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Tschudis Mappe

«Hanspeter!», ertönt Lehrer Josef Tschudis Stimmer hinter mir.

Ich zucke zusammen und drehe mich um. Es ist halb vier. Die Schulglocke hat soeben das Ende des Unterrichtsangekündet. Tschudi sitzt am Pult und schiebt unsere Sprachhefte und ein paar Bücher in das schwarze Ungetüm von Ledermappe, das vor ihm auf der Schreibunterlage liegt.

Ich zucke jedes Mal zusammen, wenn Tschudi «Hanspeter» ruft. Obwohl er genauso gut auch meinen Namensvetter und Klassenkameraden Hanspeter von der hinteren Bank rechts meinen könnte. Nicht, dass dieser Hanspeter zu den stillen und unauffälligen Knaben gehört. Im Gegenteil. Ich wage sogar zu behaupten, dass er um einiges lauter und schwatzhafter ist, als ich es bin. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Trotzdem zucke ich jedes Mal zusammen, wenn Tschudi «Hanspeter» ruft.

Das Gefühl, immer im Fadenkreuz des Lehrers zu stehen, werde ich auch während des Unterrichts nicht los. Vor allem in den Fächern, die ich verabscheue. Zum Beispiel im Rechnen. Speziell im Kopfrechnen, mit dem er uns jeden Tag aufs Neue foltert und das gegen jegliche Menschenrechte verstösst.

Wenn Tschudi uns eine dieser fürchterlichen Kopfrechen-aufgaben stellt, schaut er sich in der Klasse nach einem Opfer um. Vierundzwanzig Schüler. Alles potenzielle Kandidaten, um aufgerufen zu werden. Trotzdem pocht in mir eine leise Ahnung, wer am Ende der Glückliche sein wird.

Tschudis Blick wandert langsam über die Klasse. Die zwei, drei guten Kopfrechner lehnen sich entspannt zurück. Erstens ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass sie drankommen. Weshalb jemanden aufrufen, der gut im Kopfrechnen ist und das Resultat weiss? Das ist langweilig. Für den Lehrer und für die Klasse. Nein, die weniger guten Kopfrechner oder die ganz lausigen, so einer wie ich, müssen gebeutelt werden. Erstens, damit der Lehrer etwas zu lehren und zweitens die Klasse etwas zu grinsen hat. Aber die meisten meiner Mitschüler haben ihre Köpfe gesenkt und vermeiden es, Tschudi in die Augen zu schauen.

Tschudis Blick wandert weiter. Von links nach rechts, dann von vorne nach hinten, bleibt beim einen oder andern Kopf einen Augenblick stehen, wandert dann von hinten nach vorne und von rechts nach links.

Die Nerven sind zum Zerreissen gespannt. Die zentrale Frage, die im Raum steht: wer fällt diesmal dem Beil des Scharfrichters zum Opfer?

Tschudis Blick nähert sich jetzt der Bank ganz vorne, die ich mit meinem Freund Erik Harrweg teile. Mein Herzklopfen wird stärker, der Adrenalinspiegel steigt und ich beginne fieberhaft zu überlegen, welche Strategie ich anwenden soll, um mich des Lehrers Aufmerksamkeit zu entziehen?

Weggucken? Die Strategie des Vogels Strauss. Wenn ich Tschudi nicht sehe, dann sieht er mich auch nicht. Aber das ist natürlich Unsinn! Denn erstens bin ich in der sechsten Klasse und weiss, dass mich der Lehrer auch dann sehen würde, wenn ich ein Strauss wäre und zweitens könnte sich Weggucken als kontraproduktiv herausstellen. Man könnte es mir als mangelndes Aufpassen anlasten, was unweigerlich dazu führen würde, dass ich erst recht aufgerufen würde.

Also, Strategie Nummer zwei: sich klein und unscheinbar machen. Kopf einziehen, schrumpfen. Aber ich bin schliesslich keine Schildkröte, die einfach ihren Kopf in den Panzer ziehen kann. Und egal, wie stark ich zu schrumpfen versuche, ich bin in jedem Fall immer noch gross genug, um gesehen zu werden. Auch diese Strategie taugt nichts.

Unterdessen irrt Tschudis Blick weiter und ist jetzt nur noch zwei, drei Köpfe von meinem entfernt. Langsam steigt Panik in mir auf.

Zeit für Strategie Nummer drei: Beschäftigung mimen. So tun, als würde man ganz intensiv mit dem Fülli etwas ins Heft schreiben.

Aber auch diese Strategie versagt kläglich, denn eine mündliche Rechenaufgabe erfordert selbstverständlich ein mündliches Resultat. Ausserdem ist die Tintenpatrone in meinem Fülli leer. Dummerweise habe ich es versäumt, rechtzeitig eine neue einzulegen. Und schliesslich liegen sowieso alle Hefte unter der Bank.

Inzwischen ist Tschudis Blick bei Erik angekommen und bleibt bei ihm stehen. Hoffnung keimt auf. Bravo, Sepp, gute Wahl. Erik ist schlagfertig und weiss immer eine Antwort. Er wird dir auch die richtige Antwort liefern, denn Erik ist einer jener besseren Rechner, denen alles ein wenig leichter fällt.

Mein Herzschlag verlangsamt sich wieder, der Adrenalinspiegel sinkt. Da setzt sich plötzlich ein Teufelchen auf meine Schulter und flüstert mir ins Ohr:

«Kokolores, mein Freund! Nicht Erik wird aufgerufen, das weisst du ganz genau. Selbst wenn Tschudi ihn eine halbe Stunde lang anstarrt. Nein, nein, nein, du wirst in den sauren Apfel beissen müssen. DU – und niemand anders.»

Ich fühle mich wie eine Kuh, kurz bevor der Metzger den Schussapparat ansetzt.

Erik zwinkert mit den Augen und strahlt Tschudi an. So macht er es immer. Das ist das seine Art von Strategie. Den Lehrer anlächeln mit dem Ich-möchte-dass-du-mich-aufrufst-Blick, weil er natürlich haargenau weiss, dass solche Wünsche nie in Erfüllung gehen und Tschudi ihn todsicher in Ruhe lassen wird.

Ob diese Strategie auch bei mir funktionierte? Kaum. Denn erstens bin ich nicht der Typ, der auf Knopfdruck strahlen, lächeln und zwinkern kann und zweitens würde das Schicksal genau bei mir die berühmte Ausnahme machen, indem es mir diesen Wunsch hundertprozentig sicher in Erfüllung gehen liesse. Also verzichte ich auch auf diese Strategie; das Risiko ist mir zu gross.

Und tatsächlich. Wie das Teufelchen richtig vorausgesagt hat, löst sich Tschudis Blick von Eriks strahlendem Gesicht und wandert weiter zu mir. Ich senke meine Augen und sende ein Stossgebet in den Himmel zum Lieben Gott, dass er doch die Gnade habe, jemanden an die Tür klopfen oder eines der Mädchen in Ohnmacht fallen zu lassen. Oder mich einfach unsichtbar zu machen. Doch daraus wird nichts. Ohne aufzusehen weiss ich, dass Tschudi mich jetzt intensiv anstarrt. Ich spüre, wie sein Blick auf meinem Gesicht brennt. Etwa so, wie es ist, wenn man sich mit einer Lupe ein Loch in den Arm brennt. Und jeden Moment erwarte ich den tödlichen Stich in Form eines keinen Widerstand duldenden «Hanspeter».

Es ist so still im Schulzimmer, dass man eine Fliege furzen hören könnte. Ich habe das Gefühl, nur noch Tschudi und ich seien anwesend. Aber ich weiss, dass dreiundzwanzig Augenpaare auf mich gerichtet sind. Ha, jetzt ist er geliefert, der Bolliger, jetzt geht es ihm an den Kragen! Ich rieche förmlich den Geruch der Schadenfreude, der wie eine Wolke über unseren Häuptern schwebt. Schliesslich halte ich es nicht mehr aus und hebe vorsichtig die Lider. Eine Sekunde lang schauen wir uns tief in die Augen, der Lehrer und ich. Eine einzelne Sekunde, die mir vorkommt wie ein Erdzeitalter. Das Teufelchen auf meiner Schulter kichert.

Aber dann, o Wunder, nach dieser unendlich langen Sekunde, schweift Tschudis Blick unvermittelt von mir ab und wandert weiter zur Nachbarbank, wo Peter zusammenzuckt.

«Scheisse!», schimpft das Teufelchen auf meiner Schulter. Ich stosse einen stummen Seufzer aus. Eine Welle grenzenloser Erleichterung durchflutet mich. Es gibt sie also doch, die göttliche Gerechtigkeit. Diesmal erwischt es Peter.

Peter ist eigentlich ein netter Kerl und ich mag ihn ganz gut. Aber auch nette Kerls müssen dann und wann dran glauben. Zwischen den Wellen der Erleichterung spüre ich einen Hauch Mitleid mit ihm. Jetzt ist er es halt, der in den sauren Apfel beissen muss, wie sich das Teufelchen ausgedrückt hat. Und ich bin noch einmal davongekommen. Das Leben ist doch wunderschön…

Entspannt lehne ich mich auf dem Stuhl zurück und warte darauf, dass Tschudis schneidendes «Peter» ertönt. Aber nichts geschieht. Plötzlich ist es wieder da, das leise Unbehagen. Und es weicht blankem Entsetzen, als Tschudis Blick zu mir zurück wandert.

Das Teufelchen auf meiner Schulter grinst schadenfroh:

«Na, wer sagt es denn…»

Wiederum senke ich meinen Blick. Alle Strategien sind vergessen. Ich habe es gewusst. Der Himmel hat sich endgültig von mir abgewendet. Nichts von göttlicher Gerechtigkeit. Ich ergebe mich in mein unabwendbares Schicksal. Vierundzwanzig Kinder! Aber immer trifft es mich. Und dann der Keulenschlag: «Hanspeter!». Dabei habe ich schon längst vergessen, was Tschudi für eine Aufgabe gestellt hat.

 

Josef Tschudi (1920 – 2012), von uns Schülern wegen seiner ovalen Gesichtsform und dem schütteren Haarwuchs etwas respektlos «Osterei» genannt, hat seine Lehrerlaufbahn, wie es damals üblich war, in den unteren Klassen begonnen. Nachdem er während vieler Jahre in der Unterstufe unterrichtet hatte, stieg er auf in die Mittelstufe, die 5. und 6. Klasse. In den Olymp des Lehrerlebens, sozusagen. Die Oberstufe reizte ihn nicht. Er legte keinen Wert darauf, als «Oberlehrer» in die Dorfchronik einzugehen, wie seine Kollegen Fritz Legler, der Historiker und Entdecker des Römerturms in Filzbach oder Jacques «Graagg» Aebli oder Jakob «Brissago-Jaagg» Leuzinger. Dafür frönte er einer anderen Leidenschaft. Er regierte für sein Leben gern.

Tschudi war während eines Vierteljahrhunderts Gemeindepräsident von Ennenda. Und als solcher leitete er mit viel Herzblut im Gemeindehaus die Geschicke der Gemeinde. Dass er lieber regierte, als uns Holzköpfen in der Schule stunden-, tage- und wochenlang, mit mehr oder meistens weniger Erfolg das Einmaleins einzutrichtern, pfiffen die Spatzen laut und leise von den Dächern. Jedes Mal, wenn am Nachmittag die Schule zu Ende war, hängte er seine weisse Berufsschürze, in deren Taschen sich sein ganzer Kreidevorrat befand, an den Nagel und machte sich, in Anzug und Krawatte, strammen Schrittes auf den Weg ins Gemeindehaus. Jeder Schritt, der ihn dem Gemeindehaus näher brachte, verwandelte ihn vom gestrengen Dorflehrer in den unbestrittenen König von Ennenda.

Um keine Hefte, Notizen und Schulbücher mit wichtigen Gemeindeakten durcheinander zu bringen, besass Tschudi zwei Mappen aus schwarzem Leder. Die grössere für die Schule, die kleinere für gemeindepräsidiale Bedürfnisse. Beide Mappen waren jeweils prall gefüllt. Die präsidiale mit allerlei Gemeindeakten. Die schulische mit Heften, Büchern, Notizen und jenem kleinen, in schwarzes Wachstuch eingeschlagene Notizheft, in welches er gewissenhaft und fein säuberlich die Noten einzutragen pflegte, welche von unseren geistigen Höhenflügen zeugten. Dieses Notizheft, das wussten wir, befand sich stets in der Mappe. Tschudi holte es nur dann heraus, wenn er Noten einzutragen hatte. Und kaum war er damit fertig, verschwand das Heft wieder in der Mappe.

Lange Zeit schleppte er jeweils beide Mappen mit ins Gemeindehaus und nach seiner Regierungstätigkeit nach Hause, bis er eines Tages auf die Idee kam – weiss der Kuckuck, wer ihm diesen Floh in den Kopf gesetzt hatte – mich mit der Aufgabe zu betrauen, ihm die Schulmappe nach Hause zu tragen.

Es lag auf der Hand, weshalb er ausgerechnet mich für diese Aufgabe auserwählte. Wir hatten nämlich mehr oder weniger den gleichen Schulweg. Zuerst dem Schulhaus und der Wiese entlang, am Salem vorbei und dann noch ein paar Schritte weiter bis zu Trümpis Stall. Hier trennten sich dann unserer Wege. Tschudis bewohnten an der Fronacherstrasse ein hübsches Chalet, während ich im Altersheim Büeli oder „Asyl“, wie es damals hiess, zu Hause war.

«Du kannst mir die Mappe einfach vor die Haustür stellen», sagte er. Gehorsam hob ich das respekteinflössende Ding hoch und stellte fest, dass es ziemlich schwer war. Kein Wunder. Hefte, Bücher, das Notenheft und weiss der Teufel, was für Kram sich sonst noch darin befand – da kam schon etwas an Gewicht zusammen.

Trotzdem erfüllte mich die „Mission Lehrermappe“ mit Stolz. Ausgerechnet mir übertrug Tschudi die Verantwortung für seine Mappe! Mir und niemand anderem. Ich warf mich in die Brust und trug das schwere, schwarze Ding im Schweisse meines Antlitzes und unter dem Gespött meiner Kollegen in Richtung Fronacher, während Tschudi mit der wesentlich leichteren Präsidialmappe in Richtung Gemeindehaus verschwand.

Wie befohlen, stellte ich die Mappe vor die Haustüre von Tschudis Chalet und wischte mir den Schweiss von der Stirn. Mission erfüllt, dachte ich und machte mich zufrieden auf den Heimweg.

So kam es, dass ich Lehrer Josef Tschudis hochoffizieller Mappenträger wurde und es bis zum Ende der sechsten Klasse blieb. Natürlich musste ich die Mappe nicht jeden Tag schleppen. Nur dann, wenn Tschudi zu Hause etwas zu korrigieren oder vorzubereiten hatte. Das war vielleicht ein- oder zweimal in der Woche der Fall. In der übrigen Zeit stand die Mappe unbenutzt neben seinem Pult.

 

«Hanspeter!»

Zu spät. Ich bin schon bei der Türe und drehe mich seufzend um. Es ist mir nicht entgangen, dass Tschudi kurz vor Schulschluss zwei Dutzend Hefte, ein paar Bücher und seine Stifte in die Mappe gestopft hat. Also habe ich mir vorgenommen, mich vom Acker zu machen, bevor er mir das schwere, schwarze Ungetüm anhängen kann. Vergeblich, wie es sich jetzt herausstellt.

Die anfängliche Euphorie und der Stolz über das Mappetragen sind inzwischen verblasst und ich empfinde dieses Amt als ziemlich lästig. Wenn die andern auf dem Schulhausplatz herum lümmeln, Fussball oder Stöckchenschlagen spielen, muss ich Tschudis Mappe in den Fronacher schleppen und mir die dummen Sprüche anhören, welche meine Kameraden hinter mir her rufen.

Tschudi stellt die Mappevor meinen Füssen auf den Boden und nickt mir zu. «Vor die Haustüre», sagt er, «wie immer!»

Ich füge mich in mein Schicksal, denn Widerspruch wird nicht geduldet, das weiss ich. Ich wuchte das schwere Ding hoch und verlasse zusammen mit Erik das Schulhaus.

Wir stehen noch einen Moment auf dem Pausenplatz und reden über dies und das, bis Erik die verlockende Frage stellt:

«Kommst du noch zu mir in den Garten Eidgenossen und Habsburger spielen?»

Ärgerlich! Wie gern wäre ich mit Erik gegangen. Harrwegs besitzen einen grossen Garten, in dem es sich wunderbar Eidgenossen und Habsburger spielen lässt. Ausserdem befindet sich da eine Reckstange, die zum Turnen einlädt, eine Schaukel und ein Gartenhaus, das mit allerhand interessantem Gerümpel vollgestopft ist. Kurz, ein Paradies für Jungs in unserem Alter.

Ich winke ab: «Ich muss Tschudi die Mappe nach Hause bringen.»

«Ist Tschudi ins Gemeindehaus gegangen?», fragt Erik beiläufig.

Erik ist ein wahrer Meister in der Kunst, beiläufige Fragen zu stellen. Er setzt diese Beiläufigkeit ganz gezielt ein. Dabei wendet er immer dieselbe Taktik an. Zuerst stellt er ein paar beiläufige Fragen, um dann unvermittelt und mit einem einzigen Satz auf den Punkt zu kommen.

«Ja», seufze ich, «sonst müsste ich ja nicht Mappe schleppen.»

«Also kommt er erst am Abend nach Hause?»

«Hmm, ja, ich glaube schon.»

«Und du stellst die Mappe immer vor seine Haustüre?»

«Ja.»

«Und niemand kontrolliert, wann du die Mappe hinstellst?»

«Keine Ahnung. Aber ich glaube nicht.»

«Dann kommst du jetzt zu mir, Eidgenossen und Habsburger spielen und um fünf stellst du Tschudi die Mappe vor die Tür.»

So einfach ist das. Warum bin ich Esel noch nie auf diese Idee gekommen? Tschudi bleibt tatsächlich bis jeweils um sechs und oft noch länger im Gemeindehaus. Ich selber muss spätestens um fünf zu Hause sein. Da bleibt jede Menge Zeit, die Mappe vor seine Tür zu stellen. Wenn er nach Hause kommt, muss sie einfach dort stehen, alles andere ist egal.

«Also, worauf warten wir noch? Gehen wir», reisst mich Erik aus meinen Gedanken. Ich zucke mit den Schultern und wir machen uns auf den Weg.

Eriks Mutter ist gerade dabei, Wäsche aufzuhängen, als wir den Garten betreten. Sie wirft einen Blick auf die grosse, schwarze Mappe.

«Was habt ihr denn da für eine Mappe?», erkundigt sie sich mit gerunzelter Stirn.

«Das ist die Mappe vom Osterei», antwortet Erik fröhlich.

Frau Harrweg legt ihre Stirn in Falten.

«Erik, ich habe dir schon oft gesagt, dass ich diesen Übernamen nicht hören will, wenn du von deinem Lehrer sprichst! Es ist unanständig, Herrn Tschudi so zu nennen…»

Sie findet es unschicklich, einem Lehrer einen Übernamen zu geben. Dass hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass Eriks Vater ebenfalls Lehrer ist und an der Kantonsschule Glarus Sprachen unterrichtet.

«Und was macht ihr mit der Mappe von Herrn Tschudi?», erkundigt sich Frau Harrweg und schaut zwischen zwei weissen Laken hindurch in unsere Richtung.

«Ich muss sie dem Oster…, ich meine Herrn Tschudi vor die Haustüre stellen, wenn ich nach Hause gehe», erkläre ich und werde rot. Erik neben mir grinst unverschämt. Frau Harrweg scheint sich aber mit meiner Antwort zufrieden zu geben. Sie klemmt sich den leeren Wäschekorb unter den Arm und verschwindet im Haus.

Erik öffnet die Tür zum Gartenhaus, nimmt mir Tschudis Mappe aus der Hand und wirft sie respektlos auf ein altes Sofa. Wumm – ein paar Staubwölkchen wirbeln in die Höhe. Und hier bleibt die Mappe liegen, während wir im Garten Eidgenossen und Habsburger spielen.

Erst als die Glocke vom nahen Kirchturm halb fünf schlägt und mich daran erinnert, dass es Zeit ist, nach Hause zu gehen, drängt sich die Mappe wieder in mein Bewusstsein. Erik holt sie aus dem Gartenhaus und stellt sie vor meine Füsse.

«Weshalb ist sie wohl so schwer?», fragt er mit einem eigenartigen Unterton in der Stimme.

«Weil Hefte und Bücher schwer sind», antworte ich lapidar.

«Und – weisst du, was ist sonst noch drin ist?», bohrt er weiter.

«Keine Ahnung. Ein paar Kugelschreiber, glaube ich.»

«Und das kleine schwarze Heft mit unseren Noten?»

Ich zucke mit den Schultern. Eriks Beharrlichkeit bereitet mir Unbehagen. Ich kenne meinen Freund gut genug, um zu wissen, dass er mit dieser Fragerei eine ganz bestimmte Absicht verfolgt.

«Wie gesagt, ich weiss es nicht. Ich sollte jetzt gehen.»

Aber Erik lässt nicht locker.

«Die Noten im schwarzen Büchlein sind auch schwer, vor allem deine», grinst er unverschämt. Ich verdrehe die Augen. Und dann fährt Erik mit einem lauernden Gesichtsausdruck fort:

«Hast du schon mal – hineingeguckt?»

Als ob ich es nicht geahnt hätte!

«Hineingeguckt? Wie – ehm, wo hineingeguckt? Meinst du ins Notenbüchlein?», stelle ich mich dumm.

Erik stösst einen Seufzer aus und wirft mir den Wie-kann-man-nur-so-dumm-fragen-Blick zu.

«In die Mappe, meine ich!»

«Nein, natürlich nicht», antworte ich entrüstet, «man darf doch nicht einfach in Herrn Tschudis Mappe gucken!»

«Und wieso nicht?», erkundigt sich Erik scheinheilig.

«Weil es verboten ist, Lehrermappen zu öffnen und hineinzugucken!», entgegen ich.

Wie oft habe ich dieses Ding schon in die Fronacherstrasse getragen. Aber es wäre mir im Traum nie in den Sinn gekommen, sie anderswo anzufassen, als am Griff. Für mich kommt diese Mappe einem Tabernakel gleich oder einem Reliquienschrein. Nur schon der Gedanke, sie zu öffnen, jagt mir kalte Schauer über den Rücken.

«Was meinst du, sollen wir mal?», erkundigt sich Erik mit einem gefährlichen Leuchten in den Augen.

«Nein, das dürfen wir nicht!», antworte ich heftig.

«Wieso? Er sieht es ja nicht…»

Dieser Logik kann ich allerdings nichts entgegensetzen. Und dann ist da plötzlich wieder das Teufelchen auf meiner Schulter und flüstert mir ins Ohr:

«Kokolores! Aufmachen, die Mappe. Erik hat recht: Osterei sieht es nicht. Ich meine, ihr müsst ja nichts herausnehmen. Nur aufmachen, hineingucken und wieder schliessen. Das war’s dann. Kann nichts passieren. Niemand merkt etwas, null Risiko!»

Null Risiko…? Zugegeben, da ist was dran. Tschudi ist im Gemeindehaus am Regieren. Und wenn ich es mir recht überlege, es wäre schon ausgesprochen interessant zu wissen, was diese Mappe noch für Geheimnisse birgt, ausser den Heften, Büchern und dem schwarzen Notenheft. Und dass man das natürlich nur dann herausfindet, wenn man die Mappe öffnet und hineinguckt, leuchtet auch ein.

«Also, worauf wartet ihr noch?», meldet sich das Teufelchen auf meiner Schulter wieder zu Wort und zappelt vor Ungeduld. «Nichts wie los und aufgemacht, die verdammte Mappe!»

Aber so sehr mir das Teufelchen auf der Schulter auch einzureden versucht, wie spannend es wäre, in die verflixte Mappe zu gucken, habe ich doch erhebliche Zweifel. Ich spüre es ganz genau. Wenn wir die Mappe öffnen, überschreiten wir eine Grenze. Ich kann zwar nicht genau sagen, was das für eine Grenze ist. Vielleicht so eine wie die, welche Adam und Eva damals im Paradies überschritten haben, als sie von den Früchten des verbotenen Baumes naschten. Die Folgen dieses schändlichen Tuns sind ja bekannt. Gottes Engel jagte sie mit Schimpf und Schande und Schwert aus dem Paradies, worauf sie realisierten, dass sie erstens nackt und zweitens sterblich waren. Ausserdem mussten sie anfangen hart zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Und was würde der Liebe Gott mit uns anstellen, wenn wir die Mappe öffneten? Nackt sind wir nicht. Sterblich schon lange. Da ist nichts zu machen. Und wenn ich an die Hausaufgaben denke, die uns Tschudi täglich aufbrummt, kommt das wahrscheinlich der harten Arbeit Adams und Evas ausserhalb des Paradieses ziemlich nahe.

Nein, für uns müsste sich der Liebe Gott etwas anderes ausdenken. Vielleicht eine Spalte im Boden, die sich öffnet und uns Sünder verschluckt. Oder ein Blitz aus heiterem Himmel, der uns trifft. Auf jeden Fall wäre uns das Schmoren im ewigen Feuer der Hölle sicher.

Aber bei allen Strafen Gottes, die ich vor meinem geistigen Auge sehe, muss ich gestehen, dass in meinem innersten Inneren schon seit einiger Zeit eine beharrliche Neugierde keimt.

Erik schaut mich von der Seite her an. Ich beisse auf die Lippen.

Jetzt wäre noch Zeit umzukehren, ohne uns diese schwere Sünde auf die unschuldigen Seelen zu laden. Ich könnte das verfluchte Ding einfach packen und vor Tschudis Haustüre stellen, so wie immer. Fertig. Der Liebe Gott würde dann wohlwollend auf uns hinunterschauen. Er würde uns dafür segnen, dass wir – anders als Adam und Eva im Paradies – der Versuchung haben widerstehen können. Und wir würden dereinst in den Himmel auffahren, in den heiligen Gefilden lustwandeln und Nektar und Ambrosia schlürfen, oder wie das Zeugs heisst. Und die Engel würden um uns herum schwirren und uns mit ihren Flügeln kühle Luft zufächeln, falls es dort oben auch heiss sein sollte. Und sowohl Petrus, als auch der Liebe Gott würden überall kundtun, dass wir die beiden Buben aus Ennenda seien, die ein gottgefälliges Leben geführt und der Versuchung widerstanden hätten, des Lehrers Mappe zu öffnen.

«Also, was ist jetzt? Aufmachen?», stört Erik meinen religiösen Tagtraum.

Als er sieht, dass ich immer noch zögere, stöhnt er:

«Ach komm, jetzt mach schon!»

Ich spüre, dass mein Widerstand nachlässt.

Das Teufelchen auf meiner Schulter kichert.

Ich schaue mich ängstlich um und versichere mich, dass niemand in der Nähe ist. Die einzige Gefahr geht von Frau Harrweg aus. Sie könnte von einem der unzähligen Fenster des Erik-Hauses aus unser verbotenes Tun beobachten. Ich habe schon jetzt das Gefühl, als stünde hinter jedem Fenster eine Frau Harrweg, die uns beobachtet.

«Aber nicht hier im Garten», lenke ich ein, «sonst sieht uns deine Mutter». Dieses Argument leuchtet auch Erik ein.

«Also gut», meint er, «gehen wir in den Salon.»

Wir verlassen den Garten. Das Erik-Haus ist eine jener wunderschönen, behäbigen Fabrikantenvillen, von denen es in Ennenda einige gibt. Es liegt an der Dorfstrasse, in unmittelbarer Nachbarschaft der Kirche, der Milchzentrale und einer der drei Dorfmetzgereien. Erik geht voran, dreht den Messingknauf und öffnet die schwere Eichentür mit ihrem schmiedeeisernen Ziergitter und dem Briefkastenschlitz darunter.

Wir betreten den kurzen Korridor, auf dessen Boden ein dicker Teppichläufer zur Treppe im Hintergrund führt. An den Wänden hängen Bilder in geschnitzten und mit Blattgold verzierten Holzrahmen. Auf der linken Seite des Korridors steht eine schrankartige Garderobe. Hier hängen verschiedene Jacken und ein Pelzmantel, der vermutlich Eriks Mutter gehört. Auf der Hutablage liegt eines jener schwarzen Berets, die genauso zum Erscheinungsbild von Eriks Vater gehören, wie der wippende Gang, mit dem man ihn tagtäglich ins Nachbardorf Glarus und wieder nach Hause gehen sieht.

Gegenüber der Garderobe befindet sich die Tür zum Salon. Der Salon ist jenes Zimmer im Parterre, das sich in den alten Glarner Häusern unmittelbar neben dem Eingang befindet und dessen Fenster sich zur Strasse hin öffnen. Ich weiss nicht genau, wozu Harrwegs dieses Zimmer benutzen. Ich stelle mir vor, dass hier die Besucher empfangen, begrüsst und zwischengelagert werden, bevor man sie in die oberen Etagen lässt.

Wir betreten den Salon. Erik schliesst die Tür und schiebt den Riegel vor. Auf einem dicken, quadratischen Teppich steht ein runder Tisch mit vier Stühlen. Im Hintergrund befinden sich ein Biedermeier Sofa, ein kleiner Salontisch und ein dunkler Schrank mit goldglänzenden Messingbeschlägen. An der Wand daneben steht eine Vitrine, welche bis oben hin mit Gläsern und Tellern gefüllt ist, deren Ränder goldene Verzierungen aufweisen. An den freien Wandflächen hängen verschiedene Landschaftsbilder in verschieden grossen Rahmen. Im ganzen Raum hängt ein Geruch, der irgendwo zwischen Zimt, Staub und Kampfer anzusiedeln ist.

Erik räumt zwei Stühle aus dem Weg und schiebt respektlos die kristallene Früchteschale beiseite. Dann nimmt er mir die Mappe aus der Hand wuchtet sie auf den runden Tisch. Nun steht sie also da, Tschudis schwere, schwarze Ledermappe. Ein paar Sekunden lang starren wir sie an.

Dann fragt Erik: «Wer macht sie auf?»

Jetzt sind wir also bei Punkt zwei angekommen, bei dem sich nicht mehr die Frage stellt, ob wir die Mappe aufmachen, sondern wer das tut.

«Du», sage ich schnell.

«Wieso ich?»

«Weil du es bist, der die Mappe unbedingt öffnen will!»

«Aber du willst es doch auch, oder nicht?»

«Ja schon, aber…»

«Siehst du. Dann ist es doch auch egal, wenn du sie aufmachst.»

«Aber du könntest doch genauso gut…», wende ich kraftlos ein.

«Also gut», seufzt Erik, «ich öffne das Schloss und du machst sie ganz auf. Einverstanden?»

Die Mappe gehört zu jenen Modellen, welche sich in der Mitte aufklappen und mittels eines Riemens, der sich unter dem Griff durchzieht und mit einem einfachen Schnappschloss versehen ist, seitlich verschliessen lassen.

«Also gut», gebe ich nach, «aber wir gucken nur schnell hinein und machen sie dann sofort wieder zu!»

«Klar doch», meint Erik unbekümmert und zieht die Mappe zu sich heran. Klick, das Schloss ist offen.

«So, und jetzt bist du dran», sagt er und schiebt die Mappe in meine Richtung, wobei sich das gehäkelte Tischtuch in Falten legt.

Mit zitternden Fingern ergreife ich die beiden Lederlaschen, mit denen man die beiden Mappenhälften auseinanderziehen kann und zögere. Leiser Zweifel und ein Anflug schlechten Gewissens machen sich wieder bemerkbar. Ich schaue zu Erik hinüber. Der verdreht die Augen und stöhnt:

«Jetzt mach schon!»

Ich zögere noch immer.

«Und wenn er es merkt?», wende ich ein.

«Er merkt es nicht.»

«Woher willst du das wissen?»

«Ich weiss es…»

Mein Widerstand schwindet. Und obwohl immer noch ein paar Reste von Zweifel in meinem Innern nagen, ziehe ich vorsichtig an den Laschen. Die Mappe öffnet sich einen kleinen Spalt. Wir gucken neugierig hinein.

«Man sieht nichts», stellt Erik sachlich fest. «Mach sie weiter auf!»

Ich ziehe weiter an den Laschen. Langsam und vorsichtig, als bestünde die Mappe aus zerbrechlichem Glas. Und dann ist sie offen. Neugierig beugen wir unsere Köpfe über die Öffnung. Als erstes sehen wir die Hefte und Bücher, welche Tschudi am Nachmittag hineingeschoben hat. Auch die Stifte sind zu sehen. Und neben den Büchern, in einer der Seitentaschen, steckt auch das kleine Notizbuch mit dem schwarzen Wachstuchumschlag.

«Schau mal, da ist das Notenbüchlein», ruft Erik und will in die Mappe greifen. Ich klappe sie sofort zu. Er kann gerade noch rechtzeitig seine Finger zurückziehen.

«Wir haben abgemacht, nur schnell hineinzuschauen und dann die Mappe wieder zu schliessen. Nichts anfassen!», weise ich ihn entrüstet zurecht.

«Schon gut, schon gut!», beschwichtigt er mich und ich öffne die Mappe wieder. In der zweiten Seitentasche ist die Ausbuchtung eines länglichen Gegenstandes zu sehen. Was zum Kuckuck ist das?

«Vielleicht eine Banane», mutmasst mein Freund.

«Das glaube ich nicht», halte ich dagegen, «eine Banane ist länger und vor allem ist sie krumm. Nein, das ist keine Banane. Und übrigens, hast du das Tschudi schon mal eine Banane essen sehen?»

«Nein», muss Erik zugeben. «Aber was ist es dann? Ein Schoggibrügeli?»

«Vielleicht ist es ein Päckli mit Stumpen.»

«Quatsch, Tschudi raucht doch nicht», widerspricht mir Erik und mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme fährt er fort:

«Komm, wir schauen nach, dann wissen wir es.»

«Nichts da!», entgegne ich bestimmt und klappe die Mappe zum zweiten Mal zu und verschliesse sie.

«Es ist Zeit. Ich muss gehen.»

Ich nehme die Mappe vom Tisch und wende mich zur Tür. Erik hält mich zurück, deutet auf die Mappe und sagt mit leiser Stimme, als habe er Angst, jemand könne ihn hören:

«Das mit der Mappe, das bleibt aber unter uns, nicht wahr?»

«Ja klar», brumme ich, «oder hast du gedacht, ich würde überall herumposaunen, dass wir in Ostereis Mappe geschaut haben?»

«Also, grosses Rütli-Ehrenwort!»

Erik erhebt seine rechte Hand zum Schwur.

«Rütli-Ehrenwort!», bestätige ich und ziehe den Türriegel zurück. Als ich die Tür öffne, trifft mich fast der Schlag. Vor mir steht Frau Harrweg, die offensichtlich gerade beabsichtigt hat, den Salon zu betreten.

«Was macht ihr denn da drin?», erkundigt sie sich misstrauisch.

«Wir – ähm – ja – wissen Sie – es ist so –», stammle ich. Da packt mich Erik am Arm und zieht mich an seiner Mutter vorbei.

«Nichts Besonderes», sagt er scheinheilig. «Weisst du, ich habe Hanspeter nur das Buch mit den Wappen gezeigt.»

Er öffnet die Haustür. Ich murmle ein dürftiges «Auf Wiedersehen, Frau Harrweg» in Richtung von Eriks Mutter und mache mich – Tschudis Mappe in der Hand – zügig davon.

«Das nächste Mal zeige ich dir noch dann das Buch mit den Ritterrüstungen!», ruft Erik hinter mir her und ich glaube, im Rücken sein Grinsen und den skeptischen Blick von Frau Harrweg zu spüren.

Auf dem Heimweg wird mir so richtig bewusst, dass wir es getan haben. Wir haben es tatsächlich getan! Wir haben Lehrer Tschudis Mappe geöffnet und hineingeguckt! Und nichts ist passiert. Kein Blitz ist vom Himmel gefahren und hat uns erschlagen. Keine Spalte im Boden hat sich geöffnet und uns verschluckt. Der Glärnisch steht noch am selben Platz wie vorher. Auf dem Tennisplatz schlagen ein paar weiss gekleidete Spieler den kleinen Ball über das Netz, wie sie es immer tun und die alte Frau Trümpi füttert ihre Hühner wie jeden Tag. Und doch habe ich das Gefühl, dass mich alle Leute, denen ich begegne, anstarren. Als würden sie in meinem Gesicht lesen können, was ich verbrochen habe. Sogar die Hühner der alten Frau Trümpi scheinen mich mit ihren runden, gefühllosen Augen zwischen den Maschen des Zaunes hindurch zu mustern, als ich an ihrem Gehege vorbei in den Fronacher abzweige.

Ich öffne das Gartentor zu Tschudis Anwesen, steige die zwei, drei Stufen zum Eingang hinauf und stelle die Mappe neben die Haustür. Gerade will ich mich wieder umdrehen, da öffnet sich die Tür und Frau Tschudi erscheint auf der Schwelle. Alles Blut weicht aus meinem Gesicht. Von einer Sekunde auf die andere schwitze ich aus allen Poren.

«Ah, du bringst die Mappe», stellt sie fest, «warte mal einen Augenblick!»

Sie verschwindet mit der Mappe im Haus. Mein Gehirn fängt sofort an, auf Hochtouren zu arbeiten. Ist Tschudi vielleicht heute früher nach Hause gekommen und hat seine Mappe nicht vorgefunden? Genau, das muss es sein! Und jetzt wird sie ihm Bescheid geben, dass der Sünder da sei. Ich warte darauf, dass Tschudi wut-entbrannt aus dem Haus gestürzt kommt, mich am Hemdkragen packt und drohend auffordert, ihm sofort eine plausible Erklärung  zu liefern, weshalb ich ihm die Mappe erst jetzt abliefere. Ich würde unter seinem strengen Blick zusammenbrechen und meine Missetat ohne Wenn und Aber gestehen.

Fieberhaft überlege ich mir, ob ich warten solle, bis er kommt oder ob es gesünder wäre, die Beine in die Hand zu nehmen und zu verschwinden. Allerdings würde mir das nicht viel helfen, denn das Donnerwetter wäre nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben. Spätestens am nächsten Morgen würde Tschudi mich im Schulzimmer mit finsterem Blick empfangen und mit mir vor die Türe gehen. Er würde mich mit seinem Blick durchbohren. Ich würde zusammenbrechen und reumütig und unter Heulen gestehen, dass ich seine Mappe geöffnet und hineingeschaut hätte. Und  ich würde ihm trotz unseres geleisteten Rütli-Eides verraten, dass Erik auch mitgemacht habe. Dann müsste auch Erik vor die Tür und Tschudi würde die Eltern über unsere Schandtat ins Bild setzen. Die Eltern würden ein entsetzliches Theater veranstalten und uns aufs Schärfste bestrafen. Das wäre dann der Weltuntergang! Mir wird schlecht, wenn ich daran denke…

Plötzlich steht Frau Tschudi wieder vor mir. Ich muss zweimal hinschauen. Ist es wirklich Frau und nicht Herr Tschudi?

«Schau», sagt sie freundlich, «hier hast du etwas, weil du Herrn Tschudi immer so zuverlässig die Mappe nach Hause bringst.»

Sie streckt mir eine Tafel Schokolade entgegen. Und erst noch meine Lieblingsschokolade. Die mit Haselnüssen. Verdattert nehme ich die Schokolade entgegen, bedanke mich mit ein paar dürren Worten, brumme so etwas wie «gern geschehen» und mache schleunigst, dass ich nach Hause komme.

Am Abend breche ich die Schokolade an. Aber sie schmeckt mir nicht. Sie ist bitter. Und die Haselnüsse fühlen sich an wie Kieselsteine. Also mache ich etwas, das ich sonst nie gemacht hätte: ich schenke die Schokolade meinen Schwestern.

Am nächsten Morgen erzähle ich Erik von meinem Erlebnis mit Frau Tschudi. Ich richte mit grosser Kelle an und prahle, wie Frau Tschudi mir wärmstens gedankt und mich in den höchsten Tönen gelobt habe, weil ich immer so zuverlässig die Mappe abliefere. Und schliesslich, erzähle ich stolz, habe sie mir eine Schokolade geschenkt, eine mit Nüssen. Dass ich mir dabei fast in die Hose gemacht habe, behalte ich für mich. Und dass ich die Schokolade meinen Schwestern geschenkt habe, braucht Erik auch nicht zu wissen. Er grinst nur und meint: «Wenn sie dir wieder einmal eine Schokolade gibt, teilst du sie gefälligst mit mir, schliesslich haben wir ja auch zu zweit in die Mappe geschaut.»

Drei Tage später im Salon bei Erik. Auf dem runden Tisch steht Tschudis Mappe. Offen. Erik hat sie geöffnet. Ich schaue ihm über die Schulter. Die Skrupel, die ich beim ersten Mal gehabt habe, sind so gut wie vergessen und auch die Erinnerung an das Erlebnis mit Frau Tschudi und der Schokolade ist verblasst. Heute wollen wir endlich das Geheimnis um den länglichen Gegenstand in der Seitentasche lüften und das schwarze Notizbüchlein mit dem Wachstuchumschlag etwas genauer unter die Lupe nehmen. Das verspricht spannend zu werden.

Das Schicksal meint es gut mit uns. Frau Harrweg ist nicht zu Hause. Sie ist zu Besuch bei einer Verwandten in Bern. Herr Harrweg geht in der Kantonsschule seiner Profession nach, der geistigen Elite unseres Kantons die Schönheit der französischen Sprache so nahe wie möglich zu bringen. Wir haben also sturmfreie Bude. Und jede Menge Zeit, denn diesmal haben wir uns nicht erst mit Eidgenossen-und-Habsburger-Spielen im Garten aufgehalten, sondern sind auf direktem Weg in den Salon gegangen.

Erik inspiziert den Inhalt der Mappe. Als erstes nimmt er die Rechenhefte aus der Mappe und knallt sie auf den Tisch. Einige rutschen vom Stapel und flattern auf den Boden. Es folgen ein Bleistift, zwei rote Farbstifte und das in schwarzes Wachstuch eingeschlagene Notizheft mit den Noten.

«Achte darauf, wo das Zeugs liegt, damit du es nachher wieder an die gleiche Stelle zurücklegen kannst», ermahne ich Erik etwas nervös. Aber er hört gar nicht zu und fördert ein weiteres Buch ans Tageslicht.

Er schlägt es auf und sagt mit ehrfürchtiger Stimme:

«Schau mal, das Lösungsbuch.»

Ich stosse einen tiefen Seufzer aus. Das Lösungsbuch! Wie oft habe ich schon davon geträumt, dieses Buch zu besitzen. Mit diesem Buch hätte ich die Hausaufgaben jedes Mal in einem Viertel der Zeit bewältigt, die ich sonst dafür benötige. Die Welt ist einfach ungerecht! Lehrer, die sowieso schon alles wissen, haben ein Buch mit den Lösungen und wir Schüler, die wir nichts wissen, müssen die Resultate mühsam im Kopf oder schriftlich im Heft ausrechnen.

Erik klappt das Buch zu und legt es auf Tisch.

«Zeig mal», sage ich und ziehe die Mappe zu mir heran. Erik hat Hefte, Bücher und Stifte herausgenommen. Jetzt bin ich dran. Ich bin wild entschlossen, dem Geheimnis des länglichen Gegenstandes auf die Spur zu kommen, der in der Seitentasche etwas nach unten gerutscht ist. Ich fasse hinein und ziehe ihn heraus.

Ein Brillenetui! Keine Banane, keine Zigarren, kein Weiss-Gott-Was, sondern nur ein ganz gewöhnliches Brillenetui. Wir sind fast ein wenig enttäuscht. Dann fragt Erik:

«Sag, hast du das Osterei schon mal mit einer Brille gesehen?»

«Nein, ich glaube nicht», antworte ich, «das ist ja interessant. Das Osterei hat eine Brille und niemand weiss es.»

«Doch», kichert Erik, «wir wissen es jetzt.»

Und bevor ich etwas sagen kann, öffnet er das Etui und setzt sich die Brille auf die Nase. Das sieht so urkomisch aus, dass ich in schallendes Gelächter ausbreche. Erik fängt an, Tschudi nachzuahmen:

«Hanspeter, wie viel ist 12 mal 13?»

«?»

«!»

«Ähm…»

«Na? 12 mal 13! Hanspeter, du bist dran…!»

«Arschloch!»

Erik macht ein strenges Gesicht: «Tz, tz, tz, Hanspeter, schäm dich! So etwas sagt man doch nicht zu seinem Lehrer! Du hast Glück, dass ich heute eine gute Laune habe, sonst hätte ich dir jetzt nämlich eine Tatze verpasst!»

Tschudis Tatzen werden gleichermassen gefürchtet wie gehasst. Sünder, welche einer Missetat überführt werden, erhalten von Tschudi unmissverständlich die Aufforderung, ihre Handfläche nach oben zu drehen, worauf er ihnen mit einem jener vierkantigen Holzdingern, die man „Lineal“ nennt, um sie nicht mit den flachen Massstäben zu verwechseln, einen satten Hieb auf die Handfläche verabreicht. Tatzen bekommen aber nur die Buben. Mindestens habe ich noch nie gesehen, dass ein Mädchen die Handfläche nach oben drehen musste. Aber die sind ja auch viel braver als wir Buben.

«Gib mal her!», sage ich, nehme Erik die Brille von der Nase und setze sie mir selber auf. Sofort sieht die Welt verschwommen aus. Jetzt ist es Erik, der fast platzt vor Lachen.

«Wenn du weniger Haare auf dem Kopf hättest, könntest du glatt als Osterei durchgehen!», gluckst er.

Ich greife nach dem Notenbüchlein mit dem schwarzen Wachstucheinband.

«Erik», sage ich mit tiefer Stimme, «jetzt wollen wir doch mal sehen, was du für Noten hast?»

Ich öffne das Büchlein. Durch Tschudis Brille sind alle Wörter und Zahlen verschwommen. Ich tue so, als würde ich Erik suchen.

«Harrweg – Harrweg, ah, hier haben wir dich, Harrweg» sage ich gedehnt. «Hm, das sieht aber gar nicht gut aus, Harrweg, gar nicht gut! Diktat: 3, Kopfrechnen: 2-3, Lesen: 4…»

«Du liest wohl deine eigenen Noten vor», brummt Erik. «Komm zeig mal her!»

Er nimmt mir das Notizheft aus der Hand, legt es auf den Tisch und beginnt darin zu blättern. Ich lege Tschudis Brille sorgsam ins Etui zurück. Das Etui verstaue ich in der Seitentasche der Mappe, genau dort, wo es vorher gewesen ist. Dann widmen wir uns dem Studium des Notenbüchleins.

Zuerst studieren wir die Noten von Erik, dann meine und schliesslich diejenigen unserer Klassenkameraden. Wer jetzt aber erwartet, dass ich Einzelheiten verrate, den muss ich enttäuschen. Weder werde ich unsere Noten öffentlich machen, noch die unserer Klassenkameraden. Ich bin verschlossen wie eine Auster und schweige wie das oft zitierte Grab. Nur so viel sei gesagt: meine Noten geben mir keinen Anlass zum Jubeln, weiss Gott nicht. Und Erik mag es ähnlich ergehen, denn er ist merkwürdig ruhig und das Lachen scheint ihm vergangen zu sein. Obwohl ich mich frage, weshalb. Denn ich würde liebend gern meine mit seinen Noten tauschen. Aber so ist es halt im Leben. Den einen gibt’s der Herr im Schlaf. Und trotzdem sind sie nicht zufrieden.

Nach einer Viertelstunde legen wir das Notenbüchlein, die Stifte, Hefte und Bücher wieder zurück in die Mappe. Nachdem wir uns versichert haben, dass alles an seinem Platz ist, schliesse ich die Mappe und mache mich nachdenklich auf den Heimweg.

Ich schlafe schlecht in dieser Nacht. Meine Träume sind beherrscht von einer überdimensional grossen Mappe, die an einem dünnen Faden über meinem Kopf baumelt. Obwohl ich nicht gefesselt bin, kann ich mich nicht bewegen, ich bin irgendwie gelähmt. Dann erscheint plötzlich Lehrer Tschudi. Er trägt die weisse Berufsschürze und beugt sich über mich. Auf der Nase sitzt die Brille und sein Gesicht ist zu einer grauenhaft grinsenden Fratze verzerrt. Er stösst ein wildes Gelächter aus, als er langsam eine grosse Schere aus der Tasche der Berufsschürze zieht und den Faden durchschneidet, an welchem die Mappe aufgehängt ist. Die Mappe saust auf mein Gesicht zu und hätte mich sicherlich erschlagen, wenn ich nicht gerade noch rechtzeitig aufgewacht wäre.

Schweissgebadet setze ich mich im Bett auf und starre ins Dunkle. Mein Herz klopft und in meinen Ohren hallt Tschudis Gelächter nach. Ob das die Strafe des Lieben Gottes ist? Kein Blitz, kein Spalt im Boden, sondern eine Mappe, die mich im Traum erschlägt? Ich schwöre bei allem, was mir lieb und heilig ist, mich nie, nie, nie wieder an des Lehrers Mappe zu vergreifen…

Aber bereits am nächsten Nachmittag ist es wieder so weit. Wir schliessen wir uns im Salon ein und studieren erneut das Notenbüchlein. Am Morgen hat Tschudi die Noten unserer Rechnungsprüfung eingetragen und ich muss feststellen, dass die meinige viel schlimmer ist, als erwartet. Da ist mir auch der Umstand kein Trost, dass ich nicht einmal der Schlechteste in der Klasse bin. Es gibt tatsächlich zwei Mitschüler, die es geschafft haben, meine Note noch zu unterbieten.

In den folgenden Wochen untersuchen wir Tschudis Mappe noch einige Male. Aber Brillen, Hefte, Bücher und Stifte interessieren uns nicht mehr. Unser Augenmerk gilt nur noch dem mit schwarzem Wachstuch eingeschlagenen Notenbüchlein.

Ob es mit dem regelmässigen Studium des Notenbüchleins zusammenhängt, dass sich meine Noten bis zum Ende der sechsten Klasse merklich bessern, weiss ich nicht.

Erik bekniet mich, ich solle doch mit ihm zusammen die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium machen. Aber ich winke ab. Erstens, was soll ich mit Latein und zweitens bin ich bin froh, dass mein Notenschnitt gerade noch ausreichend ist, um ohne Prüfung in die Sekundarschule eintreten zu können.

Ich habe mich immer gefragt, ob unsere Mappen-Inspektionen unentdeckt geblieben sind. Vor allem, ob Tschudi selber nie Verdacht geschöpft hat, denn seine Frau hat die Mappe mehrere Male persönlich in Empfang genommen, hat aber nie gefragt, weshalb ich denn so spät dran sei.

Auch Frau Harrweg mag wohl einigen Argwohn gehegt haben. Wieso verriegelt denn Erik jedes Mal die Salontüre, wenn er Hanspeter die Ritterbücher zeigt? Doch sie hat uns nie einer Missetat überführen können.

Hier könnte die Geschichte eigentlich enden. Aber wie das Leben so spielt, sie geht noch weiter. Denn oft ist es so, dass man von der Vergangenheit eingeholt wird, wenn man es am wenigsten erwartet.

Lehrerkonferenz

Im Leben eines Schülers gibt es zwei hohe Feiertage: die Schulreise und die Lehrerkonferenz.

Die Schulreise gliedert sich grundsätzlich in drei Abschnitte.

1. Man fährt mit dem Zug irgendwo hin.

2. Man wandert.

3. Man fährt mit dem Zug wieder nach Hause.

Innerhalb dieses Rasters bewegt sich das Programm der Schulreise. Dieses Programm ist selbstverständlich von den Vorlieben des Lehrers abhängig.

Ist  er ein Wandervogel, schrumpfen die Punkte eins und zwei auf ein absolutes Minimum und es wird auf Teufel komm raus gewandert. Kein Berg zu hoch, um nicht erklommen und kein Wanderweg zu lang, um nicht begangen zu werden. Auf einer Waldlichtung oder in der Nähe eines Stalls auf dem Oberstafel werden die mitgebrachten Würste gebraten. Man setzt sich zwischen die angetrockneten Kuhfladen, isst seine verkohlte Wurst und trinkt Tee aus der Plastikflasche. Dann geht es wieder bergab bis zum nächsten Bahnhof.

Ist der Lehrer ein Freund der Historie, führt die Schulreise ins Landesmuseum oder zu sonst einer geschichtsträchtigen Stätte, wo man gezwungen wird, stundenlang Artefakte zu studieren. Gewandert wird auch – in den unendlich langen Korridoren des Museums. Am Abend ist man dann ebenso müde, wie wenn man auf einen Viertausender gekraxelt wäre.

Hat der Lehrer aber eine urbane Ader, geht die Schulreise in eine Stadt. Am liebsten in eine Stadt an einem See. Das Wandern beschränkt sich auf das Zurücklegen der kurzen Strecken vom Bahnhof ins Stadtzentrum, vom Stadtzentrum zur Schifflände und am Ende der Schifffahrt wieder zu einem Bahnhof. Das Mittagessen ist frei. Man kann sich aus dem Rucksack verpflegen oder in einem Restaurant auf eigene Kosten einen Teller Spaghetti verdrücken.

Nach dem Essen werden in verschiedenen Läden der Stadt die mitgebrachten Zwanzigernoten in Schleckwaren oder anderen nutzlosen Kram angelegt. Und wer am späten Nachmittag noch etwas Geld übrig hat, fällt über den Bahnhofkiosk her, während alle ungeduldig auf den Zug in die Heimat warten.

Ganz anders der Tag der Lehrerkonferenz!

Lehrerkonferenz – ein magisches Wort, das man sich auf der Zunge zergehen lassen muss, denn für uns Schüler bedeutet es den Himmel auf Erden. Einen ganzen Dienstag lang schulfrei! Am Montag keine Hausaufgaben machen müssen, am Dienstagmorgen ausschlafen können und am Mittwochnachmittag schon wieder frei haben. Gibt es etwas Schöneres?

Aber was treiben die Lehrer eigentlich an der Lehrerkonferenz? So richtig weiss das kein Mensch und es interessiert uns Schüler auch nicht sonderlich. Hauptsache der Tag ist schulfrei.

Erik hat einmal behauptet, die Lehrer diskutierten den ganzen Morgen lang darüber, ob sie mehr Lohn bekommen sollten oder nicht und nach dem Mittagessen sässen sie im Restaurant und würden bis zum Abend jassen. Vom Mittag bis zum Abend jassen? So sehr ich mich auch anstrenge, ich kann mir nicht vorstellen, wie es aussieht, wenn Lehrer Tschudi im Restaurant mit anderen Lehrern an einem Tisch sitzt und Jasskarten auf den Tisch haut.

Seit meiner Zeit als Schüler sind viele Jahre vergangen. Inzwischen bin ich selber Schulmeister und weiss natürlich, was die Lehrer an ihrer Konferenz treiben. Zuerst werden unter der kompetenten Leitung eines musikbeflissenen Kollegen eine halbe Stunde lang irgendwelche Lieder gesungen. Dann folgen die Hauptversammlungen der Pensionskasse und des Berufsverbandes des Lehrpersonals. Meistens gibt es dann noch eine Veranstaltung für das Gemüt. Ein Referent, der sich wortreich zu einem Bildungsthema äussert, ein Künstler, der wild entschlossen ist, mit seiner Kleinkunst die Anwesenden zu unterhalten oder eine Schülergruppe, die mehr oder weniger freiwillig auf den freien Morgen verzichtet, um der versammelten Lehrermeute mit einem Minikonzert oder sonst etwas Einstudiertem ihr Können unter Beweis zu stellen.

Mich faszinierten vor allem die ersten Konferenzen, die ich als junger Lehrer miterlebte. Ich sah mich hier plötzlich meinen ehemaligen Lehrern gegenüber, zu denen ich einst ehrfürchtig aufgeschaut hatte und deren Kollege ich jetzt war. Es war ein eigenartiges Gefühl zu wissen, dass ich jetzt auf dem gleichen Level stand wie sie. Natürlich duzten wir uns auch. Das war und ist üblich im einigermassen überschaubaren Glarner Lehrkörper. Auch Sepp Tschudi hatte mir das das Du angeboten, als ich während meiner Ausbildung im Schulhaus Hof in Ennenda ein Praktikum absolvierte.

Es war an meiner erste Konferenz, die in der Aula der Kantonsschule Glarus stattfand. Der Präsident der Pensionskasse verkündete zu Beginn der Veranstaltung, in der Pause sei die Mensa geöffnet und es gebe Kaffee und Gipfeli. Die erste Stunde zog sich schleppend hin. Ich verstand von dem, was in den Verhandlungen der Pensionskasse besprochen wurde, nicht gerade viel. Es wurden Zahlen hin und her gereicht, erläutert, wie viele Millionen am Ende des Versicherungsjahres auf dem Konto seien und wie sich die Entwicklung der Kasse in den nächsten Jahren auf die Rentenausschüttungen auswirken würde. Da ich erst am Anfang meiner Lehrertätigkeit stand und meine Pensionierung in weiter Ferne lag, interessierten mich diese Zahlen nicht sonderlich. Vermutlich ging es andern auch so, wie ihr verstohlenes Gähnen hinter vorgehaltener Hand verriet. Die Verantwortlichen hatten in weiser Voraussicht die Verhandlungen der Pensionskasse jeweils auf die erste Konferenzstunde gelegt, damit niemand auf die Idee kam zu schwänzen.

Die meisten der Anwesenden atmeten hörbar auf, als sich der Präsident der Pensionskasse bei der Versammlung für die ungeteilte Aufmerksamkeit bedankte und mit Kassier und Protokollführer das Podium räumte, um dem Präsidenten des Lehrervereins und seinen Leuten Platz zu machen.

Im zweiten Teil ging es um die Belange des Lehrervereins. Was genau verhandelt wurde, weiss ich nicht mehr. Mir ist nur noch der umtriebige Kassier in Erinnerung, der sich einen Spass daraus machte, die säumigen Zahler des Mitgliederbeitrages an den Pranger zu stellen. Allerdings tat er das sehr subtil und ohne Namen zu nennen. Dabei liess er sich jedes Jahr etwas Neues einfallen. Einmal zählte er die Gemeinden auf, in denen die Sünder unterrichteten, ein anderes Mal nannte er ihre Autonummern. Auf den Auftritt des Kassiers freute sich jeweils die ganze Konferenz. Es ist anzunehmen, dass etliche Spätzahler in der Woche vor der Konferenz ihren Beitrag noch schnell einbezahlten, um nicht in den zweifelhaften Genuss zu kommen, die eigene Autonummer unter dem Gelächter der schadenfreudigen Meute vorgelesen zu bekommen. Dabei kam es auch zu lustigen Szenen. Als einer der anwesenden Kollegen seine Autonummer hörte, rief er in Richtung Kassier:

«Ich habe den Beitrag gestern bezahlt!»

Worauf der Kassier trocken konstatierte:

«Der säumige Zahler mit der Autonummer GL XY hat seinen Beitrag gestern bezahlt.»

Der Saal tobte, der Säumige errötete.

Ein anderes Mal verkündete der Kassier vom Rednerpult herunter:

«Für einmal möchte ich nicht einen verspäteten Zahler an den Mitgliederbeitrag erinnern. Es kommt nämlich auch vor, dass es Leute gibt, die mehr einbezahlen, als sie müssen. Ganz besonders möchte ich einem Kollegen – er unterrichtet in Niederurnen – für seine grosszügige Spende danken. Er hat nebst dem Mitgliederbeitrag von 100 Franken noch die exorbitante Summe von 5 Rappen als Spende überwiesen…»

Die Kassenberichte waren immer ein Highlight an der Konferenz. Der Kassier war ein ehemaliger Sekundarlehrer von mir. Er wurde von der respektlosen Schülerbande «Buuz» genannt und wegen seiner etwas geringen Körpergrösse belächelt. Ausserdem kursierten allerhand Witze über ihn. Aber nur hinten herum, versteht sich, denn niemand, nicht einmal der grösste Rüpel der Schule, hätte es gewagt, sich «Buuz» gegenüber irgendwelche Frechheiten herauszunehmen. Und jeder, der es doch versuchte, bereute es hinterher bitterlich. «Buuz» verstand es nämlich sehr wohl, sich Respekt zu verschaffen. Und das, ohne jemals laut zu werden.

Als sich auch die zweite Konferenzstunde dem Ende näherte, begann mein Magen zu knurren und ich freute mich auf den Pausenkaffee und das Gipfeli.

In der Mensa herrschte ein fröhliches Durcheinander. Viele nutzten die Gelegenheit, wieder einmal mit Kolleginnen und Kollegen zu plaudern, die man unter dem Jahr nicht so oft sah, weil sie in anderen Gemeinden tätig waren. Ich holte mir Kaffee und Gipfeli, stellte mich etwas abseits an ein rundes Tischlein, wo ich genüsslich in das Gipfeli biss, meinen Kaffee schlürfte und das bunte Treiben in der Mensa beobachten konnte. Nach einer Weile näherte sich eine Kollegin und gesellte sich zu mir an den Tisch. Sie trug ein einfaches Kleid, hatte ein rundes Gesicht und kurzgeschnittene Haare und mochte ein paar Jahre älter sein als ich.

«Ich heisse Ursula», stellte sie sich vor.

«Freut mich, Hanspeter.»

«Du bist neu hier, nehme ich an. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, dich schon einmal gesehen zu haben.»

«Ja», bestätigte ich, «das ist meine erste Konferenz.»

«Und? Wie gefällt es dir?», wollte Ursula wissen.

«Na ja, die erste Stunde habe ich nicht gerade als Himmel auf Erden empfunden. Die Verhandlungen des Vereins waren dann schon um einiges interessanter. Vor allem «Buuz» mit seinem Kassenbericht. Macht er das denn immer so?»

Ursula kicherte.

«Ja. Und jedes Jahr freuen sich alle auf den Kassenbericht und sind gespannt, mit welcher niederträchtigen Methode er diesmal die Langweiler an den Pranger stellt, die ihren Beitrag nicht bezahlen wollen.»

«Ich habe gar nicht gewusst, dass der so viel Humor hat. Ich habe ihn eher als trockenen, ernsten Lehrer in Erinnerung. Ich hatte in der Sekundarschule Physik bei», sagte ich.

«Du auch?», lachte Ursula. «Ich hatte Mathi und Physik bei ihm. Ja, der Unterricht bei ihm war manchmal etwas trocken. Aber das liegt wohl weniger an seiner Person, als an den Fächern, die er unterrichtet.»

Es stellte sich heraus, dass Ursula Handarbeitslehrerin war. Ich erzählte ihr, dass ich in Netstal eine dritte Klasse unterrichte. Wir unterhielten uns über die Schule, Gott und die Welt, als ein Lehrer der Kantonsschule an unseren Tisch trat. Ich hatte bei ihm mal das Fach Deutsch belegt. In der einen Hand trug er eine Tasse Kaffee, in der anderen ein angebissenes Gipfeli. Er stellte den Kaffee auf den Tisch und begrüsste uns. Wir wechselten ein paar Worte. Als er sein Gipfeli gegessen hatte, nahm er seine Tasse, verabschiedete sich und gesellte sich wieder zu seinen Kollegen, die an einem der Nebentische standen und sich angeregt unterhielten.

«Siehst du», sagte ich zu Ursula, «das finde ich faszinierend an der Konferenz. Man trifft hier auf viele ehemalige Lehrer, die jetzt plötzlich Kollegen sind.»

«Ja», nickte Ursula, «das war für mich anfangs auch eine eigenartige Erfahrung. Aber ich bin inzwischen schon ein paar Jahre her und habe mich daran gewöhnt. Bei mir wird es sogar bald so sein, dass ich hier junge Lehrerinnen antreffe, die bei mir im Handarbeitsunterricht gewesen sind.»

Sie trank ihren Kaffee aus und fragte mich, wo ich aufgewachsen sei.

«Die meiste Zeit in Ennenda», antwortete ich.

«Ah ja?» Sie hob eine Augenbraue.

«Ja», fuhr ich fort, «die erste und zweite Klasse besuchte im alten Schulhaus in Ennenda. Anschliessend haben wir knapp zwei Jahre in Glarus gewohnt und sind dann wieder nach Ennenda zurückgekommen. Meine Eltern haben die Leitung des Altersheims Büeli übernommen. Ich war in Ennenda noch ein halbes Jahr in der vierten Klasse. In diesem halben Jahr haben wir insgesamt bei drei verschiedenen Lehrern Schule gehabt.»

Das war tatsächlich so. In der damaligen Zeit herrschte Lehrermangel. Es war deshalb nichts Aussergewöhnliches, dass sich die unterschiedlichsten Lehrer die Klinke in die Hand gaben. Manchmal für längere Zeit, manchmal nur für zwei, drei Wochen.

In den Sommermonaten sah man auffallend viele Lehrer aus dem Bündner Oberland. Sie kamen zu uns, um die lange Sommerpause zu überbrücken. Die Landwirtschaft spielte damals eine wichtige Rolle im Oberland. Bei vielen Bergbauernfamilien mussten die Kinder tüchtig mithelfen und hatten im Sommer keine Zeit, um sich mit so nebensächlichem Zeugs wie Schule zu beschäftigen. Deshalb dauerten die Sommerferien im Bündnerland auch um einiges länger als bei uns. Aus Langeweile oder um sich etwas dazuzuverdienen, haben etliche Bündner Lehrer während dieser Zeit im Glarnerland ausgeholfen. Diese Lehrer wirkten auf uns wie Lebewesen von einem andern Planeten und wir Schüler kicherten jedes Mal, wenn wieder einer kam und sich in seinem komischen Dialekt mit dem noch komischeren Namen vorstellte:

«I haissa Herr Derungs» oder «Min Nama isch Deplazes».

«Das war nicht immer angenehm», bestätigte Ursula.

«Na ja, ich habe es überlebt. Ich glaube, Kinder haben damit weniger Probleme als Erwachsene. Aber in der fünften Klasse wurde es dann besser. Da war ich bei Sepp Tschudi.»

«Ah ja?», sagte sie und schaute mich interessiert an.

«Ja, der Anfang war nicht leicht, weil wir uns wieder an einen geregelten Unterricht gewöhnen mussten.»

«Oh, das kann ich mir lebhaft vorstellen!», grinste sie. Ich fuhr fort:

«Sepp war zwar streng, aber gerecht. Alle nannten ihn Osterei, wegen seiner ovalen Gesichtsform.»

«Was du nicht sagst.»

Ursula hatte ein Lächeln auf den Stockzähnen.

«Aber ich bin nicht ungern zu ihm in die Schule gegangen. Und wenn man sich korrekt aufführte, brauchte man sich auch nicht vor seinen Tatzen zu fürchten. Ich habe jedenfalls nie eine bekommen. Sepp müsste eigentlich auch irgendwo hier sein, ich habe ihn vorhin gesehen.»

Ich und schaute mich um, konnte ihn aber nirgends entdecken und wandte mich wieder Ursula zu.

«Tschudi ist Gemeindepräsident in Ennenda und war es schon, als ich bei ihm in der Schule war. Er ging nach der Schule immer ins Gemeindehaus und ich musste ihm dann die Mappe nach Hause tragen.»

«Was? du musstest ihm die Mappe nach Hause tragen?», erkundigte sich Ursula erstaunt.

«Ja, weil ich fast denselben Schulweg hatte wie er. Aber das war nicht so schlimm. Es kam ja auch nicht alle Tage vor. Nur wenn er etwas zu korrigieren hatte. Und einmal habe ich von Frau Tschudi sogar eine Schokolade bekommen. Als Dankeschön, dass ich immer die Mappe für ihren Mann nach Hause trage. Ich habe zwar fast ein schlechtes Gewissen bekommen.»

Ursula schaute mich fragend an. Ich grinste.

«Na ja, weil ich mit meinem Freund die Mappe immer gründlich inspiziert habe, bevor ich sie beim Tschudis zu Hause abgeliefert habe.»

Ich erzählte Ursula die ganze Geschichte, wie wir uns nach der Schule im Salon eingeschlossen und die Mappe von oben bis unten untersucht und uns vor allem über das Notenheft hergemacht hatten.

«Und es hat nie jemand etwas von unseren Schandtaten bemerkt», schloss ich grinsend meinen Bericht, «am allerwenigsten Sepp selber.»

Ursula hatte aufmerksam und mit einem leisen Lächeln auf den Lippen zugehört.

«Ich werde mich natürlich hüten, Sepp davon zu erzählen», beendete ich meinen Bericht, «das würde ja niemandem etwas nützen, nach so vielen Jahren. Du bist die erste, der ich diese Missetat beichte.»

Wir hatten noch fünf Minuten, bevor wir wieder in die Aula zurückkehren mussten. Deshalb fragte ich Ursula:

«Und du? Wo bist du denn eigentlich aufgewachsen?»

«In Ennenda», antwortete sie, ohne mit der Wimper zu zucken.

«Was? Auch in Ennenda?» Jetzt war das Erstaunen auf meiner Seite.

«Ja, auch in Ennenda. Genau wie du.»

«Dann warst du womöglich auch bei Sepp in der Schule?»

«Nein», antwortete sie gedehnt, «aber ich kenne ihn natürlich auch. Vielleicht sogar besser, als alle Schüler, die bei ihm die Schulbank gedrückt haben oder noch drücken.

Weil du mir vorhin die Sache mit euren Mappeninspektionen  gebeichtet hast, will ich dir jetzt auch etwas beichten. Mein Nachname ist Tschudi. Und Sepp», sagte sie mit einem süffisanten Lächeln auf dem Gesicht, «ist mein Vater…»

Ich stand da wie vom Donner gerührt und schnappte nach Luft. Ich spürte, dass ich einen feuerroten Kopf bekam. Kein einziges Wort brachte ich heraus. O du Fettnapf aller Fettnäpfe! Was habe ich dir getan? Weshalb stellst du dich mir immer mitten in den Weg, auf dass ich hineintrete?

Ursula lachte laut auf und sagte:

«Schade, dass ich keinen Spiegel mit dabei habe. Du solltest dein Gesicht sehen! Aber keine Angst, ich verrate dich nicht. Es gibt ja das Beichtgeheimnis, nicht wahr. Aber ich glaube, jetzt müssen wir zurück in die Aula, sonst verpassen wir noch den Anfang der Darbietung.»

Nachgedanken

Als Erinnerungsträger zu dieser Erlebniserzählung diente mir eine alte Klassenfotografie, die ich beim Ordnen und Digitalisieren alter Fotografien gefunden habe. Das Bild wurde vor bald fünfzig Jahren aufgenommen und zeigt uns als Sechstklässler, zusammen mit unserem Lehrer Josef Tschudi, vor dem Eingang des Schulhauses Hof in Ennenda.

Sich an längst vergangene Tage zurückerinnern ist wie das Lösen eines Puzzles. Selbst wenn einzelne Teile fehlen, erkennt man doch das Bild in seiner Gesamtheit. So ist es auch bei der vorliegenden Geschichte. Nicht alles, was ich geschrieben habe, wird sich genau so abgespielt haben, wie es sich liest. Vieles ist im Laufe der Zeit in den unergründlichen Tiefen des Unterbewusstseins versunken und wird wohl dort bleiben, bis an mein seliges Ende. Diese fehlenden Puzzleteile musste ich gezwungenermassen aus dem Fundus meiner Fantasie ergänzen.

Die beiden Hauptgeschichten – diejenige rund um Tschudis Mappe, inklusive deren Inspektionen bei Erik, und das Erlebnis an der Konferenz – entsprechen aber den Tatsachen. Ebenso wie die fürchterliche Kopfrechenstunden, die ich so inbrünstig hasste, dass ich mir einzubilden begann, Tschudi habe es nur auf mich abgesehen.

Beim Lesen meiner Erzählung könnte vielleicht der Eindruck entstehen, dass ich Josef Tschudi als Lehrer in schlechter Erinnerung habe. Dem ist aber nicht so. Er hat seine Arbeit getan und war nicht schlechter und auch nicht besser als der Grossteil aller Lehrer seiner Generation. Und dass ich ein lausiger Kopfrechner war, kann ich nun weiss Gott nicht ihm anlasten. Im Gegenteil. Er hat in Treu und Glauben versucht, aus uns kleine Rechenexperten zu machen, was ihm beim Einen oder Andern vielleicht sogar gelungen ist. Bei mir aber mit Sicherheit nicht.

Drei Dinge sind mir aus seinem Unterricht in Erinnerung geblieben. Einmal die erwähnten Kopfrechenstunden, dann die Schweizer Geschichte und schliesslich die Vorlesestunde am Samstag um elf Uhr – damals war der Samstag noch ein Schultag.

Zuerst zur Geschichte. Ein grosser Teil von Tschudis Geschichtsunterricht bestand darin, dass er uns aus den Arbeitsheften „Lasst hören aus alter Zeit“ vorgelesen hat. In diesen Büchlein werden Ereignisse der Schweizer Geschichte mit Geschichten von Menschen und deren Erlebnissen verknüpft. Ich liebte diese Geschichten über alles. Zum Beispiel diejenige von Zeno, dem Römerbub, der sich bei der Jagd nach einem Vogel immer weiter von der Stadt entfernt. Weil es dunkel ist, verirrt er sich und findet den Heimweg nicht mehr. Da trifft er auf den Alemannenbuben Othman. Othman nimmt Zeno mit sich nach Hause. Was Zeno da sieht und erlebt, ist Kulturschock pur. Die Alemannen schlafen auf Laubsäcken in einem einzigen, verrauchten Raum und auf der Wiese brüllen eigenartige Tiere, die man Kühe nennt. Am nächsten Tag bringt Othman Zeno zurück in die Stadt. Aus Dankbarkeit lädt Zeno seinen alemannischen Freund ein, bei ihm zu übernachten und zeigt ihm alle Errungenschaften der Römer: Markt, Forum, Theater, Bad. Jetzt ist es Othman, der einen Kulturschock erleidet.

Diese zwanzigbändige Serie von Konrad Bächinger ist natürlich längst vergriffen. Zum Glück habe ich noch rechtzeitig die ganze Serie gekauft. Ich lese auch heute noch hin und wieder in diesen Büchlein.

Und nun zum Vorlesen. Am Samstag, jeweils in der letzten Stunde, war Vorlesestunde. Tschudi hat uns verschiedene Bücher vorgelesen. An eines kann ich mich noch gut erinnern, weil ich es als so ungeheuer spannend empfand, dass es mir beim Zuhören eiskalt über den Rücken lief. Es handelte sich um das Kinderbuch „Timm Thaler und das verkaufte Lachen“ von James Krüss. Timm verkauft dem zwielichtigen Baron Lefuet (= Teufel) sein Lachen für die Fähigkeit, sämtliche Wetten zu gewinnen. Er merkt aber bald, dass das Leben ohne Lachen trostlos ist. Am Ende der Geschichte überlistet er den Baron, indem er mit ihm wettet, dass er sein Lachen wieder zurückbekommt.

Jahre später wurde „Timm Thaler“ in eine unglaublich schlechte, dreizehnteilige TV-Serie zerstückelt. Mit schlecht meine ich nicht die Leistung der Schauspieler, sondern die Vergewaltigung der Geschichte durch die Drehbuchautoren.

Tschudi hat uns das Buch über Wochen hinaus vorgelesen. Wir hingen an seinen Lippen und immer dann, wenn die Spannung ins Unerträgliche stieg, klappte er das Buch zu und meinte, die Fortsetzung werde er uns am nächsten Samstag vorlesen.

Nach seiner Pensionierung habe ich Sepp nicht mehr so oft gesehen. Aber wenn wir uns über den Weg liefen, hatten wir immer Zeit, ein paar Worte zu wechseln.

Sepp hatte keinerlei Berührungsängste gegenüber jüngeren Menschen. Ich sass einst mit ein paar Kollegen an unserem Mittagstisch im Bahnhofbuffet, als unverhofft Sepp Tschudi das Lokal betrat. Als er mich entdeckte, steuerte er ohne zu zögern auf uns zu und fragte, ob er sich zu uns gesellen dürfe. Ich war ebenso erstaunt wie erfreut, stellte ihn meinen Kollegen vor und er ass mit uns zu Mittag.

Im vergangenen Jahr ist Josef Tschudi im hohen Alter von 92 Jahren gestorben. Er ruhe in Frieden.

 

 

Hanspeter Bolliger

Impressum

Texte: Hanspeter Bolliger
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Erik und meinen Lehrer Josef Tschudi (1920-2012).

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