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Weißer Löwe
Der trockene Sand, der den Boden der kargen Landschaft mitten im Herzen Afrikas bedeckte, knirschte laut unter Keeras zerfetzten Sandalen. Ihre schwarzen, abstehenden Locken wirbelten im warmen Wind, als sie sich immer weiter von ihrer kleinen Siedlung entfernte.
Dort und in der weiteren Umgebung hatte es seit fast einer Woche nicht geregnet, die Menschen und Tiere sehnten sich nach ein paar kleinen Wassertropfen, die möglicherweise den ausgetrockneten Bachlauf mit trinkbarem Wasser füllen und somit einige Lebewesen vor dem Verdursten bewahren würde.
Keeras Großeltern hatten sie schon zum wiederholten Mal auf die Suche nach einem Wasserloch geschickt, denn selbst Süßkartoffeln,die als Hauptnahrungsmittel der Menschen galten, wurden mit jedem regenfreien Tag seltener.
Die Eltern des Mädchens waren seit drei Tagen auf der Suche nach Wasser-bisher hatte jedoch niemand eine Spur von ihnen entdeckt. Keera befürchtete das Schlimmste.
Während ihr zerfetztes,schlammverkrustetes Kleid an den vertrockneten Büschen vorbeistrich,schossen ihr grauenvolle Bilder ihrer Eltern durch den Kopf.Vielleicht wurden sie von Löwen angefallen,oder ihnen war der Vorrat an Nahrungsmitteln ausgegangen und sie lagen nun verhungert irgendwo in der weiten Steppe Afrikas..... "Nein!", sagte sich das Mädchen, "Das wird nicht geschehen!"
Der angespitzte Stock, den Keera fest in der Hand hielt, diente dazu, sich vor Löwen-und anderen Angriffen zu verteidigen, denn vor nicht allzu langer Zeit war ein Rudel der stolzen Tiere in der Nähe ihres Dorfes gesichtet worden.
Erschöpft und müde ließ sich Keera auf einen Stein fallen, erst jetzt bemerkte sie, wie weit ihr Dorf von ihr entfernt war. Die Hütten der Einwohner waren nur noch als beigefarbene Flecken vor dem sich orange färbenden Horizont zu erkennen.
Gelangweilt begann Keera, mit der Spitze ihres Stocks Zeichen in den Sand zu zeichnen. Sie liebte es, zu malen, sie hatte auch ein Talent dazu. Sehr oft zeichnete sie Bilder in den Sand, die meistens eine kleine Botschaft in sich versteckten. Sie zeichnete ein Zebra, das an einem Wasserloch steht, mit einer Giraffe, ein paar kleine Affen...

Doch dann ließ sie den Stock fallen und blieb steif sitzen, als wäre sie ein Teil des Stocks selbst geworden. Hinter sich vernahm sie ein leises Rascheln,dann ein Knacken von winzigen Ästchen, sie wusste, dass jemand sie beobachtete. Irgendwie spürte Keera die neugierigen Augen ihres Verfolgers an sich haften. "Ha....Hallo?",rief sie. Keine Antwort folgte. "Wer ist da?", rief sie noch einmal. "Ich...Ich habe eine Waffe"-sie hielt die Spitze des Stocks fest in die Richtung gerichtet,aus der das Geräusch kam- "Und ich werde sie benutzen, wenn du nicht herauskommst und dich zeigst!"
Zitternd schob sie die stachligen Äste der verdorrenden Büsche bei Seite,das Geräusch wurde plötzlich leiser,je näher Keera darauf zuschlich. "Okay",rief sie. "Das ist jetzt nicht mehr witzig! Das ist deine letzte Chance, dich zu zeigen!" Kalter Schweiß lief ihr über das dunkle Gesicht,den Stock hielt sie schützen vor ihren Körper.

Fast rechnete Keera damit, eine giftige Riesenschlange würde hervorschnellen und sich zischend auf sie stürzen, doch als sie die letzten Büschel bei Seite schob, sah sie etwas Weißes, Flauschiges auf der Erde liegen. Das Etwas hatte die kleinen Pfoten über den Kopf gelegt, also konnte Keera das Tier nicht identifizieren.Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setztend näherte sie sich dem Tier, bis dieses ruckartig den Kopf hob.

Keera erschrak und zuckte zusammen, unwillkürlich hielt sie ihren Stock noch fester. Sie blickte genau in die geweiteten, dunklen Augen eines weißen Löwenjungen.

"Na du, wie kommst du denn hier her?", fragte sie,obwohl sie wusste, dass das Tier ihr nicht antworten würde. Vorsichtig streichelte sie das weiche Fell, zog die Hand jedoch schnell wieder zurück und riss die Augen auf. "Das Tier ist ja total abgemagert!", schrie sie und begann,in ihrem Lederbeutel herumzukramen. Nach einiger Zeit zog sie ihre Hand mit zwei trockenen Stücken Brot wieder heraus, die sie  zuvor von einer Freundin bekommen hatte,um Löwen von sich fernzuhalten- im Nachhinein vermutete sie jedoch, dass die Tiere dadurch eher angelockt würden.

"Was einem beim Wasserholen so alles passiert",dachte sie und riss das Brot schnell in viele kleine Stückchen, wonach das Löwenjunge gierig schnappte. Nach wenigen Augenblicken hatte er alle Stücke verschlungen. "Ich bringe dir jetzt jeden Tag Futter,ich versprech´s!"
Auf dem Heimweg dachte sie oft daran, ihren Dorfkameraden von dem weißen Löwen zu erzählen, doch diese würden es vielleicht nicht glauben. "Oder sie würden ihn gefangen nehmen",dachte sie und fasste den Entschluss, einmal ein Geheimnis für sich zu behalten.

Tage vergingen, daraus wurden Wochen, aus Wochen wurden Monate. Und jeden Tag brachte Keera dem Löwen ein wenig Fressen, obwohl er bereits größer und kräftiger geworden war. Egal ob Fleisch und Fisch, was Keera jedoch viel zu selten aufbringen konnte,  sogar Süßkartoffeln fraß das Tier mit Genuss. Eines Abends hatte Keeras Oma ihr zwar verboten, das Haus zu verlassen , sie hatte sich jedoch heimlich aus der kleinen Hütte geschlichen.

Der Mond stand bereits am Himmel, und viele kleine Sterne waren dort verteilt. Keera rannte, so schnell ihre Füße und ihre zerrissenen Sandalen es erlaubten.
Jeden Abend traf sie den Löwen an der selben Stelle an: An dem Stein,wo Keera damals das Bild gezeichnet hatte. Doch diesen Abend erschien das Tier nicht. "Komm her,ich habe frisches Fleisch! Deine Lieblingssorte... Es ist sogar Warzenschwein dabei! Da frisst du doch so gerne! Na komm!",rief sie, ihre Stimme hallte in der Luft wieder. "Komm schon!"
Doch der weiße Löwe erschien nicht.Keera setzte sich erneut auf den Stein und wartete.Ab und zu wedelte sie mit den Fleischbrocken-und den Kartoffeln-in der Luft herum.
Der Löwe war seit ihrer ersten Begegnung um einiges gewachsen. Wahrscheinlich hatte er jetzt gelernt, für sich alleine zu jagen.

"Aber,auf die Schnelle?", dachte Keera, verdrängte jedoch die schlimmsten Gedanken, die ihr kamen.
Als Keera dann mitten in der Nacht nach Hause zurückkehrte, kam ihr ihre Großmutter mit einem strengen Gesichtsausdruck entgegengerannt. "Wo bist du gewesen? Ich hatte dir verboten,das Haus zu verlassen. Na ja,darüber reden wir später. Es gibt ansonsten tolle Neuigkeiten. Ataquo, der begabteste Jäger hier im Dorf, hat eben eine tolle Beute gemacht! Komm,ich zeige sie dir!" Mit einer raschen Handbewegung gab sie Keera das Zeichen,ihr zu folgen.Das Mädchen zögerte einige Zeit, folgte der alten Frau dann jedoch nach drinnen. Dort standen so viele Leute aneinandergequetscht, wie Keera es nie zuvor gesehen hatte. Sie zwengte sich durch die Menschenmenge, hatte einige Male jedoch das Gefühl, zerdrückt zu werden.

"Entschuldigung...Tut mir leid", murmelte sie,als sie sich an den Leuten vorbeidrängte und einige versehentlich anrämpelte. Dann, als sie sah, wovon alle so inspiriert waren, liefen ihr viele Tränen über die Wange. "Das kann nicht sein", flüsterte sie mehr zu sich selbst als zu den anderen.

In einem viel zu engen Käfig, mit Ketten festgebunden, erkannte sie das weiße Fell ihres Tierfreundes, der mehrmals voller Angst brüllte. Ataquo, der Jäger des Dorfes, stand mit einem zufriedenen Lächeln in der Ecke und spielte mit einem Pfeil, den er in der Hand hielt. "Du gemeiner, mieser Tierquäler", dachte Keera und ballte die Fäuste. "Hört auf! Das könnt ihr nicht tun! Lasst ihn frei!",schrie Keera, und wie auf ein stilles Kommando waren alle Augen auf sie gerichtet.
"Wir verdienen viel Geld mit dem Viech, also zerbrech' dir nicht den Kopf", erklärte Ataquo,doch Keera rannte nur aus dem Raum. Vor der Hütte betrachtete sie den sternenklaren Himmel.

"Das können die doch nicht machen!", schluchzte sie mehrmals und ließ sich einfach auf dem trockenen Boden nieder.
Plötzlich hörte sie Schritte, die aus dem Haus kamen.
"Heute Nacht müssen wir mit einem Löwenrudel rechnen, die dieses Prachtexemplar dort zurückholen wollen", ertönte eine Stimme. Keera fuhr herum, vorher rannen ihr noch ein paar Tränen über die Wangen. Ataquo blickte sie fragend an, fuhr jedoch fort: "Du musst tapfer mit uns kämpfen, dann, wenn es so weit tatsächlich kommt."

Keera lag in ihrer aus Leinen erbauten Hängematte in ihrer Hütte, deren Dach nur aus Wellblech bestand.
Seit einigen Stunden hatte Keera kein Auge zugetan. "Warum muss so etwas passieren?", dachte sie und drehte sich auf die Seite. Erneut schloss Keera die Augen und hoffte, dass sie bald Schlaf finden würde.
Als sie dann endlich dabei war, in ihre Traumwelt zu versinken, ertönte von draußen her ein lauter Schrei. Keera sprang sofort aus ihrer Hängematte und warf sich ihr neueres Kleid um,dass sie von einer Spende aus einem anderen Land bekommen hatte.Es war dunkelrot mit schwarzen Mustern,Keera mochte es sehr.
Schnell rannte sie aus dem Haus. "Oh nein!",rief sie,als sie sah,wodurch sie geweckt worden war: Hunderte von Löwen rannten durch das kleine Dorf,griffen Leute an,stahlen Essensvorräte und wehrten Menschen,die versuchten,ihnen zu schaden,ab.Ohne nur eine Sekunde nachzudenken,rannte Keera quer durch das Getümmel und suchte den Raum auf,in dem sie die wahrscheinliche Ursache des Kampfes gefangen hielten:Den weißen Löwen. Doch der Raum war leer.Die Stäbe des Käfiges waren zerbrochen,die aus Holz bestehende Tür war abgerissen.Auch die Ketten lagen nutzlos auf dem Boden. Der weiße Löwe rannte frei im Dorf herum!
Mit geweiteten Augen verließ sie den Raum und hob eine brennende Fackel vom Boden auf,um besser sehen zu können.Dann sah sie Ataquo,der versuchte,auf ein riesiges Löwenmännchen einzuschlagen,doch dieses stieß ihn ohne Schwierigkeiten bei Seite.Es erblickte Keera,die in der einen Hand die Fackel und in der anderen den für die Löwen gefährlichen Stock hielt,den sie zur Vorsicht mitgenommen hatte.Das Maul aufreißend rannte aus auf das sich duckende Mädchen zu,setzte mit seinen kraftvollen Beinen zum Sprung an und.....Jemand packte Keera am Kleid und trug sie davon.Das Löwenmännchen sprang mit ausgefahrenen Krallen auf die Stelle,wo einen Herzschlag zuvor noch Keera gestanden hatte.Ein lautes Brüllen verriet ihr,dass das Löwenmännchen aufgegeben hatte und sich abwandte.Keera drehte sich um,um ihren Retter zu betrachten und sie sah das weiße Fell mit den dunklen Augen,die sie so sehr mochte.Der große,weiße Löwe,den sie damals vor dem Hungertod bewahrt hatte,hatte auch ihr Leben nun gerettet. Er schleppte sie in eine verlassene Hütte,deren Besitzer vor einigen Jahren umgezogen waren.
Erleichtert seufzte Keera,doch dann hörte sie eine laute Stimme: "Keera,bück dich!" Das war Ataquo.Der Jäger hob seinen langen,angespitzten Speer und zielte....Auf den weißen Löwen! "Warte!",schrie Keera,doch der Mann überhörte sie.Keera fiel auf den staubigen Boden,der Löwe hatte sie losgelassen.Aus unschuldigen,großen Augen blickte er Ataquo an.Der zielte noch immer auf das Tier,er warf mit voller Kraft,der Löwe brüllte laut. Keera wusste,dass das Tier gleich vor ihren Augen tot in sich zusammenfallen würde.Sie schloss die Augen und wollte sich umdrehn,doch dann löste sich ein Holzsplitter von der Decke,fiel hinunter und durchschnitt genau die Flugrichtung des Speers.Dieser durchbohrte zwar das Holz,traf den Löwen jedoch nicht.Mit dem aufgespießten Holzsplitter fiel er zu Boden und rettete so das Leben des weißen Löwen. "Das kann nicht wahr sein!",murmelte Keera überglücklich. "Das muss so eine Art...Wunder gewesen sein!"
Sie rechnete damit,dass auch Ataquo ihr zustimmen würde,den Löwen nicht zu töten, doch diesere zückte einen weiteren Speer und zielte auf das Tier. "Du darfst ihm nicht wehtun!Er hat mich gerettet!",erklärte Keera,doch der Jäger schüttelte den Kopf. "Er hat dich hierher geschleppt,um dich zu fressen!Dies ist ein wildes Tier!"
"Das ist nicht wahr!Er hat mich vor dem Löwen gerettet,der auch dich eben angegriffen hat!"
"Nein,Keera.Das ist ein wilder Löwe!" Gerade wollte er wieder werfen,doch der Löwe schritt langsam auf ihn zu,packte den Speer mit den Zähnen und zog ihn Ataquo aus der Hand. "Da hast du es",meinte Keera hoffnungsvoll. "Jeder andere Löwe hätte dich gefressen.Aber er ist anders.Er...er wird bei mir bleiben!"schrie sie und zu ihrer Überraschung nickte Ataquo. "Er ist ein ungewöhnliches Tier",sagte er und betrachtete den Löwen,welcher den Speer auf den Boden fallen ließ. Keera wusste,dass der Löwe von nun an ihr neuer bester Freund sein würde. "Er braucht einen Namen",schlug sie vor,doch eigentlich hatte sie von Anfang an einen gewusst: "Ich werde ihn....Löwenherz nennen!"
 

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Tag der Veröffentlichung: 07.01.2012

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