal einen Fuß auf der kantigen Stange aufsetzen zu müssen. Sofort ließ sie von der eisernen Stange ab und kam nach einem nur den Bruchteil einer Sekunde anhaltenden Flug leichtfüßig auf dem harten Asphalt auf, woraufhin sie sich blitzartig erhob und mit unwillkürlicher Vorsicht um sich blickte. Niemand schien in der Nähe zu sein, nicht einmal ein verwirrt nach Nahrung suchender Vogel hatte sich in der Nähe dieses Gebäudes niedergelassen, und die unheilvolle Stille, die es wie ein unsichtbarer Schleier umgab, verlieh der Halle ein mysteriöses Antlitz.

Sofort überwand auch Kat in nur kurzer Zeit den instabil wirkenden Zaun, gefolgt von Cecilia, die jedoch deutlich mehr Zeit benötigte.

"Ich komme hier nicht hoch", sagte sie mit beinahe verzweifelter Stimme, woraufhin Tassy sofort zu ihr hinübereilte. Das Mädchen hatte sich mit ihren schmalen Fingern an der letzten Stange festgekrallt, ihre Füße jedoch hingen frei in der Luft und drohten sie hinunterzuziehen.

"Cecilia, hangeln bringt dich hier nicht weiter", sagte Tassy mit einem amüsierten Lächeln, "du kannst doch auf die mittlere Stange treten, hier."

Schnell griff sie nach dem orientierungslos in der Luft zappelnden Fuß des Mädchens und zog ihn vorsichtig auf jene nur wenige Zentimeter höher gelegenen Stange, woraufhin Cecilia ein erleichtertes Seufzen ausstieß und sich schließlich ebenfalls beinahe mühelos über den Zaun zu winden imstande war.

"Hast wohl vergessen, wofür deine Beine gut sind, was?", fragte sie verspielt, und Cecilia blickte mit einem verlegenen Lächeln zu Boden. "Das war gerade ziemlich dämlich", sagte sie, "ich habe die Stange dort gar nicht gesehen. Tut mir leid, wenn ich euch aufhalte."

"Quatsch", widersprach Tassy, "du hältst uns nicht auf." An Kat gewandt fuhr sie fort: "Okay, wenn wir jetzt durch das Fenster klettern, machen wir's am besten so: Einer von uns geht vor, um zu gucken, ob auch wirklich niemand dort ist, dann kommt Cecilia, damit sie nicht als Letzte unten steht, falls jemand kommt."

"Gute Idee."

"Also, wer geht vor?"

Kat zögerte einen Augenblick, ehe sie antwortete: "Am besten du. Du bist ein bisschen stärker und kannst Cecilia im Notfall eher hinaufziehen."

"Von mir aus".

Sie eilten mit hin und wieder von einer Seite zur anderen huschenden Blicken zu dem geräumig wirkenden, an einer Seite geöffneten Container hinüber, aus dessen Innerem ein beißender, ein Gefühl des Ekels in Tassy hervorrufender Geruch drang.

"Scheiße", krächzte sie mit angewiderter Stimme und tat einen vorsichtigen Schritt auf das an einigen Stellen von dunkelrotem Rost überzogene Behältnis heran, "was zum Geier ist da drin?!"

"Ich will keinen Blick hineinwerfen", widersprach Cecilia, doch Tassy entgegnete: "Ich schon, da ist bestimmt was Ekliges drin."

"Eben!"

"Vielleicht 'ne verwesende Leiche oder so." Angewidert aufgrund des beißenden, sauren Geruchs, jedoch mit einem nicht unterdrückt zu werden vermögenden Anflug von Neugier schritt Tassy zu der gegenüberliegenden Seite des gewaltigen Containers und beugte sich leicht vor, um einen Blick in dessen Inneres erhaschen zu können.

"Oh Mann", murmelte sie und zog den weiten Kragen ihrer schwarz glänzenden Kunstlederjacke über ihren Mund sowie ihre Nase, um den widerlichen Geruch nicht weiterhin wahrnehmen zu müssen, dann betrachtete sie alles genauer: Wie ein gewaltiger See aus breiähnlicher, grünlich-brauner Flüssigkeit schwappten die verschiedensten, zum Teil undefinierbaren Essensreste in den sie von der Außenwelt abschirmenden Metallwänden umher und erinnerten Tassy unwillkürlich an das Resultat, wenn sich Bonnie über etwas für sie Unverträgliches hergemacht hatte und dies nicht allzu lange in ihrem Inneren zu behalten vermochte.

"Ach du Scheiße, da liegt 'n toter Mensch drin!", rief sie aus, woraufhin Cecilia die Augen aufriss und unwillkürlich einen gewaltigen Schritt nach hinten tat. Tassy konnte ein belustigtes Lachen nicht unterdrücken und sagte dann: "Das war Spaß, Cecilia. Das sind nur Essensreste. Nichts Totes."

"Hätte ja sein können!", entgegnete das Mädchen mit einem erleichterten Funkeln in den Augen, dann bedeutete Kat Tassy mit einem kurzen Nicken, sich an der Wand hinauf und durch das Fenster hindurch zu bewegen. Schnell schloss Tassy den Container und kletterte darauf, wobei dieser ein das seltsame Gefühl, ungewollte Aufmerksamkeit erregt zu haben in Tassy aufsteigen lassendes Quietschen von sich gab, dann kletterte sie mit langsamen, bedachten Bewegungen an den schmalen Kanten der nunmehr porösen Backsteine hinauf. Vorsichtig tastete sie an den Rändern des von einer ihm eine gräuliche Färbung verleihendem Staub überzogenen Fensterrahmens nach herausstechenden, scharfkantigen Überresten des Glases, fand jedoch nichts dergleichen und schob dann vorsichtig den Stoff beiseite.

Sie zog sich mit gegen die Wand gestützten Füßen hinauf und spähte in die geräumige, von unzähligen Regalen, Paletten sowie riesigen Kabelrollen mit dem Durchmesser eines kleinen Fahrzeuges gefüllte Halle hinein, konnte jedoch niemanden ausmachen.

Schnell nahm sie in dem nicht sehr geräumigen Fensterrahmen eine stabile Haltung ein, sich mit den Fußspitzen fest in der Kante des Fenstersimses verhakend, und rief dann an Cecilia gewandt: "Okay, du kannst jetzt hochkommen. Ich zieh' dich im Notfall rauf."

Das Mädchen zögerte und blickte Tassy dann mit einen Anflug von Unsicherheit in den Augen entgegen. "Wenn ich auf den Container klettere und er einbricht, dann..."

Tassy seufzte kaum merklich, verspürte jedoch bei der Vorstellung von Cecilia inmitten der schimmelnden, den Geruch von frischem Erbrochenen mit sich tragenden Abfälle Belustigung in sich aufsteigen. "Das wäre ekelhaft, Cecilia, aber du würdest es überleben."

"Aber das stinkt!"

"Es ist noch niemand an Gestank gestorben", entgegnete sie lächelnd, "davon abgesehen besteht der Container ja aus Metall. Das bricht so schnell nicht ein. Außerdem hat er mich ausgehalten."

"Stimmt, Tassy ist viel fetter als du", spottete Kat und schenkte Tassy dann ein höhnisches Lächeln, welches von ihr erwiedert wurde. "Komm, Cecilia, das schaffst du", munterte sie das Mädchen dann auf, woraufhin sich dieses nach einem kurzen Zögern auf den Müllcontainer hinaufhievte. "Wenn ich reinfalle, darf einer von euch meine Klamotten waschen!" Langsam begann sie, an der Wand hinaufzuklettern, wobei sich ihre schmalen, kleinen Finger deutlich einfacher in die winzigen Lücken zwischen den Steinen zu krallen vermochten als Tassys. Als das Mädchen sich bereits einige Armlängen über dem Grund befand, griff Tassy nach ihren Handgelenken und zog sie mit einem angestrengten Zischen die restlichen Zentimeter hinauf, während sie selbst in dem Fensterrahmen möglichst weit nach hinten rutschte und Cecilia somit Platz zu schaffen suchte.

"Danke", sagte diese und blickte an Tassy vorüber in das Innere der Halle, als plötzlich ein geräuschvoller, von unbändiger Wut durchzogener Schrei ertönte: "Ey! Was soll das?!"

Tassy fuhr herum und sah, wie eine massige, dunkle Gestalt über den unter seinen schwerfälligen Schritten ein dumpfes Geräusch erzeugenden Asphalt rannte, unmittelbar auf Kat zu. Diese riss die Augen auf, rannte sofort auf den Zaun zu und kletterte mit derart schnellen Bewegungen daran hinauf, dass ihr Angreifer innerhalb jener Zeit nur wenige Schritte zu tun imstande war. Unwillkürlich hielt Tassy den Atem an und sah, wie sich Cecilia mit zitternden Händen gegen die kalte Wand presste, als der Junge mit einem aufgebrachten Funkeln in den Augen das aus der Wand herausgebrochene Stück eines Backsteins vom Boden aufhob und es auf die mit vor Panik geweiteten Augen die Straße entlangrennende Kat schleuderte.

Eine Flamme der Angst loderte in Tassy auf und sie spürte, wie sich ihre zitternden, unwillkürlich zu Fäusten geballten Hände gegen die Wand pressten, bis sie sah, dass der Stein Kat um nur eine Haaresbreite verfehlt zu haben schien. Das Mädchen warf einen kaum anhaltenden Blick zurück, verlangsamte ihr Tempo jedoch nicht und rannte so lange weiter, bis sie aus Tassys Blickfeld verschwunden war.

Verdammt, verschwinde, du Arsch!, dachte sie, als der Junge mit wütendem Gesichtsausdruck nach einem durch den grauen Asphalt gebrochenen Grasbüschel trat und dann nach einem weiteren Stein griff, um ihn mit einem an den kargen Wänden widerhallenden Grölen auf einen undefinierbaren Punkt in der Ferne zu schleudern.

"Was is los, Alter?", ertönte eine weitere Stimme, und mit einem Mal verstand Tassy den Grund für die schnelle Flucht des zumeist eher angriffslustigen, furchtlosen Mädchens: Vier Jungen, von welchen ihr nur vier begannt waren, traten plötzlich aus den Schatten des Gebäudes heraus und eilten auf jenen zu, welcher mit aufgebrachter Miene wie ein kampfeslustiges Tier von einer Seite zur anderen eilte.

"Die scheiß Mistkuh wollte hier rein!", zischte er und wies dann auf die Stelle, wo Kat soeben den Zaun überquert hatte, als sich der schmale Junge erkundigte: "Welche?"

"Diese Blonde, die mir zuletzt eine geschmiert hat! Verdammt, ich hab' sie nicht erwischt!"

"Wieso wollte die hier rein?", fragte der dunkelhäutige Junge, der eine ausladende Kapuzenjacke von auffallend roter Färbung trug.

"Keine Ahnung, die wollte durch das Fenster da." Kaum hatte er den Finger erhoben, spürte Tassy, wie sie ein gewaltiger, sie aus dem Fensterrahmen hinauszustoßen drohender Adrenalinschub durchfuhr, und in den Ausdruck ihres Gesichts trat eine verschwommene Mischung aus Panik sowie Enttäuschung.

Die Blicke der Jungen folgten der ausgestreckten Hand, und kaum hatten sich ihre ausdruckslosen, die tiefe Dunkelheit im Innern ihrer Köpfe zu spiegeln scheinenden Augen in die Richtung der Mädchen gewandt, ertönte ein lautes, geräuschvolles Grölen wie das einer plötzlich in Panik versetzten Büffelherde.

"Da sind noch mehr von den Pissern!" "Kommt runter, oder ich polier euch die Fresse!"

"Ey, ihr scheiß Ärsche, verschwindet hier!"

Sie versammelten sich in einem Halbkreis um den noch immer einen säuerlichen Geruch ausstoßenden Container und blickten mit ihren von einem Schleier der Wut, der die dunkle Leere dahinter verbarg, bedeckten Augen zu ihnen hinauf- Tassy schien es, als wären sie sich selbst nicht über den genauen Grund ihrer Feindseligkeit im Klaren, wie ein Tier, das einen unbekannten Artgenossen in seinem Territorium erblickt und instinktiv weiß: Ein Feind. Und irgendwie glaubte Tassy, dass die meisten ihrer feindseligen, zum Teil auch spöttischen Blicke auf Cecilia gerichtet waren, doch vermutlich entsprang dies bloß ihrer Einbildung.

Vergeblich, so vermutete sie, bemühte sie sich, den leisen Ausdruck von Angst in ihrem Gesicht zu verbergen und ihre Stimme möglichst gelassen sowie unbeeindruckt klingen zu lassen, als sie sagte: "Oh, ist das hier euer Zuhause? Tut mir leid, das wussten wir nicht."

"Bewegt jetzt eure Ärsche da runter!", grölte der dicke Junge, der, so hatte Kat nach jenem Vorfall vor einigen Tagen berichtet, den Namen Mark trug.

"Würden wir ja", widersprach Tassy, "aber wenn wir runterkommen, dann poliert ihr uns die Fresse, richtig? Das hat..."

"...Das haben wir eurem wildgewordenen Gegröle entnommen", beendete Cecilia den Satz, und Tassy wunderte sich über die plötzliche Kälte und die entweder verschwundene oder von dem Mädchen völlig unterdrückte Angst in dessen Stimme.

"Jetzt verpisst euch doch endlich!", schrie der dünne Junge, woraufhin Tassy die Augen verdrehte. "Wie schon gesagt, das würden wir ja, aber ihr steht in einem Kreis um uns herum und wollt uns vermöbeln. Warum sollten wir da freiwillig runterkommen?"

Die Jungen schwiegen.

"Ihr könnt ja auf die andere Seite des Gebäudes gehen, fünf Minuten warten, und dann werden wir verschwunden sein. Versprochen."

"Fünf Minuten? Du und deine dämliche Freundin da"- der dunkelhäutige Junge wies mit einem spöttischen Funkeln in den Augen auf Cecilia- "braucht doch nur drei Sekunden, um über den Zaun zu springen."

Nachdem er einen bedrohlichen Schritt auf die Wand zugetan hatte, wechselten die Jungen einige vielsagende Blicke und murmelten wenige nicht an Tassys Ohren zu dringen vermögende Worte, ehe Mark erneut die Stimme erhob: "Wir gehen hier nicht weg."

"Cool. Dann müsst ihr uns noch länger ertragen. Oder wir..." Tassy stockte, packte dann plötzlich Cecilias Arm und sprang aus dem Fensterrahmen hinaus in das Innere der Halle, woraufhin die lauten Rufe sowie die geräuschvollen Schritte der Jungen ertönten, als diese an dem Gebäude entlangzulaufen schienen.

"Komm schon! Auf der anderen Seite muss der Ausgang sein!", zischte Tassy und zog Cecilia hinter sich her, alle sich ihr in den Weg stellenden Hindernisse flink umgehend.

"Nein, der ist abgeschlossen!", schrie das Mädchen verzweifelt, und Tassy fuhr herum. "Was?!"

"Der Eingang ist abgeschlossen! Die Jungs haben den Schlüssel!"

Sie verspürte eine neue Welle der Verzweiflung in sich aufsteigen, eilte aber dennoch auf die ebenfalls von unzähligen Flecken kupferfarbenen Rostes besprenkelte Tür zu und drückte die Klinke mit einer derartigen Kraft herunter, dass sie diese zunächst durchzubrechen glaubte. Mit geweiteten Augen zog sie an der nicht nachgebenden Tür, dann drückte sie dagegen, doch nichts passierte. Sie trat einige Schritte zurück, hielt einen kaum anhaltenden Augenblick inne und warf sich dann mit aller Wucht, die sie aufzubringen imstande war, dagegen. Ein pochender Schmerz fuhr in ihre Schulter und breitete sich wie ein plötzlich entfachtes Feuer in ihr aus, und die Tür gab nichts als ein dumpfes Krachen von sich.

"Tassy, das bringt nichts!", schrie Cecilia, woraufhin Tassy nickte. "Durch das Fenster! Komm schon, schnell!", rief diese aus und eilte erneut auf das geöffnete Fenster zu, gefolgt von Cecilia, als plötzlich unmittelbar hinter der rostigen Tür ein höhnisches Rufen ertönte: "Wir kommen jetzt zu euch rein."

"Cecilia, wir müssen... Du musst an der Wand hochlaufen!"

Die Augen des Mädchens waren geweitet, ihre Hände zitterten und sie blickte panisch von einer Seite zur anderen, dann rannte sie auf die Wand zu, drückte sich mit dem Fuß daran ab und vermochte die Kante zu greifen- normalerweise hätte Tassy tiefe Überraschung verspürt, doch ihre Aufgebrachtheit vermochte dieser nicht zu weichen.

Gerade krallten sich Cecilias Finger in die steinerne Kante des Fenstersimses, als sie plötzlich einen schrillen Schrei ausstieß, sofort von dieser abließ und mit einem dumpfen Ton auf dem kalten, steinernen Grund aufkam.

"Cecilia!", rief Tassy aus und eilte auf das Mädchen zu, das sich mit zusammengekniffenen Augen auf den Boden sinken ließ und ihre rechte Hand fest an ihren Bauch presste.

"Da lag eine verdammte Scherbe!" Tassy beugte sich zu ihr hinab und sah, dass ein Rinnsal klarer Tränen an ihrer geröteten Wange hinabrann, während sie einen schmerzerfüllten Aufschrei zu unterdrücken schien.

"Zeig her", forderte Tassy sie auf, woraufhin das Mädchen zitternd ihre Hand ausstreckte und sich somit abermals eine neue Welle des sich ein wenig beruhigten Meeres der Verzweiflung in Tassy auftat: Aus einer tiefklaffenden Wunde ihrer schmalen Hand strömte ein gewaltiger Fluss dunkelroten, dickflüssigen Blutes, das an ihren knochigen Fingern hinabrann und dann auf dem steinernen Boden wie hauchdünne Perlen roten Glases zu tausenden winziger Scherben zu zerspringen schien.

"Kacke, ich hab' doch nach Scherben gesucht, verdammt!", zischte Tassy, als plötzlich das Geräusch eines sich in einem Schlüsselloch herumdrehenden Schlüssels ertönte, auf welches ein lautes Rufen folgte: "Wir kommen!"

Tassy ließ sich neben Cecilia auf die Knie sinken, den Blick starr auf die sich jeden Augenblick zu öffnen drohende Tür gerichtet, während sich in ihren Gedanken unwillkürlich die unheilvollen Bilder dessen, was wohl in den nächsten Augenblicken geschehen würde, auftaten.

Wir sind total am Arsch.

 

Flucht

 

Ein kaum wahrnehmbares Knacken wie das eines berstenden Zweiges ertönte, dann sprang die Tür auf und die schreienden, sich vor dem in die Halle dringenden Sonnenlicht nur als schwarze Silhouetten abzeichnenden Gestalten rannten in den Raum hinein. Unwillkürlich hielt Tassy den Atem an und spürte, wie sie sich noch fester gegen das hölzerne, sie vor den wütenden Blicken der Angreifer schützende Regal presste, während die ständig ein verzweifeltes Schluchzen unterdrückende Cecilia neben ihr kauerte und ihr Gesicht in der nicht von einer gewaltigen Schicht dunklen Blutes bedeckten Hand vergrub.

"Cecilia", wisperte sie kaum wahrnehmbar, sodass nur das Mädchen ihre Worte zu verstehen vermochte, "sobald die weit genug hier drinnen sind, rennnen wir raus. Ich sag' dir Bescheid."

Cecilia nickte nur und ballte ihre gesunde Hand zu einer Faust, während sich die Jungen mit jedem verstreichenden Augenblick näherten.

"Wir wissen, dass ihr hier drinnen seit. Wenn ihr rauskommt, sind wir vielleicht 'n bisschen netter!"

"Wenn ihr nicht rauskommt und wir euch finden, gibt's Schläge!", rief Mark, woraufhin der Junge mit der Kappe ihm ein amüsiertes Grinsen zuwarf und dann selbst grölte:"Ja, ihr kriegt von jedem von uns eine geschmiert!"

Jeder der Jungen bewegte sich in eine andere Richtung und suchte die einige Verstecke bietende Halle nach Tassy und Cecilia ab, die sich noch immer mit angehaltenem Atem gegen das breite Regal pressten. Kommt bloß nicht hierher, betete Tassy im Stillen und beobachtete jede Bewegung ihrer Angreifer mit scharfem Blick, während Cecilia ihre blutende Hand fest gegen ihren Körper presste.

Die Jungen entfernten sich, einer von ihnen war bereits aus Tassys Blickfeld verschwunden, und sie spürte, wie sie der plötzlich durch sie hindurchschießende Adrenalinschub aufspringen ließ. "Cecilia, jetzt", zischte sie, griff abermals nach dem Arm des Mädchens und rannte los. Sie rannte über den steinernen Grund, so schnell ihre Füße sie zu tragen vermochten, und bemerkte das aufgebrachte Schreien der auf sie zueilenden Jungen nur am Rande, während ihre abgenutzten Schuhe über den grauen Stein donnerten.

"Komm, Cecilia!", schrie sie, während sie die näher kommenden Laute unzähliger Schritte hinter sich vernahm, dann stieß sie die Tür auf und sprang mit einer Welle der Erleichterung hinaus, die ihr mit geweiteten Augen folgende Cecilia hinter sich herziehend. Gerade wollte sie sich blitzartig herumdrehen und die von dunklem Rost übersäte Tür mit aller Kraft zuknallen, um die Halle der Jungen zu deren Gefängnis werden zu lassen, als plötzlich eine massige Gestalt hinter der Tür hervorsprang und sich mit einem lauten Schrei vor Tassy warf.

"So schnell kommt ihr uns nicht davon!", zischte der Junge. Er tat einen gewaltigen Schritt auf sie zu, woraufhin Tassy unwillkürlich nach hinten trat und sich plötzlich mit einem erneuten Anflug der Verzweiflung inmitten der sie einschließenden Wände der Halle wiederfand, dann schloss sich eine an die gewaltige Pranke eines Löwen erinnernde Hand mit festem Griff um ihren Unterarm. "Lass mich los, ich hab' dir nichts getan", zischte Tassy, als sie weiter in die Halle hineingezogen wurde und sich die Tür dann schloss, während der warm auf ihrem Gesicht glänzende Streifen des durch den dünnen Spalt dringenden Sonnenlichtes immer schmaler wurde und schließlich völlig erlosch.

Die Halle verdunkelte sich ein wenig und Tassy hörte das schmerzerfüllte Wimmern Cecilias, die von dem hageren Jungen mit der weit ausladenden, von grotesken Mustern gezierten Jacke gepackt und einige Schritte von Tassy weggezerrt worden war.

"Hier rüber, los", zischte Mark und zog Tassy in einen wie ein einzelnes Zimmer durch unzählige der hohen Regale vom Rest des Raumes abgetrennten Teil, wo sich drei von beinahe völlig zerrissenem, mit unzähligen undefinierbarer Flecken übersäten Stoff bedeckte Sessel an die steinerne Wand lehnten. In der Mitte des mit wenig Sorgfalt auf dem kalten Grund ausgerollten, dunkelroten Teppiches stand ein niedriger Tisch aus mehreren aufeinandergestapelten Paletten, auf welchem sich unzählige zum Teil nicht ganz entleerter Bierflaschen sowie einige überzuquellen drohende Aschenbecher aneinanderpressten und sich gegenseitig von dem Tisch hinunterstoßen zu wollen schienen.

"Pflanzt euch hin", zischte Mark und versetzte Tassy einen derart gewaltigen Stoß, dass diese ins Taumeln geriet und auf dem die Härte des steinernen Bodens kaum dämpfenden Teppich aufkam- Cecilia tat es ihr mit einem erstickten Aufschrei gleich, nachdem der dünne Junge sie ebenfalls rücksichtslos zu Boden gestoßen hatte.

"Da bleibt ihr jetzt hocken, bis... Bis ihr gehen dürft", sagte Mark, woraufhin der dünne Junge entgegnete: "Und das kann dauern."

"Dass eine von uns drauf und dran ist, Hilfe zu holen, wisst ihr aber schon?", erkundigte sich Tassy, woraufhin Mark einen Schritt auf sie zutat.

"Weißt du was, Arschloch? Ich scheiß auf deine dämliche Blondine. Was will sie machen, Mami und Papi rufen?"

"Na ja, das klingt jetzt zwar sehr stark nach ein paar verweichlichten Pussis, aber ich glaube, dass sie genau das vorhat. Ich meine, was soll sie sonst machen? Andererseits..." Sie zögerte einen Herzschlag lang und warf einen kurzen Blick auf Cecilia. "Hat sie nicht erwähnt, dass sie ein paar der Bonebreaker-Jungs rufen will, wenn was schiefläuft?"

"Bonebreaker?", erkundigte sich der Junge mit der Kappe verwirrt, woraufhin der Dunkelhäutige zischte: "Das heißt Knochenbrecher, du Idiot."

Obgleich Tassy noch immer tiefe Unruhe sowie eine seltsame Art von Angst verspürte, die sie nie vorher wahrgenommen hatte- die Angst vor dem, was als nächstes geschehen könnte und wie lange sie noch in jener Halle würde verharren müssen- konnte sie ein amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken und erklärte dann mit einem kaum wahrnehmbaren Augenzwinkern in Cecilias Richtung: "Bonebreaker, das ist so 'n Kampfsportverein, in dem die "dämliche Blondine", die dir zuletzt die Nase gebrochen hat, ist. Diese Typen sind alle zwei Meter groß, richtige Schränke. Und die können einem mit einem einzigen Schlag das Genick brechen."

"Bullshit", zischte Mark, doch seiner Stimme war deutlich zu entnehmen, dass er nur einem geringen Teil ihrer Worte keinen Glauben schenkte.

"Hey, Cecilia, wie war das noch? Hat nicht einer dem anderen beim Turnier das Bein gebrochen?"

"Glaube schon", stöhnte Cecilia mit noch immer zusammengebissenen Zähnen, woraufhin der dünne Junge zischte: "Cecilia? Du heißt Cecilia?" Seine Stimme erhöhte sich scheinbar unwillkürlich zu einem schrillen Krächzen, und er verleihte seinen Worten mit einem seltsamen Betonen von Cecilias Namen einen gewissen Nachdruck.

"Sicher, dass du so heißt?", erkunigte sich Mark, woraufhin Tassy ihm einen skeptischen Blick schenkte. "Vielleicht heißt du ja auch anders?"

"Was laberst du?", fragte der dunkelhaarige Junge und trat auf Mark zu, der grinsend antwortete: "Nur dummes Zeug, damit die zwei Vollpfosten mich auch verstehen können."

Wir sind die Vollpfosten? dachte Tassy mit einem Anflug von Belustigung, sprach diese Worte jedoch nicht aus. Erneut warf sie einen mitleiderfüllten Blick auf die zusammengekauert auf dem Boden sitzende, ihr Gesicht in den Händen vergrabende Cecilia und sah aus den Augenwinkeln, dass auch Mark sie mit einem undefinierbaren Ausdruck in den dunklen Augen zu mustern schien.

"Hey, du!", ertönte eine durchdringende Stimme hinter dem Mädchen, woraufhin dieses erschreckt herumfuhr und den sie fest am Arm packenden Jungen mit einem ängstlichen Ausdruck in den dunkelbraunen Augen anblickte. "Lass mich los", zischte sie unsicher und fragte dann nach einem kurzen Zögern: "Was machst du hier?"

"Geht dich nix an, Mann. Aber jetzt, wo ich dich sehe... Die anderen sind ein bisschen angepisst mit dir."

"Wieso?"

Der Junge tat einen Schritt auf sie zu, woraufhin sie sich unwillkürlich gegen den sich zu ihrer Linken erstreckenden Zaun presste.

"Du verdammt nochmal Sachen über sie und diese Halle rauskriegen und so, damit wir uns vor denen schützen können, anstatt dich mit ihnen anzufreunden!"

"Hör mir mal zu", flüsterte das Mädchen und sah, wie der Junge die Augen zu skeptisch funkelnden Schlitzen verengte. "Schieß los."

"Die sind wirklich nicht so, wie ihr alle denkt. Die anderen, und du auch, ihr habt gesagt, das sind durchgeknallte Tussen, die euch euren Platz wegnehmen, eure Sachen kaputt machen, eure Graffitis zerstören und so weiter. Aber ich glaube, so sind sie gar nicht. Ich meine..."

"Willst du sagen, wir erzählen Bullshit, oder wie..."

"Nein..." Das Mädchen zögerte. "Könnt ihr ihnen nicht einfach aus dem Weg gehen?"

"Ihr?", fragte der Junge, "sobald du mit denen fertig bist, gehst du ihnen auch aus dem Weg, klar?"

Das Mädchen sog einmal tief die Luft ein und sprach dann mit beinahe fester Stimme: "Ich will ihnen aber nicht aus dem Weg gehen."

Er stieß ein höhnisches Lachen aus und tat dann abermals einen Schritt auf sie zu, dann fuhr er fort: "Hat das kleine Opfer endlich mal Freunde gefunden? Komm schon, du gehörst doch jetzt zu uns, da brauchst du diese dämlichen Pussis doch nicht."

Man konnte deutlich die Angst aus ihrer zitternden Stimme heraushören, doch sie bemühte sich darum, ihre nächsten Worte möglichst kühl klingen zu lassen: "Gehöre ich nicht nur zu euch, weil ich die einzige bin, die Parkour kann? Weil ich die einzige bin, die sie für euch fangen könnte?"

"Halt dein Maul!", zischte der Junge und presste sie mit einem wütenden Funkeln in den Augen gegen den Zaun, woraufhin sie einen erschreckten Schrei ausstieß.

"Lass mich doch einfach in Ruhe, bitte!"

Plötzlich sah sie aus den Augenwinkeln, wie sich zwei vertraute Gestalten schnellen Schrittes näherten, dann rief eine mit lauter Stimme: "Hey! Was wird das?!"

Der Junge lockerte seinen Griff ein wenig und fuhr herum, woraufhin ein kaum wahrnehmbarer Ausdruck der Belustigung in seine milchigen, dennoch von einem wütenden Funkeln durchzogenen Augen trat.

"He, wir kennen uns doch!", rief er, als die beiden Mädchen auf ihn zueilten. "Ihr seid zwei von diesen dämlichen Kids, die sich immer in unserer Gegend rumtreiben!"

"Lass sie in Ruhe, Mann, sie hat dir nichts getan!", zischte das Mädchen mit dem kurzgeschnittenen, strohblonden Haar und funkelte ihn herausfordernd an.

"Wieso sollte ich?"

Nun ergriff das neben ihr stehende Mädchen das Wort: "Ganz einfach, weil die dämlichen Kids dir sonst das Gesicht zermatschen!"

"Lass gut sein, Kat."

"Die blonde Arschkuh eben, die abgehauen ist wie so'n Schisser, das war... wie hieß sie noch... Kat, oder?", fragte Mark, woraufhin Tassy ihn mit einem wütenden Funkeln anblickte.

"Brauchst nicht zu antworten, ich weiß, dass das Kat war."

"He, da wir ja jetzt anscheinend längere Zeit alle hier drin zusammen bleiben müssen", warf der dunkelhäutige Junge ein, "machen wir doch 'ne Vorstellungsrunde, damit die uns nicht dauernd nur mit Arschloch oder so ansprechen müssen."

"Am Arsch!", rief Mark aus, "wir sagen denen ganz bestimmt nicht unsere Namen. Damit die uns nicht dauernd Arsch oder so nennen müssen, sagen wir einfach..."

"Hey, Mark, ich weiß aber, wie du heißt", warf Tassy beinahe spöttisch ein, woraufhin der Junge herumfuhr. "Ach ja, wie denn? Das kannste nämlich gar nicht wissen!"

"Sag mal..." Tassy blickte ihn verwirrt an, sah seinem Blick jedoch an, dass er seine Worte nicht im Spaß gesprochen hatte.

"Scheiß drauf. Hast recht, Mann, ich weiß nicht, wie du heißt."

"Tassy...", ertönte Cecilias kaum wahrnehmbares Wimmern, woraufhin Tassy abermals einen Blick auf ihre noch immer blutende Hand warf.

"Hey, ihr könnt uns nicht hier behalten, sie hat 'ne krasse Wunde und muss ins Krankenhaus", sagte sie dann mit beinahe bittender Stimme.

"Juckt mich nicht."

"Es wird dich aber jucken, wenn sie verblutet ist und ihr 'ne verdammte Leiche hier rumliegen habt!"

"Tassy, das kann doch nicht passieren, oder?", fragte das Mädchen ängstlich, woraufhin Tassy kaum wahrnehmbar den Kopf schüttelte, an den Jungen gewandt jedoch fortfuhr: "Komm schon, sie ist am Arsch, wenn sie nicht ins Krankenhaus kann!"

"He, Mann", sagte der Mark dann, eilte zu einem der Sessel hinüber und riss ein langes Stück des dabei eine dichte Staubwolke erzeugenden Stoffes heraus, den er Cecilia dann reichte.

"Das muss ja wohl reichen, ansonsten kleben wir's mit Sekundenkleber zu."

"Nein!", schrie Cecilia ängstlich und band sich schnell den nicht sonderlich sauber wirkenden Stofffetzen um die Hand, woraufhin Mark die Augen verdrehte. "Dauert lange, bis 'n Mensch verblutet", murmelte er dann, woraufhin der dünne Junge zischte: "Als wenn du dich damit auskennen würdest, du Vollpfosten! Ohne Scheiß, 'n bisschen Schiss hab' ich um die Kleine hier schon."

"Hast du dich in die verknallt, oder was?"

"He, wenn die hier stirbt, sind wir diejenigen mit der Arschkarte! Und ganz ehrlich, die hier einzusperren, und dann noch mit Verletzung, find' ich ein bisschen zu krass."

"Die verreckt nicht", widersprach Mark und bedeutete ihm dann mit einer grotesken Handgeste, zu schweigen.

"Also, nochmal von vorne", fuhr er dann fort, "damit ihr uns nicht Arsch nennen müsst, sprecht ihr uns einfach gar nicht an."

"Vielleicht wollen sie was fragen", warf der Tassy nicht bekannte Junge ein, woraufhin Mark zischte: "Die haben nix zu fragen. Okay, gut, wenn ihr uns aus irgendeinem Grund was fragen wollt, könnt ihr ja..." Er stieß ein amüsiertes Lachen aus und fuhr dann fort: "Ihr könnt uns ja Tiernamen geben- ich hieße dann stolzer Bär und der da "- er deutete mit einem kurzen Nicken sowie einem höhnischen Lachen auf den dunkelhaarigen Jungen, den Tassy noch nie zuvor bei den Nibos bemerkt hatte- "der da ist die hässliche Spinne."

"Dein Ernst, du gibst uns Tiernamen?", fragte dieser mit einem leisen Ausdruck der Empörung in der Stimme, "und vor allem- du nennst dich "Bär", und ich soll mit "Spinne" zufrieden sein?"

"Ja, weil, es kann ja nur einer am stärksten sein, oder?"

Daraufhin schwiegen die Jungen, während Tassys Angst um die sich kaum aus ihrer angespannten, kauernden Haltung zu lösen scheinende Cecilia stets wuchs. Hin und wieder warfen die Jungen ihnen misstrauische Blicke zu, als vermuteten sie, die Mädchen könnten abermals einen leichtsinnigen Fluchtversuch wagen, und nach einiger Zeit sprach Mark mit erhobener Stimme: "So, ich verpiss' mich jetzt hier, zwei von euch müssen hier bleiben."

"Ich nicht, ich will damit nix zu tun haben", sagte der dunkelhaarige Junge sofort, woraufhin der mit der auffällig gemusterten, grauen Jacke sofort rief: "Ich auch nicht!"

"Dann müsst ihr beiden wohl hier bei unseren kleinen Tussis bleiben", spottete Mark und wies zunächst auf den Jungen mit der roten Jacke, dann auf jenen mit der eine seltsame Form tragenden Kappe, der sofort ausrief: "Sind zwei Leute nicht zu wenig? Du hast doch letztens gesehen, was die anstellen können!"

"Die mit der gefreckten Hand wird dir wohl kaum eine reinhauen können, und mit der anderen werdet ihr zu zweit schon fertig werden."

"Hey, sei da mal nicht so optimistisch", warf Tassy ein, wusste jedoch, dass Mark Recht behielt. Somit verließen die drei Jungen nacheinander die Halle, nachdem sie dem dunkelhäutigen Jungen deren Schlüssel überreicht hatten, und das geräuschvolle Grölen ihrer sinnlosen Unterhaltungen verhallten irgendwann inmitten der hohen Gebäude, durch die sie ihren nicht zu überhörenden Lärm wie ein scharfes Messer hindurchzogen.

"Alles klar, Cecilia?", fragte Tassy nach einiger Zeit und ließ sich dann mit einem kurzen Blick auf die sich zwischen einigen Paletten niedergelassenen Jungen auf einen der Sessel sinken, woraufhin sich das Mädchen langsam erhob und es ihr gleichtat.

"Das tut so verdammt weh, wieso haben wir nicht bemerkt, dass da eine Scherbe lag?"

Tassy schüttelte den Kopf. "Keine Ahnung. Wieso haben wir nicht bemerkt, dass die Typen hier sind?"

Mit einem bedauernden Ausdruck in den Augen, dem die tiefe Angst mehr und mehr zu weichen schien, zuckte Cecilia mit den Schultern und ließ ihren Blick dann langsam durch die Halle schweifen. "Die können uns doch nicht einfach hier festhalten, ich meine... Können wir die dafür nicht anzeigen oder so?"

"Vermutlich schon. Aber dafür müssen wir erstmal hier rauskommen. Und ich habe momentan echt keine Ahnung, wie."

Cecilia zögerte einen nicht lange anhaltenden Augenblick, und Tassy sah deutlich, wie sie die in ihrer noch immer ein wenig blutenden Hand pochenden Schmerzen zu unterdrücken suchte, ehe sie flüsterte: "Diese Typen sind blöd wie Stroh. Der mit der Kappe ganz besonders. Denkst du nicht, es gibt eine Möglichkeit, sie auszutricksen?"

"Wie denn? Ich meine, wir wissen überhaupt nichts über sie, nichtmal die Namen. Moment, doch, ich weiß, dass der mit der Kappe kein Blut sehen kann."

"Woher weißt du das denn?"

"Erstens", antwortete Tassy, "habe ich das gehört, als wir sie letztens beobachtet haben. Also, ich hab' gehört, dass das auf einen von ihnen zutrifft. Eben habe ich gesehen, wie er einen kurzen Blick auf deine Hand geworfen und sich dann total angewidert umgedreht hat."

"Okay, aber das bringt uns auch nicht weiter", entgegnete Cecilia, woraufhin Tassy bloß kaum wahrnehmbar nickte und ihren Blick dann auf die sich wie ineinander verschlungene Efeuranken über den Teppich ziehenden, gelblichen Muster richtete. Die elegant ineinander übergehenden, wie seichte Wellen geschwungenen Linien schienen ihre innere Aufgebrachtheit sowie Nervosität zu verringern und vermochten eine leise Ordnung in ihren verwirrten, unsicheren Gedanken zu schaffen.

Eine unheilvolle, nur von den hin und wieder ertönenden Lauten der scheinbar von einem der Jungen umgeblätterten Seiten unterbrochene Stille war mit einem Mal in jeden kleinsten Winkel der geräumigen Halle gedrungen wie die beißende Kälte des sich in einer Winternacht auf die ruhenden Pflanzen und Häuser legenden Frostes, und Tassy glaubte mit jedem verstreichenden Augenblick mehr, es könnte plötzlich etwas Unerwartetes geschehen, wie der laute Knall einer alles zerstörenden Explosion nach einem kurzen Augenblick des entsetzten Schweigens.

Nach einer langen Zeit spürte sie irgendwann ein unangenehmes Kribbel in ihren Finger- sowie Fußspitzen, und mit einem Mal überkam sie der nur schwer zu unterdrückende Drang, sofort mit aller aufgebracht zu werden vermögenden Geschwindigkeit loszurennen und erst dann zum Stehen zu kommen, wenn jeder einzelne Muskel völlig erschöpft und nicht mehr zu der geringsten Bewegung fähig war.

"Oh Mann, ich kann nicht mehr sitzen", flüsterte sie an sich selbst gewandt und erhob sich dann beinahe unwillkürlich, während Cecilia ihr einen verwirrten Blick schenkte.

Sie eilte schnellen Schrittes zu dem dunkelhäutigen Jungen hinüber, der auf einer der großen Kabelrollen sitzend in die zwischen seinen Händen liegende, nunmehr an einigen Stellen von kleinen Rissen überzogene Zeitschrift vertieft war. "Hey", sagte Tassy dann, woraufhin der Junge aufblickte und sie mit seinen von unverkennbarem Misstrauen durchzogenen, bernsteinfarbenen Augen anblickte.

"Gibt es hier ein Klo?"

Er nickte langsam und sprang dann nicht sonderlich leichtfüßig von der Kabelrolle hinab, bevor Tassy sich erkundigte: "Was ist das für ein Ding?" Sie wies mit einem kurzen Nicken auf die hölzerne Rolle, während der Junge ihrem Blick folgend den Kopf wandte und dann sagte: " 'Ne Kabelrolle."

"Was macht man damit?"

"Woher soll ich das wissen? Kabel aufrollen, denke ich mal."

"Cool. Habt ihr die hier reingebracht, oder waren die schon hier?"

Der Junge blickte sie skeptisch an. "Was juckt dich das?"

"Will's nur wissen. Wenn wir so lange hier bleiben müssen- wenn Cecilia unter Umständen hier stirbt- dann wollen wir ja schon wissen, was das hier für Dinger sind, die hier rumstehen."

"Hör zu". Der Junge tat einen Schritt auf sie zu, und Tassy nahm allen noch in ihrem Inneren übrig gebliebenen Mut zusammen, nicht zurückzuweichen, während er fortfuhr: "Ihr geht mir eigentlich am Arsch vorbei. Ich würde euch vielleicht noch rauslassen, weil ich keinen Bock habe, den ganzen Tag auf zwei blöde Mädels aufzupassen. Aber dann hab' ich die Arschkarte, kapiert?"

"Ja, schon..."

"Hey, Mann!" Das aus irgendeiner nicht auszumachenden Richtung dringende Rufen des anderen Jungen unterbrach sie: "Hör auf, mit denen zu quatschen, wir sollen uns schließlich nicht mit ihnen anfreunden!"

Tassy nickte dem dunkelhäutigen Jungen bloß kurz zu und entfernte sich dann mit langsamen Schritten, die Richtung, aus welcher der Ruf des anderen Jungen soeben gedrungen war, wiederzufinden versuchend.

Irgendwann sah sie die auffallend durch einige sich zwischen den hölzernen Regalen auftuenden Lücken blitzende Musterung dessen übermäßig groß scheinender Kappe, als sie die in ihrem Weg stehenden Paletten, Kabelrollen sowie niedrigen Regale geschickt überwand.

"Hey", rief der Junge mit der roten Jacke dann, woraufhin sich Tassy noch einmal herumdrehte.

"Du kannst Parkour?"

"Klar, das müsstet ihr alle doch inzwisschen wissen."

"Cool."

Tassy spürte bei dem Klang jener Worte nicht zu unterdrückende Überraschung in sich austeigen und schüttelte unwillkürlich mit verwirrtem Blick den Kopf, um ihre Gedanken abermals zu sortieren. Hatte einer der Nibos ihr gerade tatsächlich Worte gewidmet, die nicht etwa einen negative, sondern beinahe lobend klingende Nachricht überbrachten? Jenen Gedanken sofort verwerfend überwand sie mit einigen möglichst eleganten Kong Vaults die übereinandergestapelten Paletten, in der Hoffnung, somit ein Gefühl von stiller Bewunderung bei den Jungen auslösen zu können, und landete dann leichtfüßig unmittelbar vor jenem mit der Kappe.

"Hey, du, kannst du dir mal Cecilias Hand ansehen?"

Er blickte ihr mit einem feindseligen Funkeln in den grünlichen Augen entgegen und antwortete dann: "Nö."

"Kannst kein Blut sehen, stimmt's?"

Ein unverkennbarer Ausdruck der Wut sowie Verwirrung trat für einen kurzen Moment in sein Gesicht, den er jedoch sofort unterdrückte und dann zischte: "Wie kommst'n du auf diesen Kack?"

"Hat dein Kumpel mir gerade erzählt."

"So 'n Scheiß! Warum sollte der dir das erzählen?"

"Aber es stimmt, oder?"

Der Junge zögerte mit einem langen Blick auf den steinernen Boden, und als er den Kopf erneut hob, war die auflodernde Wut in seiner Stimme nicht zu überhören: "Ey, Brownie! Hast du der Mistkuh hier erzählt, ich könnte kein Blut sehen?"

"Am Arsch hab ich das! Wieso sollte ich?"

"Woher soll sie's sonst wissen?"

"Eigentlich", warf Tassy ein, "hat er gesagt, dass du davon fast kotzen musst und deswegen bei Horrorfilmen immer wegsiehst, wenn 'ne brutale Szene kommt."

"Alter, warum erzählst du so 'nen Scheiß, Mann?", rief der dunkelhäutige Junge verwirrt, "ich hab dir überhaupt nix getan. Und ich hab auch nie so 'nen Kack erzählt."

"Das hast du mir doch gerade erzählt! Wie er schon gesagt hat, woher soll ich's sonst wissen?"

Der Junge sprang auf, schob sich an Tassy vorbei und eilte mit schwerfälligen, geräuschvoll an den hoch aufragenden Wänden des gewaltigen Raumes widerhallenden Schritten auf den sich nun ebenfalls erneut von seinem Platz auf der Kabelrolle Erhebenden zu, ehe er rief: "Weißt du, du kotzt mich grade echt an. Ich dachte, wir wären Kumpels, Mann, und du verzapfst dieser Arschgeige dann einfach mal Sachen über mich."

"Ich habe überhaupt nix erzählt! Hey, du musst schon verdammt wenig Hirn haben, wenn du ihr glaubst."

"Denkst du, ich hab' mir das eingebildet, oder was?", rief Tassy dann, woraufhin der Junge sie wütend anfunkelte.

"Was weiß ich, wo du das aufgeschnappt hast, von mir auf jeden Fall nicht! Hey, Mann", fuhr er dann an den nur wenige Fingebreiten vor ihm stehenden, ihn beinahe angriffslustig musternden Jungen gewandt fort, "ich hab' das nicht mal Mark erzählt, warum soll ich's ihr erzählen?"

"Du hältst jetzt dein Maul, du Arschloch!", schrie er und stieß den Jungen mit scheinbar aller Kraft gegen die hinter diesem übereinandergestapelten Paletten, sodass dieser mit einem erschreckten Zischen ins Stolpern geriet und mit einem dumpfen Ton auf dem Boden aufkam.

"Ach, Fuck", keuchte er und presste sich die Hand gegen die Stirn, "spinnst du, Alter? Hey, Tussi!", rief er an Tassy gewandt, "warum erzählst du dem sowas?"

"Weil's stimmt."

"Nein, Mann! Der freut sich über 'nen Grund, mich zu vermöbeln, weil..."

"Halt dein Maul!"

"...weil er ein verdammtes Arschloch ist!"

Sofort erhob er sich und tat einen Schritt auf sein Gegenüber zu, welches ihm abermals einen gewaltigen Stoß versetzte. Alles anschließend Geschehende verursachte tiefe Erleichterung aufgrund des Aufgehens ihres verzweifelten, eigentlich um einiges zu unwahrscheinlichen Plans in Tassy aus, jedoch auch ein auf unangenehme Weise in ihren Gedanken pochendes Gefühl des Mitleids für den dunkelhäutigen Jungen, und sie ließ sich dann vorsichtig auf eine der Paletten sinken, um ihre Gedanken besser klären zu können. Die Jungen schubsten sich zunächst unzählige Male gegen die scharfkantigen Paletten sowie die sie mit ihrer harten Oberfläche empfangenden Kabelrollen, dann sprangen sie sich plötzlich an wie zwei um die soeben erbeutete Nahrung kämpfende Raubtierte- der dunkelhäutige Junge holte mit aller Kraft aus und schleuderte seine kräftige Faust in das Gesicht des anderen hinein, der einen schmerzerfüllten Schrei ausstieß und dann ebenfalls zuschlug.

Immer wieder schlugen, schubsten und traten sie sich gegenseitig, während der wütende Ausdruck in ihren Augen von einer nunmehr mit bei jedem Schlag zunehmen zu scheinenden Benommenheit verdeckt wurde und aus einer Wunde an der zusammengepressten Hand des Jungen, dessen Kappe bei dem rücksichtslosen Kampf von seinem dunkelblonden Haar hinabgeglitten war, an dunkle Perlen erinnernde Tropen dickflüssigen Blutes troffen.

Als die Aufmerksamkeit der Jungen zweifellos nichts als dem jeweils anderen galt und der beinahe orientierungslose Ausdruck in ihren Gesichtern darauf schließen lies, dass sie mit Tassy oder Cecilia nunmehr niemals mitzuhalten imstande wären, eilte sie zu ihrer Freundin hinüber, ergriff wortlos ihren zitternden Arm und zog sie abermals hinter sich her, ihr mit einem knappen Nicken nicht den geringsten Ton zu erzeugen bedeutend.

Schnell eilte sie zu der Tür hinüber, riss sie mit einem verzweifelten, jedoch auch beinahe erleichtertem Seufzen auf und eilte dann hinaus, ohne einmal einen Blick hinter sich auf die nicht zu überhörende Schreie ausstoßenden Jungen zu werfen. Ihre Füße donnerten über den harten, nach einiger Zeit ein unangenehmes Brennen in ihren weiten Schuhen erzeugenden Asphalt, während sie beinahe unwillkürlich auf eine klaffende, von zwei wie durch eine scharfe Klinge entzweigeteilten Metallstangen erzeugte Lücke in dem jenes Gelände umsäumenden Zaun zurannte und sich sofort hindurchzwengte.

Auch Cecilia wand sich blitzschnell hindurch und sprang neben Tassy auf den Boden, dann rannten sie Seite an Seite, ohne sich nur einmal umzublicken durch die engen Gassen , die unzähligen Backsteingebäude irgendwann hinter sich lassend.

 

Tassy und Kat

 

"Kat, ich bin's, Tassy."

"Oh Gott, Tassy, geht's dir gut?", erklang Kats aufgebrachte Stimme durch das weinrote Telephon hindurch, "bist du zuhause?"

"Ja, klar, oder denkst du, die Typen würden mich telefonieren lassen?"

"Scheiße, ich war kurz davor, die Polizei zu rufen oder so. Meine Eltern sind nicht zu hause, heißt, die kann ich nicht um Hilfe bitten, und bei Nick hat sich keiner gemeldet, der ist wohl im Bonebreaker. Von der Halle hab' ich die Nummer nicht. Tassy, ich war echt am verzweifeln, ich wollte gerade..."

"Hey, jetzt ist ja alles wieder gut. Ich bin zuhause, Cecilia ist zuhause, und... Wie geht's dir? Der hat dich mit dem Stein ja nicht getroffen, oder?"

"Nein", antwortete Kat, "zum Glück nicht. Es tut mir so kacke leid, dass ich einfach abgehauen bin, aber da standen fünf Jungs oder so... Ich bin nach ein paar Minuten nochmal zurückgelaufen und habe geguckt, ob ihr noch da seid, aber ihr wart weg."

"Ja, wir waren in der Halle."

"Scheiße." Sie hielt einen Augenblick inne. "Ich hab' gehofft, dass ihr zwei es geschafft habt, abzuhauen, aber..."

"Nope, nicht wirklich. Die Typen haben uns entdeckt, wir wollten abhauen, sie haben uns eingesperrt... Und Cecilia hat sich 'ne ekelhafte Verletzung geholt, hat sich voll 'ne Scherbe in die Hand gerammt."

"Autsch. Wie hat sie das denn geschafft?"

Tassy seufzte tief, ehe sie antwortete: "Sie wollte mit einem Wallrun an dem Fenster hochkommen, und da lag wohl noch eine Glasscherbe."

"Ist sie denn zum Arzt gegangen oder so?"

"Weiß ich nicht, ich hab' sie direkt nach Hause begleitet. Wenn sie ein bisschen Hirn im Kopf hat, ist sie bestimmt zum Arzt gegangen."

"Und die Jungen haben euch in der Halle eingesperrt, oder wie?"

"Ja, das war so gruselig", antwortete Tassy, "zuerst kamen vier rein, und Cecilia und ich wollten rausrennen, da stand plötzlich einer von denen und hat uns festgehalten. Dann mussten wir uns auf den Boden setzen und sie haben uns zugelabert, bis drei von ihnen gegangen sind und zwei auf uns aufgepasst haben. Dieser Hässliche mit der Kappe und der Dunkelhäutige. Der scheint übrigens noch am... ich sag mal vernünftigsten zu sein. Hat mir auch anschließend irgendwie leid getan."

"Wieso? Was ist passiert? Und wie seit ihr rausgekommen?"

"Na ja, das, was passiert ist, ist auch das, weshalb wir rausgekommen sind. Ich hab 'n bisschen Bullshit gelabert..." "Kannst du ja gut", unterbrach Kat, woraufhin Tassy grinste. "Es erweist sich jedenfalls hin und wieder als nützlich. Also, ich hab' dem einen erzählt, dass der andere was über ihn erzählt hat, woraufhin sie sich dann gekloppt haben."

"Und das war dann eure Chance, abzuhauen."

"Genau. Seltsam, oder?"

"Irgendwie... Die Vorstellung, dass zwei Jungs sich prügeln, weil du irgendeinen..." Sie hielt inne, und somit ergriff Tassy erneut das Wort. "Ich finde, das klingt wie 'n schlechter Film. Ich meine, ich erzähle irgendeinen Mist, die kloppen sich und wir können abhauen. Wie so ein richtig dummes Schlechter-Film-Klischee."

"Ist doch cool."

"Nein, eigentlich nicht so, weil... der eine Junge hat mir sogar leid getan. Er meinte, dass der andere Junge immer einen Grund sucht, ihn zu vermöbeln, und ich habe ihm dann einen gegeben."

"Da kannst du aber nichts für. Tassy, was hättest du denn sonst machen sollen? Wer weiß, was Mark und die anderen mit euch angestellt hätten, wenn ihr geblieben wärt. Du hattest keine andere Wahl, auch wenn dir der eine Junge vielleicht jetzt leid tut."

"Irgendwie 'ne dramatische Story."

"Schreib ein Buch über sie."

Tassy unterbrach sie: "Am Arsch, ich bin froh, die los zu sein!"

"Schon klar. Aber ernsthaft, ihr hattet so ein verdammtes Glück."

"Ich weiß. Hey, ich muss jetzt auflegen, Bonnie muss noch eine Runde spazieren gehen. Können wir uns morgen treffen?"

"Ja, ich denke schon. Oder, warte... Kannst du bei mir vorbeikommen, wenn du gleich gehst?"

"Klar, kann ich auch machen."

"Okay",antwortete Kat, "dann bis gleich."

"Ja, ciao."

Langsam legte Tassy den Hörer des Telephons auf, schlenderte durch den mit bunten Griffen überzogenen Flur des nicht sehr geräumigen Hauses hindurch und setzte sich dann ein langgezogenes Seufzen ausstoßend an den runden Holztisch, wo sich ihre Mutter bereits mit einem aufgebrachten Gesichtsausdruck niedergelassen hatte.

"Kat?", fragte sie, woraufhin Tassy nickte. "Geht es ihr gut?"

Sie nickte abermals und antwortete dann: "Sie hat sich tierische Sorgen gemacht und wollte die Polizei rufen."

"Wäre auch mein Vorschlag", sagte ihre Mutter, "Mädchen einfach einsperren, eins mit schlimmer Verletzung, muss bestraft werden."

"Eigentlich schon", widersprach Tassy aufgeregt, "aber weißt du, wie sehr wir am Arsch sind, wenn wir das tun?"

"Tassy, du musst dich wie eine Dame ausdrücken, nicht immer Arsch sagen", meinte sie grinsend und ließ das Mädchen dann fortfahren: "Die haben uns eingesperrt, gut. Aber sie kommen dafür nicht in den Knast oder so, heißt, sie würden immer noch an uns rankommen. Das heißt, wenn wir sie verpfeifen, wissen sie ja, dass wir das waren, und dann gibt's Ärger. Richtigen Ärger."

"Aber das muss doch ein Ende finden, Tassy! Ihr könnt nicht andauernd Ärger mit den Jungen haben, irgendwann passiert ein Unglück! Vielleicht sollte ich mit den Eltern von Cecilia zu Eltern von den Jungen gehen."

"Ich weiß nicht mal, ob die alle Eltern haben- und wenn, hab ich keine Ahnung, wo die wohnen. Und wenn ich das wüsste, fände ich es kacke, wenn du oder Cecilias Eltern dort antanzen würdet. Ich meine, wie kommt das denn rüber?"

"Ist doch egal!"

"Nein, ist es nicht", widersprach Tassy, "dann denken sie nämlich erst recht, dass wir verletzlich sind und uns nicht selbst helfen können. Wir versuchen von jetzt an, nicht mehr in irgendwelchen Ärger reinzugeraten, und... Misch dich da bitte nicht ein", sagte sie beinahe flehend, "wir kriegen das auf die Reihe, wirklich."

"Okay", sagte Rosita dann nach einem lang anhaltenden Zögern, und auch jetzt war ihre Stimme von Besorgnis geprägt. "Aber wenn so etwas noch einmal vorkommt, mische ich mich ein."

Tassy nickte verständnisvoll und erhob sich dann von dem ein nicht zu überhörendes Knarren ausstoßenden Stuhl, während sie ihren Blick durch den engen Raum schweifen ließ, ihn nach der wahrscheinlich in irgendeiner Ecke zusammengekauerten Gestalt der Hündin absuchend. Schließlich sah sie den wie die goldene, von einigen pechschwarzen Tupfen überzogene Mähne eines stolzen Löwen glänzenden Pelz dessen unter einem sich an die Wand schmiegenden Regal aufblitzen und rief dann mit lauter Stimme: "Hey, Bonnie, komm, wir gehen!"

Sofort wand sich die Hündin unter ihrem nicht sehr geräumigen Versteck hervor, erhob sich mit einem freudigen Schwanzwedeln und eilte dann auf Tassy zu, ihre wie zwei klare, tiefe Geduld sowie Lebensfreude wiederspiegelnde Seen funkelnden Augen waren zu an zwei harmonisch leuchtende Vollmonde erinnernden Kreisen geweitet.

"Feines Mädchen", sagte Tassy und fuhr mit der Hand durch den dichten, sich wie der Kragen eines warmen Wintermantels um den Hals des Hundes windenden Pelz, bevor sie nach der über einen der Stühle gehengten Leine griff.

"Ist ja gut", antwortete sie auf das erwartungsvolle, freudige Winseln des Hundes hin, während sie in die von einer frischen Brise durchzogene Abendluft hinaustrat und von der Wärme der lange Schatten auf die Straßen werfenden Sonne empfangen wurde. Bonnie eilte sofort mit stets auf den Boden gerichteter Schnauze voran und schien die die Erschöpfung der vergangenen Stunden in sich aufsteigen spürende Tassy hinter sich herzuziehen, während diese mit der hin und wieder freudig zurückblickenden Hündin Schritt zu halten versuchte.

Scheinbar unwillkürlich schlug sie jene Richtung ein, die Tassy ohnehin zu gehen vorgehabt hatte, sodass diese sich auf den Weg zu konzentrieren aufhörte und ihre Gedanken schweifen ließ. Beinahe ununterbrochen taten sich die Bilder des vergangenen Tages in ihrem Inneren auf, und sie nahm die schon seit ihrer Flucht aus der Halle in sie hineingekrochene Verwunderung über die Tat der Jungen erst jetzt wahr- sicher hatte sie gewusst, dass die Nibos vor nicht allzu vielen Dingen zurückschreckten und bereits auf unterschiedlichste Weisen Ärger verursacht hatten, dass sie jedoch zwei ihrer Feinde einzusperren und die unter Umständen gefährliche Verletzung Cecilias zu ignorieren imstande wären, hätte sich Tassy nur wenige Stunden zuvor wohl nicht vorstellen können. Vor allem aber machte sich in ihr die beunruhigende Frage breit, was wohl geschehen wäre, wenn sie nicht den Streit zwischen den beiden Jungen verursacht und somit auch nicht die Flucht aus jener Halle geschafft hätten.

Wir dürfen so etwas echt nicht mehr machen, sagte sie sich selbst im Stillen, wer weiß, was beim nächsten Mal geschehen würde?

Unwillkürlich ließ sie sich die einzelnen Worte der Jungen noch einmal durch den Kopf gehen, wodurch sich der unterschwellige Gedanke bestätigte, der bei dem Anblick von fünf ihr überlegenen, sie mit nicht zu definierenden Ausdrücken ansehenden Jungen jedoch von Angst unterdrückt worden war und erst jetzt an Deutlichkeit zunahm: Im Grunde war Mark der einzige, der das Einsperren der Mädchen tatsächlich gutgeheißen hatte- während der blonde Junge zugegeben hatte, dass er von jener Tat nicht sonderlich überzeugt war und sie als zu übertrieben erachtete, hatte der dunkelhaarige die Halle bloß mit den Worten, damit nichts zu tun haben zu wollen, verlassen, und der dunkelhäutige hatte zu Tassy selbst gesagt, sie aus der Halle herauslassen, jedoch selbst nicht in Schwierigkeiten geraten zu wollen.

Mark ist das Oberarschloch, dachte sie dann und merkte nur am Rande, wie sie die Straßenseite wechselte und sich Kats Zuhause mehr und mehr näherte, die anderen trauen sich irgendwie nicht, ihm zu widersprechen. Was für Weicheier!

Plötzlich bemerkte sie, wie die Silhouetten einer vertrauten Gestalt vor der hoch über dieser aufragenden Hecke deutlich wurden und beschleunigte dann ihr Tempo, als Kat schließlich den Kopf wandte. "Hi", rief sie und schlenderte der sie mit einem fröhlichen Grinsen begrüßenden Tassy entgegen, die daraufhin lächelnd sagte: "Echt, ich hätte vor 'ner Stunde nicht gedacht, dass ich dein hässliches Gesicht so schnell wiedersehen würde."

"Mir ging's genauso, ich hatte so Angst um dich und Cecilia, ich wollte echt schon die Polizei rufen."

"Meine Mutter hat eben auch den Vorschlag gemacht, die Jungs zu verpfeifen", antwortete Tassy, und Kat legte den Kopf schief. "Macht sie das?"

Tassy schüttelte den Kopf und antwortete mit einem kurzen Blick auf den Boden: "Ich hab' sie darum gebeten, es nicht zu machen. Die Typen würden uns nie wieder in Ruhe lassen."

"Aber irgendwie müssen wir ihnen doch einen Arschtritt verpassen!", rief Kat aus, während sie langsam an dem schmalen Bürgersteig entlangzuschreiten begannen und es zuließen, dass die mit wachsam aufgerichteten Ohren vor ihnen hertrabende Hündin die Richtungen vorlegte.

"Ich hätte das auch gerne, echt. Ich würde mich so verdammt gerne an denen rächen, das glaubst du mir nicht. Das war so... Ich hatte so einen Schiss, was die als nächstes machen würden und ob wir irgendwann wieder rauskämen. Echt, ich glaube, so großen Schiss hatte ich noch nie."

"Sag mal", fragte Kat, "wissen die anderen eigentlich von dem Vorfall?"

"Nein, nachdem du gesagt hast, dass du bei Nick keinen erreicht hast, hab' ich es bei ihm nicht probiert, und bei Lilly will ich wegen sowas nicht anufen, da dürfte ich mir sonst wieder einen Monolog darüber anhören, dass wir es ja selbst schuld wären und so."

"Na ja, ganz Unrecht hätte sie ja nicht."

"Nein", bestätigte Tassy, "aber nach so 'nem Ereignis bin ich nicht so erpicht darauf, mir was von ihr anhören zu müssen."

Kat lachte daraufhin verständnisvoll, und sie setzten ihren Weg einige Zeit lang schweigend fort. Jene Situationen, wenn plötzlich eine seltsame Stille einkehrte und niemand mehr etwas sagte, waren Tassy derart unangenehm, dass sie stets ihre hintersten Gedanken nach irgendeinem Gesprächsthema absuchte- war sie jedoch mit der kaum eine Sekunde des Schweigens einkehren lassenden Lilly unterwegs, sehnte sie sich hin und wieder nach bloß einem winzigen Moment, kaum länger anhaltend als ein flüchtiger Blick von einer Seite zur anderen, in dem kein Wort gesprochen wurde.

"Wir haben lange kein Parkour mehr geübt", sagte sie schließlich, woraufhin Kat nickte. "Stimmt, da sollten wir schnell wieder mit anfangen."

"Na ja, in letzter Zeit haben wir- oder ich- uns ja öfters mit Cecilia getroffen, und die kann das ja nicht so."

"Wegen Cecilia", warf Kat ein, "ich sollte dir das eigentlich nicht sagen, aber... Lilly meint, du könntest dich von jetzt an öfter mit Cecilia treffen als mit ihr, oder mit uns allen, und sie würde deine neue beste Freundin werden- das waren ihre Worte."

Tassy zögerte mit einem Anflug des Bedauerns und blickte zu Boden, tief in ihrem Inneren wissend, dass die Anschuldigungen Lillys nicht völlig unberechtigt waren.

"Kacke. Das kann sie mir auch selbst sagen", murmelte sie, hielt abermals inne und fuhr dann fort: "Ich... Ich will nicht, dass sowas passiert. Auch wenn Cecilia echt nett ist, und wir haben auch voll die gleichen Interessen und so. Aber irgendwie müssen wir drei doch das Dreiergespann bleiben, oder, das war doch immer so."

"Klar. Eigentlich ist es ja auch nicht so, dass sie sich nur mit dir angefreundet hätte. Wir haben uns ja die meiste Zeit eigentlich alle zusammen getroffen."

"Schon, aber bei mir war sie schon öfters zuhause. Vielleicht ist es das, was Lilly auf den Keks geht. Ich meine, ich kann's verstehen, echt, und... Wenn wir uns nochmal alle treffen, und ich "bevorzuge" Cecilia in irgendeiner Weise versehentlich oder bin Lilly gegenüber kacke, egal wie, sag' mir bescheid."

"Das machst du schon nicht."

"Ich mag keine Veränderungen, weißt du? Wenn Lilly jetzt zum Oberarschloch mutieren und Cecilia dann meine "neue beste Freundin" würde, weißt du, auch wenn sich für mich alles zum mehr oder weniger Guten wenden würde, würde ich allem so dermaßen hinterhertrauern. Deswegen... Cecilia ist vielleicht jetzt eine von uns, aber ich würde sie nicht ernsthaft vor einen von euch ziehen."

Sie spürte deutlich, wie sie sich jene Dinge krampfhaft einzureden versuchte, aber dennoch die sich tief in ihrem Inneren festbeißende Angst vor solchen Veränderungen nicht zu unterdrücken vermochte. Mit ihrer zurückhaltenden, dennoch zumeist fröhlichen Art war das Mädchen mit dem wallenden, schokoladenfarbenen Haar auf dem besten Wege, ihr mindestens ebenso viel zu bedeuten wie Lilly, und Tassy hoffte vergeblich, dies vor ihrer leicht reizbaren Freundin möglichst gut verstecken zu können.

"Hey", murmelte sie dann an Kat gewandt, um jene Gedanken in den Hintergrund zu drängen, "wir müssen mehr Parkour trainieren. Wie wär's, wenn wir morgen alle zusammentrommeln und zu dieser alten Fabrik an der Autobahn gehen? Die steht schon seit Ewigkeiten leer, und ich hab' schon so oft gesehen, dass es da von Mauern, Stangen und Säulen nur so wimmelt."

"Klingt ja sehr gut, dann gehen wir da morgen hin."

Tassy nickte und sagte dann nach einiger Zeit des abermals einkehrenden Schweigens: "Bonnie ist jetzt weit genug gegangen, wir können zurückgehen, wenn du willst."

"Nein", widerdsprach Kat, "zuhause ist die Gefahr groß, dass meine Eltern und mein nerviger Bruder zurückkommen, lass uns noch ein Stück gehen."

Somit schlenderten sie noch einige Zeit durch die in dem kräftigen Orange der längst vom Himmel verschwundenen Sonne in einen goldenen Fluss verwandelten Straßen und bemerkten die immer mehr an Intensität zunehmende Dunkelheit nur am Rande, bis sie den heruntergekommenen Imbiss mit den von rotem Polster bedeckten Sitzen sowie der fülligen Frau hinter der Theke erreicht hatten und dann umkehrten.

Immer wieder musste Tassy an Lillys Worte denken und rief sich die gesamten vergangenen Tage noch einmal ins Gedächtnis, nachdem sie sich von Kat verabschiedet, erneut zu Hause angekommen einen Donut verspeist und sich dann auf dem über ihrem breiten Bett hängenden Reifen niedergelassen hatte.

Nun hatte sie ihren die weiße Decke zu durchdringen scheinenden Blick auf einen undefinierbaren Punkt über sich gerichtet, als versuchte sie, durch das spitze Dach hindurch die wie weiße Kristalle funkelnden Sterne am Nachthimmel erkennen zu können.

Ununterbrochen dachte sie an verschiedene Situationen zwischen Lilly, Cecilia und sich selbst, konnte jedoch kein die Anschuldigungen ihrer Freundin beweisendes Beispiel finden- sie hatte sich mehrere Male mit Cecilia alleine getroffen, jedoch nur an den Tagen, als die übrigen sich zu verabreden keine Zeit gehabt hatten, und jedes Mal, wenn sie alle gemeinsam etwas unternommen hatten, konnte sich Tassy nicht daran erinnern, mit Cecilia anders umgegangen zu sein als mit Lilly.

Sie ist bloß eifersüchtig, dachte sie dann, sie hat Schiss, Cecilia könnte im Mittelpunkt stehen.

Noch lange verweilte sie in jener Position und spürte, wie sich der Reifen kaum merklich hin- und her bewegte, was die noch immer verbliebene Aufregung der vergangenen Stunden sowie die leise Wut aufgrund der eigentlich unnötigen Eifersucht Lillys ein wenig dämpfte. Vielleicht stimmte es, dass sie mit Cecilia etwas mehr Dinge gemeinsam hatte als mit Lilly, und womöglich stimmte es auch, dass die eine allein wegen ihres Verhaltens etwas freundlicher sowie anderen Leuten gegenüber sympathischer war als die andere, doch Tassy war sich sicher, dies niemals tatsächlich zum Ausdruck gebracht zu haben.

Mit einem langgezogenen Seufzen schwang sie sich schließlich von dem Traktorreifen hinab, eilte die Treppe hinunter und in die Küche hinein, wo ihre Mutter wiederum in einem dichten, aus dem gewaltigen Kochtopf dringenden Dampf versunken war. "Was kochst'n du um die Zeit?", erkundigte sich Tassy, woraufhin Rosita mit flötender Stimme antwortete: "Für morgen."

Sie nickte bloß und schritt dann zu einem der hölzernen Regale hinüber, an dem ihre eine dunkelbraune Färbung tragende, im matten Glühbirnenlicht erhaben glänzende Gitarre lehnte, als wäre sie in einen tiefen Schlaf versunken. Vorsichtig schloss Tassy ihre Hände um den geschmeidigen Gitarrenhals, ließ ihre Finger leicht über das glatte Holz streichen und zupfte dann die unzählige wohlklingender Töne von sich gebenden Saiten an.

Die wie das harmonische Wispern von raschelnde Baumwipfel streifendem Wind den Raum erfüllende Melodie umgab sie wie ein unsichtbares Band, das sich sanft über sie legte und alles um sie herum Geschehende abzuhalten schien, bis ihre Sinne sich völlig den leisen Tönen hingaben.

 

Lilly hat schlechte Laune

 

Erfrischender, ihr wie fest gegen sie drückende Hände entgegenwehender Wind zauste Tassys Haar und ließ sie ihre blauen Augen zusammenkneifen, als sie mit der Geschwindigkeit eines die Luft durchstechenden Pfeils die sich durch die karge Landschaft schlängelnde Straße entlangschoss. Zu ihren Seiten donnerten die Reifen von Lillys Fahrrad sowie Nicks Skateboard über den grauen Asphalt, während Kat wiederum auf den schmalen Stangen ihres BMX- Rades balancierte und sich in dem dünnen Stoff von Tassys im Wind flatternden T-Shirt festkrallte.

Am Ende der langen, in der Ferne in einem winzigen Punkt zusammenzulaufen scheinenden Straße waren die Silhouetten des gewaltigen Gebäudes sowie dessen hoch in den Himmel ragenden Türme vor dem grauen Horizont auszumachen und ein dichter Schleier undurchdringlichen Nebels hatte sich über die Landschaft gesenkt.

"Hey! Kommt schon, wir fliegen, Leute!", schrie Nick und breitete seine Arme aus, sodass seine ausladende Jacke im ihm entgegenzischenden Wind wallte wie ein Paar eindrucksvoller Flügel, woraufhin Kat sich weit nach vorne lehnte und es ihm gleichtat.

"Wir sind Vögel!", rief sie aus, während Tassy ihr Gewicht auf sich lasten spürte und dann rief: "Hebt nicht ab, Leute!"

Wie ein Schwarm durch die Luft brausender Raben schossen sie auf die gewaltigen Fabrikgebäude zu und kamen erst dann zum Stehen, als sie von allen Seiten von hoch über ihren Köpfen aufragenden Wänden eingeschlossen waren.

"Okay, Leute, dann erkunden wir mal das Gelände!", sagte Tassy mit nicht zu unterdrückender Aufregung in der Stimme, als sie die Fahrräder, das Skateboard sowie die Rucksäcke von nicht sonderlich großem Volumen hinter einer schmalen Mauer abgelegt hatten und sich nun in die unterschiedlichsten Richtungen zu bewegen im Begriff waren.

Tassy ließ ihre Augen über das Gelände schweifen, über die in unordentlichen Reihen nebeneinander aufragenden Mauern, die unzähligen Treppen mit sich daran entlangwindenden Geländern und die einem ihr nicht bekannten Zweck dienenden, aus den Wänden herausragenden Stangen, bis ihr Blick an einer rechteckigen, offenbar einst zu einem Fenster gehört habende Öffnung in der Wand hängen blieb.

"Hey, Leute", sagte sie dann, "Herausforderung: Wallrun auf dieses kleine Dach und von dort aus ein Armsprung zu dem Fenster. Wenn wir da reinkommen, können wir sogar im Inneren dieser Fabrik rumspringen."

Schnell eilten ihre drei Freunde zu ihr hinüber und blickten nach oben, wo sich das Fenster wie eine in tiefe Dunkelheit hineinführende Tür in der Wand auftat. Tassy sah deutlich die unverkennbare Entschlossenheit in Kats Augen, und sie wusste, dass diese ebenso wie sie selbst jenen Ort nicht verlassen würde, ehe sie irgendwie zu jenem Fenster hinaufgelangt wäre. Nick hingegen senkte beinahe verunsichert den Kopf und warf einen kurzen Blick auf die Mädchen, die in einem deformierten Kreis direkt unter dem Fenster versammelt standen.

"Da komme ich sicher nicht hoch", murmelte er, während Tassy ihn beinahe vorwurfsvoll anblickte. "Klar. Ich hab' ja auch vor, hochzukommen", widersprach sie, "und ich bin auch nicht gerade der kleinste Schisser."

"Also, ich hab' auch vor, hochzukommen, definitiv", warf Kat ein, und Tassy fuhr fort: "Also, Kat will hoch, ich will hoch, Nick... Na ja, da weiß man es nicht. Und wie steht's mit dir, Lilly?"

Das Mädchen schüttelte sich mit einer hektischen Bewegung die kastanienbraunen Locken aus dem ausdruckslosen Gesicht und antwortete dann mit nicht allzu fröhlich klingender Stimme: "Keine Ahnung."

Sofort musste Tassy mit einem plötzlich durch sie hindurchschießenden, schmerzenden Stechen an das Gespräch mit Kat am vergangenen Abend denken und schenkte dieser einen kaum anhaltenden, dennoch vielsagenden Blick, den Lilly jedoch nicht zu bemerken schien.

"Also", sagte sie dann und versuchte, das Gefühl der Enttäuschung aufgrund Lillys schlechter Laune zu unterdrücken, "wir können uns ja erstmal warmmachen, und dann mit dem Fenster loslegen. Seht ihr die Mauer dort?" Sie wies mit ausgestrecktem Finger auf eine sich quer über das Gelände ziehende, nicht sonderlich hoch aufragende Mauer, die orthogonal auf die Wand des Gebäudes traf.

"Gegen die Wand laufen, mit dem Fuß abdrücken und über die Mauer", beschrieb sie grinsend die sich in ihrem Kopf abspielende Bewegung, woraufhin Kat hinzufügte: "Tic Tac."

Somit eilten sie auf die bei näherer Betrachtung durch einige herausgebrochene Stellen einen nicht allzu vertrauenserweckenden Eindruck hinterlassende Mauer zu und überwanden sie zunächst mit einfachen, dennoch aufgrund des unbekannten Gebietes sowie dem instabilen Ausdruck der Mauer von leiser Vorsicht geprägten Sprüngen, bis Nick plötzlich beide seiner recht dünnen Arme in die Luft warf und ausrief: "So, Leute, ich bin bereit für dieses Tic Tac."

Ohne eine Antwort seiner Begleiterinnen abzuwarten, nahm er Anlauf, sprang gegen die Wand und drückte sich daran ab, doch sein Körper schwebte in einer derartig waagerechten Lage über dem sandigen Boden, dass er im letzten Augenblick die Hand auf der steinernen Mauer aufsetzte und somit kontrolliert auf der anderen Seite aufkommen konnte.

"Ist das nicht eigentlich ohne Hände?", fragte Lilly sofort schnippisch, woraufhin Nick mit einem gereizten Zischen herbeieilte und entgegnete: "Das weiß ich auch, vielen Dank." Er stieß einen grotesken, an das Knurren eines angriffslustigen Hundes erinnernden Laut aus. "Mist, ich hatte total das Gefühl, mein Fuß würde abrutschen, da hab' ich die Hand aufgesetzt."

Tassy brachte ein verständnisvolles Nicken zustande, ehe die übrigen selbst über die Mauer zu springen versuchten. Sofort beschloss sie, zunächst ebenfalls einige Male ihre Hand auf der Mauer aufzusetzen, um zunächst ein Gefühl für die zu überwindende Höhe sowie die Beschaffenheit der Wand zu bekommen und nicht bei ihrem ersten Versuch bereits einen gefährlichen Sturz zustande zu bringen, doch als ihr der Sprung über die niedrige Mauer zum dritten Mal gelungen war, begann sie ebenfalls mit jenem geplanten Trick, den Nick nunmehr geschafft hatte.

Sie lief mit fest auf das Hindernis gerichtetem Blick los, setzte den Fuß an der Wand auf und drückte sich kraftvoll ab, die steinerne Mauer mit den plötzlich umso schärfer und tödlicher scheinenden Kanten unmittelbar unter sich. Als ihr der frische Wind mit seinen kalten Fingern durch das blonde Haar strich und sie die Mauer wie ein verschwommener Streifen unter sich hindurchzischen sah, glaubte sie einen kaum anhaltenden Augenblick lang, ihr Fuß könne sich in deren rauer Kante verhaken und sie mit einem schmerzhaften Aufprall zu Boden stürzen lassen, bis sie die harte Erde des staubbedeckten Grundes plötzlich unter ihren nicht das leiseste Geräusch erzeugenden Schuhen spürte.

Eine Welle des Stolzes bäumte sich in ihr auf und sie fuhr sofort herum, um zu ihren sie fröhlich anblickenden Freunden hinüberzueilen- Nick und Kat jedenfalls schenkten ihr einen freudigen Blick, während Lilly mit einem seltsamen, an ein dunkles Gitter erinnernden Ausdruck vor den grünlichen Augen auf irgendeinen entfernten Punkt inmitten des grauen, trostlosen Himmels blickte.

Was ist los mit ihr?, fragte sie sich, während sie in die Richtung der anderen schlenderte, nur weil ich mich zwischendurch mit Cecilia getroffen habe, habe ich Lilly doch nicht so vernachlässigt, dass sie den ganzen Tag Trübsal blasen muss.

Kaum wahrnehmbar folgte der Junge ihrem unwillkürlich auf Lilly gerichteten Blick und verdrehte dann mit einem leisen Lächeln in deren Richtung seine blauen Augen, woraufhin Tassy jenes Grinsen erwiderte und dann kurz nickte. Dass das sehr leicht reizbare Mädchen nicht gerade selten durch ihre oft schlechte Laune sowie die negative Einstellung gegenüber verschiedenen Dingen die Stimmung der anderen herunterzuziehen vermochte, war inzwischen jedem der Boulderer bewusst, eine ihrer positiven Seiten jedoch war, dass ihre Wut aufgrund bestimmter Ereignisse nie länger als einen Tag andauerte, und sie kam für gewöhnlich auch nicht erneut auf bereits vergangene Dinge zu sprechen. Nun aber schien Lilly nicht etwa ein wenig beleidigt zu sein, wie sie es war, wenn Kat und Tassy ein wenig zu lange ihre Schulsachen versteckten- dieser noch nicht allzu große, jedoch jeden Augenblick aufzureißen drohende, graue Tunnel in ihrem Blick war ein seltsamer Ausdruck von Trauer.

In ihre Gedanken versunken beobachtete Tassy die eleganten, geschickten Bewegungen ihrer Freunde und wiederholte den Sprung ebenfalls einige Male, bis sie sich nach einiger Zeit an ein weiteres Hindernis begaben, das sie später mit jenem zu verbinden versuchen würden.

Plötzlich eilte Kat mit freudig geweiteten Augen neben sie, doch Tassy bedeutete ihr mit einem vermutlich nur dem blonden Mädchen auffallenden Nicken, sich zu dem einige Schritte vor ihr auf einer schmalen Stange kauernden Nick zu begeben. Zunächst legte sie mit einem skeptischen Funkel in den tiefblauen Augen den Kopf schief, als Tassy jedoch einen kurzen Blick auf die einige Schritte hinter ihr herbeischlendernde Lilly warf, trat ein Ausdruck tiefen Verständnisses in ihren Blick und sie entfernte sich schließlich.

Tassy kam langsam zum Stehen und drehte sich dann mit einem seltsamen, von dem tristen Ausdruck in Lillys Gesicht verstärkten Gefühl des Unwohlseins zu dieser herum und fragte dann leise: "Hey, Lilly, ist alles klar bei dir?"

Das Mädchen wandte ihr den Blick zu, als sie fortfuhr: "Du wirkst irgendwie so... so'n bisschen betrübt."

"Ne, ist alles klar", antwortete Lilly, doch ihrer leicht abwesend klingenden Stimme war deutlich zu entnehmen, dass etwas nicht in Ordnung war.

"Sicher? Wenn was ist, dann..."

"Nein, es ist nichts" Bei der plötzlichen Schärfe in ihrer Stimme, die die mit einem Mal wie eine schwere Decke auf ihnen lastende Luft zerschnitt und in Tassy einzudringen schien wie eine Klinge, zuckte diese zusammen und konnte ein empörtes Verdrehen ihrer Augen nur schwer unterdrücken.

Verdammt, sonst rückst du doch direkt mit allem raus!

"Willst du nicht weiter Tic Tac üben?", fragte sie dann, "das hast du eben schließlich erst zweimal gemacht. Ich würde auch mitmachen, weil..."

"Nö, ist egal."

Wenn du meinst.

Schweigend schlenderte sie neben Lilly her und ließ ihren Blick dann über das sich vor ihr erstreckende Gelände schweifen, dessen unzählige Möglichkeiten, die verschiedensten Hindernisse zu überwinden, die von Lilly ausgehende Trübsinnigkeit ein wenig abzuhalten vermochten- wenige Meter hinter jener Mauer, die sie soeben überwunden hatten, erstreckten sich unzählige in die verschiedensten Richtungen verlaufenden, dennoch alle miteinander verbundenen Stangen, die von einigen Mauern umsäumt waren.

"Oh Mann, das hier ist das Parkour-Paradies!", rief Tassy aus und gesellte sich neben Kat und Nick, Lilly mit einem fröhlichen Lächeln sich anzuschließen bedeutend.

"Von der Mauer aus kann man 'nen Präzisionssprung auf die Stange machen, dann an die Stange darüber springen, schwingen und auf der anderen Mauer landen."

Tassy nickte, und es schienen nur wenige Sekunden zu vergehen, bis sie plötzlich über den die Färbung von staubbedecktem, dunklem Wüstensand tragenden Grund hinwegschoss, und mit den nunmehr von unzähligen Tagen des Parkour-Trainings abgeschliffenen Schuhsohlen leichtfüßig und präzise auf der silbrigen Stange aufkam. Kaum merklich ging sie in die Knie, drückte sich ab und zischte mit ausgestreckten Händen durch die Luft, bis sich diese um die etwas höher sowie einige Armlängen vor ihr gelegene Stange schlossen.

Sie schwang von einer Seite auf die andere und wollte gerade mit einem letzten, kraftvollen Tritt in die Luft von der Stange ablassen, um auf die nicht allzu weit vor ihr liegende Mauer zu springen, doch ein beklemmendes Gefühl in ihrem Inneren schien ihre Finger sich um das eiskalte Metall verkrampfen zu lassen, wie eiserne Ketten, die sie daran festbanden.

"Shit", zischte sie, schwang abermals hin- und her und versuchte, jegliche Gefühle der Angst aus ihren Gedanken zu verbannen, dann ließ sie los. Ihre Füße flogen auf die sie mit einem höhnischen Lächeln zu empfangen scheinende Mauer zu und sie lehnte sich kaum merklich nach vorne, spürte jedoch im letzten Moment abermals tiefe Unsicherheit in sich aufsteigen und zog plötzlich einen Fuß ein, sodass sie mit dem einen auf der Mauer, dem anderen an deren Seite abgestützt aufkam.

"So ein Bullshit!", rief sie aus und sprang von der Mauer hinab, wobei sie eine dichte Wolke rötlichen Staubes aufwirbelte und ein geräuschvolles Husten ausstieß, als sie diesen versehentlich mit einem tiefen Einatmen in ihre Lungen hineinsog.

"Tassy, das war aber jetzt doof", sagte Nick und schenkte ihr ein beinahe gehässiges Lächeln, woraufhin sie grinsend auf ihn zueilte und eine diesen sofort in ihrem roten Nebel einhüllende Staubwolke in seine Richtung aufwallen ließ.

"He, ich hab' gar nichts gemacht!", zischte die neben dem Jungen sitzende Kat und sprang sofort aus der Wolke hinaus, woraufhin Tassy unwillkürlich einen Schritt zurücktat und dann spöttisch sagte: "Hey, Nick, dann mach's mal besser."

"Mach ich", entgegnete dieser, "da kannst du dich drauf verlassen."

Hinter sich spürte Tassy die von nur wenigen Streifen des an einigen Stellen hineindringenden Sonnenlichtes durchschnittene Dunkelheit wie eine tiefe Schlucht aufklaffen, während die dunkle Gestalt wie ein flüchtig vorrüberhuschender Schatten durch die Luft sprang und ihr im Wind wallendes, gelocktes Haar die Hektik sowie Schnelligkeit ihrer Bewegung zu dämpfen schien.

"Alléz, Lilly!", rief die neben ihr auf dem schmalen Fenstersims kauernde Kat aus und hatte ihren Blick fest auf das Mädchen gerichtet, als dieses mit geweiteten Augen sowie von sich gestreckten Beinen auf das Fenster zuschoss, die Hände nach der steinernen Kante ausstreckte- und sie knapp verfehlte.

"Lilly!", schrie Tassy und beugte sich unwillkürlich mit einem erschreckten Zischen nach vorne, um dann voller Erleichterung ihre Freundin leichtfüßig auf dem rötlichen Boden aufkommen zu sehen.

"Verdammt, ich dachte schon, du bist Pudding!" Mit einem unwillkürlichen, ihre tiefe Entspannung zum Ausdruck bringenden Seufzen lehnte sie sich gegen die steinerne Wand und rief sich sofort ihren glücklicherweise bereits beim ersten Versuch gelungenen Sprung ins Gedächtnis.

Wie ein seinem sicheren Tod Entgegenblickender, der unmittelbar vor einem ihn in seine nachtschwarzen Tiefen hineinziehen wollenden Abgrund stand, hatte sie von dem niedrigen Dach aus mit unsicherem Blick auf das dunkle, rechteckige Loch in der Wand gestarrt und war dann gesprungen. Die plötzliche Hitze in der Luft schien sie hinabziehen zu versuchen, doch die groteske Angst, mit einem schmerzvollen Aufprall gegen die steinerne Wand oder auf den harten Boden zu fallen, hatten ihr für einen Herzschlag lang zwei kräftige Flügel verliehen und sie die Kante des Fenstersimses festhalten lassen.

Nun kauerte sie in jener Öffnung der Wand und sah beinahe voller Schadenfreude zu, wie Nick jenen Sprung wieder und wieder vergeblich versuchte und nach jedem Mal des Misslingens ein gereiztes Zischen ausstieß.

"Der kommt hier nicht hoch", lachte Kat irgendwann, "das ist jetzt die Strafe, dass er dich eben ausgelacht hat."

"Das war auch dämlich", antwortete sie, "ich hab' mich das einfach nicht getraut. Und alle anderen schon."

"Manchmal hat man halt Schiss vor 'ner bestimmten Bewegung, Tassy, das ist normal."

"Aber ich fühl mich jetzt wie so'n Weichei!"

"Hey, wenn du dich immer alles trauen würdest, würdest du irgendwann was tierisch Gefährliches machen und dann sterben."

"Sag mal", fuhr Tassy fort und bemerkte nur am Rande, wie sie plötzlich ein völlig anderes Gesprächsthema begann, "ist dir aufgefallen, wie..."

"Wie angepisst Lilly ist?", beendete Kat den Satz leise, und Tassy hoffte, dass das abermals das niedrige Dach zu erklimmen versuchende Mädchen jene Worte nicht vernommen hatte.

"Das ist mir aufgefallen. Ich habe nur versucht, es zu ignorieren."

"Denkst du, das liegt an mir? Oder an Cecilia?"

"Keine Ahnung", antwortete Kat ein langgezogenes Gähnen ausstoßend und schüttelte den Kopf, "du kennst sie doch."

"Klar, aber das ist nicht ihr typisches Kleinkind-Gemecker. Sie wirkt irgendwie richtig betrübt. Ich hab' sie gefragt, ob alles okay ist, aber..."

"Wenn sie nichts erzählen will, dann bringt es ja auch nichts, zu überlegen, was los ist. Das legt sich schon wieder. Am besten, wir lassen sie einfach in Ruhe."

Tassy nickte bloß und sah aus den Augenwinkeln, wie Lilly abermals vergeblich an die Kante des Fensters zu springen versuchte und sie wiederum verfehlte, während Nick nur wenige Augenblicke nach ihrem dumpfen Aufkommen auf dem Boden seinerseits Anlauf nahm. Mit zusammengekniffenen Augen rannte er über das Dach, sprang nur eine Haaresbreite vor dem Rand ab und schoss dann mit ausgestreckten Händen durch die Luft, die sich nur einen Sekundenbruchteil später in der steinernen Kante des Fenstersimses festkrallten.

"Ja, Nick, geht doch!", rief Tassy aus und rutschte auf dem rauen Stein ein wenig nach hinten, der sie zu fassen scheinenden Dunkelheit entgegen, um dem sich mit einem angestrengten Stöhnen hinaufziehenden Jungen ein wenig Platz zu schaffen.

"So, jetzt Lilly!", sagte Kat lächelnd an das einen ausdruckslosen Blick zu ihnen nach oben werfende Mädchen gewandt, woraufhin dieses den Kopf schüttelte und dann rief: "Ich komme da nicht hoch."

"Klar kommst du", widersprach Tassy sofort, "wir haben's ja auch geschafft. Komm schon, wir wollen doch alle hier rein!" Sie sah deutlich die seltsame Mischung von Trauer, Wut sowie Gleichgültigkeit in den trüben Augen des Mädchens, das antwortete: "Ihr könnt ja reingehen, ich bleibe hier unten."

"Ach, Lilly", ertönte Nicks Stimme, "du hast die anderen Sachen eben doch auch gut hingekriegt, dann kommst du hier erst recht hoch!"

"Nein, ich packe das nicht", entgegnete sie in einem keinerlei Widerspruch zuzulassen scheinenden Ton, woraufhin Tassy an Kat gewandt murmelte: "Ich würde das schon gerne auskundschaften. Immerhin sind wir jetzt schon hier oben."

"Ich auch. Hey, Lilly!", rief Kat dann mit erhobener Stimme, "wir drei gehen nur mal ganz kurz da rein, um zu gucken, was da los ist. Macht dir das was aus?"

Sie brachte kurz ein kaum wahrnehmbares Schütteln des Kopfes zustande, und Tassy ahnte, dass ihr an jenem Tag alles gleichgültig gewesen wäre, was auch immer ihre Freunde verlangen mochten. Langsam trottete sie zu den Rucksäcken hinüber, entnahm einen winzigen, silbrig glänzenden Gegenstand und warf ihn wortlos hinauf, wo Nick ihn mit einer geschickten, blitzartigen Handbewegung auffing.

"Ich gehe vor", verkündete Kat sofort, nahm die Taschenlampe entgegen und ließ ihr grelles, an gleißende Sonnenstrahlen erinnerndes Licht die tiefe Dunkelheit durchstechen, dann nahmen die Silhouetten unzähliger Geländer, Treppen sowie vereinzelter Erhebungen an Deutlichkeit zu und zeichneten sich schließlich scharf vor den eine karge, graue Färbung tragenden Wänden ab.

Leichtfüßig sprang Tassy unmittelbar nach Kat hinab und schien mit den langen, von der Taschenlampe auf den steinernen Grund geworfenen Schatten zu verschmelzen, während sie unwillkürlich die Luft anhielt und sich mit wachsamen Augen nach allen Seiten umsah. Nicht das geringste auf den einstigen Zweck jener Fabrik hindeutende Zeichen entdeckend schlenderte sie mit vorsichtig über ein kühles, eisernes Geländer streichender Hand durch den Raum und spürte die von jenem ausgehende Kälte, die wie stechende Nadeln ihre Kleidung zu durchdringen schien.

Lange Zeit brachte niemand einen einzigen Laut zustande, und das einzige die mystische Stille unterbrechende Geräusch war jenes ihrer mit vorsichtigen Bewegungen durch die gewaltige Halle schleichenden Füße auf dem staubbedeckten Boden. Irgendwann näherte sich Tassy dem den Raum kaum wahnehmbar zu erhellen scheinenden Licht der Taschenlampe und sah die sich vor jenem abzeichnenden Umrisse Kats, die scheinbar bei den Lauten ihrer sich nähernden Schritte herumfuhr.

"Tassy!" zischte sie und sog einmal tief die Luft ein, "ich dachte, du wärst dort hinten."

"Nein, das ist Nick", widersprach sie mit einem Lächeln, obgleich sie wusste, dass Kat dieses nicht auszumachen imstande war. Das Mädchen antwortete: "Eigentlich eignet sich die Halle hier ja gut für Parkour, aber..." Sie hielt einen Moment inne, woraufhin Tassy ihren Satz beendete: "...es ist verdammt dunkel hier. Und so viele Taschenlampen haben wir leider nicht."

"Ist ja nicht schlimm, wir können ja draußen trainieren".

Die kaum mit bloßen Blicken durchdrungen zu werden könnende Dunkelheit abermals für einen kurzen Moment vergessend nickte Tassy, dann setzte sie ihren Weg durch die geheimnisvolle, einen seltsamen Ausdruck von Neugier in ihr hervorlockende Halle fort.

 

 

Hilflos ausgeliefert

 

Beinahe sichtbare Wolken dichten, in jeden kleinsten Winkel hineingekrochenen Staubes hüllten die schattenhaften Gestalten ein, die in einem nur durch das blutrote Licht einiger jeden Augenblick zu erlischen drohender Kerzenflammen erhellten Kreis nebeneinandersaßen und bloß als schemenhafte Umrisse durch die aus ihren Zigarettenstummeln dringenden Rauchschwaden hindurch zu erkennen waren.

"Das reicht jetzt endgültig", ertönte die dunkle Stimme einer massigen Gestalt, die von einem wütenden Knurren durchdrungen war, "die haben's zu weit getrieben."

"Woher wussten die überhaupt von der Halle?"

Die zaghafte, helle Stimme eines zierlichen Schattens antwortete nach einem langen Zögern: "Einer von ihnen hat euch gesehen."

"So 'n Scheiß!", schrie die dunkle Stimme, "das wissen sie doch von dir!"

Gerade öffnete die massige Gestalt den Mund, als eine rauhe Stimme ihr das Wort nahm: "Warum sollte sie denen was erzählen?"

"Sie ist ja auch mit hier eingebrochen! Und dann wollte sie durch das Fenster flüchten!"

"Ich musste es doch so darstellen, als hätte ich Angst vor euch", widersprach das Mädchen und stieß ein leises Husten aus, als einer der anderen tief seufzte und den aus seinem Mund dringenden Zigarettenqualm unmittelbar in ihr Gesicht blies.

"Solltest du auch haben, Mann, wenn du dich weiter mit denen anfreundest!" Ein kaum wahrnehmbarer Ausdruck von Bedrohlichkeit durchdrang seine tiefe Stimme, woraufhin das Mädchen unwillkürlich zusammenzuckte.

"Zurück zum Thema. Wann sollen wir in die verfluchte Halle einbrechen?", fragte die dunkelste aller Gestalten ungeduldig und warf einige beinahe verstörte Blicke auf die anderen.

"Ich weiß nicht, ob wir das planen können, wenn sie dabei ist."

"Müsst ihr ja wohl", widersprach das Mädchen, "da ich als einzige etwas über die Halle weiß."

"Okay, aber wenn du bei denen irgendwas laberst, dann gibt's Schläge, das kannst du glauben."

Sie nickte, dann murmelte sie: "Bis elf Uhr ist die Halle offen, danach bleibt noch kurz jemand da... So um halb eins sollten wir einbrechen können."

"Wie?"

"Da ist ein Dach, von dort aus kann man durch eine Glastür hinein. Ich... ich weiß nicht, ob..."

"Scheiße, dann müssen wir'n Dach rauf."

"Da gibt es eine Treppe."

"Wenn du uns hier bescheißt, Mädel", knurrte die drohende Stimme der massigen Gestalt, und das plötzliche Schweigen, das sich über die übrigen gesenkt hatte, verliehen seinen flüsternden Worten einen unheilvollen Ausdruck, "wenn du uns bescheißt, dann wird dein Leben in nächster Zeit echt kacke werden." Er hielt inne. "Verdammt kacke."

Langsam ließen sie die Reifen ihrer Fahrräder über den trockenen Asphalt gleiten und kamen dann prompt zum Stehen, wodurch sich schmale, schwarze Streifen des Gummis über den kargen Bürgersteig zogen. Gefolgt von Lilly und Nick schlenderte Tassy zu dem zwischen den hoch aufragenden Mauern unschwer zu übersehenden Kiosk hinüber und öffnete die ein kaum wahrnehmbares Quietschen von sich gebende Tür, woraufhin der hinter der Kasse stehende Mann schnell aufblickte.

"Hallo, was kann ich für euch tun?"

"Wir brauchen Futter", sagte Nick sofort und ließ seinen Blick durch das nicht sehr geräumige Geschäft gleiten, wo sich die verschiedensten Lebensmittel in den hölzernen Regalen aneinanderpressten.

"Marshmallows, Chips und Schokolade", zählte Tassy auf, während Lilly zu den Regalen hinübereilte, schnell einige Packungen der genannten Süßigkeiten herausnahm und sie vor den ihr überrascht entgegenblickenden Mann auf die Kasse legte.

"Ihr scheint aber wirklich hungrig zu sein", bemerkte dieser mit einem amüsierten Grinsen und streckte dann die Hand aus, woraufhin Lilly ihm einige Münzen reichte und die Packungen schnell erneut an sich nahm, als fürchtete sie, der Mann würde sie ihr plötzlich entreißen wie ein gieriges Raubtier.

"Tschüss, schönen Tag noch", flötete sie dann und drehte sich langsam herum, während Tassy und Nick ihr folgten, dem ihnen belustigt hinterherblickenden Mann kurz zuwinkend.

"Schleimer", sagte sie spielerisch an ihre Freundin gewandt und sah sofort, wie deren gespielt fröhliches Lächeln sofort einem unverkennbaren Ausdruck der Gereiztheit wich.

"Wieso? Man darf doch Leuten einen schönen Tag wünschen", zischte sie, drückte Tassy die Süßigkeiten in die Hand und schritt dann wortlos zu ihrem Fahrrad hinüber, ohne die ihr verstört hinterherschauende Kat eines Blickes zu würdigen.

Unwillkürlich verdrehte Tassy die Augen und stieg dann auf ihr gegen einen dünnen, schwarz glänzenden Laternenpfahl gelehntes Fahrrad, nachdem sie die ein geräuschvolles Rascheln erzeugenden Packungen der Süßigkeiten in ihrem diesen kaum ausreichend Platz bietenden Rucksack verstaut hatte.

"Die Nibos kaufen sich Unmengen an Alkohol und Zigaretten, wir kaufen uns Marshmallows und Chips."

"Was willst du damit sagen?", erkundigte sich Kat, während sie vorsichtig auf die glänzenden Stangen des BMX- Rades stieg und sich an Tassys breiten Schultern festkrallte, die daraufhin antwortete: "Eigentlich gar nix. Ich meine nur, während die sich besaufen, fressen wir uns mit Chips voll."

Aus den Augenwinkeln sah sie Kats kurzes Nicken und warf dann unwillkürlich einen flüchtigen Blick auf Lilly, die, nicht den geringsten Ton von sich gebend, ihr mit großen Reifen versehenes Fahrrad erklomm.

Langsam setzten sie ihren Weg durch die schmalen Gassen fort und lauschten lange Zeit den monotenen Lauten der über die Straßen schleifenden Räder, die sich mit dem kaum vernehmbaren Knistern der Chipstüten in Tassys Rucksack vermischten und eine groteske, dennoch in seltsamer Weise harmonische Melodie erzeugten. Irgendwann, als sich die nunmehr vertrauten Umrisse des Imbisses, vor dessen Tür sich einst ein zertretener Burger in die tiefen Furchen der Pflastersteine gegraben hatte, von dem sich inzwischen bereits zu verdunkeln beginnenden Himmel abhoben, kam Tassy abermals zum Stehen und lehnte ihr Fahrrad gegen eine niedrige Mauer, nachdem Kat leichtfüßig von den Stangen hinabgesprungen war.

"Hat sie gesagt, sie wartet hier?"

"Ja, eigentlich schon", antwortete Tassy und suchte die Gegend mit den Augen nach der zierlichen Gestalt Cecilias ab; nachdem sie das alte Fabrikgelände verlassen und sich zu dem am Fluss gelegen Skaterpark zu begeben beschlossen hatten, waren sie zu Kat nach Hause gefahren und hatten das Mädchen von dort aus angerufen, um sich mit ihr zu treffen.

Gerade wollte Tassy das heruntergekommene Gebäude betreten und sich dort nach Cecilia umsehen- die Sonne drohte bereits, hinter den sich am Horizont entlangziehenden Gebäuden zu versinken, und nach allen Geschehnissen war das Mädchen vermutlich gerade im Dunkeln nicht gerade weniger schreckhaft geworden- als hinter ihr eine vertraute Stimme ertönte: "Hi. Tut mir leid, dass ich so spät bin."

Sie drehte sich langsam herum und blickte in die dunkelbraun glänzenden Augen Cecilias, die ihr ein fröhliches Lächeln schenkte und dann beinahe schuldbewusst fortfuhr: "Ich habe irgendwie nicht auf die Uhr geguckt."

"Ist doch okay, Mann, wir sind selbst gerade erst gekommen."

Sie nickte erleichtert, und als sie sich herumdrehte, um die anderen zu begrüßen, drang der schale, von dem an ihr vorüberstreichenden Wind zu Tassy getragene Geruch beißenden Zigarettenqualms an deren Nase und sie schüttelte angewidert den Kopf, blieb jedoch weiterhin still.

"Hier riecht's irgendwie nach Rauch", bemerkte Nick, als hätte er ihre Gedanken gelesen, und sagte dann mit einem verspielten Lachen an Cecilia gewandt: "Also echt, hast du mal wieder 'ne ganze Zigarettenschachtel weggequalmt?"

Die Ironie in seiner Stimme war nicht zu überhören, und dennoch glaubte Tassy, ein kaum wahrnehmbares Zusammenzucken des Erschreckens in dem Gesicht des Mädchens auszumachen, als dieses sofort sagte: "Nein, also... meine Eltern rauchen, und..."

"Hey, Cecilia", sagte der Junge dann lächelnd, "das war'n Scherz."

"Ich weiß", antwortete sie schnell, obgleich dem beinahe nervösen Ausdruck in ihrer Stimme deutlich zu entnehmen war, dass sie es nicht gewusst hatte und von den Worten des Jungen erschreckt worden war, als hätte sie sich plötzlich ertappt gefühlt; doch Tassy wusste, dass es dafür keinerlei Gründe gab, sie wusste, dass Cecilia nichts dergleichen tun würde.

Und wenn, dachte sie dann, wär's ja auch ihre Sache.

Cecilia hatte ihr Fahhrad gegen ein mit unzähligen undefinierbarer Flecken überzogenes Schild gelehnt und hob es dann auf, bevor sie alle schließlich weiterfuhren und irgendwann aus dem aus dem Inneren des Imbisses dringenden Licht verschwunden waren.

Schweigend fuhren sie die nunmehr hauptsächlich durch die schwach leuchtenden Laternen erhellten Straßen entlang, bogen nach einiger Zeit in einen schmalen Pfad ein, der sie in eine völlig menschenleere, vereinsamte Gegend und schließlich in die von raschelnden Bäumen gesäumte Lichtung des Skaterparks führte.

"Kommt, hier entlang", sagte Tassy plötzlich, verließ den Weg und ließ die kleinen Reifen ihres BMX-Rades über den feinen, den Fluss sowie seine seichten Wellen umsäumenden Sand gleiten, bis sie schließlich zum Stehen kam.

"Hey, wartet mal!", rief Nick und eilte mit dem Skateboard in der Hand herbei, während die Mädchen ihre Fahrräder auf dem sandigen Grund ablegten.

Die von dem lauen Wind herbeigetragene, den Geruch des Wassers bergende Brise auf ihrem Gesicht spürend lief Tassy an das Ufer, wo die sanften Wellen über die glatten Kieselsteine glitten, und wies mit dem Finger auf eine schmale, an eine lange Zunge erinnernde Insel, die in das Wasser hineinragte.

"Lasst uns auf die Insel da gehen", rief sie dann, "da liegen große Steine rum. Da können wir 'n Lagerfeuer machen."

"Das ist keine Insel", zischte Lilly, "das ist eine Landzunge."

"Ach, scheiß der Hund drauf", lachte Tassy und eilte über den sandigen Streifen, gefolgt von den anderen, die sich dann auf einigen von den unzähligen in den vergangenen Zeiten darübergeglittenen Wellen geschliffenen Steinen niederließen, mit Ausnahme von Kat.

"Geht jemand mit Holz sammeln?"

"Ich gehe mit", antwortete Lilly sofort und sprang auf, woraufhin Tassy einen plötzlichen Anflug der Überraschung verspürte. Vor nur wenigen Minuten hatte Lilly nicht den leisesten Ton von sich gegeben und nun hatte sie sich sofort dazu bereit erklärt, Kat beim Sammeln des Feuerholzes zu helfen.

Wahrscheinlich ist sie über Cecilia hinweg, dachte sie sofort und senkte den Kopf mit einem Anflug von Erleichterung, während das Knistern der Chipstüten abermals das harmonische Rauschen des Flusses übertönte.

"Ist echt warm heute", sagte Nick, während er die noch gefüllte Tüte herumreichte und Tassy eine gewaltige Hand voll Chips entnahm.

"Ich finde diesen Platz so cool", entgegnete Tassy und ließ ihren Blick über den die Lichter der Stadt spiegelnden Fluss gleiten, wobei sie nur am Rande die beiden mit Unmengen an zerkleinerten Stöcken zurückkehrenden Mädchen bemerkte, dann fuhr sie fort: "Es stinkt nicht nach Abgasen, es gibt Bäume und Sand..."

"Fast wie am Strand", warf Cecilia lachend ein.

"Stimmt. Nur, dass sich hier die Lichter im Fluss spiegeln."

Kat und Lilly häuften einige der zerkleinerten Stöcke zu einem an einen Kegel erinnernden Haufen zusammen, Nick zog ein winziges Feuerzeug aus seiner Hosentasche heraus und entzündete dann die Hölzer, bis irgendwann eine hell leuchtende, ihre Wärme auf Tassys Gesicht werfende Flamme in ihrer Mitte loderte.

"Was für ein schönes Feuerchen!", sagte sie nach einiger Zeit lächelnd, woraufhin sich Kat erkundigte: "Kennt irgendwer ein Lagerfeuer-Lied?"

"Seht ihr die Brücke da?", fragte Tassy und deutete auf einen nur als pechschwarze Silhouette zu erkennenden Streifen, der sich über das Wasser zog.

"Bridge over troubled water. Na ja, wobei das Wasser nicht wirklich troubled ist."

"Kenn' ich nicht", widersprach Kat, woraufhin Tassy die Augen weitete. "Was?!"

"Tut mir leid, ich kenne mich eher mit Liedern aus, die etwas neuer sind."

"Ist ja auch egal", sagte Nick, "schade, dass Tassy ihre Gitarre nicht dabei hat."

"Beim nächsten Mal", antwortete diese lächelnd, "hey, Kat, kannst du mir mal die Marshmallow-Tüte rüberwerfen?"

Diese setzte ein höhnisches Grinsen auf und antwortete: "Nö."

"Komm schon."

"Dann musst du schon an mir vorbei."

Tassy brachte nur ein kurzes Lächeln zustande, stand blitzschnell auf, sprang an Kat vorüber und wirbelte dann mit einem ausladenden Tritt die Wasseroberfläche auf, wobei unzählige winziger, glasklarer Tropfen an dieser zersprangen und ihr vor Erschrecken verzerrtes Gesicht benetzten.

Aus den Augenwinkeln sah Tassy, dass auch an Nick vereinzelte Tropfen abgeperlt waren und tat sofort einen gewaltigen Schritt nach hinten, als sich der Junge sowie Kat mit angriffslustigem Funkeln in den Augen erhoben und auf sie zueilten.

"Hey, Leute!", schrie sie lachend und rannte davon, "wir können doch friedlich darüber reden!"

"Vergiss es!", rief Kat aus, und Tassy hörte deutlich ihre den feinen Sand aufwirbelnden Schritte hinter sich, "Rache ist süß!"

"Lasst mich in Ruhe!", kreischte sie und spürte nur wenige Augenblicke später, wie sie plötzlich zu Boden gestoßen und von zweifellos mehr als zwei Händen dort festgehalten wurde, dann holte Kat aus und trat derartig fest in die Wellen hinein, dass Tassy eine gewaltige Flut auf ihr sich sofort vor Kälte zusammenziehendes Gesicht schwappen spürte.

"Oh Mann, Kat!", rief sie und löste sich aus Nicks festem Griff, woraufhin das Mädchen sofort davonsprang und sich mit blitzenden Augen hinter der ihren Blick fest auf das Feuer gerichteten Lilly verbarg.

Noch lange rannten sie von einer Seite zur anderen, stießen sich gegenseitig zu Boden oder spritzten sich die kühlen Tropfen des vorüberrauschenden Flusses über, bis sich Nick schließlich mit einem langgezogenen Seufzen zu Boden sinken ließ.

"Okay, kommt, wir schließen Frieden. Ich kann nicht mehr!"

"Und ich bin nass", zischte Tassy grinsend und strich sich das triefend über ihre blauen Augen hängende Haar aus dem Gesicht, "eigentlich würde ich mich gerne an Kat rächen."

"Kannst du, aber nicht heute. Ich will jetzt Marshmallows futtern."

"Ich wollte schon vor 'ner Stunde Marshmallows futtern, aber du meintest ja, du müsstest mich den ganzen Fluss entlangscheuchen!"

"Dein Problem", entgegnete Kat grinsend, "aber jetzt sind wir quitt."

"Von wegen!", rief Tassy aus, ließ sich aber dennoch auf einem der nunmehr kalten Steine nieder, nahm einen neben dem züngelnden Feuer liegenden Stock und spießte einige weiche, von der Wärme der dicht neben der Packung lodernden Flammen in eine klebrige Masse verwandelt zu werden drohende Marshmallows darauf auf, als Cecilia lachte: "Das hat Spaß gemacht, euch zuzusehen, wie ihr euch beinahe gegenseitig umgebracht habt."

"Du hättest mir ja auch zur Hilfe eilen können", sagte Tassy mit gespielter Empörung in der Stimme, "während die beiden mich beinahe abgemurkst hätten."

"Sieh es ein, Tassy", entgegnete Nick höhnisch, "du bist uns beiden ausgeliefert, und du hast keinen, der dir hilft."

"Hilflos ausgeliefert...", wiederholte Cecilia scheinbar an sich selbst gewandt mit beinahe abwesendem, auf das Feuer gerichteten Blick und bemerkte nicht, wie Tassy sich zu ihr herumdrehte.

"Hilflos ausgeliefert, das ist nicht gut."

 

"Verdammt", "beschissen" und "bescheuert"

 

Blitzartig schlug Tassy die Augen auf und erhob sich sofort, als das schrille, ohrenbetäubende Klingeln sie aus dem Schlaf riss. Erschreckt und noch immer ein wenig benommen von unzähligen grotesker Träume, die jede ihrer Nächte erfüllten wie seltsame Filme mit zusammenhangslos aneinandergereihten Szenen, blickte sie von einer Seite zur anderen und schüttelte dann den Kopf, um ihre Gedanken zu sortieren, bis sie das Geräusch des Telefons bewusst wahrnahm.

"Scheiße", zischte sie, sprang aus dem ein nicht zu überhörendes Knarzen von sich gebenden Bett auf und eilte rasch die Treppe hinunter, wobei sie die letzten drei Stufen schwungvoll übersprang, leichtfüßig unmittelbar vor dem auf einem niedrigen Tisch ruhenden Telefon aufkam und dann den Hörer abnahm.

"Hallo?"

"Tassy?"

"Cecilia?", antwortete sie und bemerkte dann, dass sie das Mädchen seit einigen Tagen nicht gesehen hatte, "hi, wie geht's?"

"Hör zu", sagte diese sofort mit beinahe aufgebrachter Stimme, ohne auf ihre Frage einzugehen, "ich muss mit dir reden. Mit euch allen. Können wir uns treffen?"

"Ja, ja, klar, aber..." Sie spürte plötzliche Nervosität in sich aufsteigen und bemerkte nur am Rande, wie sie ungeduldig das dünne Telefonkabel um ihren bei der Aufgebrachtheit in Cecilias Stimme zu zittern beginnenden Finger wickelte.

"Wir... Wir können uns treffen, aber... was ist denn los?"

"Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, ich dachte, ich kann so spät nicht anrufen, ich muss..." Die mehr und mehr zunehmende Unruhe in ihrem Inneren war nicht zu überhören, und Tassy unterbrach sie: "Hey, Cecilia, komm wieder runter, und atme tief durch. Und dann schieß in aller Ruhe los, was passiert ist."

"Okay", murmelte das Mädchen, und Tassy hörte, wie sie einmal tief die Luft einsog. "Also, ich weiß, wann die Nibos in die Halle einbrechen wollen."

"Wie... Woher?"

"Ich habe sie belauscht."

"Wann... und wie hast du...?"

"Das wäre eine zu lange Geschichte."

"Ich mag lange Geschichten", entgegnete Tassy und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken, jedoch vergeblich.

"Also..." Sie zögerte kurz. "Der eine, der zuletzt schon in der Nähe der Schule war, der war wieder dort, mit ein paar anderen, und..." Wiederum ein kurzes Zögern. "na ja, da habe ich es eben gehört. Da haben sie darüber gesprochen."

Bei jenen Worten spürte Tassy Verwirrung in sich aufsteigen und sie warf einen kurzen Blick hinter sich, als glaubte sie, das Mädchen könne plötzlich durch die Tür brechen, gefolgt von den angriffslustigen Nibos. Warum sollten sie sich an der Schule treffen und dort jenen Einbruch planen, ohne die sie belauschende Cecilia zu bemerken, wo dort doch nirgends die leiseste Andeutung eines Verstecks zu finden war? Andererseits- dachte sie dann, warum sollte Cecilia sich das ausdenken? Und dass die Typen dämlich sind wie Stroh, ist ja klar.

"Wann?", fragte sie dann.

"Gestern."

"Nein, ich meine... Wann wollen sie einbrechen?"

"Bald. Können wir uns treffen, mit den anderen? Dann können wir das alle zusammen besprechen."

"Gut, ich sage sofort allen bescheid. Treffen wir uns in 'ner halben Stunde in diesem Laden mit der dicken Frau und dem zermatschten Burger?"

"Okay, bis gleich", murmelte sie und legte auf, noch bevor Tassy sich zu verabschieden imstande war.

Gerade hatte diese ebenfalls den weinroten Hörer aufgelegt, ließ sie sich auf den Boden sinken und spürte eine Mischung aus Nervosität sowie Adrenalin in sich aufsteigen- obgleich sie sich stets der Pläne der Jungen, in die Boulderhalle einzubrechen, bewusst gewesen war, erschreckte sie die Erkenntnis dennoch, dass dies in scheinbar nicht allzu ferner Zeit geschehen würde. Innerhalb eines einzigen Herzschlages, so glaubte sie, hatte sie ihre drei anderen Freunde informiert, sich blitzartig umgezogen und dann ihr BMX- Rad aus dem nicht sehr geräumigen, mit den verschiedensten Gegenstäden angefüllten Abstellraum genommen, ehe sie schließlich die unter ihren darüberschießenden Reifen zu brennen beginnen drohende Straße entlangzischte.

Wieso konnte sie nicht schonmal damit rausrücken, wann die Nibos einbrechen wollen?

Kaum auf den sich vor ihr erstreckenden Weg achtend trat sie ununterbrochen mit aller Kraft, die sie aufzubringen imstande war, in die Pedale, bis sie eine vertraute Gestalt auf sich zueilen sah und dann deren rufende Stimme vernahm: "Hey, Tassy! Warte! Nimm mich mit."

Schnell presste sie ihre rechte Hand über dem den Reifen blockieren lassenden Hebel zusammen und setzte einen Fuß auf dem harten Asphalt ab, als das Rad mit einem schleifenden Laut seitlich über den Boden schlitterte und dort einen unverkennbaren, schwarzen Streifen hinterließ.

"Kann ich mitfahren?", fragte Kat und kam unmittelbar vor Tassy prompt zum Stehen, woraufhin diese nickte und mit einer kurzen Handgeste auf den hinteren Teil des BMX-Rades wies. "Klar, dann auf die Stangen mit dir."

Kaum hatte sie auf den schmalen, schwarzen Stangen Halt gefunden, setzte sich Tassy abermals in Bewegung und hatte den Blick starr auf den vor ihr liegenden Weg gerichtet, während ihr der kalte Morgenwind entgegenschlug wie eine kräftige Faust. Kat krallte sich in dem nicht allzu viel Halt bietenden Stoff von Tassys ausladender Lederjacke fest, und diese glaubte zu hören, wie das blonde Haar des Mädchens im wehenden Wind wallte wie die Wellen eines aufgewühlten Gewässers.

"Wann wollen sie einbrechen?", fragte Kat irgendwann und beugte sich zu Tassy nach vorne, woraufhin sie antwortete: "Keine Ahnung. Cecilia hat nur gesagt, bald."

"Na toll. Wir wollten ihnen doch aus dem Weg gehen!"

"Können wir ja auch", entgegnete Tassy, "wenn wir Tine bescheid sagen, regelt sie das schon."

Unwillkürlich beschleunigte sie ihr Tempo, als die Form des kleinen Imbisses irgendwann vor dem hellblauen, von einigen grauen Wolken überzogenen Himmel Gestalt annahm, und kam erst dann plötzlich zum Stehen, als der silbrig glänzende Fahrradständer nur eine Fingerlänge von ihr entfernt war. Sie drückte beide Bremsen zugleich, wobei das Hinterrad trotz Kats gesamten darauf lastenden Gewichtes plötzlich von der Straße abhob und die einen erschreckten Aufschrei ausstoßende Kat das Gleichgewicht verlieren ließ. Diese donnerte mit einem aufgebrachten Zischen gegen Tassy und griff dann unwillkürlich nach dem funkelnden Lenker, während Tassy langsam ihren Griff um die Bremsen löste, um das Fahrrad ein wenig vorwärts rollen und den Reifen somit erneut zu Boden kommen zu lassen.

"Oh Gott, Tassy, dein Fahrstil ist schrecklich!", zischte Kat und stieg dann von den Stangen hinab, während Tassy das BMX-Rad mit einem belustigten Grinsen gegen den Ständer lehnte.

"Sorry, der Stunt war nicht beabsichtigt", entgegnete sie, während sie neben Kat auf das nicht sonderlich große Gebäude zueilte. "Nick und Cecilia sind schon da", murmelte sie mit einem kurzen Blick auf einen sich in eine der hintersten, vor neugierigen Augen am meisten verborgenen Tisch, wo sich Cecilia und Nick bereits auf der mit rotem, lederartigen Stoff gepolsterten Eckbank niedergelassen hatten, dann trat sie nach einem kurzen Zögern ein und bemerkte sofort, wie die dicke Frau hinter der Theke sie eingehend musterte.

"Hallo", sagte Tassy freundlich und wollte an der Frau vorüber auf Cecilia und Nick zugehen, als diese mit tiefer Stimme rief: "Aber nicht wieder Hamburger vor der Tür zermatschen, ne?"

Tassy drehte sich herum. "Oh, das waren nicht wir. Wir haben uns auch schon gewundert, warum da 'n Burger vor der Tür lag."

"Klar wart ihr das", widersprach die Frau mit einem seltsamen Lachen in der Stimme, welches Tassy mitteilen zu wollen schien: "Ihr könnt mich nicht für dumm verkaufen, ich habe euch genau gesehen!"

"Da müssen sie uns echt verwechseln."

"Blödsinn!" Die Frau schlug mit ihrer fleischigen, einen winzigen Zigarettenstummel zwischen den Fingern haltenden Hand auf die hölzerne Theke und deutete dann auf Cecilia, die sich nunmehr erhoben hatte.

"Die Süße da mit den schönen braunen Locken, die erkenn' ich doch sofort! Aber is' egal, ich verzeih's euch."

"Na ja... danke, es... kommt nicht nochmal vor", murmelte Tassy, die wusste, mit der tief entschlossenen und ihre Meinung nicht im geringsten anzweifelnden Frau nicht diskutieren zu können- immerhin hatte sie vor nicht allzu langer Zeit mit ihren Freunden in jenem Imbiss etwas gegessen und erinnerte sich auch, dass sie sich nicht sonderlich unauffällig benommen hatten, weshalb sie durchaus als Unruhestifter in dem Gedächtnis der Frau geblieben zu sein vermochten; das Groteskte jedoch war, dass sie Cecilia an jenem Tag nicht einmal gekannt hatten.

Egal. Vielleicht war Cecilia zwischendurch mal hier, dachte sie dann und eilte, ohne einen weiteren Gedanken an die Frau zu verschwenden, zu dem Tisch hinüber, wo Cecilia und Nick ihr bereits mit aufgeregten Blicken entgegensahen.

"Hallo. Lilly habt ihr nicht zufällig im Schlepptau?", fragte der Junge, woraufhin Tassy und Kat gleichzeitig den Kopf schüttelten und sich ebenfalls auf zwei knarzenden Stühlen niederließen.

"Also dann, Cecilia, schieß' los."

Das Mädchen sog einmal tief die Luft ein und blickte zu Boden, als bereite sie sich auf das detailierte Erzählen einer ergreifenden Geschichte vor, dann sprach sie: "Ich bin die Straße entlanggegangen, und..."

"Cecilia", unterbrach Nick mit einem Grinsen, woraufhin diese aufblickte.

"Ich will ja nicht unhöflich sein... Du hast mir die ganze Geschichte eben schon erzählt, und... Komm einfach zum Punkt."

"Okay, entschuldige", flüsterte Cecilia verlegen, und Tassy spürte sofort einen Anflug der Empörung aufgrund Nicks Unhöflichkeit gegenüber dem schüchternen Mädchen, das sich sofort jede Bemerkung zu Herzen nahm.

"Ist okay, Cecilia", sagte sie sofort, "also, was hast du gehört?"

"Ich wollte dich eben nicht erschrecken, Tassy, deswegen habe ich es nicht am Telefon gesagt."

Nick schlug auf den Tisch. "Komm auf den Punkt, Hergott!"

"Sie wollen heute einbrechen. Heute nacht, um zwölf."

Sofort spürte Tassy einen seltsamen Stich des Entsetzen, der innerhalb eines Herzschlages ihren gesamten Körper durchdrang. Hätten die Nibos geplant, in drei, vier oder fünf Tagen in die Halle einzubrechen, so hätten sich die Boulderer auf sinnvolle Weise darauf vorbereiten und möglichst viele Personen, insbesondere die Besitzerin der Halle, über das Vorhaben der Jungen benachrichtigen können- doch nun, da ihnen nur wenige Stunden blieben, konnten sie nichts weiter tun, als Tine darum zu bitten, über Nacht die Halle bewachen zu dürfen, völlig planlos.

Wir müssen sofort zum Bonebreaker! , dachte sie und öffnete gerade den Mund, um jene Worte auszusprechen, als Kat ein von Erschrecken geprägter Schrei entfuhr: "Scheiße!"

"Was?"

Kat wandte den Kopf, und Tassy glaubte, in dem aufbrausenden Meer der Verzweiflung, dessen Wellen aus ihren tiefblauen Augen herauszubrechen schienen, zu versinken, als sie voller Entsetzen sagte: "Der Bonebreaker ist heute geschlossen, da ist keiner heute."

"Stimmt ja!", rief Nick aus, und Tassy ließ abwechselnd Blicke der Verwirrung von einem zum anderen schweifen.

"Wieso das denn?"

Kat hielt kurz inne. "Heute ist ein Boulderwettkampf, irgendein... Ach, keine Ahnung, auf jeden Fall sind die alle dabei, die immer im Bonebreaker sind. Tine auch, und alle, die da arbeiten, deswegen ist die Halle heute geschlossen."

"Nicht euer verdammter Ernst!", zischte Tassy und schlug sich verzweifelt die Hand vor die Stirn, "seit zwei beschissenen Jahren hatte diese Halle nicht einmal geschlossen, und ausgerechnet heute... Warum müssen sie sich ausgerechnet diesen gottverdammten Tag für einen bescheuerten Wettkampf aussuchen? Warum?!"

"Warum müssen sich die Nibos ausgerechnet diesen gottverdammten Tag für einen bescheuerten Einbruch aussuchen?!", knurrte der Junge und ahmte Tassys Stimme nach, die gerade etwas erwidern wollte, als hinter ihr eine Stimme ertönte:

"Was ist los, Leute? Ich höre nur "verdammt", "beschissen" und "bescheuert."

"Lilly!", rief Tassy aus und fuhr herum, als das Mädchen ihr verwirrt entgegenblickte.

"Lilly, wir sind am Arsch! Die Nibos wollen heute in die Halle einbrechen!"

"Heute?", wiederholte Lilly und setzte sich auf einen Stuhl neben Tassy, ihre Stimme blieb jedoch auf seltsame Weise unbeeindruckt.

"Ja, und heute ist keiner da. Die sind alle auf 'nem Wettkampf", fuhr Kat fort, und mit einem Mal waren alle Augen auf die sich verwirrt umblickende Lilly gerichtet, als erwarteten sie eine plötzliche, explosionsartige Reaktion der Wut von dieser- was normalerweise auch nicht selten geschah, doch nun schien jene erschreckende Nachricht das Mädchen nur am Rande zu bewegen.

"Das ist seltsam", sagte diese dann- jedoch mehr an sich selbst gewandt, so schien es Tassy. "Ich meine, das ist ja, als hätten sie's gewusst."

"Was gewusst?"

"Na, dass heute keiner im Bonebreaker ist!", zischte sie und versah Tassy mit einem strengen Blick, als wäre diese eine unwissende Schülerin, die eine falsche Antwort gegeben hat.

"Bullshit", sagte Tassy daraufhin, "woher sollen sie's gewusst haben? Ich meine, sie können das doch eigentlich gar nicht gewusst haben- andererseits, so ein großer Zufall grenzt ja fast schon ans Übernatürliche."

"Also gibst du mir recht, sie müssen es gewusst haben."

"Eigentlich würde ich sagen, ja..." Sie hielt einen kaum anhaltenden Augenblick inne. "Klar!", rief sie dann aus, "an der Halle stand doch 'n Schild, dass heute geschlossen ist!"

"Da haben wir's doch", sagte Nick und schlug auf den Tisch, als wolle er jenes Gespräch damit beenden, "sie haben's gelesen. Ganz einfach. Und dann haben sie den Einbruch geplant."

"Hey, Leute!", rief die füllige Frau mit ihrer nicht sonderlich weiblichen Stimme und trat hinter der Theke hervor, während ihre enge Hose, die über dem gewaltigen Hinterteil von unzähligen Flecken gelblichen Frittierfetts bedeckt war, mit jedem Schritt an den Nähten auseinanderzubersten drohte.

"Ich verstehe die ganze Zeit nur "Einbruch". Ihr plant aber keinen Banküberfall, oder? Denn ich habe keine Lust, ein paar kleine Möchtegern-Verbrecher in meinem Laden hocken zu haben."

"Nein, nein", warf Tassy sofort mit jener höflichen Stimme ein, mit der sie auch soeben zu der Frau gesprochen hatte, "ich schreibe ein Buch darüber, das ist alles."

"Ah ja. Dann viel Spaß", murmelte sie, stieß ein in Kombination mit ihrem breiten, rosafarbenen Gesicht an das Grunzen eines Schweines erinnerndes Lachen aus und begab sich dann abermals hinter die Theke zurück, woraufhin Tassy ein belustigtes Lachen nicht unterdrücken konnte.

"Okay", ergriff Nick dann nach einem kurzen Zögern erneut das Wort, sprach jedoch mit deutlich leiserer Stimme als vorhin, "wir wissen jetzt, woher sie wissen, dass die Halle heute zu ist, aber wir wissen nicht, was wir machen sollen."

"Was denkt ihr?", fragte Tassy und sah plötzlich, wie Cecilia mit entsetztem Blick an ihr vorüber durch die sich an der Wand entlangziehenden Fenter starrte, woraufhin sie ihrerseits schnell herumfuhr.

Auf der Straße sah sie eine dunkle Gestalt wie ein kaum wahrnehmbarer Schatten zwischen zwei Mauern hindurchhuschen und dann plötzlich in einer engen, sich durch die nicht sonderlich hohen Häuser schlängelnden Straße verschwand, doch sie vermochte die Person nicht zu identifizieren.

"Wer war das?", erkundigte sie sich bei Cecilia, die zunächst ihren starren Blick wie gebannt auf einen entfernten Punkt gerichtet hielt und dann den Kopf schüttelte.

"Also... Ich weiß nicht, aber der hat so seltsam hier reingegafft."

Einige Zeit verharrten sie schweigend, und Tassy durchforstete ihre Gedanken nach jeglichen sinnvollen Vorschlägen für das Verhindern der bevorstehenden Ereignisse, während sie unwillkürlich die Finger über das raue Holz des runden Tisches gleiten ließ. Irgendwann blickte Kat abermals auf und sagte dann: "Am besten, wir gehen in die Halle hinein- durch das Dachfenster, das kann man meistens öffnen- kurz bevor sie kommen, eine halbe Stunde vorher vielleicht, und sie dann überraschen."

"Du willst dich wieder mit ihnen anlegen?", zischte Nick sofort mit einem entsetzten Funkeln in den Augen, "ich habe keine Lust, dass schon wieder einer von uns 'ne Gehirnerschütterung davon trägt."

"Ich glaube-" warf Cecilia ein, "also, ich bin mir hundertprozentig sicher, dass sie gesagt haben, nur zu zweit einbrechen zu wollen, um nicht aufzufallen."

"So viel Hirn haben die?"

Tassy hielt kurz inne. "Das sind perfekte Voraussetzungen. Ich würde sagen, wir nehmen Kats Vorschlag an, und gehen so gegen Elf zur Halle. Dort können wir ja dann überlegen, wie genau wir sie überraschen."

"Okay", sagte Nick nach einem langen Zögern, "dann machen wir es so."

 

Der Einbruch

 

Leichtfüßig und nicht die leisesten Geräusche zu erzeugen versuchend glitten sie an den niedrigen Wänden entlang, bewegten sich geschickt über die schmalen Mauern und bückten sich unwillkürlich, sobald sie für einen flüchtigen Augenblick aus den schützenden Schatten der Gebäude hinaustreten mussten.

Nicht allzu tief unter ihnen zogen sich die einsamen, in das matte Licht der vereinzelten Laternen getauchten Gassen durch die Mauern, und mit jedem Schritt schien das nur schwach durch die Nacht dringende Leuchten des grellen, hellgrünen Schildes intensiver zu werden.

"Ich kann nicht glauben, dass wir das tun", wisperte Tassy, bevor sie eine schmale Lücke zwischen zwei flachen Dächern schnell übersprang und dann leichtfüßig aufkam, gefolgt von den übrigen.

"In den Bonebreaker einbrechen... Wenn Tine das wüsste!"

"Aber wir müssen es tun", widersprach Kat, "anders können wir die Nibos nicht aufhalten... Und wer weiß, was sie tun würden, wenn wir nicht da wären!"

Tassy nickte zustimmend, dann setzten sie ihren Weg fort und kamen hinter einer hoch aufragenden Mauer, die der Kletterhalle genau gegenüber lag, schließlich zum Stehen. Mit misstrauischen Blicken sahen sie von einer Seite zur anderen und Tassy hielt unwillkürlich die Luft an, als sie sich fest gegen die steinerne Wand presste. Der mit pfeifenden Lauten über die Dächer kratzende Wind trug eine eisige Kälte mit sich und kroch wie mit eiskalten Händen unter ihre Jacke, als sie vorsichtig um die Ecke der Mauer spähte und jeden Augenblick die dunklen Gestalten der Nibos aus den Schatten aufzutauchen vermutete.

"Da ist niemand", sagte sie nach einiger Zeit, als sie nicht die leiseste Bewegung wahrgenommen hatte, und Kat flüsterte: "Na dann, los."

Sie rannten wie auf einen Befehl hin quer über das Dach, sprangen auf ein tiefer gelegenes, eilten mit leichtfüßigen Schritten darüber und erklommen dann mit geschickten Sprüngen jenes, unter welchem sich die Kletterhalle befand und das mit dem kleinen Raum, in welchem sie vor einigen Tagen auf den Krankenwagen für Isa wartend gesessen hatten, durch eine Tür verbunden war.

Tassy zog sich kraftvoll an dem Dach hinauf und erhob sich, dann richtete sie ihren Blick auf die gläserne Tür- und riss entsetzt die Augen auf. Jene war einen winzigen Spalt weit geöffnet und an der Stelle, die nur wenige Zentimeter unter der sich innen befindenden Türklinke lag, klaffte ein von scharfen Kanten umsäumtes Loch, von welchem dünne, an ein feines Spinnennetz erinnernde Risse ausgingen.

"So ein Mist!", zischte sie verzweifelt und fuhr dann herum, wo die anderen ihre entsetzten Blicke starr nach vorne gerichtet hatten- mit Ausnahme von Cecilia, die mit einem seltsamen Ausdruck der Trauer in den dunkelbraunen Augen zu Boden blickte.

"Sie sind schon da, richtig?", flüsterte sie kaum wahrnehmbar und sah auf, woraufhin Tassy nickte.

"Wir müssen abhauen!"

"Nein", entgegnete Tassy, "sie sind in der Halle. Was auch immer sie vorhaben, wir müssen sie vertreiben. Sonst stellen sie noch was-weiß-ich-was an."

"Außerdem", fügte Kat hinzu, "sind sie ja nur zu zweit. Wir gehen da jetzt rein und machen ihnen die Hölle heiß!"

"Okay", flüsterte Nick, und Tassy stieß ein langgezogenes Seufzen aus, während Kat die Führung übernahm und mit vorsichtigen Schritten auf die Tür zuschlich.

"Oh Gott", wisperte Lilly bloß und folgte ihnen als Letzte, als Kat die Tür mit einem leisen Quietschen aufdrückte und sich hindurchzwengte, wachsame Blicke von einer Seite zur anderen werfend. Tassy blickte über die Schulter des Mädchens hinweg und suchte den kleinen Raum mit den Augen nach jeder kleinsten Bewegung ab, stellte jedoch schnell fest, dass er leer war.

Mit jedem Schritt, den sie tat, schien die sich wie ein dickes Seil um sie schlingende Anspannung stärker zu werden, sich enger um sie zu schließen, und sie spürte eine erneute Welle des Entsetzens in sich aufsteigen, als Kat vor der jenen Raum von der dunklen Kletterhalle trennenden Türschwelle prompt zum Stehen kam.

Das war's jetzt, dachte sie, da stehen jetzt alle Nibos und attackieren uns.

Dann jedoch drehte sich Kat langsam herum und wisperte mit einem skeptischen Kopfschütteln: "Ich sehe niemanden."

Vorsichtig schlichen sie hinaus, pressten sich fest an die Wand und gingen leichtfüßig die Treppe hinunter, während die in der Halle herschende Dunkelheit mit jedem Schritt intensiver zu werden schien. Wären die Nibos tatsächlich noch in der Halle, hätten sie womöglich das Licht angeschaltet, da das schwach durch die Fenster dringende Licht der schmalen Mondsichel den großen Raum kaum zu erhellen vermochte.

Niemand gab den geringsten Hauch eines Geräusches von sich, jeder schien den Atem angehalten und die Zähne zusammengebissen zu haben, als sie sich dicht hintereinander durch den Raum bewegten und sich mit ausgestreckten Händen an den Wänden entlangtasteten.

"Hier ist niemand", murmelte Tassy, woraufhin Kat ihr mit einem kaum wahrnehmbaren Zischen zu schweigen bedeutete. Gerade wollte sie sich zu den anderen herumdrehen, als aus einer undefinierbaren Richtung ein leises Geräusch ertönte, wie jenes von weichen Schuhsohlen auf einem steinernen Grund. Cecilia schrie erschreckt auf, Tassy fuhr herum, und plötzlich schien alles innerhalb eines einzelnen Herzschlages zu geschehen: "Los!"

Ein durchdringender Schrei ertönte, die Halle wurde mit einem Mal in ein gleißendes Licht getaucht und von allen Seiten rannten die Gestalten mit lautem, sinnlosem Grölen auf sie zu- es konnten unmöglich mehr als fünf sein, doch Tassy glaubte, eine ganze Armee von angriffslustigen, von Agression angetriebenen Jungen auf sich zustürmen zu sehen.

"Lauft!", schrie sie, fuhr sofort herum und rannte, gemeinsam mit ihren erschreckte Schreie ausstoßenden Begleitern, die schmale Treppe hinauf, während die Schritte der ihnen mit der Geschwindigkeit jagender Raubtiere folgenden Jungen immer lauter zu werden schienen.

"Mach schon!", schrie sie und stieß Cecilia vor sich her, die immer wieder entsetzte Blicke hinter sich warf.

"Ihr kommt uns nicht davon!", ertönte die wutverzerrte Stimme eines Jungen scheinbar unmittelbar hinter ihr, und Tassy beschleunigte ihr Tempo von Panik erfüllt. Jeden Moment glaubte sie, eine kräftige Hand könne sich fest um ihren Unterarm schließen und sie die steile Treppe hinabzerren, in die tiefe Dunkelheit hinein.

Kat rannte in das Zimmer hinein, durch welches sie nach draußen gelangen würden, und Tassy wollte ihr gerade folgen, als aus dem an jenes angrenzenden Zimmer ein geräuschvoller Laut ertönte: Das Bellen eines Hundes.

"Pia!", zischte Tassy und fuhr herum, als sie sah, dass die Nibos beim Klang des lauten Bellens stehen geblieben waren und sich verwirrt umblickten.

"Tine hat sie hiergelassen", wisperte Kat, "wegen dem Wettkampf!"

"Kommt schon, wir müssen raus!", drängte Nick und wollte sich an Kat vorüber durch die Tür hindurchschieben, als sich diese ihm in den Weg stellte. "Der Hund!"

Fünf Jungen, jene, die Tassy und Cecilia auch vor einigen Tagen in der Lagerhalle festgehalten hatten, standen in einer unförmigen Reihe auf der Treppe und blickten den schmalen Gang entlang, an dessen Ende sich jenes Zimmer befand, das den Ursprung des Bellens in sich barg.

"Ist da 'ne Töle drin?!", keifte Mark, woraufhin der Junge mit der Kappe nickte.

"Nein, weißt du, da ist ein bellendes Schwein drin!"

"Ich will hier raus", schluchzte Cecilia und griff nach Tassys Arm, die abwechselnd entsetzte Blicke auf die sie angriffslustig anfunkelnden Jungen sowie die in die Freiheit und die schützenden Schatten der Nacht führende Tür warf.

"Leute", wisperte Lilly so leise, dass die Nibos es nicht zu verstehen imstande waren, "was machen wir jetzt?"

Alle schienen die Jungen zu fixieren und jede ihrer Bewegungen mit ihren Blicken einfrieren zu wollen, doch diese machten momentan keine Anstalten, sich auf die beinahe verwirrten Boulderer zu zu bewegen.

"Wenn wir den Köter rauslassen und ihm die Fresse polieren, dann rennnt ihr nicht weg, was?", grölte Mark mit einem höhnischen Lachen, woraufhin Nick plötzlich mit geballten Fäusten vortrat und sagte: "Das würde ich nicht tun. Ist ein Kampfhund, ein richtig aggressiver. Wenn der sich auf die Hinterläufe stellt, ist er 'nen Kopf größer als du!"

"Bullshit!"

"Mann, warum sollte der Hund sonst hier sein?", fragte der dunkelhäutige Junge und trat neben Mark. "Das ist ein Wachhund! Der muss aggressiv sein!"

"Sehen wir ja. Kommt, Leute, holen wir ihn raus, und..."

"Nein!", schrie Kat und zögerte kurz. "Ich... dann geht er auf uns alle los!"

Tassy konnte deutlich die in Marks Blick tretende Unsicherheit ausmachen, und dieser zögerte einen lange anhaltenden Augenblick. Niemand rührte sich, niemand sagte ein Wort, und trotz der zwischen den beiden Gruppen lodernden Anspannung schien dennoch für einen kurzen Moment eine seltsame Ruhe zu herrschen, wie ein jeden Moment zu enden drohender Waffenstillstand- sie sahen sich an, blickten hin und wieder in die Richtung des Bellens, und schienen nicht im Begriff, aufeinander zu oder davonzulaufen.

"Leute", flüsterte Tassy, ohne jedoch den Blick abzuwenden, "sie werden Pia rauslassen, und dann sehen sie, dass sie kein verdammter Kampfhund ist." Sie zögerte. "Wir werden alle auf einmal losrennen, über das Geländer springen und in die Halle laufen, damit verwirren wir sie."

"Was labert ihr?", zischte Mark und tat einen Schritt nach vorne, woraufhin Tassy ein erschrecktes Zusammenzucken zu unterdrücken versuchte.

"Nichts, wir haben nur..." Sie zögerte. "JETZT!"

Sie rannten los, sie pressten sich in dem Bruchteil einer Sekunde an den Nibos vorüber, sie sprangen blitzschnell über das Treppengeländer und eilten dann durch die Halle, jeder eine andere Richtung anstrebend. Unter dem wütenden Grölen der Jungen rannte Tassy über die Matten, so schnell ihre Füße sie zu tragen vermochten, bewegte sich unwillkürlich auf den hinteren Teil der Halle zu und erklomm dann eine senkrecht in die Höhe ragende Wand innerhalb weniger Sekunden. Von dem henkelförmigen Topgriff aus schnellten ihre Hände an die Kante, dann zog sie sich hinauf und schwang ihr Bein darüber, während ihr erschreckter Blick auf den unter ihr aufklaffenden, hohlen Innenraum der Boulderwand gerichtet war. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob sie erneut aus jenem kesselartigen Gefängnis hinausgelangen würde, kletterte sie an den auf der Innenseite angebrachten, die Wand stützenden Balken hinab und presste sich schließlich mit einem erleichterten Seufzen gegen die staubbedeckte Wand. Selbst wenn die Nibos sie in jenem Versteck ausmachen konnten, würden sie nie hinaufzuklettern und sie dort, wo vermutlich seit Ewigkeiten kein Mensch gewesen war, hinauszubekomen imstande sein.

Durch die unzähligen, dünnen Löcher in der Wand, die zum Befestigen der Griffe dienten, spähte sie in die Halle und sah, wie sich die Jungen mit verwirrten Blicken über die Matten bewegten- sie schienen somit keinen der Boulderer bemerkt zu haben.

Sich in ihrer tiefen Anspannung kaum zu rühren vermögend presste Tassy ihre Hand gegen die hölzerne Wand und sog tief die von dem sich über unzählige Jahre hinter der Wand gebildet habenden Staub durchzogene Luft ein, bevor sie sich schließlich langsam daran entlangzubewegen begann. Nur wenige Schritte neben ihr neigte sich die Wand nach außen, und sie ließ sich dann auf die Knie sinken, um wie ein verletzt über den Boden kriechendes Tier an jener nicht sonderlich steilen Wand hinaufzukrabbeln.

Vorsichtig bewegte sie sich über das Holz, stützte sich an den die einzelnen Platten verbindenden Balken ab und reckte sich schließlich nach oben, um über die Kante aus ihrem Versteck hinausblicken zu können.

Mit einem belustigten Grinsen sah sie, wie die Nibos von einer Seite zur anderen liefen, ohne jegliche Anzeichen der Boulderer zu bemerken, während Nick mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck auf der Spitze der am weitesten in die Höhe ragenden Wand kauerte und sich ebenfalls fest gegen die Wand des Gebäudes presste.

Sie ließ ihren Blick durch die gesamte Halle schweifen und verspürte dann einen Anflug der Erleichterung, als sie Cecilia mit erschreckt geweiteten Augen auf der schmalen Kante der Platte sitzen sah- wie sie bei der geringen Anzahl an guten Griffen jedoch dorthin gelangt war, vermochte sich Tassy nicht zu erklären, zumal da ihre Hand noch immer in einen dicken Verband gewickelt war.

Geräuschvolle, wütende Rufe ausstoßend suchten die Jungen die Halle ab, rannten noch immer hin und her und versuchten einige Male, sich an den Wänden hinaufzuarbeiten, vermutlich aufgrund eines besseren Überblicks über den Raum, fielen jedoch stets nach nur wenigen Zügen zu Boden und zischten jedes Mal aufs Neue gereizt.

"Die sind weg, Mann", keifte der Junge mit der Kappe und ging dann in die Richtung des Eingangs, als in Tassy plötzlich tiefes Entsetzen aufflammte: Hinter der unmittelbar neben der Eingangstür befindlichen Kasse kauerte Lilly mit geweiteten Augen sowie zu Boden gerichtetem Blick; das schnelle Näherkommen des Jungen schien ihr nicht einmal bewusst zu sein. So ein Mist, dachte Tassy und presste sich unwillkürlich fester gegen das Holz, unsicher, was sie tun sollte.

Der Junge schritt zunächst zu der Tür hinüber und zog an dieser, stellte jedoch mit einem verärgerten Zischen fest, dass sie verschlossen war, was auch einen Funken der Enttäuschung in Tassy auslöste- würden die Nibos sie plötzlich bemerken, wäre eine Flucht durch die Eingangstür deutlich einfacher gewesen, als die schmale sowie steile Treppe hinaufzueilen und über die Dächer davonzulaufen.

"Hey, hier ist 'ne Kasse!", rief der Junge dann und bewegte sich auf jene zu, sich der noch immer nichts zu ahnen scheinenden Lilly mehr und mehr nähernd.

"Wir können sie aufbrechen und gucken, ob Geld drin ist!"

Er neigte den Kopf und wollte gerade hinter jene Mauer eilen, wo die Kasse auf einem schmalen Regal stand, als plötzlich Nicks laute Stimme ertönte: "He, Arschgesicht!"

Sofort fuhren alle Jungen gleichzeitig herum und rannten dann in die Richtung, aus der der Ruf gedrungen war, den noch immer hoch über ihren Köpfen auf der Boulderwand sitzenden Nick zunächst nicht zu bemerken scheinend.

Tassy spürte, wie sich die Anspannung, die sie soeben wie starke Fesseln bewegungsunfähig gemacht zu haben schien, mit einem Mal löste, als sich der Junge mit der Kappe einen lauten, jedoch undefinierbaren Ruf ausstoßend von der Kasse sowie Lilly entfernte.

"Kommt doch rauf, ihr Blödmänner!", rief Nick, woraufhin die Jungen ihre Köpfe in die Nacken legten und mit einem verstörten Ausdruck in den Augen zu ihm hinaufsahen.

"Beweg deinen Arsch da runter!", keifte Mark und machte nicht die geringsten Anstalten eines Versuches, die Wand zu erklimmen, woraufhin Tassy schließlich ihrerseits über die Kante ihres Verstecks hinausblickte.

"Hallo", rief sie, und alle Jungen richteten ihre verwirrten Blicke dann in ihre Richtung.

"Na, wollt ihr raufkommen?"

"Ihr bewegt jetzt beide eure Ärsche hier runter, sonst gibt's einen aufs Maul!"

Tassy konnte ein amüsiertes Lachen nicht unterdrücken.

"Wie willst du das anstellen, wenn ich hier oben bin?"

"Irgendwann müsst ihr ja da runter."

"Ey, ich hab' 'ne Idee!", rief der Junge mit der Kappe aus und eilte dann neben Mark, "wie schon gesagt, da ist 'ne Kasse. Wenn wir die leerräumen, und dann noch 'n paar Sachen hier kaputt machen, müssen die doch runter kommen."

"Hast du gehört, du hässliche Kuh?", zischte Mark an Tassy gewandt, woraufhin diese entgegnete: "Die "Kuh" hab' ich jetzt mal überhört."

"Wir räumen die Kasse leer. Und dann verwüsten wir die Bude hier mal 'n bisschen!" Ohne eine Reaktion Tassys abzuwarten, drehte er sich herum und rannte auf die Kasse zu, als sie ein erschrecktes Rufen nicht unterdrücken konnte: "Lilly! Lauf!"

Sofort hob das Mädchen den Kopf, riss bei dem Anblick des nur wenige Meter von ihr entfernten Jungen die Augen auf und sprang dann hinter der Kasse hervor, sich blitzschnell an dem ein verwirrtes Zischen von sich gebenden Jungen vorüberwindend. Dieser fuhr herum und rannte mit erhobener Faust und wütend blitzenden Augen hinter ihr her, als die übrigen Jungen plötzlich ebenfalls kehrt machten und Lilly mit lautem Grölen zu verfolgen begannen.

"Nick! Wir müssen runter!", rief Tassy, wand sich blitzschnell über die Kante und sprang dann leichtfüßig auf die unter ihrem Gewicht nachgebenden Matten, während der Junge es ihr gleichtat.

"Kat! Wir brauchen deine Hilfe!", schrie dieser dann mit lauter Stimme, und aus den Augenwinkeln sah Tassy, wie eine schemenhafte Gestalt plötzlich hinter den olivgrünen Schränken hervorkroch.

Sie rannten aufeinander zu, von den auf die Verfolgung Lillys völlig konzentriert zu sein scheinenden Jungen nicht bemerkt werdend, und eilten dann wie auf ein stilles Komando hin hinter jenen her, bis sie nur wenige Schritte von ihnen entfernt waren.

"Dreht euch mal um!", schrie Kat, woraufhin einige der Jungen prompt zum Stehen kamen und ihre Köpfe dann in deren Richtung wandten, ehe sie mit lauten Rufen herumfuhren und sich auf sie zu stürzen im Begriff waren.

"Rückzug!", rief Tassy aus und rannte in jene Richtung zurück, aus der sie gekommen waren, flankiert von Kat sowie Nick, mit mindestens zwei der sich schnell nähernden Jungen nur wenige Meter hinter sich.

"Kommt, da rein!" Nick packte Tassy sowie Kat plötzlich an den Handgelenken und zog sie hinter sich her in einen von tiefer Dunkelheit erfüllten Raum, dessen Eingang sich neben den Schränken befand.

Der Junge schloss die Tür mit einem geräuschvollen Knallen, ehe ihre Angreifer ihnen hinein zu folgen imstande waren, und sofort tastete Tassy nach einem Lichtschalter, woraufhin der Raum in ein grelles, gelbliches Licht getaucht wurde.

Unwillkürlich pressten sie sich gleichzeitig fest gegen die Tür, jeden Augenblick einen der Jungen mit angriffslustigen Schreien hindurchzubrechen vermutend, während Tassy ihren Blick durch das Zimmer schweifen ließ und feststellte, dass sie ihn nie zuvor betreten hatte.

Einige aneinandergereihte, mit den verschiedensten Getränken angefüllte Kühlschränke pressten sich beinahe ebenso panisch wie die drei Boulderer gegen die Wand, in einer Ecke stand eine langgezogene Kühltruhe und in einem gegenüberliegenden, hölzernen Regal ruhten vereinzelte Kisten, die wenige Äpfel enthielten.

Abgesehen von der Tür jedoch, die sie krampfhaft geschlossen zu halten versuchten, gab es in dem Zimmer keinen Fluchtweg- keine weitere Tür, kein Fenster, keine Treppe.

"Nick", sagte Tassy mit starr geradeaus gerichtetem Blick, "Das war eine beschissene Idee."

"Ich weiß", antwortete dieser, sah sie jedoch nicht an und regte sich nicht. "Ich dachte, das wäre das andere Zimmer, das mit dem Fenster."

"Kommt da raus!", schrie einer der Nibos, und nur einen Herzschlag später stieß etwas mit einer derartigen Kraft gegen die Tür, dass sie alle das Gleichgewicht verloren und mit erschrecktem Zischen vornüber fielen.

Das geräuschvolle Grölen der in den Raum hineinzustürzen scheinenden Jungen ließ Tassy sofort aufspringen und beinahe unwillkürlich zum anderen Ende des Zimmers hinüberrennen, woraufhin Kat und Nick es ihr gleichtaten.

"Jetzt seid ihr am Arsch!", zischte der Junge mit der Kappe, der neben dem Dunkelhaarigen einen großen Schritt auf sie zutat.

"Sieht so aus", wisperte Tassy und blickte unsicher von einer Seite zur anderen, während sich die Nibos mit schleichenden, bedrohlichen Schritten näherten. Die Luft schien vor Anspannung zu knistern, und aus den Augenwinkeln sah sie, wie Kat kampfbereit die Hände zu Fäusten ballte, dann plötzlich auf die Kisten zusprang und einen dicken Apfel mit aller Kraft auf die Jungen schleuderte.

"Geile Idee!", rief Tassy aus, rannte zu ihr hinüber und griff schnell in die Kiste, während die Jungen schützend ihre Arme vor die Gesichter hielten.

"Friss das!" Sie warf unzählige Äpfel beinahe wahllos in die Richtung der Jungen, die bei jedem sie mit einem dumpfen Geräusch treffenden Apfel ein wütendes Zischen ausstießen und schließlich mit gebückten Haltungen ebenfalls auf das Regal zueilten.

Schließlich flogen von allen Seiten harte, rot glänzende Früchte durch den gesamten Raum, und unzählige Male spürte Tassy bei dem Aufprall eines ihren Kopf treffenden Apfels einen pochenden Schmerz durch sie hindurch schießen- dennoch stellte sie verstört fest, dass ihr das Bewerfen der Nibos in irgendeiner Weise Spaß machte.

"Tassy! Pass auf!", hörte sie Kats Stimme und sprang sofort zur Seite, als sie aus den Augenwinkeln einen Apfel auf ihren Kopf zuschießen sah, wobei sie mit dem einen erschreckten Schrei ausstoßenden Mädchen zusammenstieß. Beide gerieten ins Taumeln und drohten das Gleichgewicht zu verlieren, als einer der Nibos ein höhnisches Lachen ausstieß.

"So, dem zeigen wir's", sagte Kat, und Tassy hob sofort einen weiteren, bereits an unzähligen Stellen nach einigen Aufprällen aufgeplatzten Apfel vom Boden auf. Gerade erhob sie die Hand, gerade wollte sie ausholen und die Frucht auf den sie wütend anfunkelnden Jungen werfen, als plötzlich eine Gestalt in dem schmalen Türrahmen erschien und dann eine laute Stimme ertönte: "Was zum Teufel ist hier los?!"

 

 

Aus Freunden werden Feinde

 

Der wütende, entsetzte Blick der Frau schien alle Bewegungen einzufrieren, nachdem die Nibos mit erschreckt geweiteten Augen herumgefahren waren und Tine nun verstört entgegenblickten.

"Ihr beiden"- sie wies mit ausgestrecktem Finger auf die beiden Jungen, die kein Wort zu sagen imstande schienen- "bewegt sofort eure Hintern hier raus, nehmt eure drei Freunde mit euch, und lasst euch nie wieder hier blicken!"

"Wir..."

"Kein Wort!", zischte Tine, "wenn ihr nicht in zehn Sekunden verschwunden seid, rufe ich die Polizei!"

Die Jungen sahen mit beinahe schuldbewussten Blicken zu Boden, dann zwengten sie sich an Tine vorüber und verließen den Raum schnellen Schrittes, während sich die übrigen der Nibos zu ihnen gesellten.

"So, und jetzt raus hier, alle Mann!", zischte Tine und wies mit einer ausladenden Handgeste auf die Tür, ehe sie sich zu Nick, Kat und Tassy herumdrehte.

"Und ihr drei erklärt mir jetzt, warum ihr euch meine Boulderhalle aussucht, um euch gegenseitig mit Äpfeln zu bewerfen! Ich dachte, ihr wärt gerne hier, und jetzt brecht ihr hier ein?"

"Nein, wir sind nicht hier eingebrochen", sagte Tassy sofort mit plötzlich in ihr aufsteigender Enttäuschung, als sie sah, wie sehr Tine der Gedanke eines Einbruchs der Boulderer kränkte.

"Wir haben heute erfahren, dass die Typen hier einbrechen wollten, aber wir konnten dir nicht bescheid sagen, weil du auf dem Wettkampf warst. Wir wollten etwas früher kommen, um sie zu überraschen und sie davon abzuhalten, aber da waren sie schon da. Die Tür oben ist kaputt, sie stand schon offen, und da sind wir hier rein, um sie zu vertreiben. Na ja, hat ja nicht ganz geklappt."

"Wir hatten richtig viel Glück, dass du gekommen bist, Tine!", warf Nick ein, "sonst wären wir echt geliefert gewesen!"

"Ich..."

"Tine!", unterbrach Lillys lauter Ruf, die, gefolgt von Cecilia, plötzlich ebenfalls in dem Türrahmen auftauchte.

"Ja, ich wollte Pia holen." Sie zögerte einen Augenblick. "Waren das die Jungs, mit denen ihr euch zuletzt schon angelegt habt?"

Tassy nickte.

"Hört mal", fuhr Tine dann mit etwas ruhigerer Stimme fort, "ihr könnt euch doch nicht andauernd mit denen anlegen. Vor allem will ich nicht andauernd darin verwickelt sein! Ich werde diesen Einbruch der Polizei melden, und dann hoffe ich, dass sie sich der Halle nicht mehr nähern werden."

"Okay", antwortete Lilly und stellte sich neben die Frau, "das alles tut uns echt sehr, sehr leid."

Sie verbrachten noch etwas Zeit in der Halle, um die unzähligen nun nicht mehr essbaren Äpfel zu entsorgen, ehe sie nach Hause gingen- kaum einer brachte ein Wort hervor, und die Stimmung schien trostloser als jemals zuvor zu sein. Ihr vor nur wenigen Stunden todsicher gewesen zu sein scheinender Plan war missglückt, und sie alle schienen in ihrem Inneren zu wissen, dass der Ärger mit den Nibos mit jenem Ereignis nicht beendet sein würde. Tassy sprach dies nicht aus, doch in den Augen der andern, vor allem in Lillys, konnte sie sehen, dass sie ihren Gedanken teilten.

Am nächsten Tag, nachdem Tassy recht früh einen Anruf von Lilly erhalten hatte, saß sie auf einer Bank in der Nähe der Schule neben Kat und wartete mit auf die Straße gerichtetem Blick auf das Mädchen.

"Das ist gestern verdammt scheiße gelaufen, was?", fragte sie schließlich, woraufhin Kat nickte.

"Dämlicher Zufall. Sie sind früher gekommen, als wir dachten."

"Vielleicht hat sich Cecilia verhört..."

"Ich glaube..." Eine leise, plötzlich unmittelbar neben ihnen ertönende Stimme unterbrach Kat: "Hallo."

"Hey, Lilly!", rief Tassy aus, "ich hab' dich gar nicht kommen sehen!"

"Redet ihr über gestern?", fragte das Mädchen und ließ sich neben Tassy auf der Bank nieder, und sie nickte. "Worüber sonst? Das war echt ein Ereingnis, Mann. Ich glaube, das wird so schnell keiner vergessen."

"Vor allem eine bestimmte Person nicht."

Bei diesen Worten spürte Tassy Verwirrung in sich aufsteigen und legte skeptisch den Kopf schief, doch Lilly machte zunächst keine Anstalten, fortzufahren.

"Was meinst du?", erkundigte sie sich schließlich, und das Mädchen blickte sie mit beinahe vorwurfsvollen Augen an, als sie dann sprach: "Tassy, dass das gestern Zufall war, glaubst du doch selbst nicht, oder?"

"Lilly, was redest du?", fragte Kat mit demselben Ausdruck von Verwirrung, der auch Tassy ergriffen hatte.

"Ich wollte das gestern nicht sagen, als alle dabei waren. Ihr habt doch gesehen, als die drei mich verfolgt haben, und danach seid ihr ja in den Raum gerannt."

Die beiden nickten zugleich.

"Ich konnte die Nibos irgendwann abhängen und mich verstecken, und dann hab' ich gehört, wie sie sich unterhalten haben. Also, Tassy, das wird dir jetzt sicher nicht gefallen, aber: Cecilia hat uns verpfiffen."

Tassy weitete die Augen und merkte, wie eine groteskte Mischung aus Verwirrung sowie Empörung in ihr aufstieg, ehe sie fragte: "Wie kommst du denn darauf?!"

"Dass uns irgendjemand verraten hat, haben die Nibos gesagt, und Cecilia war die einzige, die nicht den ganzen Tag bei uns war, nachdem wir die Pläne geschmiedet haben."

"Das heißt doch trotzdem nicht, dass sie uns verraten hat! Lilly, ich glaube, da hast du was falsch verstanden."

"Nein, Tassy, ich weiß doch wohl, was ich gehört habe!"

"Okay, also, die Nibos haben es so gesagt? Sie haben gesagt: Wir wissen von Cecilia, dass...?"

"Sie haben gesagt: Gut, dass sie dachten, wir würden später kommen. Und später hat einer gesagt: Auf die Spionin ist Verlass."

"Warte... Du meinst, Cecilia wäre ihre Spionin?" Sie konnte ein belustigtes Lachen nicht unterdrücken. "Lilly, das ist Bullshit! Cecilia wäre die Letzte, die sich mit ihnen einlassen würde, dafür ist sie viel zu nett und zu schüchtern! Außerdem", fügte sie hinzu, "haben sie tatsächlich ein Mädchen in ihrer Gruppe. Sie heißt Kim. Nicht Cecilia. Vielleicht hat sie uns ja ausspioniert..." Tassy wusste, dass jene Worte mehr als unrealistisch waren, sie vermutete jedoch auch, dass Lillys Worte, wie bereits unzählige Male zuvor, nur zum Teil der Wahrheit entsprachen.

"Als hätten wir nicht gemerkt, wenn uns jemand anderes ausspioniert hätte! Tassy, überleg doch mal... Cecilia war es doch, die wusste, dass die Nibos einbrechen wollten, richtig?"

"Ja, und das beweist doch, dass... Wenn sie zu ihnen gehören würde, hätte sie ihnen doch nichts von unserem Plan erzählt. Das war einfach Zufall!"

"Ja, damit wollte sie uns in die Falle locken!"

"Lilly", entgegnete Tassy mit ruhiger Stimme, während sie sah, wie die Aufregung sowie die Wut in Lillys Augen mehr und mehr wuchs, "Cecilia hat uns nicht verraten. Ich weiß es. Ich kenne sie, und ich weiß Sachen über sie, die... Sie gehört zu uns, nicht zu denen."

"Du glaubst also einer, die du ein paar Mal getroffen hast, mehr als deinen Freunden, die du seit Jahren kennst? Du denkst ernsthaft eher, dass ich lüge, als dass sie lügt?"

"Ich hab' gar nicht gesagt, dass du lügst!", zischte Tassy und spürte, wie es ihr mit jedem Augenblick schwerer zu fallen schien, nicht die Stimme zu erheben, "ich hab' gesagt, dass du dich irrst! Dass du was falsch aufgefasst hast."

"Leute", warf Kat ein, "hört doch auf, euch gegenseitig anzukacken!"

"Ich kacke nicht. Sie kackt", entgegnete Tassy und zeigte auf Lilly, die sich mit einem Mal wütend erhob.

"Denk doch einmal nach, Tassy! Cecilia hat die Nibos komischerweise gehört, und dann hat sie gesagt, sie müsste plötzlich weg. Und dass sie sich die ganze Zeit am komischsten benommen hat, wirst du doch auch gemerkt haben!"

Sie konnte ein nervöses Schlucken nicht zurückhalten und spürte, wie ihre Hände unwillkürlich zu zittern begannen, als sie ihre nächsten Worte sprach: "Die einzige, die sich in letzter Zeit komisch verhalten hat, bist du, Lilly! Du warst die ganze Zeit irgendwie schlecht gelaunt."

"Ja, weil ich etwas geahnt habe und es euch nicht sagen wollte! Dann hättest du doch gedacht, ich wäre eifersüchtig auf deine neue beste Freundin!"

Ihre geweiteten Augen füllten sich mit Tränen und sie tat einen Schritt zurück, als Tassy enttäuscht den Kopf senkte. Dies war es also, was Lilly die ganze Zeit über beschäftigt und sie auch nun zu solch angreifenden Worten veranlasst hatte.

"Das bist du doch auch, oder?" Kaum hatte sie dies gesagt, bereute sie es bereits. "Ich meine... Sie ist nicht... So war das nicht..."

Sie wollte weitersprechen, doch Lilly fuhr bereits herum und rannte plötzlich davon, ohne sich einmal umzudrehen, bis sie aus Tassys und Kats Blickfeld verschwunden war.

Eine Ewigkeit sagte niemand etwas, Tassy hielt ihren von Wut sowie Trauer erfüllten Blick auf die regelmäßigen Linien zwischen den den Boden unter ihren Füßen bildenden Pflastersteinen gerichtet, und Kat stieß hin und wieder ein langgezogenes Seufzen aus.

"Wieso ist sie so sauer?", fragte sie irgendwann, "ich hab' doch nicht... Ich hab' Cecilia doch wirklich nicht bevorzugt, und..."

"Man hat gemerkt, dass du ihr nicht geglaubt hast."

"Ich hab' doch nicht gesagt, dass sie lügt- vielleicht hat sie sich verhört!" Oder sie verdreht die Wahrheit.

"Sie kriegt sich schon wieder ein, und es bringt auch nichts, jetzt noch darüber zu reden."

"Lass uns gehen", murmelte Tassy dann, "lass uns einfach irgendwo hingehen. Ich kann nicht mehr sitzen."

Ein lauer Wind strich die sich sanft neigenden Baumwipfel und die Sonne warf ihre wärmenden Strahlen auf den steinernen Boden, während ein rhythmisches Klopfen zusammen mit dem Pfeifen des Windes eine leise Harmonie erzeugte.

Tassy saß auf einem alten, aus unerfindlichen Gründen an einer Mauer des Schulhofs lehnenden Kühlschrank und schlug auf der nunmehr von unzähligen Flecken und Rissen überzogenen Oberfläche einen Takt, und Kat blickte, auf einigen übereinandergestapelten Paletten sitzend, auf einen undefinierbaren Punkt in der Ferne, während sie das Sonnenlicht auf ihrem Gesicht zu genießen schien.

Amüsiert beobachtete sie, wie sich Chiara und Lucy, zwei Mädchen aus ihrer Parallelklasse, über den gesamten Schulhof jagten, und Matteo und Lukas, die irgendeine andere Klasse besuchten, schlugen im Takt zu Tassys Kühlschrank- Musik auf einen silbernen Container, der die Ecke, in der sie sich befanden, vom Rest des Schulhofes etwas abschirmte.

Ab und an sah sie aus den Augenwinkeln, wie die sich mit einem anderen Jungen unterhaltende Lilly immer wieder einen Blick in ihre Richtung warf, und sie spürte unzählige Male einen Anflug von Trauer, wenn sie an ihren Streit dachte. Während des gesamten Schultages hatte sie sich mit Lilly zu vertragen und im Unterricht ein Gespräch mit ihr zu beginnen versucht, doch das Mädchen hatte sie stets ignoriert und schien nun bewusst vorzutäuschen, dies alles würde ihr nicht im Geringsten etwas ausmachen.

Lillys feindselige Blicke zu ignorieren versuchend und in die dumpfe Melodie vertieft bemerkte sie nur am Rande, wie etwas an ihrer ausladenden Lederjacke zog.

"Hey. HEY! Kackbratze!"

"Ich hör' nur auf meinen Namen. Und der ist Tassy", erwiderte sie grinsend, als sie in Lucys braune Augen blickte- aus unterschiedlichsten Gründen nannte das dunkelhaarige Mädchen sie beinahe nie bei ihrem tatsächlichen Namen, sondern nutzte entweder im Spaß selbsterdachte Schimpfwörter, um Tassys Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, oder jegliche andere Namen.

"Ist mir egal."

"Gut, dann nenne ich dich ab heute nur noch Arschgesicht."

"Sag' mal, was ist heute mit Lilly los?" Ihre Stimme wurde zu einem gespielt geheimnisvollen Flüstern, als sie fortfuhr: "Sie guckt die ganze Zeit so feindselig hier rüber."

"Ach, sie ist nur... Du kennst sie ja."

"Soll ich ihr eine reinhauen? Dann guckt sie vielleicht nicht mehr so."

Tassy lächelte und strich sich die blonden Strähnen aus dem Gesicht, bevor sie den Kopf schüttelte und antwortete: "Könntest du von mir aus machen, aber dann hätte sie einen noch größeren Hals auf mich."

"Was ist denn passiert?"

"Ach... vieles." Sie zögerte und spürte, wie sie bei den nächsten Worten abermals von Trauer überkommen wurde. "Sie kann 'ne Freundin von mir- na ja, eigentlich von uns allen- wohl nicht besonders leiden. Und jetzt meint Lilly, diese Freundin, Cecilia, hätte verschiedene Dinge gemacht, und... Lange Geschichte."

Lucy nickte bloß, dann drehte sie sich herum und rannte erneut auf Chiara zu, die sich hinter dem Container zu verstecken suchte.

Schließlich ertönte das kaum hörbare Läuten der das Ende der Pause einleitenden Schulglocke, und Tassy gab sich während der folgenden Unterrichtsstunden keinerlei Mühe, ihre Aufmerksamkeit dem Lehrer zu widmen- die neben ihr sitzende, jedoch noch immer kein Wort an sie richtende Lilly aus ihren Gedanken zu verbannen suchend zeichnete sie undefinierbare, verschnörkelte Muster an den Rand ihres Schulheftes und blickte jedes Mal unwillkürlich zu Boden, wenn sie aus den Augenwinkeln sah, dass Lilly den Kopf in ihre Richtung wandte.

Warum können wir uns nicht einfach vertragen?, dachte sie, ich habe mich doch gar nicht mit ihr gestritten. Also, was soll der Kindergarten??

Kat schien den traurigen Ausdruck in ihren blauen Augen zu bemerken und schenkte ihr mit einem kurzen Blick auf Lilly ein verständnisvolles Lächeln, welches Tassy erwiderte, ehe sie sich erneut ihren grotesken Zeichnungen zuwandte. Nach einiger Zeit war sie derartig darin vertieft, dass die Stimme des Lehrers nur noch als ein kaum wahrnehmbares, hintergründiges Murmeln an ihre Ohren drang, und die Gedanken an Lilly verblassten für einige Zeit ein wenig- sehr wenig.

 

Schwarz-Weiß

 

Langsam schritten Tassy und Cecilia die Straße entlang, das monotone Rauschen der zu ihrer Rechten vorüberziehenden Fahrzeuge durchschnitt die Luft, die von dem vertrauten, beißenden Geruch nach Abgasen erfüllt war.

Das Mädchen hatte ihre glänzenden, braunen Augen neugierig auf einen vor ihnen hertrottenden Hund gerichtet, doch seit dem weit zurückzuliegen scheinenden Einbruch der Nibos in den Bonebreaker glaubte Tassy, ein seltsamer, trauriger Schleier hätte sich über ihr Gesicht gelegt, als hätte sie sich selbst etwas vorzuwerfen.

"Hey, Cecilia", fragte Tassy dann, nachdem sie einige Zeit geschwiegen hatten, "ist alles klar?"

Sie wandte den Kopf und blickte sie einige Zeit lange an, dann lächelte sie. "Ich habe irgendwie... Schuldgefühle."

"Wieso?", fragte sie sofort verwirrt.

"Na ja... Meinetwegen sind wir um eine bestimmte Uhrzeit in die Halle gegangen, und wir waren zu spät. Warum konnte ich nicht..."

"Ohne dich hätten wir überhaupt nicht gewusst, dass die Nibos einbrechen würden", unterbrach Tassy, "dann wären wir nicht zu spät gekommen, wir wären gar nicht gekommen. Und wer weiß, was sie angestellt hätten! Ehrlich, Cecilia, wir können alle verdammt froh sein, dass du uns gewarnt hast. Und es war echt total mutig von dir, die Typen auszuspionieren."

"Danke", murmelte das Mädchen, doch in ihren Augen glomm noch immer der leise Funken eines schlechten Gewissens. Als Tassy jenen Funken in ihrem Blick sowie die noch immer in Cecilia ruhende Zurückhaltung sah, wusste sie, dass das Mädchen niemals imstande wäre, in Wahrheit ein Mitglied der Nibos zu sein und den Boulderern so lange ihre Freundschaft vorzuspielen. Sie war gerne mit ihnen allen befreundet, sie liebte jenen Sport sowie die Halle, das wusste Tassy; sie sah es jedesmal, wenn sie sie traf, in ihrem Gesicht.

Zunächst hatte Tassy mit dem Gedanken gespielt, dem Mädchen Lillys Anschuldigungen mitzuteilen, doch sie wusste, dass dies Cecilias Selbstvertrauen und das gerade gewonnene Vertrauen zu der Gruppe vermutlich zerstören würde- jemandem mit einer Vergangenheit wie der ihren konnte man nicht mit derartigen Dingen belasten, damit würde Tassy vermutlich nichts Positives erreichen. Sie sagte auch nicht, dass Lilly eifersüchtig auf sie war, da Cecilila vermutlich jeden negativen Gedanken ihr gegenüber viel zu persönlich nehmen würde.

"Sieh dir dieses Bild an", flüsterte sie nach einiger Zeit und kam vor dem gläsernen Schaufenster eines Schmuckgeschäftes zum Stehen, woraufhin Tassy es ihr gleichtat.

Hinter der durchsichtigen Wand stand ein weißes Regal mit vereinzelten als Ausstellungsstücke dienenden Ketten und Armbändern, und an jenem Regal lehnte ein von einem kunstvollen Rahmen umsäumtes Bild, das Cecilia in seinen Bann zu ziehen schien: Die Schwarzweiß-Fotografie einer dunkelhaarigen Frau, die vor einem ruhigen Meer saß und mit fröhlichem Blick direkt in die Kamera lächelte, während an ihrem zierlichen Hals eine dünne Kette funkelte. Das Interessante jedoch war, dass diese Frau wirklich fröhlich aussah, anders als solche, die so oft auf jeglichen Zeitschriften oder Werbeplakaten zu sehen waren.

"Jedes Mal, wenn ich hier vorbeigehe, muss ich mir dieses Bild ansehen", murmelte Cecilia beinahe abwesend. "Siehst du, wie fröhlich sie aussieht?"

Tassy nickte daraufhin, und das Mädchen fuhr fort: "Ich habe noch nicht oft einen gesehen, der so fröhlich aussieht. Und sie sieht so hübsch aus. Ich wünschte... Ich sähe sicher nicht so fröhlich aus, wenn man mich fotografieren würde."

Wiederum spürte Tassy Mitleid in sich aufsteigen, und sie stieß ein langgezogenes Seufzen aus, ehe sie fragte: "Ich... Ich hatte den Eindruck, du würdest nicht mehr so viel an... an deine Vergangenheit denken, seit du mit uns..."

"Natürlich", unterbrach Cecilia, "ihr seid toll, ihr alle, und ich bin so froh, mit euch befreundet zu sein, und das Bouldern ist auch klasse. Es ist nur... Diese ganze Sache mit den Nibos, die ist so... Ich hab' das Gefühl, dass das schlimmer geworden ist, seitdem ihr mich kennt!"

"Das ist doch Quatsch!", widersprach Tassy lächelnd, obwohl sie insgeheim feststellte, dass Cecilia nicht völlig im Unrecht war- was jedoch Zufall sein musste. "Wir ertragen diese Ärsche schon ewig, und wirklich, das ist nicht immer einfach. Aber jetzt wird das vorbei sein. Tine wird die Polizei verständigen, und ich hoffe, dass sie sich zumindest der Halle dann nicht mehr nähern dürfen. Du hast wirklich keinen Grund, dir wegen irgendetwas Vorwürfe zu machen. Dieser ganze Ärger hat mit dir nicht das Geringste zu tun."

Cecilia blickte auf, und ihre braunen Augen füllten sich plötzlich mit kristallklaren Tränen, ehe sie kaum hörbar murmelte: "Danke, dass du das denkst."

"Wir alle denken das."

"Nein." Sie schüttelte den Kopf und fuhr dann fort: "Ich glaube, Lilly mag mich nicht besonders."

"Ach, Lilly ist einfach ein alter Motzkopf! Das darfst du nicht persönlich nehmen, sie ist zu uns allen so." Kaum hatte sie den Namen des Mädchens erwähnt, musste sie unwillkürlich an ihren Streit denken und versuchte, dies vor Cecilia zu verbergen, die jedoch ohnehin noch immer zu sehr in das Bild vertieft war, um Tassys Gesichtsausdruck zu erkennen.

"Wo sollen wir hingehen? Ich bin offen für alles", fragte Tassy nach einiger Zeit, woraufhin Cecilia schließlich zu ihr aufsah und ein kaum wahrnehmbares Lächeln zustande brachte, ehe sie sagte: "Bonebreaker."

"Oh Mann, du bist kletter-süchtig!", lachte sie und spürte Erleichterung in sich aufsteigen, als sie sah, wie sehr Cecilia mit einem Mal bei dem Gedanken, die Boulderhalle zu besuchen, von Vorfreude erfüllt wurde. Sie warf noch einen kurzen Blick auf das Bild, dann setzten sie ihren Weg fort. Langsam schlenderten sie durch die Stadt, während Cecilia zunächst hin und wieder ein leises Schluchzen von sich gab, das jedoch mit jedem Mal ein wenig schlechter zu vernehmen war. Tassy bemerkte am Rande, wie einige Leute- vermutlich bei dem Anblick der noch immer feuchten und geröteten Augen des Mädchens- ihnen mit neugierigen Augen entgegenblickten, und einmal beugte sich ein Mann mit auf diese gerichtetem Blick zu einem anderen herüber, um etwas Unverständliches zu flüstern. Auch Cecilia schien dies aus den Augenwinkeln wahrzunehmen, als sie sich plötzlich zu Tassy umdrehte und wisperte: "Sag mal, habe ich zwei Köpfe, oder warum gucken die so dumm?"

Tassy zögerte und konnte dann ein Grinsen nicht unterdrücken. "Ich schätze, weil dein Gesicht aussieht, als kämst du von 'ner Beerdigung. Kümmer dich nicht drum und geh einfach weiter- oder glotze dumm zurück." Sie seufzte leise, würdigte die Leute jedoch keines weiteren Blickes und schritt dann mit zu Boden gerichtetem Blick weiter, wärend Tassy einen Blick in das Innere der verschiedenen Geschäfte, an welchen sie vorüberschritten, zu erhaschen versuchte.

Es schien nicht allzu lange zu dauern, bis sie das völlig vereinsamt wirkende Firmengelände erreicht hatten, und die Laune des Mädchens schien sich mit jedem Schritt, der sie näher an die Boulderhalle brachte, aufzuhellen. Als die Umrisse des Gebäudes jedoch inmmitten der unzähligen Dächer sichtbar wurden und sich das stechende Grün des Schildes von dem kargen Rot der Backsteinwände abhob, musste Tassy unwillkürlich an den Einbruch sowie den Streit mit Lilly denken, der ihr noch immer so unwirklich erschien wie ein Traum- nie zuvor hatte sie mit einem ihrer Freunde einen Streit gehabt, der sich über einen Zeitraum von mehr als wenigen Minuten zog und sich auf ein viel ernsteres Thema bezog als die Frage, wer wessen Brotdose versteckt hatte.

"Ich freue mich jedes Mal aufs Bouldern", murmelte Cecilia und riss Tassy somit aus ihren Gedanken, während sie ihr Tempo beschleunigte und schließlich die Tür öffnete.

Sofort vernahm Tassy die verschiedenen Stimmen unzähliger sich gegenseitig zurufender Boulderer, dann fiel ihr auf, dass sich recht viele Leute in der Halle eingefunden hatten, was ein seltsames Gefühl der Überraschung in ihr auslöste- aus irgendeinem Grund hatte sie vermutet, dass so kurz nach einem Einbruch nicht allzu viele Boulderer die Halle zu besuchen beschließen würden.

Kaum hatte sie die Halle betreten, sah sie Tines Gestalt hinter der Kasse und wurde sofort von einem seltsamen Gefühl, beinahe das eines schlechten Gewissens, überkommen- zweifellos würde die Besitzerin des Bonebreakers bei dem Anblick der beiden Mädchen sofort an den Einbruch denken, obgleich sie natürlich wusste, dass sie diesen nicht zu verschulden hatten.

Mit einer seltsamen, unwillkürlichen Vorsicht trat sie an die Kasse heran, gefolgt von Cecilia, und murmelte dann leise: "Hi, Tine."

"Ach, hallo, ihr zwei. Wie geht's?"

"Gut, danke. Wie... wie geht's dem Fenster?"

Die Frau lächelte und blickte kurz zu Boden, ehe sie antwortete: "Ich habe es reparieren lassen."

"Wie, so schnell?"

"Direkt einen Tag nach dem Einbruch. Und es gibt noch weitere Neuigkeiten: Ich habe den Einbruch bei der Polizei gemeldet und versucht, die Jungen möglichst gut zu beschreiben- offensichtlich sind die da schon bekannt, denn sie wussten ziemlich schnell, um wen es sich handelt. Jedenfalls dürfen die Jungen nicht mehr in dieses Gelände hier, und sie werden noch anderweitig bestraft werden."

"Das ist cool!", rief Tassy sofort aus und spürte tiefe Erleichterung in sich aufsteigen, als ihr klar wurde, dass all die Jahre des Ärgers sowie der Probleme mit den Nibos nun vorüber waren- was jedoch irgendwo, tief im Inneren ihrer Gedanken, einen kaum wahrnehmbaren Funken der Trauer auslöste. Was in den letzten Wochen zwischen ihnen und den Nibos geschehen war, hatte selbstverständlich ein Ende finden müssen, doch die Zeiten davor- das Ausspionieren, das Aufstellen von eher harmlosen Fallen sowie das gegenseitige Übermalen von Graffitis war hin und wieder sogar amüsant gewesen.

"Das ist irgendwie seltsam...", murmelte sie dann und fuhr fort, als Tine sie verwirrt anblickte. "Nie wieder Ärger mit den Nibos. Das ist so, wie wenn am Ende von Star Wars Darth Vader stirbt."

"Was willst du von mir, Tassy?"

"Ich meine, sie waren immerhin immer da, als unsere Gegner, und jetzt ist das alles vorbei. Was natürlich gut ist, wenn man bedenkt, was sie am Ende alles angestellt haben."

"Natürlich ist es gut. Was sie mit Isa gemacht haben, ging überhaupt nicht- das habe ich selbstverständlich hinzugefügt, und es wird sicherlich auch Konsequenzen haben. Das hätten wir eigentlich auch schon viel früher sagen müssen, nur wussten wir ja nichts über sie- beziehungsweise, ich wusste nicht, dass eine Beschreibung der Polizei schon ausgereicht hätte, um sie zu erkennen." Sie hielt kurz inne. "Ich wollte euch auch noch etwas fragen."

"Was denn?"

"Wir fahren morgen mit dem Zug in eine andere Kletterhalle, etwas weiter weg von hier, weil dort eine Feier stattfindet. Ich kenne den Besitzer, und er hat uns erlaubt, mit ein paar Leuten dort übernachten zu dürfen. Jetzt wollte ich mich erkundigen, ob ihr mitfahren möchtet."

Tassy und Cecilia wechselten einen kurzen Blick und nickten dann gleichzeitig, ehe Tine fortfuhr: "Ihr könnt auch noch Kat, Lilly und Nick fragen- Isa darf ja noch nicht klettern- ob sie auch mitkommen wollen."

"Klar, warum nicht?", antwortete Tassy und schenkte Cecilia ein kurzes Lächeln, woraufhin diese abermals nickte.

Nachdem Tine ihnen klargemacht hatte, bestenfalls schon am Abend erfahren zu müssen, ob Kat, Lilly und Nick sie begleiten würden oder nicht, rief Tassy ihre Kat und Nick von dem Telephon der Boulderhalle aus an, woraufhin diese sofort zusagten- sie bat ihre Freundin, ob diese Lilly anrufen könnte, da sie vermutete, das dickköpfige Mädchen wolle nicht mit ihr sprechen.

Cecilia und Tassy verbrachten einige Stunden in der Halle, und Tassy fiel auf, dass sich Cecilias Fähigkeiten abermals verbessert zu haben schien- einige orangefarbene Routen, die ihr zuvor Schwierigkeiten bereitet hatten, brachte sie nun scheinbar problemlos hinter sich und eilte stets sofort zu einer anderen Wand, ohne bloß einen Augenblick ausruhen zu wollen.

Nun saßen sie gemeinsam mit einigen anderen Boulderern in einem Halbkreis vor der Platte und betrachteten die riesigen, hellgrün funkelnden Griffe, die auf der Wand zu haften schienen wie mit Kraft dagegengeschleuderte, bunte Kaugummis. Tassy hatte die Route nach nur wenigen Versuchen hinter sich gebracht- während die übrigen versucht hatten, mit einer langsamen, einiges an Gleichgewicht erfordernden Bewegung den nächsten Griff zu erreichen, war sie letztendlich schnell an den rundlichen Tritten hinaufgerannt und anschließend zu dem Griff gesprungen, wobei ihre Beine durch die Luft gezischt waren und ihr beinahe das Gleichgewicht geraubt hätten.

"Verdammt!", ertönte ein lautes Rufen, und als sich Tassy herumdrehte, sah sie, wie sich ein Junge in einer seltsamen, nicht allzu bequem wirkenden Position gegen die Wand presste und die Arme so weit ausstreckte, wie er konnte, den Griff jedoch nicht zu erreichen vermochte.

"Du musst springen, das klappt viel besser!", rief sie, doch der Junge schien das Gleichgewicht zu verlieren und kippte aus der Wand hinaus, bevor er mit einem verärgerten Zischen auf dem Boden aufkam.

"Versuch's doch auch mal, Cecilia". Das Mädchen grinste verlegen und blickte zunächst unsicher zu Boden, erhob sich dann jedoch mit beinahe herausforderndem Gesichtsausdruck und trat auf die Wand zu.

"Du meinst, ich soll springen?", murmelte sie mit fest auf jenen Griff gerichtetem Blick, woraufhin Tassy nickte. "An den Tritten hochlaufen und von dort aus an den nächsten Griff springen."

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die übrigen Boulderer scheinbar jede Bewegung des Mädchens gespannt musterten, während Cecilia ihre zierlichen Hände vorsichtig um den Startgriff schloss und einen Fuß auf dem darunterliegenden Tritt platzierte. Ihre dunkelbraunen, den Griff bereits zu halten scheinenden Augen füllten sich mit einem Meer der Entschlossenheit, als ihr noch den Boden berührender Fuß plötzlich nach vorne schnellte und das Mädchen hinter sich herzureißen schien. Sie flog so schnell durch die Luft, dass Tassy ihren einzelnen Bewegungen kaum folgen konnte, doch nach nur einem Herzschlag hatte sie den nächsten Griff fest gepackt und stieß ein erleichtertes Seufzen aus.

"Heilige Scheiße", murmelte Tassy und schüttelte vor Überraschung unwillkürlich den Kopf, als ihr klar wurde, dass Cecilia es geschafft hatte- die übrigen Griffe waren sehr groß und henkelformig, sodass sich das Mädchen mühelos daran hinaufzog und in nur wenigen Augenblicken, so schien es, den Topgriff erreichte-; sie hatte es geschafft, die Route in weitaus weniger Versuchen zu beenden als Tassy, die Cecilia beinahe ungläubig entgegenblickte.

"Das hast du jetzt nicht ernsthaft geflasht, oder?", fragte sie lachend und hob die Hand, woraufhin Cecilia mit einem erleichterten sowie von Stolz durchzogenen Lächeln einschlug. "Oh Mann, Cecilia, das war voll cool! Du hast das einfach mal im ersten Versuch geschafft, während ich mich zuerst zehnmal vergeblich hochgeeiert habe."

"Das war einfach Glück", murmelte das Mädchen, doch Tassy schüttelte den Kopf und entgegnete: "Du hast das einfach drauf."

"Hey, das war stark!", rief ein Mädchen mit ausladender Hose und bis zu ihrem Hinterteil reichenden Dreadlocks, das die Route zuvor auf langsame Weise geschafft hatte, an Cecilia gewandt, woraufhin diese dankbar lächelte.

Sie gewinnt immer mehr Selbstvertrauen, dachte Tassy, wenn sie so oft gelobt wird. Und das hat sie verdient. Sie hat so viel Talent...

Mit einem Mal, als ihr Blick unwillkürlich zu der obersten Kante der Wand hinaufwanderte, erinnerte sie sich an den Tag des Einbruchs, als sich Cecilia plötzlich dort oben niedergelassen hatte, obgleich kein einziger guter Griff vorhanden gewesen war und Tassy selbst vermutlich nur sehr schwer und in viel zu langer Zeit hinaufgelangt wäre.

"Sag mal, Cecilia", fragte sie dann, woraufhin das Mädchen sie mit ihren leuchtenden, braunen Augen anblickte. "Wie bist du zuletzt eigentlich so schnell da hochgekommen?"

"Was meinst du?"

"Als die Nibos eingebrochen sind. Du hast plötzlich da oben gesessen, und ich hab' mich total gewundert, wie du das geschafft hast, wo deine Hand doch noch verletzt war."

Ihre Augen weiteten sich kaum merklich, sie blickte zu Boden und hielt einen Moment lang inne, ehe sie zögernd antwortete: "Ich... Ich hatte einfach richtig viel Angst, und... Da schafft man ja manchmal Sachen, die... Ich weiß gar nicht mehr genau, wie ich das..."

"Oh Mann, Cecilia", lachte Tassy dann, "du kannst einfach gut bouldern, da musst du keine Ausrede für suchen."

Das Mädchen lächelte daraufhin, doch es war unverkennbar, dass Tassys Frage sie aus irgendeinem Grund in Verlegenheit gebracht hatte; dann drehte sie sich herum und wandt sich erneut der Wand zu, als wolle sie sich vor Tassys Blick schützen.

Sie erklommen noch einige der einfachen Routen, bis sie schließlich zum Ende kamen und Tassy ihre Schuhe sowie das Chalkbag im Schrank einschloss. Nur noch wenige Boulderer arbeiteten sich an den Wänden hinauf, die lauten, die Boulderhalle zuvor erfüllt habenden Rufe waren deutlich abgeklungen und der Mond stand bereits hoch am Himmel, um sein silbriges Licht in die in allen Farben funkelnde Halle zu werfen. Aus den Augenwinkeln sah Tassy, wie Cecilia mit vorsichtigen Schritten zu der Kasse hinüberschlenderte und die ausgeliehenen Kletterschuhe vor Tine abstellte, während sie unter deren freundlichem Lächeln unwillkürlich schüchtern zu Boden blickte. Jedesmal, wenn sie jenen Ausdruck von Zurückhaltung in den Augen des Mädchens sah, musste sie an Lillys von Eifersucht erfüllte Anschuldigungen denken und konnte ein Lachen nur schwer unterdrücken. Jemand mit einer derartigen Angst vor dem Kontakt mit den meisten Menschen sowie Zurückhaltung wie der Cecilias würde sich nicht einmal in einem Traum mit solchen rücksichtslosen, ständig in jeglichen Ärger verwickelten Unruhestiftern wie den Nibos abgeben, und vor allem niemals dazu in der Lage sein, Tassy so lange ihre Freundschaft vorzuspielen.

Lilly hat doch einen Knall, dachte sie bloß und schüttelte den Kopf, um jene Gedanken in den Hintergrund zu drängen, als plötzlich Tines Ruf ertönte: "Hey, Tassy, komm mal!"

Schnell eilte sie zur Kasse hinüber und legte fragend den Kopf schief, woraufhin die Frau fortfuhr: "Wir fahren morgen früh um acht am Bahnhof in der Nähe deiner Schule los. Ich gehe vorher nochmal hier hin und hole eure Klettersachen. Wenn einer von euch doch nicht mitfahren kann, sagt jemandem bescheid oder kommt schnell dorthin, in Ordnung?"

Beide Mädchen nickten bestätigend, dann machten sie schließlich kehrt und verließen den Bonebreaker gemeinsam.

Unwillkürlich beschleunigte Tassy ihr Tempo, als sie in die tiefe, nur vom matten Schein des silbernen Mondes erhellte Nacht hinaustrat, als vermutete sie, die angriffslustige Rufe ausstoßenden Jungen könnten mit einem Mal hinter einer Mauer hervorspringen und sich wie hungrige Raubtiere auf sie stürzen. Aber sie werden hier nicht mehr hinkommen, dachte sie dann mit einem Anflug der Erleichterung sowie der Schadenfreude, sie dürfen hier nicht mehr hinkommen.

Der nicht zu übersehende nervöse Ausdruck in Cecilias Gesicht sowie ihr verunsichert von einer Seite zur anderen huschender Blick verriet, dass sie genauso empfand wie die neben ihr herschlendernde Tassy, doch sie schien ihre Angst unterdrücken zu wollen und sah schließlich zu Boden.

"Ganz schon dunkel, was?", fragte Tassy dann grinsend und vergrub unwillkürlich ihre Hände in den Taschen der glänzenden Lederjacke, woraufhin das Mädchen nickte.

"Das ist es immer in dieser Gegend. Vielleicht hat es den Nibos deswegen so gut gefallen."

Nun war es Tassy, die bestätigend nickte, ehe sie ihren Weg fortsetzten und die mystische, nächtens von einem beinahe unheimlichen Schleier verhüllte Gegend des alten Firmengeländes schließlich hinter sich ließen. Lange Zeit schlenderten sie an einer von nur wenigen, ein blasses Licht auf den Grund werfenden Laternen gesäumten Straße entlang, die nur hin und wieder von einem Auto befahren wurde, dann bogen sie schließlich in eine schmale Gasse ein, die in eine etwas belebtere Gegend führte.

"Also, allein wollte ich hier nicht langgehen", murmelte Cecilia, während sie von einer Straßenseite zur anderen blickte. Dort zogen sich verschiedene Läden- hauptsächlich Restaurants und Kneipen- mit zumeist grellen, in allen Farben leuchtenden Eingangsschildern entlang, und hin und wieder begegneten sie vereinzelten Fußgängern.

"Eher hier als an der alten Straße, wo nur alle zehn Minuten mal ein Auto vorbeifährt", entgegnete Tassy und zog Cecilia plötzlich zur Seite, als ein mit jedem Augenblick das Gleichgewicht zu verlieren drohender Junge mit verwirrtem Blick an ihnen vorüberstolperte. "Okay, vielleicht auch nicht. Hier sind nur Besoffene", korrigierte sie und warf einen kurzen Blick hinter sich, musste jedoch bei dem Anblick des kaum einen Fuß vor den anderen zu setzen vermögenden Jungen lächeln.

"Du musst gleich rechts abbiegen, stimmt's?", erkundigte sie sich nach einiger Zeit des Schweigens bei dem Mädchen, welches daraufhin nickte, kurz zögerte und schließlich fragte: "Sag mal, wo ist dieser Bahnhof eigentlich?"

Tassy stieß ein langgezogenes Stöhnen aus und hielt einige Zeit inne, ehe sie antwortete: "In der Nähe der Schule. Da ist diese etwas breitere Straße, wo dieses hässliche grüne Haus ist. Du musst dort ziemlich lange geradeaus gehen und dann..." Sie verstummte, als sie Cecilias verwirrtem, fragenden Blick begegnete. "Du hast keinen Plan, welche Straße ich meine, oder?"

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

"Du kannst ja auch einfach bei mir pennen, und wir gehen morgen zusammen hin. Dann verirrt sich wenigstens keiner."

"Gute Idee!", rief Cecilia dann aus und sah mit einem Mal viel fröhlicher aus.

 

"Was machst du denn hier, Kim?"

 

Grelles, orangefarbenes Licht wie das einer Kerzenflamme kroch durch das Fenster und warf ein Spiel unzähliger heller Flächen sowie langer Schatten auf den Boden, als Tassy blinzelnd die Augen öffnete. Sie spürte die Wärme der aufgehenden Sonne auf ihrem Gesicht und vernahm das kaum wahrnehmbare Zwitschern der den hereinbrechenden Tag ankündigen Vögel, und als sie sich aufrichten wollte, bemerkte sie plötzlich die Härte des Bodens unmittelbar unter der dünnen Matratze, auf welcher sie lag.

Einen kaum wahrnehmmbaren Augenblick stieg Verwirrung in ihr auf und sie blickte sich hastig in ihrem im Sonnenlicht orange leuchtenden Zimmer um, bis sie eine zunächst nur schwer erkennbare Gestalt unter einer Decke auf ihrem Bett liegen sah und sich erneut an die Fahrt in die entfernte Kletterhalle erinnerte.

Sie warf einen flüchtigen Blick auf eine in ihrem Regal stehende Uhr, ehe sie rief: "Cecilia? Bist du wach?" Langsam erhob sie sich von der dünnen Matratze, die sie unmittelbar vor dem Regal platziert hatte, und schlenderte dann zu dem sich kaum zu regen scheinenden Mädchen hinüber.

"Hey, Cecilia. Steh' auf, es ist schon Sieben."

Ein kaum wahrnehmbares Stöhnen ertönte, dann riss Cecilia plötzlich die Augen auf und erhob sich schlagartig. "Tassy!", krächzte sie, "was tust du hier?"

Sie sah deutlich die Verwirrung in dem Blick des Mädchens und grinste amüsiert, ehe sie antwortete: "Ich wohne hier. Wieso fragst du?"

"Ich... Oh Mann, ich habe ganz vergessen, dass ich hier übernachtet habe! Wie spät ist es?"

"Sieben. Wir müssen aufstehen."

Schnell eilten sie die Treppe hinunter, schlangen jeweils ein Toast hinunter und zogen sich ihre Sportkleidung an, ehe sie sich von Bonnie und Rosita, die von dem Lärm der Mädchen geweckt worden war, verabschiedeten.

"Nehmt ihr nichts mit?!", fragte die Frau aufgeregt, woraufhin Tassy, die bereits in der Türschwelle stand, den Kopf schüttelte. "Wir bleiben nur bis morgen, da brauchen wir außer Geld und Klettersachen nix. Essen gibt's dort."

"Dann viel Spaß, und stürzt bloß nicht ab!"

"Danke. Bis morgen!", rief sie, warf ihrer Mutter und ihrem Hund einen letzten Blick zu und schloss dann vorsichtig die Tür, ehe sie von dem gleißenden Licht der aufgehenden Morgensonne empfangen wurde.

Schnellen Schrittes eilten sie an der schmalen Straße entlang und blickten sich hin und wieder nach Kat um, die vermutlich ebenfalls jenen Weg benutzen würde, konnten sie jedoch nirgends ausmachen. Tassy spürte, wie sie von sie gänzlich erfüllender Vorfreude ergriffen wurde und konnte die in ihrem Kopf deutlich werdenden Bilder, wie die fremde Boulderhalle aussehen mochte, nicht verdrängen. Jedes Mal, wenn sie eine bisher unbekannte Halle zum ersten Mal betrat, zitterte sie beinahe vor Aufregung und stürmte mit einem derartigen Enthusiasmus auf jede Route zu, dass sie hin und wieder selbst darüber lachen musste.

Ob es Cecilia genauso geht?, fragte sie sich, vermutete jedoch aufgrund der Freude, mit der das Mädchen immer wieder den Bonebreaker betrat, dass dies auch auf sie zutraf.

"Ich freue mich richtig auf die Halle!", rief diese nach einiger Zeit aus und bestätigte Tassys Vermutungen somit, während sie durch die beinahe völlig menschenleeren, vereinsamt scheinenden Straßen schritten. Jenes in einem matten olivgrün zwischen den bräunlichen Gebäuden hervorstechende erstreckte sich zu ihrer Rechten, und in der Ferne glaubte Tassy, die Laute herannahender Züge zu vernehmen. Nach einiger Zeit bogen sie in eine enge Gasse ein, und mit jedem Schritt, den sie taten, schien Tassys Aufregung zu wachsen- Cecilias kaum merklich geweitete Augen verrieten, dass sie ähnlich zu empfinden schien- bis sie die Umrisse von sich lang erstreckenden, auf den Gleisen zu ruhen scheinenden Zügen ausmachen konnten.

"So, da sind wir" kündigte Tassy an und blickte sich unwillkürlich nach den vertrauten Gestalten von Kat, Nick und Lilly um, konnte sie jedoch aus jener Entfernung nirgends entdecken. Als sie schließlich die Umrisse von Tines unverkennbaren Dreadlocks inmitten der vielen Menschen, die sich entlang der Züge versammelt hatten, erkennen konnte, sah sie nach einiger Zeit auch unzählige ihr aus dem Bonebreaker vertraute Gesichter, darunter Nick.

"Da sind sie." Sie beschleunigte ihr Tempo und eilte, gefolgt von Cecilia, auf die Gruppe von Boulderern zu, von welchen sich einige in ihre Richtung wandten.

"Guten Morgen, ihr zwei!", rief Tine föhlich.

"Morgen!", erwiederte Tassy, während Nick ihnen mit langsamen Schritten sowie verschlafenem Gesichtsausdruck entgegenschlenderte und dann grüßend die Hand hob. "Tag", murmelte er mit krächzender Stimme, "und, ausgeschlafen?"

"Schon, im Gegensatz zu dir", antwortete Tassy grinsend und fuhr dann nach kurzem Zögern fort: "Sind Kat und Lilly schon da?" Sie vermutete, dass Nick nicht von ihrem Streit wusste, ahnte jedoch, dass das Mädchen sie nicht in die fremde Boulderhalle begleiten würde, wenn Tassy und Cecilia mitführen.

"Kat steht da hinten und quatscht mit Leuten." Er wies mit ausgestrecktem Finger auf eine Gruppe junger Leute, unter welchen sich auch der Junge, mit dem sich Tassy hin und wieder unterhielt, befand, und nach einiger Zeit konnte sie auch die vertraute Gestalt Kats ausmachen.

"Komm, wir gehen mal zu ihr", schlug Tassy vor und eilte dann zu dem Mädchen hinüber, das bei dem Klang ihrer Stimme den Kopf wandte und sie ebenfalls mit etwas verschlafen wirkendem, dennoch fröhlichen Blick ansah. Sofort stellten sich die drei Freunde neben Kat und begrüßten die anderen Boulderer freudig, woraufhin ein dunkelhaariges, hochgewachsenes Mädchen grinsend sagte: "Dass so viele Leute mitfahren. Ich dachte, wir würden nur mit so sieben, acht Mann fahren, und jetzt hat Tine wohl die ganze Halle gefragt."

"Sie hat jeden gefragt, den sie vom Sehen kennt", entgegnete der Junge, "jeden, der öfter die Halle besucht."

"Ach du Scheiße", lachte ein anderer Junge, "dann hat Micky aber auch die Halle voll."

"Wer ist Micky?", erkundigte sich Nick.

"Der Besitzer vom Affenstall."

"Welcher Affenstall?"

"So heißt die Halle. Affenstall. Ist verdammt groß, bestimmt doppelt so groß wie der Bonebreaker, aber wenn der seine Feier bei zehn Hallen angekündigt hat und die alle mit hundert Affen kommen, wird der Affenstall auch brechend voll sein."

Daraufhin brach Gelächter aus, und Tassy spürte, wie sie immer mehr von Vorfreude auf die Halle erfüllt wurde. Doppelt so groß wie der Bonebreaker, dachte sie und versuchte, sich eine derartig große Halle vorzustellen, bis sie plötzlich eine Berührung an der Schulter spürte und in Kats tiefblaue Augen sah, als sie aufblickte.

"Lilly kommt nicht mit", murmelte sie leise sowie mit bedauernder Stimme, während die anderen Boulderer in ihre Gespräche vertieft waren und Kats Worte nicht zu bemerken schienen. "Sie hat gefragt, ob Cecilia mitkommt, und als ich natürlich mit "ja" geantwortet habe, wollte sie nicht mit."

"Na toll", murmelte Tassy, "sie ist doch sonst nicht nachtragend. Das war immer eine ihrer positiven Seiten. Ich hatte gehofft, dass ich mich auf der Fahrt wieder mit ihr vertragen könnte. Anscheinend hat sie keinen Bock darauf, den Streit zu klären."

"Du musst ihr Zeit geben. Irgendwann wird sie schon nicht mehr sauer sein. Wir haben schwierige Zeiten hinter uns mit den Nibos, das ist einfach so. Alles hat ein Ende, das sagst du doch selbst immer."

"Das ist wahr", flüsterte Tassy und blickte sich unwillkürlich nach Cecilia um, ahnend, dass auch das Mädchen bei Kats Worten an ihr ewig zurückzuliegen scheinendes Gespräch neben dem mit einem Graffiti versehenen Haus dachte.

Schließlich versuchte sie, ihre Aufmerksamkeit erneut den Gesprächen der Boulderer zu widmen und jegliche Gedanken an Lilly zu verdrängen, bis einer von jenen plötzlich ausrief: "Ich glaub', unser Zug kommt."

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, vernahm Tassy das immer lauter werdende Geräusch eines herannahenden Zuges, ein messerscharfes Zischen, welches die Luft zu zerschneiden schien.

Die unzähligen den Zug erwartenden Menschen, deren Zahl größtenteils die Boulderer ausmachten, schlossen sich zu einer gewaltigen Gruppe zusammen und bewegten sich wie ein Schwarm langsam schwimmender Fische auf die Stelle zu, wo der Zug anzuhalten im Begriff war.

"So, gleich machen wir uns auf den Weg zum Affenstall!"

Der wie eine silberne Pfeilspitze glänzende Zug kam mit einem letzten Schnaufen zum Stehen, und nach einiger Zeit hörte Tassy, die inmitten unzähliger sie überragender Gestalten stehend nur wenig zu erkennen vermochte, wie sich die Türen langsam öffneten und die ersten Menschen sich in das Innere des Zuges zwengten.

Je näher Kat, Nick, Cecilia und Tassy an die Tür herankamen, desto weniger Platz schienen sie inmitten der Menge zu haben, doch schließlich gelang es Tassy, sich zwischen zwei offensichtlich nicht zu den Boulderern gehörenden, älteren Frauen hindurchzuquetschen und in den Zug hineinzuspringen.

"Freiheit!", rief sie erleichtert, als sich ihre drei Freunde ebenfalls hineinbegaben und mit angestrengtem Stöhnen neben ihr zum Stehen kamen. "Das war vielleicht eng!", keuchte Nick, "die drängeln ja alle wie Kindergartenkinder."

"Nur sind Kindergartenkinder kleiner, da ist es nicht so schlimm", entgegnete Tassy und sah, wie Cecilia grinste, dann fuhr sie fort: "Am besten, wir setzen uns irgendwo hin, ehe alle Plätze weg sind."

Nachdem sie sich ihre Fahrkarten gezogen hatten, schritten sie lange Zeit durch den sich endlos zu erstrecken scheinenden Zug, bis sie ein ziemlich nah am hinteren Ende befindliches Abteil mit fünf noch nicht belegten Sitzen vorfanden und sich dort niederließen. Die anderen Personen, die dort saßen, hatte Tassy zwar schon hin und wieder im Bonebreaker gesehen, kannte sie jedoch nicht näher; Ein Junge mit langem, braunen Haar, der vermutlich ein wenig älter war als sie selbst, ein älterer Mann mit einer Glatze und ein Mädchen mit einem von unzähligen silbern glänzenden Piercings übersäten Gesicht.

"Wir hätten Essen für die Fahrt mitnehmen sollen", stellte Tassy irgendwann fest und blickte erwartungsvoll von einem zum anderen, doch Nick und Cecilia schüttelten ebenfalls bedauernd den Kopf. "Ich hab' natürlich nichts dabei", sagte das Mädchen lächelnd, dann begann Kat plötzlich, in ihrer blau-weiß gestreiften Tasche herumzukramen. "Ich hab' was dabei, aber es ist meins", murmelte sie mit beinahe höhnischem Lächeln, zog eine grüne, einem kompletten Brotlaib Platz bieten zu können scheinende Dose heraus und schüttelte sie kurz, woraufhin ein vertrautes Geräusch ertönte. "Kekse!", rief Nick aus, "sie hat Kekse dabei! Kat, gib mir einen!"

"Nö", spottete sie, nahm einen schokoladenbraun gebackenen Keks heraus und biss genüsslich hinein, während Nick die einzelnen zu Boden rieselnden Krümel genau zu mustern schien. "Komm schon, Kat! Gib mir bitte 'nen Keks", flehte er und weitete die Augen wie ein um eine Belohnung bettelnder Hund, doch das Mädchen schüttelte abermals höhnisch grinsend den Kopf.

Plötzlich sprang Tassy auf, rannte an Kat vorbei und entriss ihr die Dose blitzschnell, als jener ein erschrecktes sowie empörtes Zischen entfuhr. "Hey! Gib mir die Dose wieder!", kreischte sie und rannte hinter Tassy her, die die recht schwere Dose fest gepackt hielt und durch das gesamte Abteil rannte. Irgendwann kam sie prompt zum Stehen und wäre beinahe ins Stolpern geraten, als sich eine gläserne, sie vom nächsen Abteil trennende Tür plötzlich vor ihr auftat, und blickte gespielt nervös von einer Seite zur anderen.

"Hey, Nick, fang!", rief sie, warf die Dose unmittelbar über Kats Kopf hinweg in die Richtung des Jungen, der sich schnell von seinem Sitz erhob und sie geschickt auffing. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die fremden Boulderer sie mit amüsiertem Grinsen beobachteten, während sie den Blick auf die sie anfunkelnde Kat gerichtet hielt.

"Willst du etwa Ärger?", knurrte sie im Spaß, bevor Tassy sich schnell an ihr vorüberwand und die Dose abermals auffing, die der Junge ihr zuwarf. Kaum hatten ihre Hände das kalte Plastik des Behältnisses berührt, öffnete sie es und schlang hastig einen Keks hinunter, bloß, um Kat damit in Aufruhr zu versetzen.

Noch eine Ewigkeit jagten sie sich gegenseitig durch den Zug, warfen sich die Dose zu und verschlangen hin und wieder einen Teil deren Inhalts, bis Kat Tassy schließlich heftig gegen eine Wand presste und ihr die Dose mit einem letzten Zischen entriss.

"So, das reicht jetzt!", sagte sie, "ich will meine Kekse futtern. Waffenstillstand."

"Kriegen wir jetzt was ab?"

"Jetzt erstrecht nicht", entgegnete das Mädchen grinsend, hielt ihnen jedoch die geöffnete Dose hin und ließ es zu, dass sich ihre drei Freunde einige Kekse entnahmen.

"Vor dem Bouldern Kekse futtern, das geht gar nicht!", sagte der glatzköpfige Mann mit einem ironischen Grinsen, woraufhin Kat fragte: "Wollt ihr auch welche?"

"Ich gehe mal kurz auf Toilette", kündigte Cecilia plötzlich an, sodass Tassy die Antwort der anderen Boulderer nicht verstand.

"Bis gleich", rief sie dem Mädchen nach, als dieses das Abteil verließ und mit langsamen Schritten durch den Gang schlenderte, wobei Tassy einige Cecilia freundlich grüßende Boulderer auffielen. "Sie gehört schon richtig zur Gruppe, nicht?", fragte sie dann an ihre beiden Freunde gewandt, die sich gleichzeitig zu ihr herumdrehten.

"Was meinst du?", erkundigte sich Nick, und Tassy blickte kurz zu Boden, unsicher, wie sie diese Behauptung erklären sollte, dann hob sie schließlich zum Sprechen an: "Sie ist im Bonebreaker schon total bekannt. Jedesmal, wenn sie dorthin geht, wird sie von einigen Leuten gegrüßt- und sie war ja erst sechs, sieben Mal da."

"Ja, ich glaube, die Kleine hat Talent. Hab' gesehen, wie sie die bestimmt drei Meter hohe Platte mit 'nem Wallrun einfach hochgelaufen ist, als die Nibos in die Halle eingebrochen sind."

"Echt?", fragte Tassy überrascht, erinnerte sich dann jedoch, dass das Mädchen auch damals, als sie in der alten Lagerhalle eingesperrt waren, irgendwie an die Kante des Fensters zu springen imstande gewesen war- vielleicht verlieh ihr die Angst in solchen Momenten, wenn sie sich selbst einer Gefahr gegenübersah, derartig viel Kraft, dass sie mit ihren Fähigkeiten über sich selbst hinauswuchs.

"Hat sie nicht gesagt, sie kann kein Parkour?", erkundigte sich Kat und riss Tassy aus ihren Gedanken, woraufhin sie antwortete: "Ich weiß nicht genau... Ich glaube eher, sie hat gesagt, dass sie Schiss davor hat, weil, Talent hat sie auf jeden Fall. Hat gestern den blauen Boulder geflasht, während ich beinahe zehn Versuche gebraucht habe."

"Scheiße!", zischte Nick, "dann muss sie ja echt was drauf haben. Ich hab' den auch nach gefühlten tausend Versuchen erst geschafft."

Daraufhin kehrte Schweigen ein, und Tassy lauschte den gleichmäßigen, an ein nie endendes Seufzen erinnernden Geräuschen des Zuges, bis neben ihr plötzlich eine ausdruckslose Stimme ertönte: "Die Fahrkarte, bitte."

Unwillkürlich blickte Tassy auf und sah, dass der bärtige Mann in der grotesken, blauen Uniform fordernd die Hand ausstreckte, sodass sie in ihrer ausladenden Hosentasche nach der Fahrkarte zu wühlen begann. "Moment, hab's gleich", murmelte sie, während der Schaffner mit leerem Blick durch die Wand hindurchzustarren schien, dann fand sie die Fahrkarte schließlich unter einem Keks, den sie soeben heimlich in ihrer Tasche verstaut hatte, und reichte sie dem Mann wortlos.

Er bearbeitete sie kurz mit jenem an einen Tacker erinnernden Gerät, über dessen genauen Zweck sich Tassy jedes Mal aufs Neue wunderte, und gab sie ihr nach nur wenigen Herzschlägen zurück, ehe er sich den anderen zuwandte.

Sollte Cecilia nicht langsam zurückkommen?, dachte Tassy und blickte in den langen, von unzähligen Sitzen umrahmten Gang hinaus, wo das Mädchen soeben verschwunden war, konnte sie jedoch nirgends ausmachen.

"Cecilia ist bestimmt ins Klo gefallen", spottete Nick plötzlich, als hätte er in Tassys Gedanken gelesen, dann fragte er: "Hey, mir fällt's erst jetzt auf. Wo ist eigentlich Lilly?"

Tassy stieß ein langgezogenes Seufzen aus und warf einen kurzen, jedoch vielsagenden Blick in Kats Richtung, um sich im Stillen zu erkundigen, ob sie dem Jungen von ihrer Auseinandersetzung sowie deren Grund erzählen sollte. Kat zögerte einen Augenblick und in ihre blauen Augen trat eine unverkennvare Skepsis, dann nickte sie schließlich zaghaft, woraufhin Tassy mit unwillkürlich von einem geheimnisvollen Flüstern durchzogener Stimme zum Sprechen anhob: "Sie ist im Moment nicht besonders gut auf mich zu sprechen, weil..." Nick blickte sie verwirrt sowie fragend an. "Sie kann Cecilia nicht leiden. Sie denkt, sie wäre einer der Nibos, und sie würde uns ausspionieren, und daraufhin haben wir uns gezofft."

"Sie denkt was?!", rief Nick aus, und für einen kaum wahrnehmbaren Augenblick trat Entsetzen in seine Augen, ehe er in geräuschvollem Gelächter ausbrach und die amüsierten, jedoch skeptischen Blicke der ihnen gegenüber sitzenden Boulderer auf sich zog.

"Wie... wie kommt Lilly denn auf so eine Hundekacke? Cecilia..." Er stieß ein seltsames Husten aus, dann begann er abermals, zu lachen. "Cecilia soll uns ausspionieren? Diese kleine, verängstigte Maus soll uns ausspionieren? Oh Mann... Dass sie so eine Scheiße labert, hätte ich Lilly nicht zugetraut, da ist sie doch eigentlich viel zu intelligent für."

"Sollte man meinen", murmelte Tassy mit erneuter Enttäuschung aufgrund Lillys Anschuldigungen, ehe sie wieder in den Gang hinausblickte. "Also, so langsam sollte Cecilia ja mal kommen. Ich geh' mal gucken, vielleicht hat sie sich irgendwo hingelatzt."

Sie erhob sich langsam und schlenderte aus dem Abteil hinaus in den breiten Gang, wo zu ihren Seiten ebenfalls Menschen auf den sich jeweils gegenüber liegenden Sitzen saßen und ihr hin und wieder neugierige Blicke zuwarfen. Der gräuliche, nicht allzu viel Halt bietende Boden vibrierte kaum merklich, und der Zug gab sein konstantes, angestrengtes Schnaufen von sich, während Tassy sich an den henkelförmigen Halterungen der Sitze festhielt. Irgendwann sah sie am meilenweit vor ihr zu liegen scheinenden Ende des Ganges eine schmale, seitlich gelegene Tür, die in einen winzigen Raum hineinführte, und beschleunigte ihr Tempo dann.

"Hey, Cecilia, bist du noch da drin?", fragte sie mit erhobener Stimme, als sie den Gang schließlich hinter sich gelassen hatte, und lehnte sich gegen die kalte Wand.

"Ich bin noch da, keine Sorge. Hab' die Toilette zuerst nicht gefunden", ertönte die helle, freundliche Stimme des Mädchens, und Tassy spürte bei jenem Klang Erleichterung in sich aufsteigen. Sie wandte unwillkürlich den Kopf, als ein an Hufgetrappel erinnerndes Klackern ertönte, welches eine langsam zu ihr hinüberschreitende Frau mit ordentlich zusammengebundenem Pferdeschwanz und hohen Absätzen unter den schwarzen Stiefeln ankündigte. Ihre tiefroten Lippen formten ein freundliches Lächeln ehe sie neben Tassy zum Stehen kam und sich ebenfalls mit zu Boden gerichtetem Blick gegen die Wand lehnte.

"Ähm, ich warte nur auf 'ne Freundin, ich stehe nicht an", sagte Tassy sofort und trat einen Schritt zur Seite, als wolle sie ihre Worte somit noch einmal unterstreichen und der Frau zu verstehen geben, sie nicht an ihrem Gang zu der Toilette zu hindern.

Ein kaum wahrnehmbares Quietschen ertönte, ehe sich die silbrig glänzende Tür schließlich öffnete und das Mädchen mit ihren langsamen, vorsichtigen Schritten heraustrat. Verwirrt sah Tassy, wie sie sich zu ihr herumdrehte und dann die noch immer an der Wand lehnende Frau erblickte, wobei sich ihre Augen schlagartig zu dunkelbraun glänzen Kreisen weiteten. Diese grinste freundlich, jedoch von einer plötzlichen Überraschung erfüllt, und entblößte eine ordentliche Reihe weiß funkelnder Zähne, ehe sie fröhlich lachend ausrief: "Ach, hallo! Was machst du denn hier, Kim?"

 

Cecilias Geheimnis

Ein Schuss- wie das schmerzende, stechende Eindringen einer tödlichen Kugel durchfuhr sie der Klang jenes Namens und erfüllte sie einen Herzschlag lang mit brennendem, sie wie eine brausende Flutwelle von ihren Füßen zu reißen drohenden Entsetzen, als spürte sie den kurzen Schmerz eines Schusses unmittelbar vor dem Moment des erlösenden Todes, dann legte sich der dunkle Schleier von tiefer Trauer über sie und sie senkte den Kopf.

"Was?", wisperte sie kaum wahrnehmbar, und das Mädchen öffnete den Mund, um zu antworten, doch die Frau fuhr bereits freundlich fort: "Was für ein Zufall, dich hier zu treffen! Schön, zu sehen, dass du auch mal etwas mit anderen Leuten unternimmst."

"Ja, es...", stammelte das Mädchen, und Tassy glaubte, einen Funken von Angst in dessen Blick zu sehen, während sie selbst das Bild vor ihren mit Tränen gefüllten Augen verschwimmen sah.

"Wo fahrt ihr denn hin?"

"Klettern. Hören Sie, ich..."

"Und das ist sicher deine Freundin?", fragte sie und blickte Tassy an, die sich schnell die Tränen aus den Augen zu reiben versuchte und dann zaghaft nickte. Ich war ihre Freundin, dachte sie voller Schmerz, sprach dies jedoch nicht aus und wünschte bloß, die Frau würde endlich in ihr Abteil zurückkehren.

"Ich bin wirklich froh, dass du dich auch mit anderen Leuten triffst, nicht immer nur mit diesem Mark und seinen Kumpels. Die sind kein guter Umgang für ein nettes Mädchen wie dich."

Enttäuschung. Das Einzige, was Tassy in jenem Moment bis in ihr tiefes Inneres hinein verspürte, war bittere, von einer tiefen Leere gefolgte Enttäuschung. Als der Name des Jungen an ihre Ohren gedrungen war, hatte sie einen Herzschlang lang erneut tiefes Entsetzen verspürt, doch sie hatte es bereits gewusst, als die Frau ihren Namen ausgesprochen hatte- Cecilias wahren Namen. Sie sagte noch etwas an das Mädchen gewandt, was Tassy jedoch nicht zu verstehen vermochte- oder nicht verstehen wollte- dann drehte sie sich auf ihren hohen Absätzen herum und machte mit einem freundlichen Lächeln kehrt.

Cecilia blickte Tassy kurz an, dann taumelte sie gegen die Wand, sackte mit in den zierlichen Händen vergrabenem Gesicht zu Boden und gab nichts als ein leises, schmerzerfülltes Schluchzen von sich.

Tassy vermochte nicht zu sprechen- sie vermutete, ihre Stimme würde versagen und in ein von Trauer erfülltes, an den Todesschrei eines kranken Tieres erinnerndes Krächzen übergehen, und an ihren Wangen rannen nunmehr Rinnsale klarer Tränen hinab wie funkelnde Bäche an einem rauhen Gestein.

"Es tut mir leid!", kreischte das Mädchen mit schriller Stimme, blickte jedoch nicht auf. "Tassy, es tut mir so leid!"

Sie sog einmal tief die Luft ein und schluckte Schluchzen hinunter, ehe sie mit zitternder Stimme flüsterte: "War das deine Lehrerin?" Sie blickte zu dem Mädchen hinüber, und dieses nickte.

"Ich kann mir gerade nicht vorstellen... Dass das wahr ist. Cecilia, sag' mir, dass das nicht wahr ist." Ihre Worte waren bloß ein kaum wahrnehmbares Wispern, doch ihre zitternde Stimme schien mit jedem Wort ruhiger zu werden, während sie im Inneren jedoch einen lauten Schrei ausstoßen wollte.

"Es... Es ist wahr! Du weißt es doch auch!"

"Du hast uns für sie ausspioniert, oder?"

Sie nickte.

"Du... du kannst Parkour."

"Ja."

"Du hast auch Nick verfolgt, stimmt's?"

"J...Ja."

Tassy zögerte und schluckte. "Warum?"

Nun blickte das Mädchen auf, und hinter den ihre Augen anfüllenden Tränen lag ein tiefer Ausdruck von Trauer sowie Verzweiflung.

"Ich... Ich habe... Sie..."

"Und was richten sie im Bonebreaker an, während wir weg sind?"

"Davon wissen sie nichts! Tassy, ich wollte nicht..."

"Was wolltest du nicht? Dass sie einbrechen?"

"Es ist nicht..." Sie wollte weitersprechen, doch ihre Stimme versagte und sie stieß ein seltsames Quietschen aus. Tassy hätte dem Mädchen, dass sie vor nur wenigen Minuten noch für die netteste Person mit den wenigsten Fehlern überhaupt gehalten hatte, all ihre Gedanken und Gefühle in jenem Moment in das von Trauer verzerrte Gesicht schreien können, doch sie bemühte sich, ruhig zu bleiben.

"Warum hast du mir das alles vorgespielt?"

"Das habe ich nicht! Tassy, ich... Was kann ich tun, damit du mir glaubst?"

"Wie soll ich dir glauben? Ich hab' dich... Ich dachte... Ich kenne deinen Namen erst seit einer Minute!"

"Ich... Ich weiß. Du hast recht. Aber..." Sie zögerte. "Tassy, bitte sag' den anderen nichts!"

"Was?" Sie wurde von Empörung ergriffen. "Du hast uns absichtlich in die größte Kacke gestürzt, und ich soll den anderen nichts sagen, damit du die zwei Tage genießen kannst?"

"Ich... Ich verstehe dich!", schluchzte sie, "und... ich hasse mich selbst dafür! Aber... zwei Tage mit... mit Leuten, die mich verabscheuen, das... das halte ich nicht aus!"

Abermals atmete Tassy tief ein und erhob sich dann langsam, ehe sie auf Cecilia- nein, auf Kim- zutrat und flüsterte: "Sag' mir ein einziges Mal die Wahrheit. Bitte."

"Ich verspreche es." Sie blickte auf und sah Tassy mit ihrem verzweifelten Blick so tief in die Augen, dass es ihr schwerfiel, standzuhalten, als sie fragte: "Stimmt das alles, was du mir über deine Vergangenheit gesagt hast?"

"Ja." In ihrem Blick, der tief in Tassys Inneres zu dringen schien, lag ein neuer, undefinierbarer Ausdruck der Trauer, jedoch auch tiefe Aufrichtigkeit, und Tassy wusste, dass das Mädchen dieses Mal die Wahrheit sprach.

"Hast du deswegen alles für sie getan?"

"Ja."

Sie stieß ein langes, ewig anzuhalten scheinendes Seufzen aus, dann antwortete sie leise: "Dann halte ich die Klappe, bis wir wieder zuhause sind. Versprochen."

"Und... Ich werde mich... von euch fernhalten, wenn... wenn wir wieder zuhause sind. Versprochen", flüsterte Cecilia, und nun konnte Tassy ein Schluchzen nicht zurückhalten. Tränen drohten wie Wasserfälle aus ihren Augen zu quellen, und sie drückte sich die zitternden Hände auf das Gesicht, als sie die Worte aus ihrem Körper hinauszupressen versuchte: "Das ist ein beschissenes Versprechen!"

Daraufhin schwiegen sie lange Zeit, und als Tassy schließlich einen Teil ihrer Fassung zurückgewonnen hatte, murmelte sie: "Wir sollten zu den anderen zurückgehen und so tun, als wäre nichts passiert."

"Du... du glaubst nicht, wie... Ich bin so dankbar, dass du das tust! Du... Keiner würde das tun, und ich... Ich bin das größte Miststück überhaupt!"

Gerade wollte Tassy antworten, um dies zu verneinen, entsann sich dann jedoch mit jener traurigen Erkenntnis eines besseren- das Mädchen, das sie gekannt hatte, mit dem sie sich angefreundet hatte, war alles andere als ein Miststück; das Mädchen Cecilia, welches sie einst in der Boulderhalle entdeckt hatte, war wohl eine der aufrichtigsten, anständigsten Personen überhaupt, doch Cecilia existierte nicht. Cecilia war eine erfundene Person, die dieses Mädchen, Kim, erfunden hatte- und wenn Kim sie tatsächlich für die Nibos ausspioniert und ihr so lange Zeit ihre scheinbar für sie bedeutungslose Freundschaft vorgespielt hatte, obgleich es durchaus andere Möglichkeiten gegeben hätte, war sie definitiv ein Miststück.

Sie öffnete den Mund, um Cecilia zu fragen, warum sie dies alles getan hatte, warum sie ihnen nichts von dem Vorhaben der Nibos gesagt hatte, schwieg jedoch letztendlich. Wenn sie ihren Freunden tatsächlich vorspielen wollte, Cecilia so zu mögen wie noch vor wenigen Minuten- und wie sie es tief in ihrem Inneren wohl noch immer tat- durfte sie keinen weiteren Gedanken mehr an all das, was das Mädchen getan hatte, verschwenden. Doch es viel ihr schwer; so schwer, wie ihr wohl die komplizierteste Route niemals fallen würde. Nach nur wenigen Momenten der Stille erkannte sie, dass es unmöglich war, nicht daran zu denken, und vermochte das seltsame Stechen in ihrem Inneren nicht zu unterdrücken. Vor wenigen Minuten noch hatte sie sich so sehr auf die fremde Boulderhalle und die zwei Tage, die sie dort verbringen würden, gefreut, und jetzt wünschte sie sich nichst sehnlicher, als so weit wie möglich von diesem Mädchen- nicht von Cecilia, aber von Kim- entfernt zu sein.

"Fang vor den anderen nicht an zu heulen", murmelte Tassy mit ausdrucksloser Stimme, als sie sich ihrem Abteil näherten, und fügte im Stillen hinzu: Obwohl ich genauso viele Gründe dazu habe als du. Du hättest uns schließlich einfach bescheid sagen können.

Vergeblich versuchte sie, die Vorfreude auf die Boulderhalle wieder in sich hervorzulocken, konnte jedoch jegliche Gedanken an Cecilia nicht in den Hintergrund drängen- was sie am meisten verletzte, war die Tatsache, dass dem Mädchen ihre Freundschaft offenbar nicht einen Herzschlag lang etwas bedeutet hatte; andernfalls hätte sie ihnen von den Plänen der Nibos berichten müssen. Aber so 'ne gute Schauspielerin kann sie doch gar nicht sein!, dachte sie dann, als sie sich den aufgeregten, fröhlichen Ausdruck in den Augen des Mädchens ins Gedächtnis rief, der immer aufgeflammt war, sobald sie sich mit ihnen getroffen oder die Boulderhalle betreten hatte. Irgendetwas musste wahr gewesen sein- Tassy glaubte nicht, dass Cecilia alles bloß vorgetäuscht hatte-, doch sie würde sie nun nicht danach fragen; nun galt es, ihren anderen Freunden etwas vorzuspielen und sich nicht das Geringste anmerken zu lassen.

"Hab' sie gefunden", sagte sie, als sie schließlich das Abteil betrat und sich neben Kat auf dem Sitz niederließ, hoffend, dass sie ihrer Stimme einen fröhlichen Ausdruck zu verleihen vermochte. "Hat sie im Klo festgesteckt?", erkundigte sich Nick, woraufhin Tassy spielerisch zu antworten versuchte: "Jap, ich musste sie rausziehen."

Sie warf einen kurzen Blick auf das Mädchen, das sich mit zu Boden gerichtetem Blick auf einen gegenüberliegenden Sitz sinken gelassen hatte und schließlich mit einem Glanz in den Augen, der nicht von mehr Trauer hätte zeugen können, aufblickte; Kat und Nick jedoch schienen jenen dunklen Schleier vor dem Gesicht Cecilias nicht zu bemerken.

Wenige Augenblicke kehrte Schweigen ein, und Tassy nahm noch einige Kekse aus Kats nunmehr beinahe völlig entleerter Dose, bis einer der fremden Boulderer plötzlich an Cecilia gewandt besorgt murmelte: "Hey, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Alles klar?"

Das Mädchen nickte schnell, beinahe mit einem nervösen, an einen beim Abschreiben ertappten Schüler erinnernden Ausdruck in den Augen, und antwortete dann hastig: "Ja, alles klar. Ich... bin nur aufgeregt wegen der Halle."

Bei uns warst du aber 'ne bessere Schauspielerin, dachte Tassy, sprach dies jedoch nicht aus und blickte dann ihrerseits zu Boden. Ihre beiden Freunde schienen ohnehin den traurigen Ausdruck in ihren Augen nicht zu bemerken, doch es war ihr unmöglich, Cecilia weiterhin in das jeden Augenblick einen von Verzweifung erfüllten Schrei auszustoßen drohende Gesicht zu sehen.

Das kontinuierliche Schnaufen sowie das ab und an unter ihren Füßen vibrierende Ruckeln des Zuges vermischte sich mit dem leisen Murmeln der fremden Boulderer, während Tassy lange Zeit unbeweglich auf ihrem Platz saß und den den Hintergrund erfüllenden Geräuschen lauschte. Den traurigen, von Enttäuschung erfüllten Blick hielt sie starr auf den Boden gerichtet, doch aus den Augenwinkeln sah sie, wie Kat in einem kleinen Notizbuch herumzukritzeln begann, während der offenbar in einen tiefen Schlaf versunkene Nick in einer grotesken Haltung auf seinem Sitz kauerte.

Jeden Augenblickt hoffte Tassy vergeblich, der Zug würde endlich zum Stehen kommen und ihnen an dem richtigen Bahnhof das Aussteigen ermöglichen, doch sie wusste, dass die Fahrt sich noch etwa eine Stunde erstrecken würde.

"Es ist so still", brach Kat nach einiger Zeit das Schweigen, "Tassy, sonst rennst du auf so Fahrten doch immer rum und machst Blödsinn."

"Ja", murmelte diese leise, "ich bin zu müde, um Blödsinn zu machen. Ce..." Beim Aussprechen jenes Namen konnte sie ein Schlucken nicht unterdrücken und stieß schnell ein heiseres Husten aus, um dieses zu verbergen. "Cecilia und ich haben nicht viel gepennt letzte Nacht."

"Ach so?"

"Wir haben einige Filme geguckt." Es fiel ihr sichtlich schwer, ihrer Stimme einen gleichgültigen Klang zu verleihen, als Kat den Kopf schief legte.

"Welche denn?"

"Ähm..." Sie spürte Nervosität in sich aufsteigen. "Hab' die Namen vergessen. Einen über Hunde, einen über Zombies, und..."

"Klingt ja sehr interessant", fuhr Kat fort, und als Tassy bloß nickte, widmete sie sich erneut ihren Zeichnungen.

Die Fahrt schien sich über unzählige Stunden zu erstrecken, und Tassy schwieg beinahe die gesamte Zeit mit auf die Hände gestütztem, zu Boden gerichteten Gesicht. Es bewegte sie nur am Rande, dass ihren Freunden jenes für sie ungewöhnliche Verhalten auffallen könnte, doch sie war zunächst außer Stande, mit Cecilia ein normales Gespräch zu führen. Während in ihren Gedanken stets die Worte der Frau, die Cecilias dunkles Geheimnis soeben offenbart hatte, wiederhallten, bemerkte sie das langsame Anhalten des Zuges erst, als Kat sie leicht anschubste. "Hey, Tassy, schläfst du?"

"Nö, nö", murmelte sie zögernd, ehe sie sich langsam erhob und sich die ihre Kletterschuhe sowie das Chalkbag beinhaltende Tasche, die sie auf dem Boden vor ihren Füßen abgestellt hatte, um die Schulter legte. Wortlos erhob sich auch Cecilia von ihrem Sitz und schlenderte dann hinter Tassy aus dem Abteil hinaus, die die traurigen Blicke des Mädchens auf sich ruhen spürte wie schwere, eiskalte Hände und sich mit einem Mal fragte, wem es jene nächsten zwei Tage hinter sich zu bringen schwerer fallen würde- ihr selbst oder Cecilia.

"Hey, wisst ihr überhaupt, wo die Halle ist?", ertönte Kats Stimme nach einiger Zeit, während sie aus dem sich mehr und mehr mit auszusteigen versuchende Menschen füllenden Gang schlenderten, woraufhin der Kletterer, der ebenfalls in ihrem Abteil gesessen hatte, antwortete: "Wir waren schon da, ihr könnt mit uns gehen."

Somit tat Tassy in der nächsten Zeit nichts weiter, als ihren Freunden wortlos hinterherzuschlendern, und ließ ihre Gedanken zurückschweifen- zurück in die ewig zurückzuliegen scheinende Zeit, als sie Cecilia noch ihre Freundin zu sein geglaubt hatte.

 

Jump and Run

 

Lange Zeit schlenderten die Kletterer durch die unbekannte Stadt, die von scheinbar der doppelten Anzahl an Autos befahren wurde und deren Gebäude um unzählige Meter höher waren als jene in ihrer Heimat, und Tassy musste einige Male bei dem beißenden Geruch der Abgase von an ihnen vorüberzischenden Autos leise husten. Irgendwann bogen sie nur knapp hinter einer weiteren Gruppe von Kletterern in eine breite Straße ein, an deren Seite ein riesiges, weißes Gebäude auf dem satten Grün eines kurzgeschnittenen Rasens kauerte wie ein gewaltiger Betonklotz, den Tassy zunächst für ein deformiertes Schulgebäude hielt. Als sie jedoch unter dem gleißenden Sonnenlicht die Augen zusammenkniff, sah sie ein knapp über der gläsernen Eingangstür angebrachtes Schild, das einen an dem Ast eines Baumes hinunterbaumelnden Affen zeigte.

"Das ist die Halle?", fragte Tassy an das fremde Mädchen gewandt und bemerkte, dass dies die ersten Worte waren, die sie seit etwa einer Stunde gesprochen hatte, ehe dieses nickte und antwortete: "Ja, das ist der Affenstall."

"Cool". Obgleich es sie noch immer Mühe kostete, den unterschwelligen Klang der Trauer in ihrer Stimme zu unterdrücken, spürte sie bei dem Anblick des gewaltigen Gebäudes einen kaum wahrnehmbaren Ausdruck von Freude in sich aufsteigen, die einen winzigen Teil der Enttäuschung für einen kurzen Moment zu verdrängen vermochte.

"Wie sind die Routen dort?"

"Einige sind ähnlich wie die im Bonebreaker. Das Coole hier ist, dass zum Teil auch Seile oder ähnliches in manche Boulder mit eingebracht sind."

"Krass!"

Vor ihnen hatte sich eine kleine Gruppe von fremden, vermutlich zu der Halle gehörenden Kletterern vor der Eingangstür versammelt und traten nacheinander hinein, wodurch sich eine recht lange Schlange bildete und Tassy zunächst daran hinderte, einen Blick in das Innere des Gebäudes zu erhaschen- stattdessen konnte sie es nicht vermeiden, ständig einen möglichst unauffälligen, flüchtigen Blick auf die neben ihr herschlendernde Cecilia zu werfen. Wie sollte sie diese zwei Tage überstehen, wenn sie dem Mädchen nicht einmal aus dem Weg zu gehen vermochte und versuchen musste, ihren Streit vor den übrigen zu verbergen? Als Cecilia ebenfalls den Kopf in ihre Richtung wandte, schaute Tassy schnell zu Boden und hoffte, das Mädchen hätte ihre ständig auf ihr ruhenden, traurigen Blicke nicht wahrgenommen.

Während die Schlange langsam an Länge verlor und sich die Gruppe mehr und mehr dem Eingang näherte, vernahm Tassy irgendwann das immer lauter wedende Dröhnen von geräuschvoller, in ihrem Kopf wiederzuhallen scheinender Musik, die irgendwo aus dem Inneren der Halle drang und den Boden unter ihren Füßen mit jedem Schritt stärker vibrieren ließ.

"Ach du Scheiße", murmelte Kat, "ich will gar nicht wissen, wie laut das da drinnen ist!"

"Da geht ja eine richtige Party ab!", rief Nick mit einem freudigen, aufgeregten Grinsen aus und schob sich plötzlich an Tassy vorbei, als sie gerade über die Türschwelle in den überfüllten Flur des Gebäudes treten wollte. "Hey, Vordrängler!", zischte sie spielerisch und folgte dem Jungen dann hinein, wo die geräuschvolle Musik abermals an Lautstärke zunahm. Vor ihr erstreckte sich ein schmaler, nicht sonderlich langer Korridor, der von derartig vielen Menschen angefüllt war, dass Tassy sich auf die Zehenspitzen stellen musste und über die Köpfe der unzähligen Kletterer hinweg nur einen schmalen Streifen von Kletterwänden erkennen konnte. Langsamen Schrittes folgte sie dem sich seinen Weg durch die Menge bahnenden Nick, bis der Gang schließlich in einen gewaltigen Raum hineinführte, der von in allen erdenklichen Farben glänzenden Lichtern erleuchtet wurde.

"Oh Mann!", hörte sie Kats Stimme hinter sich und warf einen kurzen Blick zu dieser zurück, ehe sie die riesige Halle zu mustern begann: In der Mitte des Raumes bildeten die von zum Teil riesigen Griffen überzogenen Wände einen gewaltigen Kreis, von welchem in jeder Himmelsrichtung breite, auf je einen weiteren von hoch aufragenden Wänden gesäumten Bereich zuführende Gänge abzweigten. Zu ihrer Linken sah Tassy eine scheinbar in eine höher gelegene Etage führende Treppe, und als sie den Hals ein wenig in jene Richtung reckte, sah sie am Ende der Treppe die durch die Lichter nur schwer zu erkennenden Umrisse weiterer Kletterwände.

"Hey, Leute, seht euch das an!", rief der Junge plötzlich mit lauter Stimme, die die Musik jedoch kaum zu übertönen vermochte, und wies dann in die Richtung, aus der jene drang: Auf einer recht großen Fläche zwischen einer Theke und dem Anfang der Matten war eine schmale Bühne errichtet worden, wo eine in den bunten Lichtern umherspringende Band ihre Instrumente dröhnen ließ und in die silbernen Mikrofone kreischte.

"Das ist jetzt nicht gerade die schönste Musik, aber was soll's", murmelte Cecilia und lächelte- Tassy wusste, dass es kein echtes Lächeln war, doch sie war froh, dass das Mädchen nach langer Zeit wieder ein Wort gesprochen hatte.

"Kommt, wir erkunden mal die Wände", sagte sie dann, um die Gedanken an Cecilia zu verdrängen, und eilte an einigen überall in dem Raum in kleinen Gruppen beisammen stehenden Kletterern vorüber, gefolgt von den übrigen.

Sie kletterten einige recht einfache Routen in kurzer Zeit und beschlossen dann, gemeinsam eine sich über die gesamte Wand ziehende, in die ein von einem Überhang herabhängendes Volumen involviert war, zu versuchen- bei ihren ersten Versuchen scheiterten sie bereits nach wenigen Zügen, doch nach nur einiger Zeit hatten sie einen die schwierige Schlüsselstelle umgehenden Weg gefunden und Nick war der erste, der den rundlicchen Topgriff erreichte.

"Das war stark, Nick!", rief Kat aus, als der Junge mit einem triumphierenden Lächeln auf die Matte sprang und sich geschickt abrollte.

Tassy benötigte noch zwei weitere Versuche, ehe sie zum ersten Mal einen sehr schmalen, von unzähligen Fingern in einem nicht sonderlich griffigen Zustand hinterlassenen Griff festzuhalten vermochte. Ihre von dem weißen Pulver bedeckten Fingerspitzen gruben sich in den schmalen, leistenförmigen Griff hinein, und sie presste ihren Körper fest gegen die Wand, als sie mit zusammengekniffenen Augen den zu ihrer Rechten gelegen, wenige Armlängen entfernten Topgriff anstarrte.

"Du musst springen!", ertönte Nicks laute Stimme, und Tassy spürte, wie sie von einem vertrauten Gefühl des Unwohlseins überkommen wurde. Obgleich sie wusste, dass sie im schlimmsten Falle mit den Füßen voran, in einer völlig ungefährlichen Position also, auf den weichen Matten aufkommen würde, ließ der Gedanke an einen Sprung zu dem nächsten Griff einen kaum wahrnehmbaren Funken von Angst in ihrem Inneren aufsteigen.

Wissend, dass sie bei eine weiteren Versuch jener Route nicht mehr genug Kraft haben würde, sie zu beenden, ließ sie blitzschnell von dem Griff ab und sprang schwungvoll auf den nächsten zu, ehe sich ihre Hände schließlich um die rot glänzende Halbkugel schlossen. Das leise Gefühl der Angst verflog blitzartig und wurde von einer Welle des Triumphs ersetzt, als sie ihrerseits zu Boden sprang und auf den ihr seine Faust entgegenstreckenden Nick zulief.

"Cool gemacht", lobte dieser, woraufhin sie mit ihrer Faust gegen die seine tippte und dann sagte: "Bei allem, was höher als einen Meter ist, springe ich nicht gerne, wisst ihr das eigentlich?"

"Schisser", spottete Kat spielerisch und wollte gerade ebenfalls auf die Wand zutreten, blieb dann jedoch stehen und schaute Cecilia mit einem freundlichen Lächeln an. "Du bist an der Reihe, glaube ich."

"Ja...", murmelte das Mädchen, "das schaffe ich doch sowieso nicht."

"Doch, das kannst du", sagte Tassy und blickte ihr einige Zeit fest in die Augen- sie hoffte, das Mädchen wäre sich darüber im Klaren, dass sie jene Worte nicht nur aufgrund der Anwesenheit ihrer nichst über den Streit wissenden Freunde gesprochen hatte- konnte dem leisen Funken der Trauer in ihrem Blick jedoch nicht standhalten und sah dann zu Boden.

"Ja, komm, Ceci, mach schon!", forderte Nick auf, und Tassy ballte die Hände zu Fäusten. Gib' ihr keinen Spitznamen, Nick, dachte sie enttäuscht, sie ist nicht mehr unsere Freundin. Bald werdet ihr's wissen.

Beinahe glaubte sie, jenen Gedanken laut ausgesprochen zu haben, doch die Gesichtsausdrücke ihrer Freunde bewiesen das Gegenteil. Mit ihrem geschmeidigen Gang, in dessen Eleganz jedoch der gewohnte Ausdruck von Vorsicht lag, schritt Cecilia auf die Wand zu und begann dann, sich langsam daran entlangzubewegen- abermals war Tassy erstaunt sowie trotz aller Ereignisse beeindruckt über die Beweglichkeit und die Präzision, mit der das Mädchen jeden der Griffe mit sauberen Bewegungen erreichte.

Als sie sich schließlich dem Volumen näherte, zögerte sie einige Zeit und blickte kurz zu Boden, woraufhin die anderen geräuschvolle Anfeuerungsrufe ausstießen.

"Alléz, Cecilia, das geht!"

"Komm, mach's fertig!"

Vermutend, dass es das Mädchen mit lauten, jedoch nicht wirklich ernst gemeinten Rufen anzufeuern falsch wäre, schwieg Tassy und hielt ihren Blick stattdessen starr auf sie gerichtet, wobei sie sich bei der Geschmeidigkeit in jeder Bewegung Cecilias für einen kurzen Moment in jenen Tag zurückversetzte, als sie sie zum ersten Mal im Bonebreaker wahrgenommen hatte. Wieso musste sie ausgerechnet in dem Augenblick, da das Mädchen sich an einer Wand unmittelbar hinter ihr hinaufgearbeitet hatte, in eine andere Richtung schauen? Nur ein einzelner Blick, und all dies wäre nicht passiert. Andererseits, dachte Tassy dann, hätte ich mich dann auch nie mit ihr angefreundet.

Sie wusste, dass sie all die Ereignisse mit Cecilia, die irgendwie mit den Nibos zusammenhingen, nie passiert zu sein wünschte, doch bereute sie auch die Zeit, in der sie mit dem Mädchen befreundet gewesen war? Nein. Tust du nicht. Definitiv nicht.

Nicks und Kats Rufe schwollen an, als Cecilia ihren Arm nach dem Volumen ausstreckte, dann verlor ihre linke Hand jedoch den Halt und sie stürzte mit einem dumpfen Geräusch zu Boden.

"Das war knapp!", rief Kat aus und half dem Mädchen auf die Füße, "du hättest es schaffen können!"

"Nein, ich hab' keine Kraft mehr. Ich glaube, ich mache etwas anderes."

Einige Zeit kletterten sie getrennt- Tassy bewegte sich ständig von einer Wand zur anderen, sobald sie aus den Augenwinkeln einen ansprechend wirkenden Griff ausmachte- bis eine laute, aus einer undefinierbaren Richtung dringende Stimme ertönte und an den hoch aufragenden Wänden widerhallte:

"So, in fünf Minuten beginnen wir mit unserem kleinen Jump-And-Run-Wettbewerb! Alle, die teilnehmen möchten, gehen bitte zu der Platte auf der anderen Seite der Halle."

Tassy ließ von dem Griff, an dem sie sich soeben festgehalten hatte, ab und sprang auf die Matte, wo sich ihre Freunde ebenfalls einzufinden begannen. Gerade wollte sie sich bei diesen erkundigen, ob sie wüssten, um was es sich handelte, als die Stimme abermals erklang: "Es geht darum, sich so schnell wie möglich von der einen Seite der Platte auf die andere zu bewegen, ohne herunterzufallen. Die drei schnellsten Jungs und die drei schnellsten Mädels kriegen dann 'nen Preis. Also, alle Mann zur Platte! Die, die nicht teilnehmen wollen, dürfen gerne anfeuern!"

"Machen wir mit?", fragte sie und ließ ihren Blick über Nick und Kat zu Cecilia schweifen, woraufhin der Junge sofort nickte.

"Bin dabei."

"Ich auch", sagte Tassy, "was ist mit euch zwei?"

"Ich weiß nicht...", murmelte Kat, und auch Cecilia legte skeptisch den Kopf schief.

"Cecilia, mach' doch mit", forderte Tassy mit beinahe zitternder Stimme auf, "du kannst das doch."

"Meinst du?" Ihre Stimme war nur ein leises Flüstern, und Tassy sah das traurige sowie schuldbewusste, reuevolle Glänzen in ihren dunklen Augen, als sie ihr entgegenblickte.

"Auf jeden Fall. Mach mit."

Schließlich willigte das Mädchen mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken ein, und sie bahnten sich durch die vielen über die Matten schlendernden Kletterer einen Weg zu der Wand am gegenüberliegenden Ende der Halle, wo sich bereits unzählige Menschen- mehr Zuschauer als Teilnehmer, vermutete Tassy- eingefunden hatten. Einige der die Halle in ein smaragdgrünes, blutrotes und meerblaues Licht zugleich tauchenden Lichter waren auf eine niedrige, sich jedoch lang erstreckende Wand gerichtet, an welcher einem Ende zum anderen führender Streifen unzähliger Griffe und Volumen befestigt war, über den man zweifellos würde hinüberlaufen müssen.

"Schon cool", murmelte Tassy, wusste jedoch, dass sie unter anderen Umständen weitaus mehr Freude und Aufregung verspürt hätte, doch Cecilias Nähe löste eine konstante Unruhe in ihr aus, die sie nicht zu unterdrücken vermochte.

"Da drüben muss man sich anmelden", sagte Nick und wies auf einen schmalen Tisch, um welchen sich eine recht große Gruppe von Menschen versammelt hatte und offensichtlich ihre Namen auf einem Zettel eintrugen.

"Wird man da aufgerufen, oder wie?", fragte Kat, während sie zu dem Tisch hinüberschlenderten und sich zu der immer kleiner werdenden Gruppe gesellten.

"Schätze schon", antwortete Nick, "wir haben eh keine Chance. Da machen so extrem viele Leute mit."

"Aber die können bestimmt nur bouldern", entgegnete Tassy, "wir können Parkour. Das gibt uns bestimmt schon 'nen Vorteil."

"Cecilia kann kein Parkour".

Wenn du wüsstest, dachte Tassy, nickte jedoch kaum wahrnehmbar und spürte, wie das Mädchen ihr einen kurzen Blick zuwarf. Wie würden ihre Freunde wohl reagieren, wenn sie erführen, dass Tassy ihnen die Wahrheit über Cecilia zunächst verschwiegen hatte?

Als sich die Gruppe beinahe völlig aufgelöst hatte, trat Tassy an den Tisch heran und trug ihren Namen sowie den ihrer am meisten besuchten Boulderhalle, des Bonebreakers, in den Zettel ein, ehe sie kehrtmachte und sich an einer Stelle auf den Matten niederließ, von wo sie einen guten Blick auf das Geschehen an der Platte hatte. Die ersten Namen waren offenbar bereits ausgerufen worden, denn als sich ihre Freunde zu ihr gesellten, fiel ihr ein sich beinahe nervös umblickender Junge um, der vor dem Startgriff der Wettbewerbs-Route stand und auf eine Art Startsignal zu warten schien.

"Der sieht extrem nervös aus", murmelte Nick mit einem Grinsen, und Tassy entgegnete: "Wenn ich nachher dran bin, werde ich auch extremst nervös sein, auch wenn's nur ein Mini-Spaßwettbewerb ist."

"Du bist auch kein Maßstab", spottete der Junge, "dich macht ja alles nervös, wo du deine Fähigkeiten unter Beweis stellen musst. Oder denkst, du müsstest sie unter Beweis stellen."

"Ja, sie wollte mir zuletzt nichts auf ihrer Gitarre vorspielen", warf Kat mit einem gespielt beleidigten Ausdruck in der Stimme ein, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen richteten. Die Stimme sagte noch etwas durch das Gemurmel der Menge kaum zu Verstehendes in das Mikrophon, dann ertönte ein lauter Ruf, der Tassy zusammenzucken ließ: "Auf die Plätze, fertig, los!"

Der Junge rannte an der Wand entlang und schien beinahe über den Boden zu schweben, während er unzählige Griffe mühelos übersprang. Geräuschvolle Anfeuerungsrufe hallten durch die gesamte Halle, und Tassy glaubte beinahe, sein angestrengtes Keuchen zu hören, bis er schwungvoll an den letzten Griff sprang und ein erleichtertes Seufzen ausstieß.

"7,36 Sekunden!", rief eine aus einer undefinierbaren Richtung dringende Stimme, auf die ein einheitliches, lautes Klatschen ertönte. Der Junge mischte sich mit einem unverkennbaren Ausdruck des Stolzes erneut unter die Menge, bevor weitere Boulderer aufgerufen wurden und sich der Herausforderung stellten. Es gab unzählige deutlich langsamere, jedoch auch einige sehr geschickte sowie schnelle Kletterer, bis einer jungen Frau mit einem kurzen, hellblonden Pferdeschwanz eine Zeit von etwa fünf Sekunden gelang.

"Wir verkacken", murmelte Tassy, nachdem ihr bei einigen Mädchen und Frauen eine Schnelligkeit aufgefallen war, die sie wohl kaum übertreffen könnte- gerade hatte sie diese Worte an ihre Freunde gewandt gemurmelt, rief die Stimme noch lauter als zuvor, so schien es ihr: "Als nächstes an der Reihe ist Tassy aus dem Bonebreaker!"

 

Everything I do...

 

"Gib Gas, Tassy", sagte Kat und klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter, ehe Tassy kehrtmachte und sich durch die Menge zu zwängen versuchte. Unter einigen neugierigen Blicken schlenderte sie mit den Verlauf der Route genau musterndem Blick auf die Platte zu, wo eine Frau mit einem kleinen Gegenstand in der Hand auf sie wartete.

"Ich stoppe die Zeit", sagte sie ausdruckslos, und Tassy vermutete, dass sie jene Worte schon unzählige Male zuvor gesprochen hatte, "du kannst auch Tritte überspringen. Wenn du auf den Boden tritts, bist du raus."

"Okay", murmelte Tassy, legte ihre Hände auf den markierten Startgriff und platzierte ihren linken Fuß auf dem Tritt, um mit dem rechten Anlauf nehmen zu können. Eine angespannte, eisige Stille erhob sich- jedenfalls schien es ihr so- und ihre Augen waren starr geradeaus gerichtet, als sie sich auf das Signal vorbereitete.

Nicht so nervös, Tass, es ist nur ein Mini-Wettbewerb, dachte sie und sog einmal tief die stickige Luft ein, als eine geräuschvolle Stimme ertönte: "Auf die Plätze, fertig- LOS!"

Sofort drückte sich Tassy vom Boden ab und rannte los, ihre Füße donnerten über die schwarzen Griffe wie die eines panischen, gejagten Beutetieres. Blitzschnell sprang sie an einen etwas höher gelegenen Griff, sah den nächsten Tritt nur aus den Augenwinkeln und ließ ihren Fuß darauf zuschießen, unwissend, ob sie die Entfernung in solch kurzer Zeit richtig abgeschätzt hatte. Erleichtert spürte sie das harte Plastik unter der dünnen Sohle ihres Schuhs, eilte jedoch sofort weiter. Innerhalb eines Herzschlages übersprang sie zwei recht nah aneinander liegende Tritte und traf den nächsten präzise, bis sie schließlich den runden, mit einem Streifen leuchtenden Tapes markierten Topgriff nur wenige Meter vor sich erblickte.

"Alléz, Tassy!", kreischte eine Stimme, doch sie konnte nicht innehalten, um deren Ursprung auszumachen. Ein kurzer Schreck durchfuhr sie, als sie sah, dass das letzte zu überwindende Stück aus drei spitzen Volumen bestand, die treppenartig nebeneinander angebracht waren.

Einen kaum wahrnehmbaren Augenblick machte Tassy halt und lehnte sich ein wenig in ihrer Position zurück, dann nahm sie mit aller noch verbliebenen Kraft Schwung und rannte- nein, sprang- über die Volumen auf den letzten Griff zu. Kurz zischte sie durch die Luft, dann schlossen sich ihre Hände fest um die schwarze Halbkugel und ihre Füße trafen mit einem kaum wahrnehmbaren Geräusch auf die Wand, die von den grellen Lichtern in ein Meer aus Farben verwandelt wurde.

Gespannt hielt Tassy den Atem an und drehte ihren Kopf neugierig in die Richtung der Frau, die einige Zeit inne hielt und schließlich den Blick von der Stoppuhr in ihrer Hand abwandte. "Eine schöne Zeit", rief sie dann laut, "7, 69 Sekunden!"

Geil!, dachte Tassy und schlug freudig mit der flachen Hand gegen die hölzerne Wand, obgleich sie wusste, dass einige Frauen und Mädchen ein besseres Ergebnis erzielt hatten.

Gerade wollte sie von dem Griff ablassen und auf die Matte springen, entsann sich dann jedoch eines Besseren: Blitzschnell arbeitete sie sich an der Wand hinauf, ergriff die Kante und sprang schließlich schwungvoll nach oben, wo sich bereits unzählige Kletterer auf dem breiten Plateau eingefunden hatten.

"Das war schön", vernahm sie eine freundliche Stimme neben sich und erblickte die Gestalt eines etwas älteren Mannes, der ihr bereits einige Male im Bonebreaker aufgefallen war, ebenso wie vereinzelte andere Kletterer, die in einer kleinen Gruppe neben ihm saßen.

"Danke", murmelte Tassy und ließ sich ebenfalls auf dem hölzernen Boden nieder, während sich Kat der Wand näherte, offensichtlich wissend, dass sie als nächstes an der Reihe wäre.

Es schienen nur wenige Momente zu vergehen, bis Nick und diese den Lauf hinter sich gebracht hatten- Nick war mehr als eine Sekunde schneller als Tassy, Kat ein wenig langsamer-, dann ertönte die laute Stimme: "Als nächstes- wieder aus dem Bonebreaker- Cecilia!"

Bei dem Klang des Namens spürte Tassy abermals einen schmerzhaften Stich in ihrem Innern, während sich das Mädchen vorsichtig durch die Menschenmenge hindurchzwängte und langsam an die Wand herantrat. Tassy sah, dass sie etwas an die die Stoppuhr haltende Frau gewandt murmelte, konnte über jene Entfernung hinweg jedoch nicht das Geringste verstehen.

"Ob das 'ne gute Idee ist?", murmelte Nick, der sich neben Tassy niedergelassen hatte, "schließlich bouldert sie noch gar nicht lange. Tassy, sie blamiert sich bestimmt."

"Hast du vergessen, wie sie bei dem Einbruch einfach mal die Platte hochgelaufen ist?", entgegnete sie, beinahe gereizt aufgrund seiner abwertenden Worte, "sie schafft das."

Mit einem Anflug der Überraschung bemerkte Tassy, wie sehr sie hoffte, Cecilia würde ein gutes Ergebnis erzielen- trotz allem, was das Mädchen getan hatte, musste sie noch immer an Selbstvertrauen gewinnen und ihre Vergangenheit für immer vergessen, und das schaffte sie vermutlich hauptsächlich durch Erfolgserlebnisse.

Ob sie in Zukunft weiter bouldern wird?, dachte Tassy dann beinahe enttäuscht, ehe die Stimme sie aus ihren Gedanken riss: "Mach' dich bereit, Cecilia. Auf die Plätze, fertig, los!"

Als Cecilia losrannte, spürte Tassy, wie sich ihre Augen zu ungläubig funkelnden, blauen Vollmonden weiteten und ihr Unterkiefer vor Erstaunen herunterklappte.

Das Mädchen landete auf jedem Tritt mit einer beinahe grotesken Präzision und übersprang unzählige in derartig kurzer Zeit, dass ihren einzelnen Bewegungen kaum zu folgen war. Ein unterschwelliges, von tiefer Bewunderung zeugendes Murmeln hatte sich über die Menge gelegt, und es schwoll stark an, als Cecilia die drei letzten Volumen mit einem einzigen Satz überwand. Geschmeidig wie eine jagende Raubkatze glitt sie an der Wand entlang, zischte durch die Luft, und als ihre Hände sich gerade um den Topgriff geschlossen hatten, ertönte ein geräuschvolles, anerkennendes Klatschen der Zuschauer.

"Eine extrem gute Zeit!", rief die Frau dann laut und fuhr nach einem kurzen Zögern fort: "5, 9 Sekunden. Bisher das drittschnellste Mädchen!"

"Alter!", murmelte Tassy erstaunt und beugte sich leicht über die Kante, darauf wartend, dass das Mädchen ebenfalls zu ihnen hinaufklettern würde, doch dieses warf ihr nur einen flüchtigen Blick zu und ließ dann von dem Griff ab.

"Kommt sie nicht rauf", erkundigte sich Kat, woraufhin Tassy den Kopf schüttelte. "Offensichtlich nicht."

"Cecilia!", rief sie dann mit lauter Stimme, doch das Mädchen war bereits inmitten der vielen Kletterer verschwunden.

Noch einige Zeit verharrten sie in ihrer Position und beobachteten die an dem Wettbewerb teilnehmenden Kletterer, darauf wartend, dass Cecilia sich aus einer anderen Richtung kommend zu ihnen gesellen würde, doch sie tauchte nicht auf. Mit jedem Augenblick, da sie das Mädchen nirgends zu sehen vermochte, wuchs Tassys Trauer abermals und schließlich erhob sie sich mit einem kaum wahrnehmbaren Seufzen: "Ich geh' mal gucken, ob ich sie finde."

Gerade wollte sie sich herumdrehen und einen die Wettbewerbsteilnehmer nicht behindernden Weg, der von dem Plateaz hinabführte, suchen, als eine Stimme abermals in das Mikrofon sprach: "Wir spielen jetzt ein Lied, nach dem wir eben von einem Mädel gefragt wurden. Also bitte nicht wundern, wenn jetzt 'was kommt, das nicht so ganz unserem Stil entspricht."

Oh Gott, was kommt jetzt?, dachte Tassy bloß und schlenderte über das Plateau, bis einige sehr vertraute, wohlklingende Töne an ihre Ohren drangen, auf welches die plötzlich viel leisere, nicht im Geringsten an die vorigen Lieder erinnernde Stimme des Sängers ertönte: "Look into my eyes- You will see what you mean to me..."

"Hey, Tassy", erklang Kats Stimme, "ist das nicht dein Lieblingslied?"

"Ja", antwortete sie flüsternd, während sie der Musik lauschte. "Everything I do- I do it for you... Wer wünscht sich so ein Lied von einer Heavy-Metal-Band?"

Zunächst vermutete sie, Kat oder Nick hätten sich im Spaß nach jenem Lied erkundigt, doch dann fiel ihr auf, dass noch eine weitere Person über ihr Lieblingslied bescheid wusste, eine Person, die schon seit einiger Zeit nicht aufgetaucht war.

"Cecilia...", flüsterte sie und spürte, wie ihr Tränen in die Augen zu steigen drohten, als sie sich wortlos von ihren beiden Freunden abwandte und schließlich auf der gegenüberliegenden Seite von dem Plateau hinabsprang, leichtfüßig auf den weichen Matten landend.

Ich kann mich nichtmal daran erinnern, was für ein T-Shirt sie heute trägt, und sie kennt mein Lieblingslied noch, dachte sie traurig und blickte sich einige Zeit nach dem Mädchen um, konnte es jedoch nirgends entdecken und ließ sich schließlich mit zu Boden gerichtetem Blick auf die Matte sinken. Das Lied, obgleich Tassy es nicht annähernd so schön fand wie das Original, hallte leise durch die Halle und verlieh dem gesamten Geschehen einen harmonischen, beinahe romantischen Ausdruck, der Tassy Tränen in die Augen trieb.

Wieso musste Cecilia ausgerechnet in dem Augenblick, da sie einen flüchtigen Blick auf eine bestimmte Wand im Bonebreaker geworfen hat, ausgerechnet an jener Wand hinaufklettern? Wieso musste sie sich ausgerechnet Tassy aussuchen, mit der sie sich aus der gesamten Gruppe am stärksten angefreundet hatte?

"Ist alles in Ordnung mit dir?", ertönte plötzlich eine freundliche Stimme und riss Tassy aus ihren Gedanken, woraufhin sie aufblickte. Neben ihr stand eine dünne, breitschultrige Frau mit einem kurzen Pferdeschwanz, die mit grünlich leuchtenden Augen zu ihr herabsah und die Tassy ebenfalls aus dem Bonebreaker kannte.

"Ja, alles klar", antwortete sie schnell und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen, jedoch vergebens. Die sich bloß als dunkle Silhouette vor den grellen Lichtern abzeichnende Frau legte den Kopf schief und fuhr dann fort: "Du siehst aber nicht so aus, als wäre alles klar."

"Ach, ich... Hab' bei dem Wettbewerb eben keine gute Zeit geschafft, und..."

"Hat das Mädchen etwas mit dir zu tun?", fragte die Frau, jene Worte überhört zu haben scheinend, und nun war es Tassy, die den Kopf schief legte.

"Was?"

"Klein, braune Locken. Hat sich dieses Lied gewünscht und ist anschließend weinend

nach draußen gegangen."

"Wann?"

"Vor einigen Minuten."

Sofort erhob sich Tassy und schenkte der Frau ein dankbares Nicken.

"Danke. Ich gehe mal nach ihr sehen. Sie... sie hat 'was mit mir zu tun", sagte sie mit einem bedauernden Lächeln und machte schließlich kehrt, den von Mitleid erfüllten Blick der Frau auf sich ruhen spürend. Die unzähligen über die Matten schlendernden und sich an den Wänden entlangbewegenden Kletterer kaum wahrnehmend eilte Tassy auf die Eingangstür zu, die gesamte Halle schien plötzlich leer zu sein und das einzig vernehmbare Geräusch waren die leisen Töne einer Gitarre.

"Cecilia!", rief sie, als sie durch den scheinbar einsamen Flur lief, ohne die auf ihr ruhenden, neugierigen Blicke einiger Kletterer zu bemerken.

Schnell öffnete sie die gläserne Tür, zwengte sich hindurch, als diese kaum mehr als einen Spalt weit offen stand und sprang nach draußen, wo sie kühler, eine frische Brise mit sich tragender Wind empfing.

Sie hielt einen Augenblick inne und sah sich aufgebracht nach allen Seiten um, ehe sie auf der anderen Straßenseite eine auf einer unter einem breiten Baum ruhenden, schmalen Bank kauernde Gestalt entdeckte, die das traurige Gesicht in den dünnen Händen vergraben hatte.

"Hey, Cecilia", rief Tassy und eilte dann über die Straße, doch das Mädchen drehte sich blitzschnell herum und kehrte ihr wortlos den Rücken zu.

"Komm zurück in die Halle. Hier draußen zu sitzen bringt auch nichts."

Sie konnte ein Schlucken nur schwer unterdrücken und blickte kurz zur Seite, um ihre Trauer sowie Wut auf sie zu verbergen und ihr Gedächtnis nach den richtigen Worten abzusuchen, die Cecilia wieder in die Halle zu bewegen imstande wären.

"Hör zu, wir können..."

"Wir können gar nichts, Tassy", zischte Cecilia mit zitternder, schluchzender Stimme und schnitt ihr somit das Wort ab, " bitte lass' mich in Ruhe."

"Wieso soll ich dich in Ruhe lassen?", erkundigte sie sich daraufhin mit ruhiger, beinahe flüsternder Stimme, "ich hab' nichts gemacht. Lass uns gleich einfach zurück in die Halle gehen und das Ganze für diesen einen Tag vergessen. Ich... Ich weiß, dass nicht alles gelogen war, was du..."

"Es bringt nichts, darüber zu sprechen. Geh' in die Halle zurück. Ich komme gleich nach", schluchzte sie, woraufhin Tassy den Kopf schief legte, "Kann ich dich allein lassen?"

"Was soll mir denn schon passieren? Und außerdem... Was kümmert es dich?"

"Denkst du, nur weil ich weiß, was du getan hast, wäre mir die Zeit, in der wir befreundet waren, scheißegal?" Sie seufzte. "Dir mag es vielleicht zwar noch ein bisschen dreckiger gehen als mir, aber denk' nicht, dass ich diesen Tag heute genießen kann. Ich hab' dich echt gemocht, Cecilia, und..."

Sie schnitt ihr abermals das Wort ab: "Nenn' mich nicht Cecilia. Das ist nicht mein Name, Tassy. Die Person, die du damals im Bonebreaker entdeckt hast, existiert nicht!"

"Hey, ist alles in Ordnung bei euch?", ertönte plötzlich eine verwirrte Stimme unmittelbar hinter Tassy, die sofort erschreckt herumfuhr.

"Kat!", rief sie aus und unterdrückte ein heftiges Schlucken sowie das Zittern in ihrer Stimme, "was machst du hier?"

"Ich suche euch zwei. Warum seid ihr nicht mehr in der Halle? Ist was passiert?"

"Quatsch", antwortete Tassy und versuchte derartig krampfhaft, ein Grinsen zustande zu bringen, dass sie vermutete, bloß umso trauriger und verzerrter auszusehen.

"Cecilia ist nervös wegen dem Finale."

"Welches Finale?", fragte Kat skeptisch und legte den Kopf schief, "Für dieses jump-and-run- Dings gibt's kein Finale."

"Oh", sagte Tassy mit gespielter Überraschung und drehte sich zu Cecilia um, die ihre Tränen zwar inzwischen getrocknet hatte, die ihre glasigen Augen umgebende, rote Färbung jedoch nicht zu verstecken vermochte.

"Dann ist ja alles klar, Cecilia. Komm, wir gehen wieder rein."

Mit einem letzten beinahe verwirrten Blick auf Cecilia machte Kat schließlich kehrt und eilte schnellen Schrittes über den heißen Asphalt der Straße, während Tassy einen Augenblick innehielt und das sich langsam von der Bank erhebende Mädchen traurig, jedoch auch erleichtert ansah. "Komm mit, Cecilia", murmelte sie und folgte Kat dann erneut in die Halle hinein, wo sie die stickige Luft eines mit einer gewaltigen Menge an Kletterern angefüllten Boulderraumes empfing.

"Du warst schnell", sagte Tassy nach einiger Zeit mit nunmehr ausdrucksloser Stimme, als Kat irgendwann inmitten der unzähligen Menschen verschwunden war, "sehr schnell."

"Du auch."

"Zwei Sekunden langsamer als du."

"Trotzdem." Die Stimme des Mädchens zitterte ein wenig, und ihr verzweifelter sowie vergeblicher Versuch, ihre knappen Worte ebenfalls möglichst ausdruckslos klingen zu lassen, war unverkennbar.

Tassy sog einmal tief die Luft ein, ehe sie mit zu Boden gerichtetem Blick sagte: "Ich... ich fänd's cool, wenn du... wenn du einen Preis kriegen würdest, oder so."

Zunächst öffnete Cecilia den Mund, um zu antworten- ihrem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass sie sich für jene Worte hatte bedanken wollen- stockte dann jedoch und konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken, ehe sie nach einem kurzen Zögern schließlich krächzte: "Das kann ich nicht verstehen."

Ohne eine Antwort Tassys abzuwarten, fuhr Cecilia herum und zwängte sich durch die am Rande der Matten stehenden Kletterern hindurch, bis sie aus Tassys Blickfeld verschwunden war. Diese blieb unbeweglich stehen und versuchte, dem Mädchen mit ihren in tiefer Enttäuschung glänzenden Augen zu folgen, doch sie konnte es nach nur wenigen Augenblicken nirgends mehr ausmachen. Erneut war es ihr, als stünde sie völlig alleine in einem leeren, tristen Raum mit kahlen Wänden, vereinsamt wie ein uralter Friedhof, der sie von allen Seiten einschloss, sie gefangen hielt. Noch nie hatte sie in einer Boulderhalle auch nur den Hauch eines solchen Bedürfnisses gespürt, sofort hinauszustürmen und davonzurennen, bis das Gebäude längst aus ihrem Blickfeld verschwnden war.

Am Rande nahm sie mit einer grotesken Erleichterung wahr, dass ein neues Lied angestimmt worden war und der Sänger mit seiner tiefen, grölenden Stimme erneut in das Mikrophon hineinzubrüllen begonnen hatte, während sie sich abermals auf die Wände zubewegte.

Verdammt, ich will nach Hause, dachte sie bloß, und die Lichter um sie herum schienen sich plötzlich zu verdunkeln.

Tassy erwachte. Sie spürte die nicht allzu weiche, beinahe rauhe Oberfläche des ihr als Matratze dienenden Crashpads unter sich sowie das kalte Licht des Mondes, der sein silbernes Licht durch die gläsernen Fenster warf. Sie blinzelte langsam und warf dann einen flüchtigen Blick zu der über ihr hängenden Uhr, deren kontinuierliches Ticken sie nervös machte. Ständig schloss sie die Augen, genoss für einen kurzen Augenblick die Stille, und dann- Tick- Tack. Mit jedem Mal schien das Geräusch lauter zu werden, penetranter, bösartiger. Wie ein gehässiges Lachen drang es an Tassys Ohren und schien sie dazu zwingen zu wollen, mit irgendeinem harten Gegenstand nach der Uhr zu werfen.

Es waren drei Uhr siebenundfünfzig, eine halbe Stunde, nachdem sie eingeschlafen war, und ein pochender Schmerz war nunmehr in ihren Kopf getreten- nicht etwa vor Müdigkeit, sondern von dem ständigen verzweifelten Versuch, ugre Trauer und den leisen Schimmer von Wut auf Cecilia vor den anderen zu verbergen. Sie seufzte tief und schloss die Augen. Stille... Tick- Tack... "Das ist doch wohl nicht wahr", zischte sie kaum wahrnehmbar an sich selbst gewandt, dann stand sie auf.

Einige der Boulderer hatten ihre Nachtlager in dem geräumigen, eigentlich als eine Art Café dienenden Raum errichtet, der an den Boulderraum in der zweiten Etage grenzte. Die meisten jedoch hatten beschlossen, in jenem Boulderraum auf den Matten zu übernachten.

Tassy blickte unwillkürlich zu der auf einem voluminösen Sitzsack zusammengekauerten Cecilia hinüber, und irgendwie spürte sie, dass das Mädchen sie mit zusammengekniffenen Augen durch die in ihr schmales Gesicht fallenden Locken hindurch anblickte- dieser seltsame, beinahe verstörende Gedanke jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Wenn Cecilia wollte, dass die anderen nicht das Geringste bemerkten, warum führte sie sich dann so auf? Dachte sie, es würde dazu beitragen, dass Tassy nicht an die vergangene Zeit und die damit verbundenen Ereignisse dachte, wenn sie sich für sie deren Lieblingslied wünschte?

Unwillkürlich schüttelte Tassy den Kopf, um jene Gedanken zu verdrängen, schlenderte langsamen Schrittes zu einem weiß lackierten Regal hinüber und nahm ihre Kletterschuhe heraus, ehe sie beinahe lautlos aus dem Raum hinaustrat. Sie glaubte, ein unangenehmes Kribbeln in sich aufsteigen zu spüren, als sie daran dachte, wie Cecilia ihr mit von Trauer erfülltem Blick hinterhersah, und kämpfte gegen das stechende Bedürfnis an, sich in ihre Richtung herumzudrehen.

Als sie die Tür geräuschlos hinter sich schloss, glaubte sie, aus den Augenwinkeln zu sehen, wie jemand verschlafen den Kopf hoch, achtete jedoch nicht weiter darauf und eilte leichtfüßig die steinerne Treppe hinab. In den unteren Boulderraum gelangte nur so viel Licht, dass sich Tassys Augen erst nach einiger Zeit an die Dunkelheit gewöhnen müsste, und sie tastete vorsichtig nach einem Lichtschalter, während sie mit zusammengekniffenen Augen die Umrisse der Wände zu erkennen versuchte. Micky, der Hallenbesitzer, hatte ihnen selbstverständlich erlaubt, die Kletterwände auch bei Nacht nutzen zu dürfen, und Tassy hatte irgendwie bereits geahnt, dass sie in jener Nacht nicht allzu viel Ruhe finden würde.

Sie fuhr mit der Hand an der Wand entlang, und schließlich wurde die Halle in ein grelles, sie zunächst einige Male zum Blinzeln zwingendes Licht getaucht. Schnell ließ sie sich auf dem kalten Boden nieder und zwengte ihre von den vergangenen Stunden schmerzenden Füße abermals in die engen Kletterschuhe hinein, ehe sie aufsprang und schnellen Schrittes auf die Wände zueilte. Plötzlich hörte sie ein kaum wahrnehmbares Geräusch wie jenes eines herabfallenden, auf den Matten aufkommenden Boulderers, und nur wenige Augenblicke später sah sie eine Gestalt hinter einer stark überhängenden Wand hervorkommen.

"Tine?", rief sie etwas verwirrt und trabte zu der ihr freundlich zulächelnden Frau hinüber, ehe sie sah, dass sich zwei weitere Boulderer an den Wänden entlangbewegten.

"Warum klettert ihr im Dunkeln?"

"Wir wollten es mal ausprobieren, weißt du", antwortete sie grinsend, "wenn man schon in einer Boulderhalle übernachtet, kann man es auch ausnutzen, im Mondschein zu klettern." Sie hielt einen Moment lang inne, warf einen kurzen Blick auf ihre beiden Begleiter und sah dann wieder zu Tassy, die sich unwillkürlich zu der Treppe herumgedreht hatte- sie vermutete irgendwie, Cecilias zierliche Gestalt dort im silbernen Schimmer des Mondlichtes stehen zu sehen.

"Und du?" Tines Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

"Ach, ich... Ich hatte plötzlich Lust, zu bouldern."

Tines Miene verfinsterte sich plötzlich kaum wahrnehmbar, dann fragte sie: "Was ist mit Cecilia?"

Tassy spürte, wie sie bei dem Klang jenes Namens erschreckt zusammenzuckte, unterdrückte den nervösen Ton in ihrer Stimme jedoch im nächsten Moment. "Sie hat den dritten Platz gemacht, von total vielen. Sie hat einen Pokal gewonnen. Und das, obwohl sie erst so kurz bouldert. Ich denke, sie fühlt sich prächtig."

"Ja, für einen Anfänger war das sehr gut", erwiderte Tine, "beinahe ungewöhnlich, meines Erachtens nach."

"Sie hat Talent", antwortete Tassy, "viel Talent. Ich bin kein besonders erfahrener Boulderer, aber ich glaube, ich hab' noch nie einen gesehen, der so schnell Fortschritte macht."

Tine nickte skeptisch, beinahe misstrauisch, schwieg jedoch einen Augenblick und seufzte dann: "Es scheint wohl so. Ich finde allerdings, dass sie heute den ganzen Tag schon ein wenig...Nun ja... traurig wirkt. Geht es ihr nicht gut?"

"Ich denke, sie fühltt sich immer noch 'n bisschen fremd. So viele neue Gesichter und so. Ich meine, sie ist vor kurzem erst zum ersten Mal im Bonebreaker gewesen."

"Womöglich. Aber es ist nicht so, dass sie nicht schon Aufmerksamkeit mit ihrem Talent erregt hätte. Na ja... Egal." Sie seufzte abermals lächelnd, dann fuhr sie mit freundlicher Stimme fort: "Machst du den Schwarzen mit?"

"Klar, wieso nicht", murmelte Tassy, "ich mach zuerst ein paar Einfache."

Sie lächelte Tine kurz freundlich zu und drehte sich dann langsam herum- als sie jedoch gerade auf die gegenüberliegende Wand zutrat, sah sie aus den Augenwinkeln eine vertraute Gestalt unmittelbar vor der Treppe stehen, unbeweglich und mit beinahe ängstlichem Blick. Tassy zögerte, unsicher, wie sie darauf reagieren sollte, dass Cecilia ihr trotz allen Geschehnissen gefolgt war, und versuchte schließlich, sie nicht weiter zu beachten. Warum bleibst du nicht einfach oben, Cecilia?, dachte sie, während sich ihre Hände um den Startgriff schlossen und sie sich nicht völlig mühelos daran hinaufzog, in der Hoffnung, Cecilia wäre nicht aufgefallen, dass sie sie wahrgenommen hatte. Als sie sich an dem nächsten Griff festhielt, spürte sie einen von den unzähligen Routen des vergangenen Tages verursachten Schmerz in ihre Fingerspitzen fahren und die engen, abgenutzten Kletterschuhe erzeugten ein unangenehm drückendes Gefühl an ihren Füßen, doch es fühlte sich besser an, mit vor Anstrengung schmerzenden Gliedern an der Wand zu hängen, als dort unten auf den Matten zu stehen und Cecilias beinahe sehnsüchtigem Blick standzuhalten.

Unwillkürlich hielt Tassy inne, drückte sich dann kraftvoll ab und schnellte zu dem nächsten Griff, an welchem sie einen nunmehr mühseligen, ihr die allerletzte Kraft zu entziehen drohenden Klimmzug vollzog, doch diese Anstrengung schien ihre Trauer für einen kurzen Augenblick zu begraben. Sie sog einmal tief die Luft ein, hielt den Griff mit festem Griff gepackt und löste ihre Füße von den schmalen Tritten- jeder Muskel in ihren Armen spannte sich an, und plötzlich fuhr ein brennender Schmerz von ihren Händen durch sie hindurch, und ihre Arme begannen, vor Erschöpfung zu zittern. Das nicht zu unterdrückende Brennen in ihren Fingerspitzen, das von Anstrengnung erzeugte Pochen in ihren angespannten Muskeln hatte sich nie so gut angefühlt, und sie kämpfte gegen das drängende Bedürfnis an, sich der Erleichterung des Loslassens hinzugeben.

Bleib dran, Tassy, zischte sie in Gedanken, lass nicht los. Sie stöhnte, und die Kraft schwand aus ihren Fingern.

Komm schon!

Doch ihre Fingerspitzen gaben nach, ihre Hände öffneten sich scheinbar unwillkürlich und glitten schließlich von dem Griff hinab, sodass Tassy aus der Wand hinauskippte und zu Boden stürzte. Unsanft kam sie in einer grotesken, unkontrollierten Position auf den Matten auf und stieß ein verärgertes Zischen aus, ehe sie sich langsam erhob. Ihre Arme zitterten, ihre schmerzenden Hände verkrampften sich und sie biss die Zähne zusammen, als sie neben sich kaum wahrnembahre, jedoch schnell näherkommende Schritte vernahm.

"Ich dachte, ich soll dich in Ruhe lassen", sagte sie mit starr auf die Wand gerichtetem Blick sowie ruhiger Stimme, "warum folgst du mir dann?"

"Ich wusste gar nicht, dass du hier bist."

Nein? Du hast mir doch hinterhergeglotzt, dachte Tassy mit einem Anflug von Wut, verdrängte diesen jedoch und blieb zunächst still. "Wie geht das weiter, wenn wir zuhause sind?"

"Ich habe doch schon versprochen, dass ich mich, sobald wir wieder zuhause sind, von euch fernhalten werde."

Tassy wollte zunächst widersprechen, ihr abermals sagen, dass ihr dieses Versprechen nicht gefiel, wusste jedoch, dass das Mädchen sich nicht umstimmen lassen würde.

"Bouldern wir zusammen?"

"Ein letztes Mal?"

"Ein letztes Mal." Sie musste heftig schlucken, als sie jene Worte mit einer derartig von Trauer verzerrten Stimme aussprach, dass Cecilia sie vermutlich nicht einmal verstanden hatte.

Sie boulderten einige Stunden gemeinsam, bis die Sonne mit ihrem leuchtenden, blutroten Licht über die Dächer kroch, und Tassy fand, dass das Beenden einer schwierigen Route nie zuvor von einer solchen Endgültigkeit erfüllt gewesen war.

 

Versöhnung mit Lilly

 

"Ich muss euch was erzählen, Leute." Tassy seufzte und blickte mit traurigem, beinahe schuldbewussten Blick zu Boden, woraufhin Nick fragte: "Wenn's so wichtig ist, sollten wir es dann nicht besprechen, wenn alle dabei sind? Also, Lilly und Cecilia?"

Sie heißt nicht Cecilia, wollte Tassy zunächst sagen, entschied dann jedoch, dass ihre Freunde das Mädchen so in Erinnerung behalten sollten, wie sie sie gekannt hatten- als Cecilia.

"Ich hab' gewartet, bis sie weg ist", fuhr sie schließlich fort, "weil sie es ist, die es betrifft. Also... Cecilia hat zu den Nibos gehört, sie sollte uns ausspionieren, für sie."

"Das kann doch nicht...", zischte Nick, und Tassy sah die unverkennbare Ungläubigkeit sowie das Entsetzen in den Augen ihrer Freunde funkeln. "Lilly hatte Recht. Cecilia hat wirklich zu denen gehört. Aber..." Sie zögerte. "Sie hat es nicht gerne gemacht. Sie mochte uns."

"Wenn sie uns gemocht hätte", widersprach Nick, "hätte sie das nicht getan."

"Vielleichzt hatte sie einfach Angst, was zu sagen", murmelte Kat mit einem beinahe abwesenden Blick auf den Zug, der gerade mit einem ruhigen Schnaufen an ihnen vorüberfuhr und irgendwann am Horizont verschwunden war.

Tassy nickte. "Genau das ist der Punkt. Wisst ihr, sie hat in ihrer Vergangenheit viel Scheiß durchgemacht."

"Was denn?"

"Ganz genau weiß ich es selbst nicht. Sie wurde viel gehänselt und so weiter, hatte wohl keine Freunde. Jedenfalls hatte sie Angst vor den Nibos, und sie hatte natürlich Angst, uns zu verlieren, schätze ich."

"Trotzdem hätte sie was sagen müssen", fuhr Nick fort, "wir hätten ihr helfen können."

"Versetz' dich mal in ihre Situation, Nick", zischte Kat, "wenn sie früher irgendwas erlebt hat, was Schlechtes, dann ist es klar, dass sie nicht so offen über alles reden möchte. Man kann nicht sagen, was sie hätte machen sollen oder nicht- wir waren nie in ihrer Situation."

Erst jetzt spürte Tassy, welche seltsame Wirkung jenes Gespräch auf sie hatte, das sie bereits gefürchtet hatte- es schien so unwirklich, dass sie zu dritt dort standen, ohne Lilly, ohne Isa, und sich darüber unterhielten, warum Cecilia nicht mehr zu ihnen gehörte. Cecilia gehörte nicht mehr zu ihnen, womöglich nie wieder. Jene Endgültigkeit schien Tassy in diesem Augenblick erst klar zu werden, und sie blickte enttäuscht zu Boden. "Schön gesprochen, Kat", murmelte sie mit einem zaghaften Grinsen und fuhr nach einem Zögern fort: "Jedenfalls wird sich Cecilia ab jetzt von uns fernhalten. Hat sie gesagt."

"Aber wir könnten ihr helfen", widersprach Kat.

"Ich glaube, sie will keine Hilfe."

In Gedanken fügte sie hinzu: Obwohl ich ihr so gerne geholfen hätte.

Langsam schlenderte Tassy über die von sanftem Wind gestreiften Gräser, ihr Blick schweifte über die sattgrüne Wiese, die Bäume sowie den harmonisch glänzenden Fluss, und blieb schließlich an einer schmalen, von bunten Schriftzügen überzogenen Mauer hängen, wo vor einiger Zeit ein Mädchen mit dunkelbraunem Haar und zurückhaltendem, jedoch freundlichen Blick gesessen hatte.

Mit einem leisen Seufzen ließ sie sich auf der Mauer nieder, und während sie die über die Rampen am anderen Ende der Wiese schießenden Skater beobachtete, fiel ihr plötzlich auf, wie sie eine leise Melodie zu pfeifen begonnen hatte.

Cecilia, you're breaking my heart...

"Was pfeifst du?", wurde sie plötzlich von einer Stimme unterbrochen, fuhr schlagartig herum, beinahe Cecilias zierliche Gestalt unmittelbar hinter sich erwartend, blickte dann jedoch in Lillys sie neugierig ansehende Augen.

"Hi, Lilly." Sie seufzte und zögerte lange Zeit, unwissend, wie sie sich am besten bei ihrer Freundin entschuldigen sollte.

"Hallo, Tassy."

"Du, ich muss mich bei dir entschuldigen."

"Angenommen", sagte Lilly und grinste beinahe erleichtert, "weißt du, ich hab'... ich hab' schon überreagiert, und... die ganze Zeit allein zuhause, das habe ich nicht ausgehalten. Man hält es einfach nicht aus, mehr als einen Tag mit dir zerstritten zu sein. "

"Du hättest die Fahrt mitmachen sollen."

"Ach, nö. So viel hab' ich bestimmt nicht verpasst."

Tassy kannte Lilly gut genug, um zu wissen, dass das Mädchen im Nachhinein alles darum gegeben hätte, die Fahrt nicht zu verpassen und in Wahrheit sehr neidisch sowie eifersüchtig auf ihre Freunde war, sagte jedoch nichts.

"Wer war alles dabei?"

"Kat, Nick, Cecilia und ich."

"Isa nicht?"

"Nein. Ich wollte sowieso vorschlagen, dass wir sie mal besuchen gehen. Sie tut mir richtig leid. Darf immer noch keinerlei Sport machen."

"Ja, von mir aus können wir zu ihr gehen."

"Okay,cool. Und..." Tassy zögerte. "Auf dem Weg muss ich dir auch einiges erzählen."

Das grelle Licht der unzähligen Kerzen vermischte sich mit dem der vereinzelten in die geräumige Halle tretenden Sonnenstrahlen und warf lange Schatten auf den kargen, steinernen Boden, der bloß mit einem durchlöcherten Teppich bedeckt war, und die flüsternden Stimmen hallten an den hoch aufragenden Wänden wider.

"Wie konnte das passieren?!"

"Ich kann nichts dafür". Die antwortende Stimme war nichts als ein leises, wimmerndes Flüstern wie das eines verängstigten Kindes, das sich zu tief in einen finsteren Tannenwald hineingewagt hatte und nun nicht wieder hinaus fand.

"Jemand hat meinen Namen genannt, und da wussten sie es."

"Dann kannst du auch nicht mehr als unser... Wie sagt man... Verbindungsstück mit ihnen funktionieren", fuhr die erste Stimme ausdruckslos fort.

"Nein. Ich muss mich von ihnen fernhalten."

"Das ist..." Zunächst schien die Stimme der Person, die als erstes gesprochen hatte, einen wütenden Ausdruck anzunehmen, diese hielt dann jedoch inne und fuhr mit einem gehässigen Lachen fort: "Dann hast du ja nix mehr zu verlieren. Jungs, wir können die Sau rauslassen!"

"Was?!" Isas Augen weiteten sich zu riesigen, entsetzten Kreisen, und Tassy brachte zunächst nichts als ein kaum wahrnehmbares Nicken zustande.

"Ja, es stimmt. Ich verarsch' dich nicht, Isa."

Das Mädchen blickte sich nach allen Seiten um, als vermutete sie, einer der Nibos könnte mit einem Mal hinter ihr auftauchen, und widmete ihre Aufmerksamkeit dann erneut dem vor ihr auf dem Tisch liegenden Donut.

Tassy seufzte und wartete darauf, dass das Mädchen sie mit Fragen zu überhäufen begann, doch dieses biss bloß genüßlich in das mit dunkler Schokolade überzogene Gebäck hinein und hinterließ große, braune Flecken auf beiden ihrer Wangen.

Unwillkürlich warf sie einen Blick auf die Uhr- es waren beinahe halb zehn- und bemerkte erst jetzt, dass die Sonne längst hinter den hoch in den Himmel ragenden Silhouetten der Häuser verschwunden war. Sie und Lilly hatten sich auf dem langen Sofa in Isas Wohnzimmer niedergelassen und versuchten schon seit beinahe zwei Stunden, dieser bei ihren Englisch-Hausaufgaben behilflich zu sein, doch Isa brachte sie ständig durch jegliche Arten von Ablenkung auf andere Gedanken- vermutlich vermuteten Isas Eltern, dass ihre Tochter längst zu Bett gegangen war.

Es waren bereits drei Tage nach ihrer Rückkehr aus dem Affenstall vergangen, und somit auch nach ihrer Verabschiedung von Cecilia, doch jedes Mal, wenn Isa etwas sagte, was nur annähernd mit dem Mädchen oder der Zeit mit ihm in Verbindung stand, konnte Tassy ein heftiges Schlucken nicht unterdrücken.

"Isa, sieh mal, hier musst du das einsetzen, was da unten steht", murmelte sie und wies mit dem Finger auf eine Stelle des Arbeitsblattes, wo ein kurzer Lückentext eingefügt war, doch Isa schien ihre Worte nicht zu hören.

"Ach, Hausaufgaben sind scheiße!", zischte sie dann, nahm Tassy das Blatt aus der Hand und zerknüllte es mit hektischen Bewegungen zu einem unordentlichen, nur annähernd eine rundliche Form besitzenden Ball.

"Alter, mach das nicht, du kriegst sonst nur Ärger", widersprach Tassy ruhig, nahm ihr das Blatt aus der Hand und versuchte, es erneut auseinanderzufalten, doch dem Mädchen war es irgendwie gelungen, unzählige Risse darin zu hinterlassen, die die Texte in nicht allzu sinnvolle Abschnitte gliederten.

"Isa!", rief Lilly aus, sichtlich entsetzt, "du kannst nicht einfach Hausaufgaben zerknüllen! Wenn die Lehrer das merken, dann kriegst du immer schlechte Noten, weißt du, die stecken dich in eine Schublade, und... Das geht doch nicht!"

Tassy grinste amüsiert. Niemand nahm Dinge derartig ernst und versetzte jemanden bei den kleinsten Problemen so sehr in Panik, wie Lilly es tat, doch in jenem Fall musste sie ihrer Freundin zum Teil zustimmen. Isas trotziger Blick verriet jedoch, dass sie nicht vorhatte, ihre Tat rückgängig zu machen, dann griff sie nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher mit einem leisen Knurren ein, welches sagen zu wollen schien: "Ich mache, was ich will."

"Hat jemand Lust auf 'ne Pizza?", fragte sie dann und legte ihre zierlichen Füße auf dem hölzernen Tisch ab, woraufhin Tassy und Lilly gleichzeitig nickten.

"Im Kühlschrank ist noch eine von heute Mittag, könnt ihr euch holen."

Tassy zögerte, da sie es hasste, sich in einem fremden Zuhause an jeglichen Schränken zu bedienen, doch Lilly, die sofort von dem Sofa aufsprang, schien dies nicht allzu viele Probleme zu bereiten. Sie verschwand aus dem Zimmer, das Geräusch eines sich öffnenden Schranks ertönte, und wenig später tauchte sie mit einem von einer gewaltigen Pizza bedeckten Teller erneut neben ihr auf. Sofort reckte sich Isa in ihre Richtung, riss ein riesenhaftes Stück aus der Pizza heraus und biss derartig viel davon ab, dass Tassy vermutete, sie würde es nicht zu kauen vermögen.

In jenem Moment, da Isa mit auf dem Tisch ruhenden Füßen, einem riesigen aus ihrem Mund herausragenden Pizza-Stück und dem zerknüllten sowie zerrissenen Hausaufgabenblatt neben ihr auf dem Sofa saß, konnte Tassy sie sich nur schwer als das Mädchen mit den strengen, allzu viel Wert auf Ordnung sowie schulische Leistungen legenden Eltern vorstellen- doch diese waren außer Haus.

Mit auf den Fernseher gerichtetem Blick nahm sie sich ihrerseits ein Stück der kalten Pizza und wollte gerade hineinbeißen, als irgendwo hinter ihr ein ohrenbetäubendes, schrilles Klingeln ertönte.

Sie sprang erschreckt auf, ließ die Pizza unwillkürlich fallen und fuhr herum, ehe sie ein auf einer kleinen Garderobe ruhendes Telephon erblickte, von welchem das Geräusch ausging.

"Heilige Scheiße, meine Pizza ist runtergefallen!", zischte sie verärgert, woraufhin ihre beiden Freundinnen ein schallendes Lachen ausstießen.

"Hey, das ist nicht lustig!", rief sie grinsend aus und bückte sich nach dem heruntergefallenen Stück, während sich Isa erhob und scheinbar auf das klingelnde Telephon zueilte.

"So ein Mist", murmelte Tassy, das mit der belegten Seite nach unten auf dem Boden klebende Stück aufzuklauben versuchend, während Isas plötzlich übermäßig freundlich klingende Stimme im Hintergrund ertönte: "Hallo? Wer spricht da?"

Zunächst achtete Tassy nicht weiter auf das Mädchen, bemerkte dann jedoch das seltsame Schweigen, das plötzlich einkehrte, und blickte verstört zu jenem hinüber. Reglos stand Isa vor dem Regal, der Hörer des Telephons lag in ihrer zitternden Hand und ihre Augen waren aufgerissen, dann quoll plötzlich ein gewaltiger Schwall glasklarer, von einer Quelle des Entsetzens gespeister Tränen daraus hervor.

"Isa", wisperte Tassy und spürte, wie ihr Atem zu stocken drohte, "was ist passiert?"

Das Mädchen schluckte, hielt den Blick starr auf einen undefinierbaren Punkt in der Ferne gerichtet und schluchzte dann: "Der Bonebreaker brennt!"

 

Staub und Asche

 

Die ohrenbetäubenden Schreie von Sirenen zerschnitten die knisternde Luft, der beißende Geruch nach Asche sowie dem die Wolken schwarz färbenden Rauch brannte in Tassys Lungen, und in dem blutroten, in ihren Augen funkelnden Licht der züngelnden Flammen spiegelte sich ihr blankes Entsetzen.

"Sie müssen es löschen, Tassy, sie müssen!" Isa rannte mit verzerrtem, von Tränen benetzten Gesicht auf sie zu, schlang ihre Arme um sie und vergrub ihr Gesicht mit einem lauten Schluchzen in ihrer Lederjacke, woraufhin Tassy unwillkürlich zu zittern begann. Laute Rufe von hektisch umhereilenden Feuerwehrmännern, das Dröhnen der Sirenen sowie das Geräusch der auf die Flammen niederdonnernden Wasserstrahlen hämmerten auf sie ein, und einen Augenblick lang glaubte sie, dem gesamten Anblick dieser schrecklichen Szene, die sich vor ihr abspielte, nicht standhalten zu können.

Sie blickte von einer Seite zur anderen- zu ihrer linken rannten die Boulderer, die soeben noch in der Halle geklettert waren, entsetzt über die Straße, zu ihrer Rechten standen ihre Freunde mit verzweifelt auf den Bonebreaker gerichteten Blicken und zum Teil tränenden Augen, und unmittelbar vor ihr kauerte die Boulderhalle in einem Meer aus Flammen, inmitten von einer Wolke schwarzen, undurchdringlichen Rauchs. Von dem Eingangsschild waren nur noch vereinzelte Fetzen erkennbar, aus den geöffneten Fenstern drangen dichte Rauchschwaden, und jedes Mal, wenn aus dem lodernden Inneren irgendein Geräusch ertönte, entstanden vor Tassys geistigem Auge die Bilder der in sich zusammenbrechenden Wände, die Bilder des sich den Flammen hingebenden Holzes und der schmelzenden Plastikgriffe.

"Scheiße...", flüsterte Kat, stellte sich neben Tassy und strich Isa, die sich noch immer an dieser festklammerte, mit zitternden Händen über den Kopf.

"Alles wird gut", wisperte Tassy und tat es ihrer Freundin mit einem kurzen Seufzen gleich, ahnte jedoch, dass ihre Worte nicht der Wahrheit entsprachen.

Was so lange Zeit wie ihr zweites Zuhause gewesen war, wo sie unzählige Freunde gefunden und viele Erfolge erlebt hatten, stand in Flammen, ging in einer schwarzen Wolke in den Himmel auf und würde nie wieder sein, was es einst war. Nie wieder.

"Wie konnte das passieren?", flüsterte Tassy und blickte mit von Trauer verzerrtem Blick sowie feuchten Augen zu Kat, doch diese schüttelte nur den Kopf und formte ihre stummen Worte mit den Lippen. "Ich weiß es nicht."

"Leute!", krächzte Lilly, eilte ebenfalls auf sie zu und schlang ihre Arme um Kat und Tassy gleichzeitig, sodass diese den Halt zu verlieren drohte.

"Es ist vorbei", schluchzte Isa, löste ihren Griff schließlich von Tassy und blickte ihr dann so tief in die Augen, als wolle sie jeden einzelnen Gedanken, jedes Gefühl herauslesen, ehe sie fragte: "Er ist kaputt, oder, Tassy? Es wird den Bonebreaker nie mehr geben, oder?"

"Ich weiß es nicht, Isa".

"Danke, dass ihr gekommen seid", ertönte eine vertraute Stimme, und Tassy blickte sich zunächst verwirrt um, ehe sie Tine bemerkte, die sich mit unverkennbar geröteten Augen und heftig zitternder Stimme zu ihnen gesellt hatte.

"Oh Gott, Tine!", kreischte Lilly und vergrub ihr Gesicht in den Händen, als sie die Frau sah.

Tassy seufzte tief, ehe sie flüsterte: "Tut mir so leid, Tine."

"Ja, mir auch", fügte Nick hinzu, der bisher geschwiegen und das gesamte Geschehen mit beinahe ungläubigem Blick beobachtet hatte.

"Ist... Es ist niemand mehr drinnen, oder?", erkundigte sich Lilly mit zitternder Stimme, woraufhin Tine den Kopf schüttelte.

"Als das Feuer bemerkt wurde, sind alle sofort rausgerannt, aber..." Sie schluckte. "Heute war sowieso nicht viel los. Die Feuer... Feuerwehr-Leute sind nochmal rein, a.. aber es war niemand mehr dort."

Nun ergriff Tassy das Wort: "Wieso hat es angefangen zu brennen?"

Tine zögerte, sichtlich verwirrt von diesen Worten. "Es muss da ausgebrochen sein, in diesem Zimmer, wo... Wo die Tür zuletzt kaputt war, irgendwo dort. Aber..."

"Da ist doch nichts, was brennen könnte!", schrie Isa, warf einen flüchtigen Blick auf die Flammen und klammerte sich dann an Kat fest.

"Kabelbrand, womöglich", murmelte diese, doch Tine schüttelte den Kopf.

"Dort oben sind keine, ich... Bin mir ziemlich sicher. Es muss etwas anderes gewesen sein... Ich werde mal mit der Feuerwehr reden."

Sie schenkte ihnen ein letztes Nicken, das von Trauer, Mitgefühl und einem leisen Funken Respekt zeugte, ehe sie schließlich kehrtmachte und hinter einigen der Feuerwehrautos verschwand.

Tassy legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf in den von unzähligen Sternen übersäten Nachthimmel, vor den sich eine unheilvolle, das Licht des Mondes am Erhellen der dunklen Gassen hindernde Schicht schwarzen Rauchs gelegt hatte, während die Geräusche um sie herum mit der Zeit an Lautstärke zu verlieren schienen.

Die Rufe der unzähligen Menschen war in den Hintergrund getreten, die Sirenen schienen schon immer dagewesen zu sein und das leise Knistern hätte der sternenklaren Nacht einen beinah harmonischen Ausdruck verliehen, wäre es nicht gerade im Begriff, den in ihren Augen schönsten Ort überhaupt endgültig zu zerstören.

"Wir bleiben doch trotzdem befreundet, oder?"

"Natürlich, Isa. Sowas ist doch nicht von einem Gebäude abhängig. Und wir bleiben Boulderer. Vielleicht kriegen sie die Halle ja wieder hin..."

"Ich will hier weg!", schluchzte das Mädchen, "ich will das nicht mehr sehen!"

"Ich eigentlich auch nicht", murmelte Tassy und blickte von einem zum anderen, woraufhin ihre Freunde zustimmend nickten.

"Ich glaube, Tine hat nicht viel davon, wenn wir alle hier stehen und gaffen", antwortete Nick, "kommt, lasst uns gehen."

Zugleich drehten sie sich herum, als wollten sie das brennende Gebäude nie wieder ansehen, und schlenderten schließlich mit langsamen, unsicheren Schritten davon. Die Stimmen wurden undeutlicher, die Sirenen leiser, und das Knistern schien nach einiger Zeit vom sanften Wind davongetragen zu werden. In Tassy wuchs die entsetzliche, tiefe Enttäuschung sowie einen Anflug von Sehnsucht in ihr hervorrufende Vermutung, dass sie den Bonebreaker in jener Nacht zum letzten Mal gesehen hatte, dass sie etwas, was so lange Zeit ein selbstverständlich scheinender Bestandteil ihres Lebens gewesen war, für immer zurückließ. Morgen, so glaubte sie, würde nichts als ein schwarzer, verkohlter Backstein-Klotz von ihrer geliebten Boulderhalle übrig sein.

"Leute", flüsterte Nick mit beinahe geheimnisvoller Stimme und riss Tassy somit aus ihren Gedanken, dann spürte sie, wie er leicht an dem ausladenden Ärmel ihrer Lederjacke zog.

"Dort drüben." Er wies mit ausgestrecktem Finger auf ein flaches, zwischen zwei höher aufragende Gebäude gepresstes Dach, wo wenige sich vor dem rauchgeschwärzten Himmel nur als dunkle Silhouetten abzeichnende Gestalten auf einer niedrigen Mauer kauerten, doch trotz der Dunkelheit sowie der beinahe undurchdringlichen Rauchschwaden ahnte Tassy sofort, um wen es sich handelte.

"Diese verdammten Arschlöcher!", keifte sie, rannte, ohne sich einmal nach ihren Freunden umzublicken, los und erklomm sofort das erste Dach, das sich ihr in den Weg stellte.

"Tassy! Stopp!", hörte sie Nicks aufgebrachte Stimme, blieb am Rande des Gebäudes stehen und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf den Jungen herab.

"Du kannst sie dir nicht alleine vorknöpfen! Das endet im Chaos!"

"Ich will sie mir nicht vorknöpfen, du Pferdearsch", entgegnete Tassy und konnte, trotz des sie zu überwältigen drohenden Entsetzens, ein leises Grinsen nicht unterdrücken. So viel Mut traust du mir etwa zu?

"Ich wollte mich vergewissern, dass sie es sind." Sie zögerte, blickte kurz über die Schulter zu den Gestalten, und wandte sich dann erneut an den Jungen.

"Sie sind's. Aber sie sind nur zu dritt. Knöpfen wir sie uns gemeinsam vor?"

Alle zögerten lange Zeit, tauschten vielsagende Blicke und nickten dann.

"Darauf kannst du wetten", wisperte Kat und drehte sich dann zu Isa herum, "Isa, kannst du..."

"Nein!", unterbrach das Mädchen, "ich will mitkommen!"

"Isa, während wir hier was extrem Dummes und Unvernünftiges tun, was wir wahrscheinlich ewig bereuen werden, kannst du etwas extrem Nützliches tun und Tine bescheid sagen, dass wir höchstwahrscheinlich die Brandstifter gefunden haben."

Das Mädchen zögerte, als dachte es über alle erdenklichen Vorteile und Nachteile jenes Vorschlages nach, dann nickte sie mit einem entschlossenen Blick. "In Ordnung. Aber passt auf euch auf!"

Beinahe gleichzeitig nickten sie Isa dankbar zu, dann erklommen Nick, Kat und Lilly ihrerseits das Dach und kamen mit wütend funkelnden Augen auf die Nibos neben Tassy zum Stehen.

"Sie werden uns nicht sehen", murmelte Nick, "sie sitzen mit den Rücken zu uns."

"Sehen dabei zu, wie der Bonebreaker niederbrennt", flüsterte Tassy mit abermals aufflammender Enttäuschung, bemerkte jedoch, dass ein Teil der aus dem Innenraum dringenden Flammen bereits gelöscht worden war, und fügte in Gedanken hinzu: Vielleicht kann er ja gerettet werden...

"Okay, kommt. Wir müssen uns beeilen", zischte Kat, und somit setzten sie sich in Bewegung. Der beißende Geruch des Feuers brannte in ihren Lungen und der pechschwarze Rauch ließ sie umso mehr mit den dunklen Schatten verschmelzen, als sie sich zügig, jedoch mit vorsichtigen Bewegungen über die Dächer bewegten.

Sie glitten an niedrigen Mauern entlang, überwanden sie geschickt und hielten die nur noch wenige Dächer von ihnen entfernt kauernden Nibos stets im Blick, bis sie sich plötzlich auf einem Haus wiederfanden, von dessen Dach aus es keinen weiteren Weg gab- in allen Richtungen, mit Ausnahme jener, aus welcher sie gekommen haben, konnten sie bloß von dem Gebäude hinab auf den schmalen Weg springen.

"Sackgasse", verkündete Tassy, "was machen wir jetzt?"

"Runterspringen, und dann die Treppe dort drüben rauf", antwortete Nick und wies dann auf eine rostige, offenbar ewig nicht mehr benutzte Treppe, die sich an dem Gebäude hinaufschlängelte, wo die Nibos noch immer unbeweglich saßen.

"War klar", murmelte sie dann, "es musste ja eine Treppe geben, oder? Die machen es uns viel zu leicht."

Die schemenhaften Gestalten nicht aus den Augen lassend ging Tassy in die Knie, ergriff die Kante des Gebäudes und ließ sich langsam herabsinken, ehe sie schließlich davon ablies und leichtfüßig auf dem staubbedeckten Weg aufkam.

Rasch taten die übrigen es ihr gleich, und während sie sich dicht an den Wänden entlangbewegend durch die Gassen eilten, hoffte Tassy, dass Isa Tine bereits bescheid gegeben und sie die Polizei verständigt hatte. Denn wenn diese herausfände, dass die Nibos die Boulderhalle angezündet hätten, würden sie sehr lange nichts von den Jungen hören, vermutete Tassy.

"Ich gehe zuerst rauf", riss Nick sie aus ihren Gedanken, und erst jetzt bemerkte sie, dass sie die nicht sonderlich stabil wirkende Treppe erreicht hatten. Riesige Flächen dunklen Rostes zogen sich über das an einigen Stellen verbogene Geländer, und die von der letzten Platform der Treppe auf das Dach führende Leiter hatte über die unzähligen Jahre einige Sprossen einbüßen müssen.

"Dass die hier raufgekommen sind", murmelte Tassy und schlenderte dem Jungen die schmale Treppe hinauf hinterher, gefolgt von den anderen, "ich meine, da fehlen ein paar Stufen."

"Psst, wir müssen jetzt still sein", zischte Kat an ihre Freundin gewandt, woraufhin diese bloß verständnisvoll nickte und dann nach vorne blickte, wo Nick die unheilvolle Laute von sich gebende Leiter zu erklimmen begonnen hatte. Schnell griff er nach der Kante des flachen Daches und zog sich mühelos daran hinauf, ehe er Tassy mit einer kaum wahrnehmbaren Handgeste bedeutete, ihm zu folgen.

"Jetzt geht's um die Wurst", flüsterte sie an sich selbst gewandt und begann dann ihrerseits, die schmale Leiter hinaufzuklettern, wobei sie jedes Mal, wenn sich ihre Hände um die dünnen, rostigen Sprossen schlossen, ein unwohles Gefühl in sich aufsteigen spürte. Viel mehr jedoch beunruhigte sie der Gedanke, was geschehen würde, wenn sie den Nibos gegenüberständen, und sie war unsicher, wie sie in jenem Augenblick reagieren sollte- und wie die Jungen selbst reagieren würden. Ihnen Schimpfwörter an den Kopf werfen? Mit geballten, zum Schlag erhobenen Fäusten auf sie zurennen? Womöglich beides, dachte Tassy, während sie sich ebenfalls schnell an der Kante hinaufzog und wenige Augenblicke später neben Nick auf dem Dach kauerte, ein erleichtertes Seufzen ausstoßend.

Kat und Lilly folgten ihr rasch, und Tassy konnte sehen, dass in den großen Augen des braunhaarigen Mädchens das größte Entsetzen glomm.

"Lilly", wisperte sie, als diese sich neben ihr auf das Dach hievte, "ist alles klar?"

"Nein. Der Bonebreaker brennt. Wie kann da alles klar sein?"

"Du... Musst nicht mitkommen, wenn..."

"Doch", unterbrach Lilly, "wir brauchen alle von uns. Ich kann euch doch nicht im Stich lassen."

Tassy lächelte dankbar und schenkte ihr ein respektvolles Nicken. In diesem Augenblick merkte sie, wie stark das Band der Freundschaft zwischen ihnen allen war- Lilly sah aus, als wäre sie von gewaltigem Entsetzen gefüllt und stünde die größten Ängste aus, aber dennoch begleitete sie sie; Isa, die sonst immerzu an jedem Abenteuer beteiligt sein wollte, hatte sofort eingewilligt, zu Tine zu gehen und ihre Freunde allein zu lassen.

Nur einer fehlt.

"Bereit?", wisperte Nick und riss sie aus ihren Gedanken, woraufhin sie alle gleichzeitig nickten.

"Bereit."

Wie eine winzige Armee schritten sie nebeneinander über das Dach, auf die Mauer zu, wo die Jungen noch immer mit ihnen abgewandten Gesichtern saßen und das gesamte Geschehen um die Halle beobachteten, deren Flammen nunmehr beinahe völlig gelöscht waren. Durch die dichten Rauchwolken hindurch konnte Tassy kaum erkennen, um welche der Nibos es sich handelte, doch sie war sich sicher, dass die schmale, etwas abseits von den beiden anderen kauernde Gestalt kein Junge war.

"Hey!", rief Nick mit lauter, grölender Stimme, und sofort fuhren die Nibos herum. Ihre Gesichter waren von ausladenden Kapuzen verdeckt, doch aus jener der dritten Gestalt ragten einige dunkelbraune, seidige Locken hervor.

Sofort spürte Tassy ein schmerzendes Stechen in ihrem Inneren, wie das einer scharfen, tödlichen Klinge, die sich in sie hineinbohrte.

"Cecilia! Sag mir bitte, dass du nichts mit dem Feuer zu tun hast", krächzte sie, wusste jedoch, dass ihr Hoffnung vergeblich war.

"Natürlich hat sie was damit zu tun", sagte der in der Mitte sitzende Junge höhnisch, machte jedoch keine Anstalten, sich zu erheben.

"Die Polizei ist auf dem Weg zu euch, und wenn sie euch erstmal kriegen, dann heißt es: Ab in den Knast!"

Die Jungen schwiegen, keiner regte sich zunächst, doch dann hob einer der beiden die Hand, wies auf Tassy und zischte an das Mädchen gewandt: "Schnapp sie dir."

Cecilia zögerte, und Tassy kämpfte gegen das Bedürfnis an, einen Schritt nach hinten zu tun, dann schüttelte sie den Kopf. "Hör nicht auf die, Cecilia!"

"Los doch! Schnapp sie dir!" Plötzlich sprang das Mädchen auf, rannte auf sie zu und zwengte sich an den anderen, die ihr den Weg zu versperren versuchten, geschickt vorbei. Tassy fuhr mit einem erschreckten Aufschrei herum, sah aus den Augenwinkeln, wie die anderen ihr zu helfen im Begriff waren, und rief: "Ich schaffe das! Kümmert euch um die!"

Dann rannte sie über das Dach, so schnell ihre Füße sie zu tragen vermochten, Cecilia unmittelbar hinter ihr.

"Warum tust du das?!", schrie sie verzweifelt, doch das Mädchen antwortete nicht. Mit einem entsetzten Zischen sprang sie von dem Dach hinab, landete leichtfüßig auf der Platform und eilte die Treppe hinunter, doch sich schnell nähernde Schritte verrieten, dass das Mädchen es ihr gleichgetan hatte.

"Wir können darüber reden!"

Sie rannte durch die Gassen, sprang über jedes sich ihr in den Weg stellende Hindernis und musste einige Male unter dem beißenden Gestank des Rauchs husten, dann rannte sie blitzschnell an einer nicht allzu hohen Mauer hinauf und sprang von dort aus auf ein weiteres Dach. Jede ihrer Bewegungen schien sie unwillkürlich auszuführen, ohne auch nur darüber nachdenken zu müssen, doch sie spürte, dass es nicht die Angst um ihre eigene Sicherheit war, die ihr plötzlich eine derartige Schnelligkeit verliehen hatte.

"Hör auf, Cecilia!", rief sie, als sie keuchend am Rand des Daches zum Stehen kam, sah dann jedoch, wie das Mädchen ebenfalls die Mauer erklomm, ohne zu zögern auf das Dach sprang und ihre Landung mit einer eleganten Rolle abfederte. Tassy rannte abermals los, überwand unzählige Mauern, Schornsteine und Lücken zwischen zwei Dächern, bis sie sich schließlich auf einem Dach wiederfand, von welchem sie das gesamte Gebiet zu überblicken vermochte.

Für den Bruchteil einer Sekunde genoss sie die eindrucksvolle Aussicht auf die gleißenden Lichter der sich vor dem sternenüberzogenen Himmel abzeichnenden Stadt, sah dann jedoch, dass auch dieses Dach in nichts als einem tiefen Abgrund endete. Sie wollte umkehren, in die Richtung fliehen, aus der sie gekommen war, doch da stand das Mädchen mit gesenktem Kopf und von Verzweiflung erfülltem Blick.

Tassy seufzte und sah kurz hinter sich, um sich zu vergewissern, dass es nicht doch irgendeinen Ausweg gab, doch nichts führte von jenem Dach hinunter- keine Treppe, keine Regenrinne, kein weiteres Dach in erreichbarer Nähe.

"Und jetzt?", fragte sie und fixierte das Mädchen mit ihrem Blick, doch dieses blieb regungslos und antwortete zunächst nicht.

"Was willst du jetzt tun, Cecilia? Soll ich von dem Dach springen, um dir zu entkommen, und sterben? Oder willst du mich vermöbeln?"

Keine Antwort.

"Hör zu, Cecilia." Langsam schritt sie auf das Mädchen zu, doch dieses zuckte zusammen und eilte zu dem Rand des Daches, wo sich der Weg unzählige Meter unter ihnen erstreckte.

"Komm mir nicht zu nah, Tassy!", schluchzte sie zittern, "ich... Ich werde springen!"

"Das wirst du nicht, und das weißt du genauso gut wie ich."

"Ach ja? Dann nenne mir einen Grund, warum ich es nicht tun sollte!"

"Diese Arschlöcher benutzen dich nur, Cecilia. Die sind nicht deine Freunde, und sie waren es nie! Wenn bewiesen werden kann, dass sie die Halle angezündet haben, dann wandern sie in den Knast, und dann brauchst du dir keine Gedanken mehr um sie zu machen."

"Ich war doch dabei, ich gehe mit ihnen!"

"Niemand kann beweisen, dass du dabei warst. Wir können dich da irgendwie rausreden. Und wir können dir helfen. Das weißt du doch! Ich... Ich weiß, dass du dich nicht nur die ganze Zeit mit uns abgegeben hast, um uns auszuspionieren. Wir haben dir was bedeutet. Ist es nicht so?"

Das Mädchen blickte zu Boden, doch dies genügte Tassy als Antwort.

"Wir können das alles vergessen, diesen ganzen Scheiß hinter uns lassen, und nochmal von vorne anfangen."

"Und dann? Dann würde einer auf die Idee kommen: Hey, lass uns bouldern gehen, und..." Sie schluchzte. "Dann würde jemand anders sagen, nein, die Halle ist ja abgebrannt. Unsere "Freundin" hat die Halle ja abgefackelt, hab' ich ganz vergessen!"

"War es denn so? War es deine Idee? Hast du was-weiß-ich-was dort verschüttet und es angezündet? Oder warst du bloß dabei, weil sie dich gezwungen haben?"

Abermals zögerte Cecilia, dann begann sie plötzlich, in ihrer Hosentasche heruzukramen, und zog schließlich einen kleinen, zunächst nur schwer zu erkennenden Gegenstand heraus, den sie Tassy vor die Füße warf.

"Warum..." Tassy wollte zu sprechen anheben, doch ihre Stimme versagte, als sie das rote Feuerzeug langsam aufhob.

"Ich dachte, du nimmst keine Feuerzeuge mit, weil deine Mutter es dir verbietet", flüsterte sie bloß und hörte, wie das Mädchen schluchzte: "Da hab' ich wohl gelogen."

Sie blickte Tassy für einen kaum wahrnehmbaren Moment in die Augen, dann drehte sie sich langsam herum und machte kehrt. Tassy blieb reglos auf dem Dach stehen, das Feuerzeug in beiden Händen haltend und mit entsetztem Blick auf einen undefinierbaren Punkt in der Ferne starrend, bis das Mädchen aus ihrem Blickfeld verschwunden war.

Lange Zeit verweilte sie reglos auf dem Dach, und als sie irgendwann zwei neben dem verkohlten Bonebreaker haltende Polizeiautos bemerkte, schlug sie den Rückweg ein- wie in Trance schlenderte sie durch die Gassen, von Verwirrung übermannt. Alle Geräusche schienen verstummt, und als sie irgendwann den Bonebreaker erreichte, sah sie scheinbar in Zeitlupe, wie die beiden sich wütend windenden Jungen in eines der Autos gedrängt wurden. Alles war plötzlich so schnell gegangen...

"Tassy!", hörte sie verschwommen eine irgendwo hinter ihr ertönende Stimme, dann sah sie Nick auf sich zueilen.

"Tassy, wo ist Cecilia?"

"Sie... Keine Ahnung..." Sie schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu sortieren, ehe sie sah, wie aus einem dünnen Schnittt an der Wange des Jungen Blut rann.

"Was ist passiert?"

"Sie haben uns angegriffen, und plötzlich kamen einige Boulderer und haben uns geholfen. Dann kamen bereits Polizisten, und sie haben einen leeren Benzin-Kanister hinter der Halle gefunden. Die Typen haben sich sofort verplappert, unfreiwillig zugegeben, dass sie es waren."

"Haben sie gesagt, dass noch jemand dabei war?"

"Ich weiß nicht. Was ist denn mit Cecilia?"

"Sie ist weg..."

Tassy seufzte tief, drehte sich langsam herum und sah zunächst auf das qualmende Gebäude, aus dessen Innerem noch immer dichte Rauchschwaden drangen, dann auf das Auto, auf dessen Rückbank die Jungen saßen und ihr durch den Seitenspiegel hindurch hasserfüllte Blicke zuwarfen.

Tassy grinste höhnisch, hob die Hand und winkte den sich immer mehr entfernenden Nibos mit schadenfroh glänzenden Augen nach. "Macht's gut, ihr Arschgesichter!"

 

Der Abschied

 

"Komm, Bonnie, hier entlang", murmelte Tassy und zog leicht an der ledernen Leine der Schäferhündin, die mit auf den Boden gerichteter Nase hinter ihr hertrottete- zunächst hatte Tassy unwillkürlich irgendeinen Weg eingeschlagen, dann hatte sie beschlossen, die vor scheinbar so langer Zeit von Cecilia und ihr verschönerte Brücke aufzusuchen.

Zwei Tage waren seit dem Brand vergangen, und Tine hatte ihnen berichtet, dass die beiden Jungen den Rest ihrer Jugend im Gefängnis verbringen würden, genauere Angaben hatte sie jedoch nicht gemacht.

Das Innere des Bonebreakers war nicht so verbrannt, wie die Rauchwolken hätten vermuten lassen, doch der Großteil der hölzernen Boulderwände war eingestürzt und die meisten Griffe unbrauchbar. Glücklicherweise jedoch hatte Tine in den letzten Jahren sehr viel Geld gespart, da sie eigentlich den Bonebreaker zu erweitern geplant hatte- nun würde sie es dazu nutzen, ihn erneut aufzubauen.

Man könnte ja fast von 'nem Happy End sprechen, dachte Tassy mit einem enttäuschten, ironischen Grinsen und strich der Schäferhündin über den Kopf, aber nur fast.

Am Ende des sich ewig zu erstrecken scheinenden Weges konnte sie die Brücke nach einiger Zeit ausmachen, und auch die grellen Farben, die sie einst darauf hinterlassen hatten, wurden immer deutlicher, und irgendwann konnte Tassy die bunte Erdkugel sowie die Sprechblase erkennen, in der Cecilia ihren Schriftzug hinterlassen hatte- als sie das Bild jedoch näher betrachtete, sah sie mit einem Anflug der Überraschung, dass in der Sprechblase nicht Fuck stand- was Tassys Vorschlag gewesen war- sondern die traurigen, schlichten Worte Help me.

"Ich hab's ja versucht, Cecilia!", flüsterte sie und blickte kurz zu Bonnie, die mit aus ihrem gewaltigen Maul hängender Zunge zu ihr hinaufsah. "Hab' ich nicht versucht, ihr zu helfen, Bonnie?"

Die Hündin gab nur ein leises, fröhliches Hecheln von sich, und in jenem Moment wünschte Tassy, sie könnte mit ihr tauschen- Bonnie wusste nicht im geringsten, was vorgefallen war, und sie konnte sich nicht vorstellen, in welcher Situation sich alle anderen befanden.

"Bonnie!"

Eine leise, helle Stimme ertönte hinter ihr, und Tassy wusste sofort, dass sich Cecilia näherte, noch ehe sie die zierliche Gestalt des Mädchens erblickt hatte.

"Zufall, oder bist du mir gefolgt?"

"Ich habe bei dir angerufen, und deine Mutter sagte, dass du mit Bonnie unterwegs bist. Ich habe mir gedacht, dass du hier bist."

"Dann kennst du mich ja gut, was?"

"Besser als du mich", murmelte Cecilia, "ich... Ich bin gekommen, um dir ein paar Dinge zu sagen."

"Ich dachte, du bist gekommen, um dein Feuerzeug wiederzuholen", entgegnete Tassy mit den Ansätzen eines ironischen Lächelns und fuhr dann fort: "Du hattest Glück, dass du mir hinterhergerannt bist, sonst wärst du jetzt auch im Knast. Aber... du hattest damit nichts zu tun, oder? Du warst bloß dabei, stimmt's?"

"Das genügt", antwortete das Mädchen, "daneben zu stehen und zuzuschauen, ohne etwas zu tun, ist fast, als hätte man es selbst getan."

Tassy wollte zunächst widersprechen, wusste jedoch, dass das Mädchen ihre Meinung nicht ändern würde, und forderte sie schließlich auf: "Also, schieß los."

"Ich habe meinen Eltern alles erzählt, bis auf das Feuer. Sie wissen natürlich, was früher mit mir los war. Sie meinen, eine Großstadt wäre nicht gut für mich. Meine Tante wohnt irgendwo auf dem Land, und ich werde zu ihr ziehen. Sie hat einen Reiterhof."

Ein kurzes Lächeln spielt um ihre Lippen, und Tassy spürte Verzweiflung in sich aufsteigen.

"Ich könnte reiten lernen. Meine Eltern meinen, ein Umfeld in der Natur, der Umgang mit Tieren könnte gut für mich sein, und dort könnte ich Freunde finden."

"Reiter-Mädchen sind oft zickig."

"Vielleicht. Vielleicht werden sie auch alle nett sein. Mal sehen. Ich hoffe, dass ich dort auf andere Gedanken komme. Ich denke immerzu daran, wie es zu alldem gekommen ist."

"Genau hast du es mir nie erzählt."

"Willst du es wissen?"

"Ja."

 

Mit eleganten , raubkatzenartigen Bewegungen überwand das Mädchen die hohen Mauern mühelos, sprang leichtfüßig und präzise von einer Stange zur anderen und rollte sich auf dem harten Boden ab, als bestünde er aus einer Schicht weicher Federn.

Ihr braunes Haar wallte im seichten Wind, unterstrich jede ihrer gefährlichen, schnellen Drehungen wie die Wellen eines Flusses. Als sie ihre Hände auf der letzten Mauer aufsetzte, rasch darübersprang und geräuschlos auf dem grauen Asphalt aufkam, sah sie plötzlich drei große, massige Gestalten vor sich stehen, die sie mit interessierten Blicken betrachteten.

"Hey, das sah mega cool aus", sagte einer, woraufhin das Mädchen dankbar nickte.

"Wir wollten das auch schon immer lernen, aber wir kennen keinen, der es kann!"

"Na ja...", murmelte das Mädchen, "ich kann es..."

"Das wäre total cool, wenn du uns das beibringen könntest !", sagte ein anderer Junge, und das Mädchen lächelte. Nie zuvor hatte jemand sie angesprochen, um etwas Positives wie Lob auszusprechen, geschweige denn, um den Kontakt zu ihr zu suchen.

"Klar, warum nicht?"

"Voll geil!" Sie tauschten einige vielsagende Blicke, dann fuhr einer von ihnen fort: "Weißt du, genau so jemanden wie dich brauchen wir. Wir suchen dauernd Freunde, die sportlich sind und so, aber die sind alle Scheiße."

"Aber du nicht, du kommst voll nett rüber!"

"Danke..." Das Mädchen blickte verlegen zu Boden, spürte jedoch eine unbändige Freude in sich aufsteigen, als ihr klar wurde, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben Freunde gefunden hatte.

"Ich heiße Mark", sagte einer der Jungen mit tiefer Stimme, woraufhin das Mädchen freundlich nickte.

"Ich heiße Kim."

"Schöner Name für'n schönes Mädchen", sagte einer der anderen grinsend, "willst du'n bisschen mit uns abhängen?"

"Natürlich wolltest du das", murmelte Tassy, als Cecilia zu sprechen aufgehört hatte, "diese miesen Schweine hatten von Anfang an nichts anderes vor, als uns eine reinzuwürgen. Und du hast sie so sehr beeindruckt, dass sie dich angesprochen haben."

"Sie haben mir nur Komplimente gemacht, wie nett und hübsch ich wäre, wie gut ich Parkour könnte und dass ich es ihnen beibringen soll. Tassy, sie haben mich um den Finger gewickelt. Aber... Ich habe mich nie wohl gefühlt."

"Klar, bei denen fällt das auch schwer."

"Bei euch schon. Schon an dem Tag, als ich zum ersten Mal mit dir gesprochen habe, wollte ich es nicht mehr richtig, ich war mir unsicher. Nachdem wir uns ein paar Male getroffen haben, war ich mir völlig sicher. Das, was sie über euch alle gesagt haben, war gelogen- doch ich hatte Angst. Angst vor ihnen, und Angst davor, dass ihr mich nicht mehr mögt."

"Kann ich verstehen. Aber wenn du uns die Wahrheit gesagt hättet, schon am Anfang, hätten wir dir helfen können. Und wir hätten uns viel Mist ersparen können."

"Hör zu, nichts von dem Ärger, der in der Zeit passiert ist, war von mir geplant. Die Schlägerei, der Einbruch... Ich wollte euch helfen, aber sie haben mir immer wieder gedroht."

"Und der Einbruch in ihre Halle?", fragte Tassy, "wusstest du, dass sie da sind?"

"Ich war sicher, sie wären nicht da!", widersprach das Mädchen, "ich wollte ihnen Ärger machen, nicht euch. Die ganze Zeit über habe ich mir für sie nur Schlechtes gewünscht. Nicht für euch."

"Dann lass uns doch einfach von vorne Anfangen."

"Das geht nicht, und das weißt du. Wir würden immer wieder darauf zurückkommen. Vor allem die anderen."

Tassy blickte zu Boden und seufzte.

"Weißt du, ich bin nicht gut in sowas", murmelte sie dann und zögerte lange Zeit, auf der Suche nach den richtigen Worten. "So eine schöne Zeit wie die, in der wir befreundet waren, hatte ich noch nie, glaube ich. Du... Wir haben so gut zusammengepasst, finde ich. Und... Oh Mann, allein die Tatsache, dass du es schaffst, mich dazu zu bringen, sowas zu sagen... In dieser Zeit warst du wohl die coolste Freundin, die ich je hatte. Ich glaube, ich war lieber mit dir zusammen als mit den anderen. Und eins kann ich dir versprechen, ich werde nicht nur das Schlechte, sondern besonders alles Gute, was in der Zeit passiert ist, nicht vergessen."

Sie sah, wie Cecilia Tränen in die Augen stiegen, bevor diese murmelte: "Ich wollte dir in etwa dasselbe sagen."

"Cecilia, wenn wir uns nicht mehr sehen... Wenn du wirklich vorhast, irgendwo anders Freunde zu suchen... Uns alle, mich, Lilly, Kat, Nick und Isa, jeden von uns gibt's nur einmal. Du wirst keinen von uns nochmal finden. Ist dir das klar?"

Sie nickte und schluchzte. "Ja."

"Hey, komm her."

Vorsichtig trat Cecilia auf sie zu und legte ihren Kopf auf Tassys Schulter, woraufhin diese ihre Arme um das Mädchen legte. Sie spürte ihr heftiges Zittern so deutlich, als wäre es ihr eigenes, bis Bonnie sich mit einem empörten Bellen dazwischen drängte.

"Hey, eifersüchtiges Biest", murmelte sie grinsend und streichelte dem Hund kurz über den Kopf, ehe sie sich erneut an Cecilia wandte.

"Wenn wir uns verabschieden, dann doch als Freunde, oder?"

"Das müsste ich dich fragen."

"Bedeutet das ja?"

"Natürlich."

"Und wenn du in Schwierigkeiten gerätst- du weißt immer, wo du mich findest."

"Hast du vergessen, dass ich wegziehen werde?"

"Du weißt aber, wo der Bonebreaker ist. Tine baut ihn wieder auf, und er wird wieder sein wie neu." Sie zögerte und bemühte sich dann um ein Lächeln.

"Du wirst doch weiter bouldern, oder?"

"Wenn es in der Nähe eine Halle gibt, ja."

"Weißt du, irgendwann werden wir fünf alle Hallen dieser Welt abklappern, und in einer davon werde ich mich herumdrehen und plötzlich inmitten einer großen Menge von Menschen ein total talentiertes Mädchen entdecken, dessen Fähigkeiten sich bis dahin bestimmt noch mehr verbessert haben."

"Denkst du, wir sehen uns wieder?"

"Ich werde mich bemühen."

"Versprochen?"

"Auf jeden Fall."

Sie lächelte, doch ihre Lippen waren von kristallklaren Tränen umspült, und sie presste sich ein letztes Mal fest an Tassy, die wünschte, dass dieses Gespräch niemals endete. Dies wäre womöglich das letzte Mal, dass sie das Mädchen sah, und sie hätte eine Ewigkeit in jener Position verharren können, doch Cecilia löste schließlich ihren Griff und tat einen Schritt zurück, Trauer drohte aus ihrem Blick hervorzuquellen.

"Bis dahin musst du dich daran gewöhnt haben, dass ich nicht Cecilia heiße."

"Mal sehen..." Tassy versuchte zu grinsen, doch es war unmöglich. Nie zuvor hatte sie derartig viel Trauer verspürt, nicht einmal in dem Augenblick, da sie den in Flammen stehenden Bonebreaker erblickt hatte.

"Dann sehen wir uns". Ein letztes Mal wischte sie sich die Tränen aus den geweiten, leuchtend braunen Augen, ehe sie sich langsam herumdrehte und schließlich kehrtmachte, um für immer aus Tassys Blickfeld zu verschwinden.

"Mach's gut, Cecilia."

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.05.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die etwas mit dem Begriff "bouldern" anfangen können... ;)

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