Der unheilvolle Glanz der blutroten, eine scheinbar stille Melodie erzeugenden Flammen spiegelte sich in den zusammengekniffenen Augen derer, welche sich in den schützenden Schatten der Felsen verbargen. Von Angst sowie Unsicherheit erfülltes Raunen glitt über die porösen Steine und schien sich wie ein hungriges Tier in diese hineinfressen zu wollen.
In den Schatten, welche die aus dem steinernen Boden zu dringen scheindenden Flammen gegen die Felsen warfen, konnte man nur die schwachen Silhouetten von dicht aneinandergedrängten Geschöpfen ausmachen, doch dann ertönte aus einer undefinierbaren Richtung eine laute, von einem entschlossenen Knurren durchzogene Stimme: "Findet euch hier ein!"
Auf jene Worte hin wurden die der Höhle eine mystische Athmosphäre verleihenden Flammen von den unheilvollen Bewegungen einer riesenhaften Gestalt durchschnitten und schienen sich wie Rosenranken ineinander zu verschlingen. Es erklang ein durchdringendes, von der Schärfe der wie gebogene Dolche geformten Klauen des Wesens zeugendes Knirschen, als diese über die porösen Steine schleiften.
Mit einem gewaltigen Flügelschlag erhob sich der Drache wenige Armlägen über den Boden und ließ seinen wütenden Blick durch die von den die Wände umrahmenden Flammen geformt scheinende Höhle schweifen, ehe er kaum hörbar auf einem hochgelegenen Gesteinsbrocken landete, die von unzähligen Narben gezeichnete Schnauze zu einem furchteinflößenden Knurren verzogen.
Plötzlich war auch eine leise Bewegung in den Schatten der Felsen auszumachen, als sich die Gestalten von allen Seiten aus ihren Verstecken lösten und mit unruhigem Schnauben zu ihrem Anführer traten, wenig später waren die Felsen bedeckt mit den riesigen, von spitzen Zacken sowie Hörnern übersäten Drachenkörpern.
Von Unsicherheit geprägtes Murmeln hatte sich über die Menge gelegt und hallte an den dunklen, hoch über den Köpfen der Wesen ragenden Felsen wieder.
Doch dann, als der größte aller Drachen seine gefährlich im Feuer blitzenden Zähne entblößte und erneut zum Sprechen anzuheben imstande war, kehrte mit einem Mal eine aus einem tiefen, dunklen Meer des Respekts entsprungene Stille ein.
"Die Zeit ist gekommen. Unsere heiligen Gesetze wurden gebrochen, und heute werden wir diese Schandtat wieder ausgleichen."
Der in diesen Worten mitschwingende Ausdruck des Unheils schien von den mit einem Mal aufwirbelnden Funken, welche sich in den Augen der Drachen spiegelten, umrahmt zu werden, als sie zu ihem Anführer hinaufblickten. Dieser hielt einen Augenblick inne und schien Zustimmung oder gar Jubel von seinen Zuhörern zu erwarten, doch diese verharrten still und blickten sich hin und wieder nach allen Seiten um.
"Vor einiger Zeit hat eine Frau- ein Mensch- ein Kind zur Welt gebracht... Das Kind eines Drachen!" Mit jenen Worten fuhr er herum und warf einen von Wut erfüllten Blick hinter sich, wo sich mit einem Mal die zarten Umrisse einer in den Schatten verborgenen Gestalt von den Felsen abhoben. Der in den Flammen rötlich schimmernde Drache kauerte in der von den Gesteinsbrocken erzeugten Schwärze , welche ihn vor den von Mitleid erfüllten Blicken seiner Artgenossen schützte.
"Erinnert ihr euch an den Tag, als dieser Drache in Gestalt eines Menschen hierherkam und verkündete, dass er sich in einen Menschen verliebt hat? Damit hat er eines der wichtigsten aller Gesetze gebrochen- und heute soll er dafür bestraft werden."
Mit einem ausladenden Nicken des Drachen trat eine weitere Gestalt aus den Schatten- bei dem Anblick eines in ein schwarzen Umhang gehüllten Menschen erhob sich eine tiefe Unsicherheit in der Menge, welche sich jedoch legte, als dieser sein von flammenartigen, seine wahre Gattung zeigenden Mustern gezeichnetes Gesicht entblößte. In den Händeln hielt er ein in viele Leinen gewickeltes Bündel, welches er dem in den Schatten zweier Felsbrocken kauernden Drachen reichte; dieser packte es vorsichtig mit den Klauen und zog seine Lippen kaum merklich zu einem leisen Knurren zurück.
"Das ist nicht gerecht", fauchte er und erwiderte den feindseligen Blick, mit dem ihn sein Anführer zu durchbohren drohte. "Wenn wir Menschengestalt annehmen, erkennt man beinahe keine Unterschiede mehr! Wieso kann mein Sohn nicht..."
"Schweig!", schrie der Anführer auf und tat einen Schritt auf den Drachen zu, welcher seinen prächtigen Kopf schützend über das Bündel in seinen Klauen geneigt hatte.
"Du wirst ihn wegbringen- Wohin, ist nicht von Bedeutung, aber sorge dafür, dass er sich für immer von uns fernhält. Wenn du dich weigerst, wird er sterben, und wage es nicht, nicht zurückzukehren."
"Ich glaube, er würde besser sterben, als später unter deiner Führung zu leben!", knurrte der Drache, fuhr herum und verschmolz schließlich gänzlich mit der Dunkelheit, als er sich langsamen Schrittes aus der Höhle hinausbewegte.
Im silbrigen Mondlicht, dessen Glanz sich in den unzähligen von auf die Erde prasselnden Regentropfen spiegelte, bahnte sich der im Licht golden leuchtende Drache seinen Weg durch die hoch in den Himmel ragenden Tannen. Irgendwo inmitten des dichten Nebels konnte er ein schwaches, aus einer kleinen Hütte zu dringen scheinendes Licht ausmachen, das die dichten Wolken zu durchschneiden drohte. Das einzige den beißenden, eine kalte Brise mit sich tragenden Wind übertönende Geräusch war das unruhige Blöken von Schafen, welche die Anwesenheit des Drachen bemerkt zu haben schienen.
"Hier leben eindeutig Menschen", murmelte dieser an sich selbst gewandt und blickte dann auf jenes Bündel in seinen Klauen herab. "Sie werden gut für dich sorgen, das verspreche ich." Langsam glitt er durch die seine glänzenden Schuppen streifenden Zweige, bis er die Silhouetten der hölzernen, mit einigen Lederstücken bedeckten Hütte deutlich ausmachen konnte. Sie war nicht sonderlich groß, die mit breiten Brettern abgedichteten Wände schienen jedoch den Regen sowie den kalten Wind abzuhalten. Durch die von ausladenden Tüchern verdeckten Fenster hindurch war er nicht imstande, in das Innere der Hütte hineinzublicken, doch das Kerzenlicht, welches an den Seiten hindurchdrang, ließ auf Wärme sowie Sicherheit schließen. Falls die Bewohner dieses Hauses seinen Sohn bei sich aufnehmen würden, könnte er hier wie ein gewöhnlicher Menschenjunge aufwachsen.
Vergeblich versuchte er, die in seiner Stimme mithallende Trauer zu unterdrücken, als er schließlich murmelte: "Lebe wohl, mein Sohn." Einige Zeit ließ er seine einen endlosen Fluss der Verzweiflung in sich bergenden Augen auf diesem verharren, ehe er eine beinahe lautlose, aus dem Innern der Hütte dringende Stimme zu vernehmen glaubte.
Vorsichtig legte er das Bündel unter den vor Regen schützenden Zweigen einer Tanne ab, schenkte ihm einen letzten von Trauer erfüllten Blick und erhob sich schließlich mit einem schmerzerfüllten Aufschrei in die Lüfte.
Erneut verspürte er den Drang, zu seinem unter den Tannen liegenden Sohn zurückblicken, doch der dichte Nebel hatte sich über den Wald gelegt und raubte ihm jegliche Sicht. Das letzte, was der Drache vernahm, war das Knarren einer hölzernen Tür, die geöffnet wurde, dann der Schrei einer Frau.
Sie hatten sein Kind gefunden, und hoffentlich würdde niemand je wissen, woher es wirklich kam. Obgleich es den Körper eines Menschen hatte, war es zur Hälfte ein Drache. Hoffentlich wirkt sich dies nicht später auf sein Leben aus, dachte der Drache, als er sich immer weiter von seinem Kind entfernte- dem Drachenkind.
Der nunmehr untergehende Mond warf sein silbriges Licht auf den von seichten Wellen bewegten See, in dessen Wasser sich die wispernde Stille sowie die Harmonie des Waldes spiegelten. Das saftige Grün der Blätter, welche aus den Knospen der jungen Birken entsprangen, schien einer tiefen Schwärze gewichen zu sein, deren Umrisse sich in dem klaren Gewässer abzeichneten.
Hin und wieder wurde die Stille von einem nur schwer zu vernehmenden Murmeln unterbrochen, dann ertönten irgendwo inmitten des dichten Waldes die raschelnden Laute von sich schnell nähernden Schritten.
Neben den schattenhaften Umrissen einer hoch in den Himmel ragenden Tanne war eine leise Bewegung auszumachen, wenig später jedoch kehrte erneut Stille ein.
"Was war das?", erklang eine wispernde, von einem leichten Ton der Angst durchzogene Stimme, auf die eine weitere folgte: "Der Wind. Kein Grund, sich Sorgen zu machen, Mara."
Wenig später tauchten die Umrisse vierer schemenhafter Gestalten, deren lange Schatten auf den stillen See geworfen wurden, aus der Dunkelheit auf und traten mit vorsichtigen Schritten an das Ufer heran.
Man konnte deutlich die langen, wie Bernstein glänzenden Haare zweier Mädchen ausmachen, die vom Wind gezaust wurden. Sie blickten abwechselnd zu ihren Begleitern sowie zu dem See, dessen Glanz einen Ausdruck von Kälte spiegelte.
Plötzlich ertönte ein erneutes Rascheln, dann das geräuschvolle Knacken von Ästen, aus einer undefinierbaren Richtung dringend. Eines der Mädchen sprang auf und stieß einen angsterfüllten Schrei aus, während ihre Gefährten sich mit geweiteten Augen umblickten. "Da ist wirklich etwas", murmelte ein Junge mit dunklem, gewellten Haar, ehe er behutsam einen Schritt auf den Wald zutat.
Dann brach eine dunkle Gestalt mit einem schrillen Aufschrei aus dem Gebüsch, sprang auf die Mädchen zu und rief: "Angriff!"
Diese taumelten mit vor Angst verzerrten Gesichtern zurück, traten von Panik erfüllt über das sandige Ufer und fielen mit einem geräuschvollen Platschen in das kalte Gewässer.
Die Gestalt stieß ein amüsiertes Lachen aus und zog sich die weit ausladende, lederne Kapuze aus dem Gesicht; in seinen glänzenden Augen spiegelte sich Schadenfreude und um seine schmalen Lippen spielte ein höhnisches Lächeln.
"Cimbal!", schrie eines der Mädchen und tat einen gewaltigen Schritt auf ihren Angreifer zu, ihr blondes Haar flatterte im Wind und umrahmte ihr wutverzerrtes Gesicht. "Danke! Jetzt sind meine Stiefel durchnässt."
"Ich freue mich auch, dich zu sehen, Pega", meinte dieser nur und warf einen kurzen Blick auf das zweite Mädchen, das ihrer Freundin folgte.
"Was sollte das?", zischte sie, während sie vergeblich ihre von Wasser durchtränkten Stiefel zu trocknen suchte.
"Ihr lasst euch einfach so gut erschrecken. Ich...", begann er, doch dann versetzte ihm jemand von hinten einen derart gewaltigen Stoß, dass er das Gleichgewicht verlor und seinerseits von dem Gewässer erfasst wurde. Er verspürte eine Art belebendes, frisches Gefühl, als die Kälte seine Kleidung durchdrang und sich die Wassertropfen wie hauchdünnes, vom Mondlicht geschmolzenes Glas in seinem blonden Haar absetzte.
"Jetzt weißt du, wie das ist, Kleiner!", meinte ein kräftigerer Junge, dessen kurzes, kastanienbraunes Haar im Licht wie goldener Bernstein aufleuchtete.
"Du denkst nicht wirklich, dass mir das etwas ausmacht, Karian", entgegnete Cimbal bloß, seine Stimme zeugte von Gleichgültigkeit. Jedoch hatte er bei den letzten Worten Karians einen Anflug von Wut verspürt, da er tatsächlich um einiges kleiner war als seine beiden Freunde.
"Jetzt habt ihr mit eurem Gekreische alle Tiere verscheucht", fuhr er, um jene Gedanken zu verdrängen, an Mara und Pega gewandt fort, welche ihn noch immer mit ihren hellblauen Augen anfunkelte. "Sollen wir Feuer machen? Dann trocknen unsere drei Schwimmer schneller", meinte der gelockte Junge, doch Cimbal entgegnete mit zusammengekniffenen Augen: "Was? Willst du die Wölfe alle verscheuchen, Haro?" Er spürte, wie ein Gefühl von Aufregung in seinem Inneren aufflammte, als er die geheimnisvollen Tiere erwähnte. Sie hatten sich an diesem Platz getroffen, um ein Wolfsrudel, das, wenn man den Geschichten der älteren Dorfbewohner Glauben schenken kann, sich jede Nacht an genau diesem See einfinden und den Mond anbeten soll.
"Das stimmt schon", meinte Mara schließlich und bedachte Cimbal lange mit einem Blick, von dem eine derartige Wärme ausging, dass dieser seine nasse Kleidung beinahe völlig vergaß, "aber ist dir nicht ziemlich kalt?"
"Nicht wirklich", antwortete er und musste feststellen, dass er tatsächlich keinerlei Kälte spüren konnte, "außerdem... habe ich es wohl verdient".
"Nein, lasst uns ein Feuer machen, ich würde gerne meine Schuhe trocknen", murmelte Pega mit einem kurzen Blick auf Cimbal, der ein leises Lächeln nicht unterdrücken konnte und sich schließlich in Richtung des Waldes bewegte, um Feuerholz zu sammeln.
Nur wenige Augenblicke später, so schien es Cimbal, hatte sich in dem trockenen Sand ein Berg kleiner Stöcke angehäuft, welchen er nun zu entzünden suchte. Mit schnellen Handbewegungen rieb er die Stöcke einer alten Tanne aneinander und hielt schließlich inne, sodass der über die Baumwipfel streichende Wind die bereits entstandenen Funken entflammen konnte. Die sich rasch vergrößernde, wie eine tiefrote Rose aufblühende Flamme erhellte sein Gesicht, in dem sich ein Ausdruck von Zufriedenheit sowie Freude spiegelte; seinen Augen- das rechte war von einer tiefgrünen, das linke von einer bernsteinähnlichen Färbung- glänzten in den goldenen Funken.
Jeden seiner Freunde einige Zeit lang musternd, hob er plötzlich die Hand, ließ sie langsam durch die knisternden Feuerzungen gleiten und spürte ein kaum wahrnehmbares, angenehmes Kitzeln an den Händen, wenn die sprühenden Funken an diesen abprallten.
"Cimbal! Hör auf damit, du verbrennst sonst noch!", schrie Karian auf, packte den Jungen am Arm und riss diesen aus den lodernden Flammen hinaus, "was sollte das denn?" Seinen Freund verstört anblickend ballte Cimbal seine in keiner Weise von dem Feuer schmerzende Hand zu einer Faust und ließ den Blick dann auf diese schweifen, doch er konnte nicht einmal eine gerötete Stelle ausmachen. "Es ist doch nichts passiert, du Spielverderber!", zischte er mit einem gespielten Ausdruck von Wut in den Augen, grub eine Hand in den feinen Sand und schleuderte ihn auf den mit einem kurzen Aufschrei zurückschreckenden Karian. Wieso sehen mich alle so erschreckt an?, dachte er, ich bin doch nicht verbrannt. Sollen sie sich nicht so viele Sorgen machen.
"Du machst mir Angst, Cimbal", ertönte Haros Stimme, dessen Gesicht einen Anflug von Skepsis aufwies, "du spürst weder die Kälte dieses Wassers, noch ein Feuer. In irgendeiner Weise..."
"... Bist du nicht normal", beendete Mara den Satz und richtete ihren Blick dann wieder auf die Flammen, deren Anblick in Cimbal abermal ein seltsames Glücksgefühl aufsteigen ließen.
Auf dem von dem kühlen Nachtwind aufgewirbelten Sand liegend, öffnete Cimbal langsam die Augen und spürte seichte Wellen, die sein Gesicht umspülten. Er hielt einen nicht lange anhaltenden Augenblick inne und schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu klären, ehe seine Erinnerungen zurückkehrten.
Der Mond stand noch immer am Himmel, woraus er seinen nicht sonderlich langen Schlaf schließen konnte, und als er seinen Begleitern einen kurzen Blick schenkte, sah er diese ebenfalls gleichmäßig atmend im Sand liegen.
Langsam erhob er sich und schritt leichtfüßig zu diesen hinüber, doch als er Mara gerade mit einem leichten Schubsen aufzuwecken imstande war, ertönte hinter ihm ein sich schnell näherndes Rascheln, auf welches ein leises Hecheln folgte, dem eines Hundes ähnelnd.
Die Wölfe!, dachte er und hielt unwillkürlich den Atem an, als er mit einem Mal unzählige schemenhafter Umrisse aus den schützenden, den nördlichen Teil des Ufers säumenden Tannen auftauchen sah.
"Mara, Karian!", wisperte er und schüttelte seine Freunde leicht, die sich am Ufer niederlassenden Tiere nicht aus den Augen lassend, "ihr müsst schnell aufwachen! Haro! Pega!"
"Cimbal?", vernahm er schließlich die einen verschlafenen Ton mit sich tragende Stimme Haros, der sich mit noch immer geschlossenen Augen erhob. "Wir... wir sind wohl eingeschlafen", murmelte er nur sehr schwer verständlich.
"Was ist los? Sind...", begann Mara, wurde jedoch prompt von Cimbal unterbrochen: "Psst!", zischte dieser und wies mit einem leisen Nicken des Kopfes auf die Wölfe, die sich nunmehr um ihren Anführer versammelt zu haben schienen.
Er sah, wie die dunkelbraunen Augen des Mädchens von einer leuchtenden Flamme der Unsicherheit erhellt wurden, wirkliche Angst jedoch konnte er bei ihr nirgends entdecken. "Es stimmt also wirklich", ertönte das beinahe lautlose Wispern Pegas, woraufhin Cimbal herumfuhr und sah, dass seine drei Freunde bei dem Anblick der Wölfe um einiges zurückgewichen waren.
"Ihr Feiglinge", wisperte er und schüttelte mit einem belustigten Lächeln den Kopf, "komm, Mara, lass nus näher herangehen." Diese zögerte und musterte mit einem skeptischen Blick die silbernen, wie im Licht blitzende Kristalle leuchtenden Pelze jener anmutigen, eine wundervolle Melodie von sich gebenden Gestalten. "Du hast doch wohl keine Angst, oder?", fragte Cimbal und bedachte Mara mit einem höhnischen Lächeln. Er wusste, dass sich das abenteuerlustige Mädchen ihre Angst niemals eingestehen würde, doch nun erschien sie eher unschlüssig. "Natürlich nicht, aber sollen wir sie wirklich bei ihrem Ritual stören?"
"He, wollt ihr mich dort allein hingehen lassen, oder was?", fragte er, doch als er keinerlei Antwort erhielt, begann er, leichtfüßig am Ufer entlang zu schleichen.
Nicht den geringsten Laut erzeugend, glitt er über den Boden und näherte sich mehr und mehr dem Wolfsrudel.
Plötzlich verstummte jenes melodische, mit dem leisen Rascheln der Bäume harmonierende Jaulen und wurde schließlich von dem sanften Wind davongetragen, dann sah Cimbal, wie sich ihm die im Mondlicht glänzenden Köpfe der Wölfe zuwandten. Mit vor Aufregung geweiteten Augen presste er sich in den Sand, wagte jedoch nicht, zu fliehen. Zum einen wusste er, dass dies die sich langsam nähernden Tiere nur agressiv machen würde, zum anderen jedoch verspürte er keine wirkliche Angst, vielmehr entflammten die mit entschlossenen Schritten auf ihn zuschreitenden Tiere ein Gefühl von Erwartung in ihm.
"Hier, kommt hierher", wisperte er kaum hörbar, unfähig, sich zu bewegen. Als er nicht mehr als wenige Armlängen von dem unbeweglich im Sand kauernden Jungen entfernt war, beugte der Alphawolf seinen Kopf in dessen Richtung, dann glaubte Cimbal, eine leise Stimme in seinem Inneren zu vernehmen: Sei gegrüßt, Drache.
Nein, das war unmöglich. Wahrscheinlich war jene klare, unzählige Male in seinem Kopf wiederhallende Stimme in dieser gewaltigen Aufregung seiner Fantasie entsprungen- Wölfe waren nicht in der Lage, sich mit Menschen zu verständigen, erst recht nicht telepathisch.
Dachtest du, wir wollten dir wehtun? Keine Sorge, wir haben es gemerkt.
Dieses Mal war sich Cimbal sicher, die Stimme tatsächlich vernommen zu haben. Die unbändige, sich wie ein gewaltiges Feuer in ihm ausbreitende Angst zu unterdrücken suchend, sog er einmal tief die Luft ein und antwortete dann:
"Was bemerkt?"
Dass du kein Mensch bist- jedenfalls nicht ganz.
"Was meinst du..." Die geheimnisvolle Stimme, welche zweifellos von dem ihn ruhig anblickenden Leitwolf kam, unterbrach ihn:
Leugne nicht das, was du bist, Drache.
"Was ich bin? Ich bin..." Mit einem Mal sprang er auf, warf einen kurzen Blick über die Schulter zu seinen ihn skeptisch sowie erstaunt betrachtenden Freunden, dann zischte er mit einem Ausdruck von Wut in der Stimme: "Wieso rede ich überhaupt mit... mit wilden Tieren? Ich lasse mich nicht zum Narren halten von..."
Seine Worte wurden von der besorgten Stimme Pegas abgeschnitten: "Cimbal, was ist los?!"
"Ich..." Er fuhr herum und lief zu seinen Freunden hinüber, welche ihn mit ungläubigen Blicken fesselten, "Mir geht es irgendwie nicht sehr gut. Ich glaube, Ich gehe nach Hause."
"Wir haben heute Nacht tatsächlich diese Wölfe gesehen", hob Cimbal zu sprechen an und blickte zu seiner Mutter auf, welche ihm gegenüber an dem hölzernen, staubbedeckten Tisch saß, "es ist also nicht nur ein Märchen."
"Du solltest nicht immer solche gefährlichen Dinge tun. Wenn die Wölfe euch gesehen hätten..."
"Sie haben uns gesehen. Sie sind sogar..." Er wurde von einer hinter ihm ertönenden Stimme unterbrochen, als ein großer, kräftigerer Mann mit nunmehr gräulich schimmerndem Haar den Raum betrat.
"Wo hast du diesmal Unheil gestiftet, Cimbal?"
Er wollte seinem Vater antworten, seine Mutter jedoch nahm ihm mit einem sorgenvollen Ausdruck in der Stimme das Wort:
"Sie haben diesem Wolfsrudel aufgelauert, die sich nachts am Mondsee niederlassen. Ihr könnt von Glück reden, dass euch nichts passiert ist."
"Es gibt sie also tatsächlich? Ich dachte, das wären bloß erfundene Erzählungen der Alten. Du solltest aber trotzdem besser aufpassen, Cimbal. Wenn dir etwas geschieht..."
"...Habt ihr immernoch meinen Bruder", beendete Cimbal den Satz und blickte unwillkürlich nach oben, wo sich das Zimmer seines Bruders befand; jedoch hatte er diesen heute noch nicht zu Gesicht bekommen, da er sich nicht allzu oft nach draußen begab.
"Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass...", fuhr er fort und hielt einen Augenblick inne, als er die Neugier in die Augen seiner Eltern steigen sah, "... es war ein bisschen seltsam. Der Alphawolf ist direkt zu mir gekommen, ohne mir etwas zu tun."
Zunächst spielte er mit dem Gedanken, ihnen auch von dem telepathischen Gespräch zwischen ihm und dem Wolf zu berichten, fürchtete jedoch, seine Eltern könnten ihn für einen Lügner halten- oder gar glauben, er sei verrückt.
Einen kurzen Augenblick lang glaubte er, einen Ausdruck des Entsetzens in den Augen seiner Mutter erkennen zu können, welchen diese jedoch wieder verdrängte. "Ist sonst noch etwas geschehen?"
Bei diesen Worten weiteten sich unwillkürlich die zweifarbigen Augen des Jungen, und angesichts jener Dringlichkeit in der von einem sorgenvollen Ton durchzogenen Stimme seiner Mutter hob er, ohne nur einen Augenblick zu überlegen, zum Sprechen an: "Ehrlich gesagt schon, deswegen bin ich auch früher zurückgekommen. Ich habe mir eingebildet, der Wolf würde zu mir sprechen- also, nicht sprechen, eher konnte ich seine Gedanken hören und er meine. Ich schätze, ich bin wegen dem ständig geöffneten Fenster krank geworden und drehe jetzt am Rad. Ich..."
"Der Wolf hat zu dir gesprochen? Meinst du nicht, das hast du dir nur eingebildet?" Obwohl ihre Stimme tiefes Entsetzen in sich barg, konnte Cimbal keine Überraschung in ihr finden- als wäre jenes Ereignis etwas völlig Natürliches.
"Cimbal... Was hat der Wolf zu dir gesagt?", erkundigte sich sein Vater und berührte Cimbal an der Schulter, woraufhin dieser aufblickte. "Nun ja... Er sagte, ich sei kein Mensch, sondern ein Drache und sie würden dies merken. Das Übliche eben", antwortete er mit unüberhörbarer Ironie in der Stimme.
"Ein Drache?", wisperte seine Mutter und für einen kurzen Augenblick glaubte Cimbal, etwas zwischen seinen Eltern aufblitzen zu sehen, was er jedoch nicht zu deuten vermochte. "Ist das wirklich wahr? Hat der Wolf wirklich zu dir gesprochen?", fragte sie schließlich und blickte Cimbal mit einer derartigen Schärfe in ihrem Blick an, als befürchte sie, dieser könne sie anlügen.
"Es ist wirklich wahr, ich habe den Wolf gehört. Wahrscheinlich bin ich jetzt durchgedreht- oder einfach nur müde. " Er erhob sich langsam auf die Füße und schritt aus dem Raum hinaus, ehe er sich noch einmal herumdrehte und sagte: "Morgen wird wieder alles in Ordnung sein. Bis dahin kann ich Tory noch ein wenig nerven." Mit einem verspielten Grinsen, das um seinen Mund spielte, lief er schnellen Schrittes die Treppe hinauf und vernahm noch ein leises Murmeln seiner Eltern.
Die hölzernen Treppenstufen, die ihn in das zweite Geschoss des Hauses führten, knarrten geräuschvoll unter Cimbals Gewicht, als dieser sich leichtfüßig nach oben bewegte.
"Was willst du machen?", ertönte plötzlich eine weitere Stimme, wenig später tauchte eine Gestalt mit funkelnden, blauen Augen vor Cimbal auf.
"Hallo, Tory", murmelte dieser und stieß seinen Bruder leicht zur Seite, als der ihm den Weg in sein Zimmer versperrte.
"Ich habe eben erst gemerkt, dass du nicht mehr da warst. Wolltest dich ganz unbemerkt hinausschleichen, nicht wahr?"
"Was mir auch gelungen ist", entgegnete Cimbal mit einem höhnischen Lächeln, "aber ich wünschte, ich hätte es nicht getan."
"Wieso? Bekommst du langsam doch ein Gewissen?"
"Nein, nicht wirklich." Er zögerte und wollte seinem Bruder gerade von der vergangenen Nacht berichten, hielt dann jedoch inne und sagte: "Ich werde dir später alles erzählen. Lass mich... Lass mich einfach schlafen." Mit diesen Worten machte er kehrt, trat in sein vom gleißenden Sonnenlicht erhelltes Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Ohne den unzähligen von nicht fertiggestellten Zeichnungen, die sich auf seinem hölzernen Boden angehäuft hatten, Beachtung zu schenken, stapfte er trägen Schrittes zu seinem Bett hinüber und ließ sich mit einem langen Seufzen darauf fallen. Die ledernen Vorhänge des Fensters waren zur Seite geklappt, sodass Cimbal das grelle, durch die gläsernen Fenster dringende Licht der Sonne auf seinem Gesicht spürte, jedoch wollte er nun nicht aufstehen, um die Vorhänge zu schließen.
Unwillkürlich griff er nach einem Kohlestück sowie einem unbeschriebenen Blatt, welche auf einem kleinen, hölzernen Regal neben ihm lagen, und begann, feine Striche darauf zu zeichnen. Erneut schossen ihm die Ereignisse vergangener Nacht durch den Kopf, während er die Kohle sanft über das Blatt streichen ließ und dunkle, gleichmäßige Striche darauf zurückblieben.
Dass du kein Mensch bist- jedenfalls nicht ganz.
Die Worte des Wolfes hallten in seinem Inneren wieder und ließen seine Handbewegungen schneller, die Striche auf dem Blatt dunkler werden.
Leugne nicht das, was du bist, Drache.
Er konnte das Kratzen der Kohle über das Papier vernehmen, pechschwarze Striche entstanden und wenig später hielt er nur noch ein winziges, schwarzes Stück zwischen den Fingern, nicht größer als der Kern einer Haselnuss.
Kalte Schweißtropfen rannen an seiner Stirn hinab, als sein Blick auf die Zeichnung in seinen Händen glitt, und obgleich er selbst den darauf sichtbaren Drachen als kunstvoll und naturalistisch empfand, ließ ihn dessen Anblick erschaudern. "So etwas soll ich sein?", wisperte er an sich selbst gewandt und musste noch einmal an die Worte des Wolfes denken. "Gleich wache ich auf und das alles hier war nur ein Traum." Mit diesen Worten legte er die Zeichnung beiseite und schloss die Augen, jegliche Gedanken an die vergangene Nacht zu verdrängen suchend.
Vergeblich suchte er in seinem Innern nach der Dunkelheit, die ihn zur Ruhe kommen lassen würde, spürte jedoch noch immer die heißen Strahlen der Sonne und stand schließlich erneut auf, um das Fenster mit den braunen Ledervorhängen zu verdecken. Das Licht, das sein nicht sehr geräumiges Zimmer soeben noch erhellt hatte, verblasste und mit einem Mal konnte Cimbal nicht mehr als die Silhouetten von kargen Möbeln ausmachen. Als er glaubte, sein Bett erahnen zu können, ließ er sich mit einem Seufzen darauf fallen und schloss abermals die Augen.
Der graue Pelz des Wolfs schimmerte im Mondlicht, als bestünde er aus unzähligen glasklaren Tropfen flüssigen Silbers. Seine Augen mit der Färbung eines tiefen, blauen Meers ruhten auf Cimbal, als das Tier mit stolz erhobenem Kopf auf diesen herabblickte, auf einem mit verschnörkelten Gravuren verzierten Stein sitzend.
Ungeduldig blickte Cimbal von einer Seite zur anderen und suchte vergeblich, die von hohen Birken gesäumte Lichtung in seinen Erinnerungen wiederzufinden, musste jedoch feststellen, dass er an jenem Ort noch nie gewesen war.
"Was willst du von mir? Du hast in meinem Traum nichts zu suchen. Mir reicht es schon, wenn du mir tagsüber auf die..."
"Solche respektlosen Worte solltest du niemals an jemanden wie mich richten."
"Jemanden wie dich?", wiederholte Cimbal mit einem spöttischen Unterton in der Stimme, "einen zerzausten alten Köter mit einem Waisenhaus für verlassene Flöhe in seinem Fell?" Als der Wolf den Mund öffnete, um zu antworten, vermutete Cimbal, nun von einem Sturm zorniger Worte erfasst zu werden, doch zu seinem großen Erstaunen war die tiefe Stimme des Wolfs von einer derartigen Ruhe, dass Cimbal tief durchatmete und seine eigene Unruhe für einen Augenblick in den Hintergrund zu drängen vermochte.
"Falsch. Ich bin nicht das, was du jetzt vor dir siehst, auch wenn es den Anschein hat."
"Was bist du dann?"
"Wir haben etwas gemeinsam, Cimbal." Beinahe war es Cimbal, als bildete sich um das gewaltige Maul des Tieres ein erwartungsvolles Lächeln, als hoffe er auf eine Antwort des Jungen. Dieser blickte an sich herab, schüttelte dann den Kopf und murmelte: "Dann sag mir, was. Ich habe keine vier Beine, kein Fell, keinen Schwanz, keine Pfoten."
"Sieh mir in die Augen."
Nach einem unsicheren Zögern tat Cimbal, wie ihm geheißen, und verlor sich in den unergründlichen Tiefen seines durchdringenden Blicks, dem faszinierenden Spiel der verschiedensten Blautöne, als hätten sich das vom Mond erleuchtete Meer und die dunkle Nacht vereint. Plötzlich jedoch fielen Cimbal schwarze Fäden auf, die sich in flammenartigen Mustern durch jenes Meer zogen, und zuckte unwillkürlich zusammen. Wohl wissend, woher er diese Muster kannte, zog er den Ärmel seines weißen Hemds nach oben und betrachtete seinen von ebendiesen Mustern überzogenen Arm.
"Woher kommen die?", fragte er mit vor Entsetzen geweiteten Augen und versuchte, sich nicht mehr in dem fesselnden Blick des Wolfs zu verfangen.
"Du hast sie seit deiner Geburt."
"Und wieso?"
"Denk nach, Cimbal."
"Was?"
"Cimbal. Cimbal!"
"Wieso..."
"Cimbal! Wach auf!"
Mit einem kurzen Aufschrei fuhr er aus dem Schlaf auf und öffnete blitzartig die Augen, als er seinen Namen vernahm, und als er den Kopf drehte, fand er sich in einem tiefbraunen, der frischen Erde des Waldes gleichenden Augenpaar wieder, welches ihn skeptisch musterte.
"Mara! Was tust du hier?!" zischte er und blickte das neben ihm sitzende Mädchen verunsichert an.
"Du hast im Schlaf geredet und es klang, als hättest du einen Albtraum. Alles in Ordnung?"
Diese Worte ignorierend fragte Cimbal abermals: "Was machst du hier?"
"Ich wollte wissen, wie es dir geht. Ist das verboten?"
"Natürlich nicht, aber..." Sein Blick glitt hinüber zu dem geöffneten Fenster, welches er zuvor mit den nunmehr nach hinten geklappten Vorhängen verschlossen hatte.
"Du hast nicht die Tür benutzt, richtig?", murmelte er und verdrehte mit einem amüsierten Grinsen die Augen.
"Vielleicht hätten deine Eltern oder dein Bruder mich nicht reingelassen. Spielt ja auch keine Rolle.
Wie geht es dir? Wieso bist du überhaupt so früh nach Hause gegangen, wo dich doch sonst keine zehn Pferde aus dem Wald holen können?"
"Es ist..." Er zögerte und suchte einen kurzen Augenblick nach den richtigen Worten, ehe er Mara von den seltsamen Ereignissen zu erzählen beschloss.
"Das, was ich jetzt erzähle, klingt vielleicht ein wenig seltsam. Oder... sehr seltsam", begann er und hielt ihrem erwartungsvollen Blick stand, "und du musst es mir nicht glauben."
"Erzähl es einfach", forderte sie auf, woraufhin Cimbal weitersprach: "Als der Wolf sich mir genähert hat, habe ich geglaubt, seine Stimme zu hören. Wahrscheinlich bin ich einfach nur durchgedreht, aber es..."
"Erzähl weiter! Was hat er gesagt?"
"An den genauen Wortlaut kann ich mich nicht erinnern... Er sagte, ich sei kein Mensch, das weiß ich noch. Am Schluss nannte er mich... Drache."
"Drache?", wiederholte sie und Cimbal sah, wie ihr Blick auf die Zeichnung glitt, "nun ja, eine Vorliebe für Drachen hast du jedenfalls. Aber sind Drachen nicht eigentlich... Na ja... größer? Und ein wenig... kräftiger als du?" Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als sie fortfuhr: "Du bist achtzehn Jahre alt und dennoch nicht größer als die meisten Mädchen. Einen Drachen stellt man sich anders vor, nicht wahr?"
"Blödes Schaf", murmelte Cimbal, musste jedoch seinerseits lächeln. "Ich kann mir das ja auch nicht erklären. Aber der Traum, den ich gerade hatte- aus dem du mich geweckt hast- da sah ich wieder den Wolf, und in seinen Augen waren so seltsame Muster."
"Was für Muster?"
"Warte." Er zog sein Hemd aus und konnte aus den Augenwinkeln erkennen, wie Mara bei dem Anblick der flammenartigen Verschnörkelungen, die sich über seinen gesamten Oberkörper zogen, zurückschreckte.
"Oh mein Gott!", schrie sie auf, "Cimbal, was bitte ist das?!"
"Sag du es mir. Ich habe diese Muster schon immer, nur... bisher waren sie nie von Bedeutung."
"Nun, ich würde sagen, jetzt sind sie sehr wohl von Bedeutung." Sie zögerte. "Ich würde sagen, wir gehen zu meiner Großmutter. Sie kennt sich erstens mit den verschiedensten Krankheiten aus und..." Cimbal unterbrach sie: "Das ist doch keine Krankheit!"
"Wie auch immer, aber seltsam ist es schon. Und zweitens, weiß sie viel und hat Bücher über die Legenden von Drachen. Vielleicht kann sie dir ja mehr erzählen."
Cimbal hielt einen nicht lange anhaltenden Augenblick inne. Glaubte Mara wirklich, zwischen ihm und den Drachen gäbe es eine Verbindung, nur wegen einer seltsamen Einbildung?
"Na schön", antwortete er schließlich, "einen Versuch ist es wert."
Durch die prasselnden Regentropfen sowie den dichten Nebel, welcher sich nunmehr über das Tal gesenkt hatte, vermochte Cimbal nur die Umrisse der Hütte auszumachen, auf die Mara ihn mit ungeduldigen Schritten zuführte. Er spürte das kühle Wasser in seinen Schuhen und die nasse, an seinem Körper klebende Kleidung ließ seine Erinnerungen an die vergangene Nacht am See zurückkehren.
"Hier wohnt meine Großmutter!", schrie sie und hatte Mühe, das geräuschvolle Klatschen des auf die Wiese hinabstürzenden Wassers zu übertönen. "Ich glaube, du bist ihr schon einmal begegnet!"
"Keine Ahnung!", antwortete Cimbal, obgleich er letzteres nicht verstanden hatte, jedoch wollte er nicht noch einmal nachfragen. Er sah die Silhouette von Maras recht kräftiger Hand, die sich um einen rundlichen Türknauf schloss und die Tür mit einem Stöhnen aufdrückte. Als Cimbal ebenfalls die geräumige Hütte betrat, erstarben die unmelodischen Laute der niederprasselnden Regentropfen und es kehrte mit einem Mal eine tiefe Ruhe ein, welche jedoch von Maras Krächzen unterbrochen wurde: "Großmutter! Ich bin es, Mara!" Als sie keine Antwort erhielt, bedeutete sie Cimbal mit einem leichten Nicken, ihr in ein großes, von den knisternden Flammen eines Kamins erhelltes Zimmer zu folgen, in dessen Mitte einige verstaubte Sessel um einen hölzernen Tisch herum standen.
"Wahrscheinlich liest sie gerade und ist so in ihr Buch versunken, dass sie uns nicht hört." Mit einer kurzen Handgeste wies sie auf die Sessel und fuhr dann fort: "Setz dich. Ich gehe sie suchen."
Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns tat Cimbal, wie ihm geheißen, und ließ sich auf einen der lederüberzogenen Sessel sinken; den Blick auf die lodernden Flammen gerichtet. Einen Moment lang fragte er sich, ob es an den vergangenen Ereignissen sowie seiner Aufregung lag, dass er den Anblick des in einem goldenen Glanz leuchtenden Feuers unwillkürlich mit einem Drachen in Verbindung brachte, schob diesen Gedanke jedoch schnell beiseite. "Denk nicht andauernd daran", wisperte er an sich selbst gewandt, während er den Blick durch das geräumige Zimmer schweifen ließ, um etwas Ablenkung zu finden. Die hellen, steinernen Wände waren unter den unzähligen mit Büchern gefüllten Regalen kaum auszumachen und die Fenster wurden von weißen, das kaum durch den Nebel dringende Sonnenlicht hidurchlassenden Tüchern verdeckt. Wenn Maras Großmutter tatsächlich so viel las, wie man es anhand der vielen Bücher annehmen konnte, wüsste sie vielleicht wirklich, wie sie Cimbal würde helfen können.
Plötzlich vernahm er leise Stimmen, welche sich schnell näherten, und wenig später trat Mara gefolgt von ihrer Großmutter in das Zimmer hinein. Das von unzähligen Falten bedeckte Gesicht der Frau wurde von ihrem schneeweißem, auf ein hohes Alter schließen lassenden Haar umrahmt und ließ ein Gefühl von Respekt in Cimbal aufsteigen.
"Hallo", begann Cimbal und erhob sich mit einem höflichen Nicken, "mein Name ist Cimbal. Ich bin..." Er wurde von der rauen, krächzenden Stimme der alten Frau unterbrochen: "Du bist der seltsame Junge, der mit Wölfen spricht."
"Großmutter!", zischte Mara an diese gewandt und warf ihr einen wütenden Blick zu, ehe sie fortfuhr: "Du musst sie entschuldigen, das meint sie nicht so."
"Ist schon in Ordnung", antwortete Cimbal und ließ sich mit einem amüsierten Lächeln wieder in den Sessel sinken.
"Also, Cimbal", begann die alte Frau, "was genau wolltest du von mir wissen?" Ich habe nicht ewig Zeit."
"Es ist...", murmelte dieser, "...Der Wolf sagte, ich sei ein Drache, und... Deswegen wüsste ich gerne mehr über Drachen."
"Drachen. Ich glaube, früher wurden noch mehr Geschichten über sie erzählt, weshalb sie langsam in Vergessenheit geraten..."
"Und... gab es jemals Drachen?"
"Manche glauben, es seien nur Geschichten, doch ich habe in meiner Jugend selbst einen gesehen, wie er über die Berge kreiste. Wenn das, was in den Büchern steht, stimmt, so können Drachen die Gestalt von Menschen annehmen und demnach auch Kinder bekommen, die wie Menschen aussehen. Jedenfalls beinahe. Also könntest du ganz theoretisch wirklich von einem Drachen abstammen- aber ich sehe an dir kein Merkmal, dass auf einen Drachen hinweisen könnte. Du bist recht klein, hast keine seltsamen Muster im Gesicht, keine roten Augen..."
"Was die Muster betrifft...", unterbrach Cimbal sie und krempelte den durchnässten Ärmel seines Hemdes nach oben, woraufhin sich die Augen der Frau bei dem Anblick jener seltsamen Verschnörkelungen vor Entsetzen weiteten.
"Heilige... Es ist...", stammelte sie und griff vorsichtig nach dem Arm des Jungen, "es ist wirklich wahr!"
"Die Muster habe ich seit meiner Geburt."
"Und du hast dir noch nie Gedanken darum gemacht?"
"Bevor diese Wolfsgeschichte passiert ist, nicht", gab Cimbal zu, woraufhin Maras Großmutter den Kopf schüttelte: "Wie kann man nur so dumm sein? Ich hätte mich längst darum gekümmert!"
"Genau das mache ich ja jetzt!", entgegnete Cimbal, in dessen Augen mit einem Mal ein entschossener Funken aufglomm, "und ich habe noch eine Frage: Wie alt werden Drachen?"
"Oh, sehr alt. Viel älter als wir Menschen es werden."
"Somit werden auch die Kinder der Drachen älter...", murmelte Cimbal an sich selbst gewandt, "und deswegen sehe ich kleiner und jünger aus als alle anderen!"
"Weil du...", ertönte Maras kaum wahrnehmbare Stimme, "im Vergleich jünger bist als wir!"
"Dies wäre eine Erklärung für alles: Dein jüngeres Aussehen, die Visionen, diese seltsamen Muster... Aber sicher sein können wir uns nicht. Schließlich habe ich das alles nur aus Geschichten..."
"...Außerdem kenne ich meine Eltern doch! Keiner von ihnen ist ein Drache, das weiß ich!"
"Am besten, du redest noch einmal mit ihnen", schlug Mara vor und schien ein Zittern in ihrer Stimme unterdrücken zu wollen, "die ganze Geschichte ist nämlich wirklich interessant!"
"Was hast du gerade gefragt?"
"Was ich bin", antwortete Cimbal und hielt den von Entsetzen gepackten Blicken seiner Eltern stand, welche ihm mit unsicherer Haltung gegenüberstanden.
"Ich verstehe deine Frage nicht", entgegnete sein Vater und tat einen gewaltigen Schritt auf ihn zu. "Was du bist? Du bist Cimbal. Damit hat sich diese Frage hoffentlich geklärt."
"Nicht wirklich", murmelte dieser, während sein durchdringender Blick abwechselnd zu seiner Mutter sowie seinem Vater schweifte. "Das erklärt nur, wer ich bin. Aber was bin ich? Ein Mensch?"
"Nun ja...", begann seine Mutter und bemühte sich sichtlich um ein verspieltes Lächeln, "ganz sicher war ich mir darüber noch nie."
"Ich meine es ernst!", rief Cimbal aus und bemerkte erst einige Augenblicke später, dass er, von tiefer Aufregung gepackt, seine Stimme um einiges erhoben hatte, woraufhin er schnell hinzufügte: "Tut mir Leid. Aber ich meine es wirklich ernst."
Einen nicht lange anhaltenden Augenblick schien in den Augen seiner Mutter ein Gefühl, oder vielmehr eine Erinnerung, aufzublitzen, welche Cimbal jedoch nicht zu deuten imstande war. Gerade öffnete sie den Mund, um zu sprechen, als Cimbas Vater ihr mit ernstem Tonfall das Wort nahm: "Weißt du, Cimbal, das ist..." Er wurde jedoch seinerseits von seiner Gefährtin unterbrochen: "Das ist völlig verrückt, Cimbal. Ich weiß ja nicht, was du dir da ausgedacht hast..." Es schien sie Mühe zu kosten, den spöttischen Ton in ihrer Stimme beizubehalten, als sie fortfuhr: "Du solltest dich einfach einen Tag lang ausruhen, damit diese seltsamen Hirngespinste ein Ende nehmen."
"Das sind keine Hirngespinste!", rief Cimbal aus und sprang unwillkürlich von seinem Stuhl auf. "Was immer ihr vor mir verheimlicht, ich will es wissen! Und ich werde damit klarkommen, aber lügt mich nicht an!"
Beinahe war es Cimbal, als umspülte die karge Wüste der glasigen Augen seiner Mutter ein seichter Bach, gespeist von einer weit entfernten Quelle der Trauer, bevor sie das von Entsetzen gepackte Gesicht in ihren Händen verbarg und kaum wahrnehmbar murmelte: "Geh einfach und ruhe dich aus, Cimbal."
Dieser zögerte zunächst und suchte in seinem Innern vergeblich nach den richtigen Worten, welche seiner Mutter womöglich die Antworten auf seine ungewöhnlichen Fragen entlocken würden, entsann sich dann jedoch eines Besseren.
"Dann sagt es mir eben nicht." Er versuchte, die in ihm aufsteigende Aufregung hinter einem gespielten Lächeln zu verbergen, als er sich prompt erhob und einen Schritt auf seine ihn verunsichert anblickenden Eltern zutat. "Was auch immer ihr vor mir verbergen wollt, ich werde es herausfinden, auf welche Weise auch immer!"
Ohne die Reaktion seiner Eltern abzuwarten, fuhr er herum, rannte die Treppe hinauf und tauchte in die Schwärze seines noch immer abgedunkelten Zimmers ein, dann schloss er geräuschvoll die Tür hinter sich.
Mit einem fragenden Ausdruck der Unsicherheit in den Augen ließ sich Cimbal auf den von unzähligen Gegenständen überhäuften Boden sinken, ohne das Rascheln der sich unter seinem Gewicht zusammenpressenden Zeichnungen zu beachten, und versuchte vergeblich, die Silhouetten seiner Möbel in der undurchdringlichen Dunkelheit ausmachen zu können. Mit jedem verstreichenden Augenblick schien sich die wie eine ausladende Decke über dem Raum liegende Schwärze abermals zu verdunkeln, doch als sich Cimbal gerade erheben wollte, um jene die Sonne abhaltenden Vorhänge abzunehmen, stach ihn ein mit einem Mal vor ihm aufleuchtendes Licht in seine Augen. "Was ist das?!", rief er an sich selbst gewandt und kniff die Augen zusammen, als sich das gleißende, wie in Sonnenlicht gebadeter Schnee glänzende Licht um ihn herum ausbreitete und ihn zu verschlingen drohte. Er spürte ein gewaltiges Brennen in seinen Augen und versuchte vergeblich, den Blick von dem Licht abzuwenden und irgendwo in einem winzigen Fleck von Dunkelheit zu verbergen, doch diese schien völlig dem Licht gewichen zu sein. Als Cimbal gerade voller Verzweiflung die Tür zu öffnen imstande war, schien das Licht langsam an Intensität zu verlieren und das unerträgliche Brennen in Cimbals Augen ließ nach. Er wollte sie öffnen und sich in seinem in Licht gebadeten Zimmer umblicken, wurde jedoch von einer vertrauten, ruhigen Stimme abgehalten:
"Es tut mir Leid, dass ich auf diese Weise zu dir kommen musste, Cimbal", sprach der Wolf und tat einen Schritt auf den Jungen zu, welcher zu seiner eigenen Überraschung, keinerlei Angst verspürte, jedoch schwang in seiner Stimme ein Ausdruck von Verwirrung mit, als er fragte: "Wie kommst du hierher?"
"Ich beobachte dich schon seit einiger Zeit, Cimbal. Und ich weiß, dass dich momentan einige Fragen beschäftigen."
"Das... Das stimmt, aber... Wie bist du hierher gekommen, in mein Zimmer?"
"Das hast du doch soeben selbst gesehen", antwortete das Tier und beinahe schien ein amüsiertes Lächeln um sein von silbernen Haaren umsäumtes Maul zu spielen, "ich bin mit dem Licht gekommen."
"Verstehe", antwortete Cimbal und schenkte dem Wolf ein verständnisvolles Nicken, obgleich er nicht die geringste Ahnung hatte, was dessen Worte zu bedeuten hatten.
"Das glaube ich dir", antwortete dieser mit einem unverkennbaren Ton von Ironie in der Stimme, "aber ich bin nicht nur gekommen, um dich mit meinem Licht zu blenden. Es ist an der Zeit für dich, etwas Wichtiges zu erfahren, Cimbal. Ich weiß, dass du wahrscheinlich nicht erfreut darüber sein wirst, doch habe ich nun bereits zu lange gewartet."
"Gewartet?", erkundigte sich Cimbal, "womit gewartet?"
"Ich kenne deine Fragen, und im Grunde kann ich nichts anderes tun, als sie zu bestätigen. Erinnerst du dich an die Worte, die ich zu dir sprach, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind?"
"Natürlich, das war schließlich erst gestern. Du sagtest zu mir "Drache". Und ich denke, dass du nun hier bist, um mit mir über Ähnliches zu sprechen." Vergeblich versuchte Cimbal, die in seiner Stimme mithaltende Unruhe zu unterdrücken.
"Vor beinahe einhundert Jahren wurde ein Kind geboren, dessen Vater ein Drache und dessen Mutter ein Mensch war. Da dies nicht erlaubt war- aus welchen Gründen auch immer- musste der Vater sein Kind aussetzen, und brachte es zu einer Menschenfamilie." Der Wolf hielt einen Augenblick lang inne und musterte Cimbal mit seinen durchdringenden, eisblauen Augen. "Du kannst dir denken, was ich dir als nächstes sagen werde, nicht wahr?"
Cimbal wandte den Blick ab und hob zu sprechen an, doch seine Stimme versagte unter tiefem Entsetzen. Er schluckte, und es kostete ihn gewaltige Mühe, seine Tränen zurückzuhalten, als er schließlich sagte: "Vor hundert Jahren haben meine Eltern aber noch nicht gelebt."
"Nein. Er gab dich deinen Urgroßeltern, welche schnell ahnten, was du wirklich bist."
"Also..." Er konnte ein erneutes Schlucken nur schwer unterdrücken, "Meine Eltern wissen also auch davon?"
Als er nur ein leises Nicken des Wolfs ausmachen konnte, sprang er auf und zischte: "Also haben sie mich mein ganzes Leben lang angelogen!"
"Nun ja, eigentlich haben sie dich nur wenige Jahrzehnte lang angelogen", murmelte der Wolf, "aber das taten sie nur, damit du dich nicht als anders empfindest."
"Als anders empfinden...", wiederholte Cimbal, "was denkst du, was ich mein ganzes Leben lang getan habe? Ich bin kleiner als die meisten anderen und sehe viel jünger aus, als ich bin! Ich bin achtzehn, aber..."
"Nein, Cimbal", unterbrach ihn der Wolf, "du bist beinahe einhundert. Ist dir denn nie aufgefallen, wie langsam die Zeit an dir vorüberzieht im Vergleich zu anderen- beispielsweise deiner Familie?"
Cimbal zögerte und ließ einen Augenblick lang Bilder aus seiner Kindheit durch seinen Kopf schweifen. "Nein, das ist mir nie aufgefallen, nie. Doch eigentlich... vor allem bei Tory hätte ich doch etwas bemerken müssen!"
"Du hast dir womöglich einfach nie etwas dabei gedacht. Vielleicht hätte ich dir auch nichts sagen sollen, doch ich dachte, du würdest es ohnehin erfahren. Außerdem habe ich bei unserem ersten Treffen vermutet, du wüsstest von deiner wahren Herkunft."
"Und wo komme ich her? Ich meine, wo leben die Drachen?"
"Wenn ich dir dies verrate, bringe ich dich in große Gefahr."
"Dann hättest du dich von Beginn an von mir fernhalten sollen. Hör zu, ich finde es auch ohne deine Hilfe heraus. Und dann mache ich mich auf den Weg, und wenn ich es nicht überlebe, ist es deine Schuld."
Der Wolf stieß einen langgezogenen Seufzer aus und in sein Gesicht fuhr ein Ausdruck von Unschlüssigkeit, dnn sprach er schließlich: "Alleine würdest du den Weg niemals schaffen. Ich werde dich begleiten, wenn du das tust, was ich sage."
"Das kommt darauf an, was es ist.", entgegnete Cimbal und brachte ein kurzes Lächeln zustande.
"Du wirst tun, was ich sage", wiederholte der Wolf mit einer Dringlichkeit in der Stimme, die Cimbal zusammenzucken ließ.
"Du hast mein Wort."
Die im gleißenden Sonnenlicht wie grünes Feuer aufleuchtenden Tannen neigten sich sanft im einen melodischen, mit dem Rascheln der Blätter harmonierenden Klang erzeugenden Wind. Noch immer war der Wald in sich langsam lichtendem Nebel getränkt und ab und an war das Geräusch winziger, bei jedem Windeshauch von den Baumwipfeln abperlender Wassertropfen zu vernehmen, die auf dem von Nadeln übersäten Waldboden wie hauchdünnes Glas zersprangen.
Diese knirschten unter den durch die Melodie der Natur dringenden Schritten der Gestalten, welche sich leichtfüßig ihren Weg durch die dicht aneinandergedrängten Tannen bahnten, jedoch schweigend und in Gedanken versunken scheinend nebeneinander herliefen.
Irgendwann brach Cimbal die Stimme mit einem leisen Murmeln: "Ich hätte ihnen etwas sagen müssen."
"Sie hätten dich niemals gehen lassen, Cimbal."
"Außerdem haben sie es so gewollt. Sie hätten mir einfach die Wahrheit sagen können."
Als er diese Worte ausgesprochen hatte, sah er, wie der Wolf verständnisvoll den Kopf neigte, dann kehrte erneut Stille ein. Ohne auf seine Lautstärke zu achten, setzte Cimbal einen Fuß vor den anderen, und seine aus Wut entsprungene Entschlossenheit schien sich mit jedem Schritt, den er tat, zu verstärken; der bis an den Rand mit Nahrungsmitteln gefüllte Beutel, den sich Cimbal auf den Rücken gebunden hatte, drohte diesem mit jedem Schritt das Gleichgewicht zu rauben. Es war ihm vor seiner Abreise gelungen, sich an seinen Eltern vorbeizustehlen und einige Lebensmittel für die womöglich lang andauernde Reise einzupacken, und er hoffte, dass auch sein Bruder ihn nicht bemerkt hatte. Ohne auch nur ein Wort zu seiner Familie zu sagen, war er durch das Fenster seines Zimmers hinausgeklettert und sofort auf das Kommando des Wolfs hin in die schützenden Schatten des Waldes gelaufen.
Plötzlich blieb der Wolf prompt stehen und blicke Cimbal mit seinen eisblauen, durchdringenden Augen an, dann sprach er: "Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, mich dir vorzustellen." Er kniff die Augen zusammen und sog tief die Luft ein. "Ich bin Hlunyr, dein Begleiter."
"Hlunyr. Das ist ein... ein ziemlich ausgefallener Name. Und... Nun ja, dass du mich begleitest, sehe ich."
"Nein, das meine ich nicht. Es ist so: Jeder Drache hat einen Begleiter, mit dem er eine starke Verbindung hat und der auf ihn aufpasst. Ein Begleiter spürt, wenn sein Drache in Gefahr ist oder ähnliches, da sich die Gefühle des Drachen auf ihn übertragen. So habe ich auch am See deine Aufregung gespürt und konnte in deine Gedanken eindringen."
Bei diesen Worten hielt Cimbal unwillkürlich den Atem an und blickte Hlunyr mit unverkennbarer Skepsis in den Augen an, ehe er fragte: "Wieso bist du nicht früher zu mir gekommen?"
"Ich wollte abwarten, bis du mich findest, da ich ahnte, dass dies irgendwann passieren würde. Außerdem konnte ich nur sehr selten gedanklichen Kontakt zu dir herstellen. Meistens habe ich bloß in deine Träume hineingeblickt."
"Und... haben alle Drachen einen... einen Wolf als Begleiter? Ich meine, sind Drachen nicht.... Nun ja..."
"...Stärker als Wölfe?", beendete Hlunyr den Satz, "doch. Aber die Begleiter verfügen über weitaus mehr magische Fähigkeiten. Außerdem bin ich nicht nur das, was du zu sehen glaubst." Cimbal sah, wie der Blick des Wolfs auf seine Pfoten wanderte, dann schien der Nebel um diesen herum dichter zu werden, bis er Cimbal jegliche Sicht auf das Tier raubte. Als er die Augen zu dünnen Schlitzen zusammenkniff, konnte er die sich mit einem Mal vergrößernden Silhouetten des Wolf ausmachen, welcher sich auf seltsame Weise zu verformen schien und sich schließlich auf seine Hinterbeine aufrichtete. Als sich der dichte, einen beinahe grünlichen Ton in sich bergende Nebel zu verziehen begann, stand plötzlich ein junger Mann mit einem funkelnden Blick vor Cimbal und bedachte diesen mit einem höhnischen Lächeln. "Hallo." In seinen eisblauen Augen schien sich Cimbals eigene Überraschung zu spiegeln und seine nachtschwarzen Haare wehten im Wind wie unzählige von Raben, welche mit gespreizten Flügeln durch den Himmel schossen. Er war völlig in Schwarz gekleidet, das eng anliegende, größtenteils von einem dicken Lederwams bedeckte Hemd jedoch war von grünlich glänzenden, kunstvoll ineinander verschnörkelten Ornamenten geziert, welche ebenfalls lodernden Flammen ähnelten .
"Oh... Du bist... Ein Mensch...", stammelte Cimbal und konnte ein erschrecktes Aufatmen nicht unterdrücken, als er die sich über die linke Wange Hlunyrs ziehenden, flammenartigen Muster bemerkte, welche er bereits unzählige Male gesehen hatte.
"Unter anderem, ja", antwortete dieser und schien ein amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken zu können, als Cimbal seine Überraschung sichtlich zu verdrängen suchte.
"Ich hätte vermutet, du wärst älter", murmelte er und sah, wie um die schmalen Lippen Hlunyrs erneut ein Lächeln spielte. "Nur einhundertzweiundzwanzig."
"Kannst du dich in... noch mehr Tiere verwandeln, oder nur in einen Wolf?"
"Lass mich überlegen...", murmelte Hlunyr und Cimbal bemerkte, dass das nachdenkliche Gesicht seines Begleiters noch immer den weisen, entschlossenen Ausdruck des Wolfs aufwies und seine großen Augen leuchtende Funken von Wildheit zu versprühen schienen.
"Ich kann mich in eine Eidechse verwandeln, einen Schimmel, eine Distel, ich kann mich unsichtbar machen... Oh, und in einen Stein!", antwortete er schließlich und riss Cimbal somit aus seinen Gedanken.
"Nicht wirklich!", rief dieser aus und bemerkte den faszinierten Blick, mit welchem er den neben ihm herschreitenden Hlunyr musterte.
"Doch, wirklich."
Obgleich Cimbal dessen Worte insgeheim anzweifelte, setzte er seinen Weg schweigend fort und widerstand dem Drang, sich jeden Augenblick nach hinten umzudrehen und durch die dicht aneinandergedrängten Bäume hindurch einen Blick auf sein Heimatdorf zu erhaschen, welches sie jedoch schon seit etwa einer Stunde hinter sich gelassen hatten. Nur wenige Fuchslängen neben Cimbal fiel der vom Regen aufgeweichte Waldboden steil ab und würde ihn zweifellos in den Tod reißen, wenn er sich zu nah an jenen Abhang begäbe.
Er wandte den Blick ab und sah, dass sich der ansteigende Weg, welchen sie nun schon seit einiger Zeit beschritten, noch weit zu erstrecken schien, und bei jenem Gedanken konnte Cimbal ein geräuschvolles Stöhnen nicht unterdrücken. Seine Beine schmerzten nunmehr und er hoffte auf eine Höhle oder etwas ähnliches, wo sie Schutz für die Nacht finden würden, doch der gelassene Gesichtsausdruck Hlunyrs weckte in Cimbal den Gedanken, dass sein Begleiter womöglich nicht vorhatte, nur einen kurzen Moment zu rasten. Schließlich fragte er: "Dir scheint es nichts auszumachen, ununterbrochen diesen Berg hochzulaufen, was?"
Dieser blickte mit einem belustigten Funkeln in seinen eisblauen Augen zu Cimbal hinüber und antwortete dann, als habe er dessen Gedanken gelesen: "Dir hingegen scheint der Gedanke daran, noch etwas länger zu laufen, sehr viel auszumachen."
"Nicht so sehr wie die Tatsache, dass du in meine Gedanken eindringst!", zischte er.
"Als dein Begleiter ist es meine Aufgabe, zu wissen, was du fühlst. Und wenn ich direkt neben dir stehe, entgeht mir wirklich nicht gerade viel." Er zögerte und fügte dann mit einem Grinsen hinzu: "Du solltest also aufpassen, was du denkst."
"Machen wir denn irgendwann eine Pause?", erkundigte sich Cimbal und wechselte somit das Thema. Da Hlunyr seine Gedanken ohnehin zu hören imstande war, brauchte er auch nichts vor seinem Begleiter zu verheimlichen. Dieser antwortete, den Blick in den Himmel gerichtet: "Die Sonne wird bald untergehen. Und ehrlich gesagt bin ich nicht gerade erpischt darauf, im Dunkeln in irgendeine Schlucht oder ähnliches zu fallen. Wir können ja in der nächsten Höhle, die wir finden, übernachten."
Cimbal saß zusammengekauert in einer nur schwach von den Flammen des kleinen Feuers, welches Hlunyr entzündet hatte, erhellten Ecke und ließ seinen Blick auf den rötlich leuchtenden Steinen ruhen.
Sein Begleiter hatte sich mit verschränkten Armen gegen die steinerne Wand gelehnt und schien nun völlig in das leise Züngeln der Flammen vertieft zu sein, welche seinen eisblauen Augen einen kaum wahrnehmbaren Ausdruck von Wäre verliehen.
"Willst du etwas essen?", fragte Cimbal und griff zu seinem ein bemerkenswertes Gewicht aufweisenden Rucksack, aus welchem er schließlich nicht mehr als einen Apfel herausnahm, als Hlunyr den Kopf schüttelnd antwortete: "Nein, danke. Ich sollte besser Wache halten, dann kannst du etwas schlafen."
"Wie du willst. Aber sollten wir uns nicht abwechseln- ich meine, mit dem Wachehalten?"
Hlunyr wandte den Kopf in Cimbals Richtung und bedachte diesen mit einem kurzen Lächeln. "Ich denke, niemand wird es wagen, in eine Höhle einzudringen, vor der ein schlafender Wolf liegt."
Cimbal erwiderte das Lächeln und blickte dem in die Dunkelheit hinausschreitenden Hlunyr nach, ehe sein Blick auf den im Schein des Feuers orange leuchtenden Apfel wanderte. Beinahe schien es, als spiegelte sich der in Cimbals Blick lodernde Ausdruck von Aufregung in den Glanzlichtern, welche von den Flammen auf die Frucht geworfen wurden, als er an den vor ihm liegenden Weg dachte.
Bald würde er die Drachen finden, und diese könnten ihm alles über ihn erzählen, wenn Hlunyr ihm den richtigen Weg zeigen würde- doch er zweifelte nicht an der Loyalität des Wolfs, welcher ihm abermals sein silbern funkelndes Gesicht zuwandte.
"Gute Nacht", murmelte er, woraufhin Cimbal sich seufzend gegen die Wand lehnte und in den einen süßen Duft mit sich tragenden Apfel hineinbiss.
Ein rosig leuchtendes Licht drang durch Cimbals geschlossene Augenlider und ließ ihn erwachen, als das kaum wärmende Licht der Sonne durch die sich dunkel vor dem Himmel abzeichnenden Bäume drang. Langsam öffnete er die Augen und fand sich in den schützenden Schatten einer hoch in den Himmel ragenden Tanne liegend wieder, deren dunkelgrüne Nadeln der kalten Luft einen süßen Duft verliehen.
Langsam erhob sich Cimbal und griff unwillkürlich zu dem neben ihm an dem Baum lehnenden Stoffrucksack, dessen Gewicht sich seit ihrer nun drei Tage andauernden Reise um einiges verringert hatte.
"Hlunyr?", murmelte er und blickte zu seinem auf der anderen Seite des Baumes liegenden Begleiter hinüber, welcher in der Nacht stets seine Wolfsgestalt anzunehmen pflegte. Dessen silbernem Pelz verlieh die Sonne einen eindrucksvollen, silbernen Glanz, welcher an winzige Tropfen geschmolzenen Silbers erinnerte und sich im auf den Blättern haftenden Tau spiegelte.
"Hlunyr, unsere Vorräte sind so gut wie leer."
Schnell wandte der Wolf den Kopf und in seinen Augen spiegelte sich ein unverkennarer Ausdruck von Neugier und Wachsamkeit, als habe er nie geschlafen.
"Dann sollten wir schnell die Drachen finden. Ich glaube, wir müssen nur noch einen Berg überqueren, um sie zu erreichen."
"Gut zu wissen!", rief Cimbal aus und sprang mit vor Abenteuerlust glänzendem Blick auf, ehe er nach dem Rucksack griff und sich diesen umschnallte.
Schnellen Schrittes lief er los, ohne dem ihm folgenden Wolf einen Blick zu schenken, und bahnte sich seinen Weg durch die schmalen, im sanften Wind knirschende Laute erzeugenden Tannen.
Der nadelbedeckte Boden unter seinen Füßen fiel steil ab, und es kostete ihn Mühe, auf den in klaren Morgentau getauchten Tannennadeln nicht das Gleichgewicht zu verlieren, doch die noch immer in ihm lodernde Aufregung sowie Neugier, was ihn außerhalb der Tannen erwarten würde, verliehen ihm eine hohe Geschwindigkeit.
Es hatte sie beinahe einen ganzen Tag gekostet, diesen Berg zu überqueren, doch der kaum wahrnehmbare Geruch eines von einer klaren Quelle gespeisten Flusses sowie das beinahe lautlose Plätschern vom Wasser, das hin und wieder an Cimbals Ohren drang, ließen darauf schließen, dass sie bald das Tal erreicht haben würden.
Leichtfüßig, aber dennoch schnell arbeitete sich Cimbal den Berg hinab und sah schließlich ein grelles Licht durch die dicht aneinandergedrängten Bäume dringen, ehe das nunmehr geräuschvolle Rauschen eines Flusses das sanfte Knistern der vom Wind aneinandergeriebenen Tannennadeln übertönte.
"Hlunyr!", rief er aus und fuhr herum, konnte seinen Begleiter jedoch nirgends ausmachen und spürte, wie Furcht in ihm aufzusteigen begann. Er war zwar einige Pferdelängen vor dem Wolf gelaufen, hätte diesen aber dennoch sehen müssen- es sei denn, Hlunyr wäre etwas zugestoßen und hätte ihn somit nicht einholen können.
"Hlunyr!", rief er noch einmal und wollte gerade umkehren, um nach dem Wolf zu sehen, als er ein kaum wahrnehmbares Wispern vernahm: "Überraschung!"
Er fuhr herum und konnte ein erschrecktes Zusammenzucken nicht unterdrücken, als er sich in einem eisblauen, ihn belustigt musternden Augenpaar wiederfand. "Du Esel!" Mit diesen Worten schenkte er dem ein höhnisches Grinsen zu vebergen suchenden Hlunyr einen Blick gespielter Wut und versetzte ihm einen derart gewaltigen Stoß, dass er zu taumeln begann und schließlich rückwärts zu Boden fiel.
"Das hast du jetzt davon", murmelte Cimbal mit einem spöttischen Lächeln, das um seine Lippen spielte, als Hlunyr sich die Tannennadeln von seiner Kleidung klopfend erhob.
"Hast du mich nicht bemerkt?", fragte er und versuchte vergeblich, die sich bei dem Sturz in seinem schwarzen Haar festgesetzte Erde zu entfernen. "Ich war die ganze Zeit neben dir. Nun ja, unsichtbar."
"Das habe ich mir schon gedacht", antwortete Cimbal, "woher hast du diese Tricks? Du kannst sie mir nicht zufällig beibringen?"
"Nein, kann ich nicht. Man wird damit geboren- oder eben nicht. Außerdem", fügte er mit einem Lächeln hinzu, "wäre es unklug, jemandem wie dir so etwas beizubringen." Mit diesen Worten wandte er den Blick von dem einen Anflug von Ärger verspürenden Cimbal ab und setzte seinen Weg fort, das rhythmische Knacken von unter seinen Schritten zerbrechenden Tannennadeln war das einzige zu vernehmende Geräusch.
"Da!", rief Cimbal mit einem Mal aus und unterbrach somit die eine leicht angespannte Stimmung mit sich tragende Stille, welche sich unwillkürlich wie eine weit ausladende Decke über die hoch in den Himmel ragenden Tannen gesenkt und das Tosen des Flusses erstickt zu haben schien.
Inmitten eines von gewaltigen Gesteinsbrocken gesäumten Kiesbetts bahnte sich das eine smaragdähnliche Färbung mit sich tragende, dennoch kristallklare Wasser seinen Weg durch die Landschaft; seine ein nicht mit dem Windeswispern harmonierendes Geräusch erzeugenden Wellen brachen an den majestätischen Felsen wie hauchdünnes Glas.
Die von Bergen gesäumte, in einem Rahmen grüner Tannen liegende Lichtung war von unzähligen von Heidegewächsen übersät und wurde von der hoch aufsprühenden Gischt, in deren Tropfen sich die Gewalt der Natur zu spiegeln schienen, benetzt, sodass Cimbal nach kurzer Zeit ein Gefühl von Nässe in seinen Schuhen verspürte.
"Wir sollten irgendwo zwischen den Felsen Unterschlupf suchen, wo die Gischt nicht so hinüberspritzt", meinte Hlunyr und drehte sich langsam zu dem schnellen Schrittes herbeieilenden Cimbal um, als hätte er dessen Gedanken gehört.
"Ich finde, wir sollten hinübergehen", entgegnete der und verspürte ein mit einem Mal in ihm aufflammendes Gefühl jener Abenteuerlust, welche ihn stets im Angesicht einer gefährlichen Situation zu überkommen pflegte. "Das wird spannend!", fügte er an sich selbst gewandt hinzu und vermutete, dass sein Begleiter jene Worte nicht vernommen hatte.
"Versteck dich!", rief dieser plötzlich aus, dann spürte Cimbal einen festen Griff an seinem Arm und fand sich schließlich hinter einem Felsen wieder, neben dem mit zusammengekniffenen Augen die Lichtung musternden Hlunyr kauernd.
"Was war das?", wisperte er und hatte Mühe, die auf jenes plötzliche Ereignis folgende Aufregung zu unterdrücken, doch er konnte dem unwillkürliche Zittern seiner sich in die nassen Kieselsteine grabenden Hände kein Ende setzen.
Als er keine Antwort erhielt, presste er sich an den vor ihm aufragenden Stein und spähte seinerseits vorsichtig auf die Lichtung. Zunächst konnte er nichts als die sich hin und wieder im Wind neigenden Sträucher ausmachen, doch dann sah er die Silhouetten einiger verhüllter Gestalten sowie zweier mit Unmengen an Gepäck beladener Pferde aus den gegenüberliegenden Tannen auftauchen.
Lange hielt er den Blick auf diese gerichtet und versuchte anhand bestimmter Details oder ähnlichem etwas über die Herkunft der Gestalten herauszufinden doch als er nichts dergleichen zu erkennen imstande war, wandte er sein Gesicht Hlunyr zu und fragte: "Wer ist das? Wahrscheinlich keine Freunde von dir, richtig?" Dieser brachte nur ein kaum wahrnehmbares Kopfschütteln zustande und wisperte schließlich in einem so leisen Tonfall, dass es Cimbal diese Worte zu verstehen Mühe kostete: "Das sind Reisende. Und sie haben das, was wir brauchen."
"Sind sie uns feindlich gesinnt?"
"Wenn wir ihre Vorräte stehlen wollten, natürlich."
Nach einem nicht lange anhaltenden Augenblick des Zögerns antwortete Cimbal schließlich: "Sie haben keine Waffen, nicht einmal Stöcke. Sie zu überfallen wird nicht schwer sein."
"Ein Kampf wird auch nicht nötig sein."
"Ich will aber..."
"Cimbal!", unterbrach ihn sein Begleiter mit scharfer, jedoch nur schwer zu vernehmenden Stimme, "wir wollen keine unnötigen Risiken eingehen. Du wirst nichts weiter tun, als mit ihnen zu reden. Alles weitere übernehme ich."
Mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken bedeutete er Cimbal, aus seinem Versteck hinauszutreten, woraufhin sich dieser schnellen Schrittes auf die ihm nunmehr die Köpfe zuwendenden Gestalten zubewegte.
"Seid gegrüßt!", rief er und versuchte, die völlige Aufmerksamkeit der Gestalten mit energischem Winken auf sich zu ziehen. Als er näher an sie herantrat, vermochte er durch die winzigen Schlitze in den die Gestalten verhüllenden Tüchern vier misstrauisch funkelnde, bernsteinfarbene Augenpaare zu erkennen- die offensichtlich weiblichen Gestalten blickten sich unsicher an, ehe die am nächsten bei Cimbal stehende Frau vortrat und sprach: "Sei gegrüßt. Wo gedenkst du hinzugehen?"
Nach einem Zögern von auffälliger Länge antwortete dieser, dem Drang, den Blick seines Begleiters zu suchen, widerstehend: "Ich bin von zuhause weggelaufen und suche nun irgendein Dorf oder ähnliches."
"Bist du allein?"
"Ja, ich bin allein, und ich vermute, mich verlaufen zu haben." Vergeblich versuchte er, seinem Blick sowie seiner Stimme einen leisen Ausdruck von Verzweiflung zu verleihen, konnte jedoch bei dem Anblick eines plötzlich hinter den Frauen auftgetauchten Rappen, dessen Rücken mit einem Großteil der soeben noch auf den Schimmeln festgebundenen Vorräten beladen war, ein amüsiertes Grinsen nur schwer unterdrücken. Wir können doch keine Frauen ausrauben, dachte er, verdrängte das kurz in ihm aufflammende Mitgefühl jedoch schnell. Wenn sie den Weg zu den Drachen finden wollten, brauchten sie jegliche Art von Vorräten, zumal Hlunyr nicht mehr als die Hälfte weggenommen zu haben schien. Sie werden damit auskommen, dachte er und wollte einen erneuten Blick auf den eindrucksvollen Rappen werfen, welchen er jedoch nirgends ausmachen konnte. Womöglich hatte Hlunyr sich sowie das Gepäck unsichtbar gemacht und verweilte nun hinter einem der gewaltigen Felsbrocken, Cimbals eher unbeholfenes Schauspiel mit einem höhnischen Grinsen musternd.
"Ich...", begann er und suchte nach den richtigen Worten, um den neugierigen Blicken der Gestalten schnellstmöglich entkommen zu können, "ich wollte eigentlich nur nach dem nächsten Ort fragen. In welche Richtung würdet ihr mir empfehlen, zu gehen?"
"Nun", sprach schließlich eine andere der Frauen, "wir würden dir empfehlen, sofort unser Gepäck herzugeben."
Bei diesen Worten zuckte Cimbal von Entsetzen gepackt zusammen und versuchte schließlich, seine Stimme möglichst unwissend klingen zu lassen: "Was?"
"Denkst du, uns wäre dieser kleine Trick nicht aufgefallen?" Er sah das feindselige sowie angriffslustige Glitzern in den im gleißenden Sonnenlicht beinahe rot funkelnden Augen der Frau, als er fortfuhr: "Ich weiß nicht, wovon..."
"Angriff!"
Mit einem Mal löste sich die ruhige, diese nicht zu einem Kampf fähig wirken lassende Haltung der Frauen auf und sie sprangen mit vor Wut funkelnden Augen auf Cimbal zu, dessen Muskeln sich unwillkürlich anspannten. Die vier Gestalten bedrängten ihn gleichzeitig und schlugen mit der Wildheit hungriger Raubkatzen um sich, jeder Funken von Schwäche oder gar Mitgefühl schien verflogen. Unbehholfen versuchend, die kraftvollen sowie auf sein Gesicht zu zielen scheinenden Schläge abzuwehren, geriet Cimbal ins Taumeln und verlor schließlich das Gleichgewicht. Auf dem Boden liegend blickte er in die vor Wut glänzenden Augen der Frauen, welche ihn mit festen Griffen am Boden hielten, sodass er sich kaum zu rühren imstande war- doch die Tatsache, dass seine Angreifer weiblich sowie scheinbar nicht viel älter als er selbst waren, hinderte ihn daran, sich zu wehren. Plötzlich ertönte das geräuschvolle, aus einer undefinierbaren Richtung dringende Trappeln von Hufen, auf welches ein lautes Wiehern folgte, dann lockerten sich die Griffe seiner Angreifer um Cimbal und er spürte, wie er prompt nach oben gerissen wurde.
Der pechschwarze, im Sonnenlicht eindrucksvoll glänzende Rappe bäumte sich mit wütendem Schnauben vor Cimbal auf, sodass die noch immer verhüllten Frauen mit vor Angst weit aufgerissenen Augen zurückschreckten. Sofort griff der Junge nach der wallenden Mähne des Tieres und sprang schwungvoll auf dessen Rücken, woraufhin er ein kaum wahrnehmbares Wispern vernahm: "Halt dich fest."
Mit diesen Worten rannte der Rappe mit einer derartigen Geschwindigkeit los, dass Cimbal beinahe das Gleichgewicht verloren hätte, und das Letzte, was er vernahm, war das langsam vom Wind übertönte, wütende Schreien der sich immer weiter entfernenden Frauen.
Der eine feuchte Brise mit sich tragende, die Gischt des tosenden Flusses zu zerreißen scheinende Wind blies Cimbal entgegen und zauste sein Haar, als er sich von dem schnellen Schrittes über die Wiese galoppierenden Rappen tragen lies. Das geräuschvolle, aber dennoch rhythmische Donnern der jeden Herzschlag auf dem Boden auftreffenden Hufen vermischte sich mit dem Klang der sich an den Felsbrocken brechenden Wellen des Flusses, welcher an unzählige, auf einem gewaltigen Diamanten zerspringende Glassplitter erinnerte.
Ohne auf die an ihm vorüberstreichende Umgebung zu achten, lockerte Cimbal seinen Griff um die Mähne des Rappen und streckte schließlich die Arme aus, als wolle er den brausenden Wind einfangen.
"So müssen sich Vögel fühlen!", rief er aus und schloss die Augen, sodass er für einen Moment in der Luft zu schweben glaubte, dann jedoch verlor das Pferd an Geschwindigkeit und kam schließlich mit einem kaum hörbaren Schnauben zum Stehen.
"Steig ab, Cimbal, ich würde gerne als Wolf weiterlaufen", murmelte Hlunyr und wandte dem auf seinem Rücken sitzenden Jungen den Kopf zu, woraufhin dieser schwungvoll von dem Pferd sprang.
"Denkst du, sie folgen uns?", erkundigte er sich dann und konnte die Faszination in seinem Blick nicht unterdrücken, als sich aus der massigen, großen Pferdegestalt ein schlanker, geschmeidiger Wolf zu formen schien. Das soeben auf dem Pferd festgebundene Gepäck, welches sie den reisenden Frauen gestohlen hatten, sank zu Boden, woraufhin Cimbal mit einem genervten Zischen fragte: "Wie wollen wir das nun transportieren?"
"Du füllst etwas davon in deinen Beutel", antwortete Hlunyr, "und den Rest kann ich tragen, auch in Wolfsgestalt. Du musst es mir nur umbinden." Auf diese Worte hin öffnete Cimbal seinen beinahe völlig geleerten Beutel, welchen er aufgrund dessen leichten Gewichts bereits vergessen hatte, und füllte ihn mit einigen der in Leder gewickelten Bündeln.
"Ist das überhaupt etwas Essbares?", erkundigte er sich nach einigen verstrichenen Augenblicken mit einem skeptischen Funkeln in den Augen, "wenn wir hier andauernd irgendwelche Seile oder seltene Insekten mit uns herumschleppen, dann..."
"Reg dich ab, Cimbal!", wurde er von Hlunyr unterbrochen, "ich habe bereits hineingesehen. Das sind Äpfel, Brot und Kartoffeln. Und ein Seil, aber das könnte sich auch als nützlich erweisen."
Mit einem erleichterten Nicken nahm Cimbal die übrigen Beutel und band sie vorsichtig auf den schlanken, jedoch kräftigen Rücken des Wolfs, ehe er fragte: "In welche Richtung müssen wir jetzt?"
"Zunächst müssen wir dem Fluss folgen, durch einen Wald hindurch, und wenn wir dessen Ende erreicht haben, müssen wir den Fluss überqueren und den Berg, den wir dann vorfinden, hinaufklettern, bis..."
"In Ordnung, bis dahin können wir ja schon einmal gehen", unterbrach ihn Cimbal und erhob sich schließlich, wobei er abermals einen leisen Funken von Aufregung durch seinen Körper strömen spürte- in nur wenigen Tagen, so hoffte er, würden sie die Heimat der Drachen erreicht haben, sodass ihn diese über seine wahre Herkunft informieren könnten.
Die Blässe des sich wie ein grüner Streifen vor einen weit entfernten, nur als grauer Schatten zu erkennenden Berg ziehenden Waldes ließ auf eine noch immer weite Strecke schließen, die Hlunyr und Cimbal noch zurücklegen mussten, doch sie bewegten sich stets schnellen Schrittes darauf zu und würden ihn hoffentlich vor Sonnenuntergang erreicht haben.
Schweigend schritten sie über die sich weit vor ihnen erstreckende Wiese, die im sanften Sonnenlicht glänzende Gischt benetzte ihre Kleidung und gab dem unter der drückenden Wärme der Sonne schwächer werdenden Cimbal ein erfrischendes Gefühl.
"Ist dir warm, Drache?", erkundigte sich Hlunyr mit einem von einem spöttischen Ausdruck durchzogenen Lächeln, woraufhin Cimbal dieses erwiderte und sagte: "Dir hoffentlich auch, denn ich würde dich zu gerne in den Fluss werfen!"
"Oh, da ist wohl jemand streitlustig!"
"Ich bin nicht streitlustig!", rief Cimbal aus, "es ist nur langweilig. Die ganze Zeit nur Wiesen und ein Fluss. Ich wünschte, es würde noch etwas Spannendes passieren!"
"Nun ja", begann Hlunyr und machte mit einem kurzen Blick zurück halt, "du bist gerade von vier Frauen niedergeschlagen worden, was willst du noch?"
"Du kannst nur spotten, stimmt's ?", fragte Cimbal, als er abermals einen höhnischen Ton in Hlunyrs Stimme wahrgenommen hatte, dann weitete dieser plötzlich die Augen und deutete mit dem Finger auf einen Punkt hinter Cimbal. Der fuhr mit einem Anflug des Entsetzens herum, beinahe etwas Gefährliches oder gar Tödliches auf ihn zukommen erwartend, konnte jedoch nicht das Geringste entdecken. "Hlunyr, da ist nichts!"
Mit einem unverkennbaren Ausdruck der Verwirrung in seinem Blick fuhr Cimbal erneut herum, jedoch konnte er seinen Begleiter nirgends ausmachen. Einen nicht lange anhaltenden Augenblick spürte er eine Flamme des Entsetzens in sich aufsteigen, glaubte dann jedoch, eine kaum wahrnehmbare Bewegung hinter sich ausmachen zu können.
Guter Trick, Hlunyr, dachte er, als er sich an die stark ausgeprägten magischen Fähigkeiten seines Begleiters erinnerte, so dumm bin ich auch nicht!
Auf jedes die Anwesenheit des Wolfs verratende Geräusch zu achten versuchend, hielt Cimbal den Atem an und bemühte sich, keinen nicht von Hlunyr stammenden Laut an seine Ohren dringen zu lassen, dann vernahm er hinter sich ein leises Trappeln von Pfoten auf Gras. Als er das Ansetzen des Wolfs zum Sprung zu spüren glaubte, bückte er sich, eilte zu der Stelle, wo er dessen Aufprallen gehört hatte, und drückte ihn bei dem Gefühl von Fell in seinen Händen zu Boden.
"Du bist so leicht zu durchschauen!", sagte er und versuchte, seinem Lächeln einen möglichst höhnischen Ausdruck zu verleihen, als sich die Luft vor ihm zu verfärben begann und der am Boden liegende Wolf allmählich sichtbar wurde.
"Natürlich bin ich leicht zu durchschauen", antwortete dieser, "aber nicht immer!" Ehe der Junge zu reagieren imstande war, wand sich der Wolf aus seinem Griff und rannte mit einer derartigen Geschwindigkeit, dass Cimbal den Wind auf seinem Gesicht spüren konnte, los und schien sich mit jedem verstreichenden Augenblick um einiges zu entfernen. Blitzschnell erhob sich Cimbal und folgte dem Wolf so schnell, wie seine Beine ihn zu tragen vermochten, doch er hatte das Gefühl, eine immer größer werdende Strecke täte sich zwischen ihnen auf. Mit aller Kraft beschleunigte er sein Tempo und versuchte, die langsam in seine Beine fahrende Erschöpfung zu ignorieren, doch bei dem Gedanken, von Hlunyr überlistet oder gar zum Aufgeben gezwungen zu werden, spürte er Entschlossenheit in sich aufsteigen. Er rannte weiter und sah, wie der Wolf langsamer und die Entfernung mit jedem Schritt, den er tat, kürzer zu werden schien, und nach kurzer Zeit hatte er seinen Begleiter eingeholt. Dieser hatte sich hechelnd auf dem von der Gischt feuchten Gras niedergelassen und Cimbal sah, dass seine sich unter dem glänzenden Pelz abzeichnenden Muskeln vor Anstrengung zitterten.
"Nettes Rennen", murmelte er und ließ sich ebenfalls nach Luft schnappend neben dem Wolf nieder, dessen Blick über die weite, von felsigen Bergen gesäumte Landschaft zu streichen schien. Die grüne Färbung des noch immer blos als Streifen zu erkennenden Waldes hatte an Sättigung gewonnen, und beinahe war es Cimbal, als könne er hinter dem scheinbar aus Tannen bestehenden Streifen einige bernsteinfarbene Flecken ausmachen, welche auf einen im späten Herbst welkenden Laubwald schließen ließen.
"Wir sind bald da", murmelte Hlunyr und erhob sich schließlich, "wir sollten für den Rest der Strecke unsere Kraft sparen." Er tat einen Schritt auf den sich durch das von gewaltigen Gesteinsbrocken gesäumte Kiesbett schlängelnden Fluss zu, drehte sich dann jedoch noch einmal herum und sagte: "Du bist wirklich schnell, Cimbal. Die meisten Drachen sind zwar stark, aber schwerfällig. Ich glaube, du solltest bald all deine Fähigkeiten prüfen, du... Du scheinst etwas Besonderes zu sein." Mit unwillkürlich in ihm aufflammendem Stolz schenkte Cimbal dem Wolf ein anerkennendes, respektvolles Nicken, ehe er sich seinerseits erhob und Hlunyr an den Fluss folgte.
Der Wolf schritt zu einer seichten Stelle hinüber, wo sich zwischen einigen Gesteinsbrocken ein die im Sonnenlicht golden leuchtende Landschaft spiegelnder Tümpel gebildet hatte, und neigte den Kopf, um seinen Durst mit dem kühlen, glasklaren Wasser zu stillen. Cimbal tat es ihm gleich und spürte sofort, wie das frische, den Geschmack der Natur mit sich tragende Wasser ein belebendes Gefühl in ihm aufsteigen ließ. Solange sie sich entlang dieses Flusses vorwärtsbewegen würden, hätten sie stets Wasser in ihrer Nähe, doch in Cimbal stieg die unangenehme Vermutung auf, dass sie jenen Fluss bald überqueren und sich somit von diesem entfernen würden. "Du brauchs dir keine Sorgen zu machen, Cimbal", vernahm er plötzlich die ruhige Stimme des Wolfs, als sich dieser mit glänzenden Augen zu ihm herumdrehte, "wir werden immer in der Nähe von Wasser bleiben. Außerdem hast du doch Beutel, die du mit Wasser füllen kannst, nicht wahr?"
Mit einem bestätigenden Nicken tauchte Cimbal noch einmal seine Hände in das kühlende Wasser und erhob sich schließlich mit einem entschlossenen Glänzen in seinem Blick, als dieser erneut an jenem grünlich schimmernden, den Horizont bedeckenden Streifen vorüberstrich.
"Endlich sind wir im Schatten!", rief Cimbal mit einem erleichterten Seufzen aus, als er die hoch über ihm aufragenden, die Sonne abhaltenden Tannen ihre kühlenden Schatten auf ihn werfen spürte.
"Ich bitte dich", antwortete der neben ihm hertrabende Hlunyr, "bald ist Winter! Du kannst dich doch nicht wirklich über Wärme beklagen." Mit einem kurzen Blick auf die unter seinen kräftigen Pfoten knirschenden Tannennadeln fügte er hinzu: "Ich habe euch Drachen noch nie verstanden."
"Halbdrache", berichtigte ihn Cimbal, der plötzlich zum Stehen kam und seine Umgebung genauer zu betrachten beschloss. Der nunmehr stille, die Harmonie der Natur spiegelnde Fluss schien den von hoch in den Himmel ragenden Felsen gesäumten Tannenwald wie ein scharfes, silbern glänzendes Messer zu durchschneiden, als er sich ohne jegliche Laute durch die Bäume zog. Kaum hörbares Zwitschern von Vögeln drang, von dem sanft über die Bäume streichenden Wind getragen, an Cimbals Ohren, doch er vermochte keine weiteren Geräusche zu vernehmen.
Einige Pferdelängen vor ihnen ging das dunkle Braun des von welken Tannennadeln übersäten Bodens in ein im Sonnenlicht golden leuchtendes Orange über, welches auf den von Blättern bedeckten Grund eines Laubwald schließen ließ, und beinahe war es Cimbal, als könne er in einiger Entfernung die dunklen, eckigen Umrisse einer alten Hütte ausmachen.
"Hlunyr, sieh' mal!", rief er und deutete mit einer raschen Handbewegung auf die bereits zu modern scheinende Hütte, woraufhin der Wolf prompt stehen blieb und ein Ausdruck in seine Augen trat, den Cimbal nicht zu deuten vermochte.
"Ist irgendetwas?", fragte er, erhielt jedoch keine Antwort. Stattdessen setzten sie ihren Weg fort, doch Cimbal glaubte, ein Gefühl der Unruhe in Hlunyr wahrnehmen zu können, als dieser leichtfüßig einen Fuß vor den anderen setzte.
Nach einiger Zeit vermochte Cimbal die sich durch das von hellem Staub bedeckte Holz ziehnden Risse ausmachen, welche der kleinen, zwischen zwei breiten Eichen gebauten Hütte einen instabilen Ausdruck verliehen und durch die er einen kurzen Blick in das Innere des hölzernen Verschlages zu erhaschen imstande war. Er glaubte, die Umrisse einiger Säcke oder in einer Ecke zusammengerollter Stofffetzen ausmachen zu können, doch wirkliche Möbel schienen sich nicht in dem winzigen Raum zu befinden.
"Was ist das?", erkundigte er sich mit einem skeptischen Funkeln in den Augen bei Hlunyr, der Wolf jedoch schien von dem Anblick des in sich zusammenfallenden Gebildes aus Brettern derart beeindruckt, dass er mit geweiteten Augen darauf zutrabte und gerade durch ein kleines Loch in einer der schiefen Wände zu schlüpfen in Begriff war.
Plötzlich spürte Cimbal einen kaum wahrnehmbaren, kurzen Luftzug an ihm vorüberstreichen, dann drang ein das Holz spaltender Pfeil mit einem geräuschvollen Krachen in einem der Bäume ein und es ertönte ein scharfer, von Angriffslust durchzogener Schrei: "Eindringlinge!"
Cimbal fuhr mit einer in ihm aufflammenden Kampfbereitschaft herum, als sich ein dunkler Schatten mit einer an eine hervorschnellende Schlange erinnernden Geschwindigkeit durch die Bäume bewegte. "Vorsicht!", rief er an den Wolf gewandt, stellte dann jedoch fest, dass sich dieser mit gebleckten Zähnen sowie eindrucksvoll gesträubtem Pelz neben ihm aufgebaut hatte.
"Wer immer da ist", rief Cimbal aus und bemühte sich um einen Ton der Furchtlosigkeit in seiner Stimme, "komm raus! Wir haben keine Angst vor ein paar Pfeilen!"
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, brach eine ein lautes Geschrei ausstoßende Gestalt aus den schützenden Schatten der Bäume und stürmte mit einem im Sonnenlicht gefährlich blitzenden Dolch auf Cimbal zu, welcher unwillkürlich seine Hände zu Fäusten ballte und die Augen entschlossen zusammenkniff.
Gerade wollte er seinerseits auf die Gestalt zurennen, als Hlunyr sich mit einem entsetzten Jaulen vor ihn stürzte und rief: "Aldis! Nicht!"
Mit vor Überraschung geweiteten Augen starrte Cimbal, der sich von Entsetzen übermannt nicht zu bewegen imstande war, auf die prompt vor ihm haltmachende Gestalt und sah auch in ihren wie ein von der Sonne beschienener See glänzenden, blauen Augen einen Ausdruck der Überraschung steigen. Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns zog sie die weit ausladende, lederne Kapuze von ihrem Kopf und entblößte ein zartes, von einem Kranz blonden Haares umrahmtes Gesicht, dessen volle Lippen von einem skeptischen Anflug verformt wurden.
"Ihr seid.. Eindringlinge", stammelte sie und tat bei dem Anblick des sich schützend vor Cimbal aufbauenden Wolfs einen gewaltigen Schritt zurück.
Langsam ließ sie den gespannten, mit an geschmeidige Efeuranken erinnernden Ornamenten gezierten Bogen in ihrer Hand sinken und kniff ihre von dunklen Strichen umrandeten Augen zu misstrauisch wirkenden Schlitzen zusammen, als sie mit kampfbereiter Stimme sagte: "Beinahe hätte ich gedacht, dein Köter könnte sprechen."
Bei diesen Worten bemühte sich auch Cimbal um einen entschlossenen Ausdruck in seinem Blick sowie einen Klang des Mutes in seiner Stimme, als er antwortete: "Erstens ist er kein Köter. Zweitens machst du mir mit deinen hunderten von Waffen keine Angst. Und..."
Er wollte weitersprechen, wurde jedoch vor dem einen Schritt auf ihn zugehenden Mädchen unterbrochen und bemerkte erst jetzt die unzähligen von Waffen, welche sie an einem schwarzen Gürtel befestigt mit sich trug.
"So, du hast also keine Angst vor mir?" Blitzschnell zückte sie ein schmales, silbrig glänzendes Messer und warf es in Cimbals Richtung, sodass es, einen scharfen Luftzug erzeugend, nur um Haaresbreite neben diesem in einem Baum einschlug. Unwillkürlich zuckte Cimbal zusammen, griff dann jedoch seinerseits nach der im Holz steckenden Waffe und richtete sie mit einem herausfordernden Funkeln in den Augen auf das etwas überrascht wirkende Mädchen.
"Was du kannst, kann ich auch. Allerdings..." Er hielt einen Augenblick inne und musterte die freizügige, nietenbesetzte Lederkleidung der Kriegerin, "ich möchte dein hübsches Röckchen nicht ruinieren."
"Jetzt reicht es!", fauchte sie mit fest aufeinandergepressten Zähnen und sprang auf Cimbal zu, doch in diesem Moment stieß Hlunyr ein lautes Knurren aus, machte einen gewaltigen Satz und stieß das einen schrillen Schrei ausstoßende Mädchen zu Boden. Mit seinen kräftigen Vorderpfoten ihre Arme am Boden festhaltend, beugte er sich über sie, sodass seine zu einem gefährlichen Knurren verzerrte Schnauze nur eine Krallenlänge von ihrem Gesicht entfernt war, dann vernahm Cimbal seine drohende Stimme: "Lass ihn in Ruhe. Und wage es nicht, mich noch einmal Köter zu nennen."
Tag der Veröffentlichung: 11.01.2015
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