Was haben Buntstifte und Kinder gemeinsam? Sie hinterlassen farbige Spuren und Klekse in unserem Leben. Keine Frage, ohne Kinder wäre das Leben grau und trist. In meiner mehr als 30-jährigen Berufszeit als Lehrer habe ich mit zahlreichen tollen Kindern und Jugendlichen zu tun gehabt. Viele dieser jungen Menschen haben bei mir die Schulbank gedrückt und wie Buntstifte im Zeichenheft meines Lehrerlebens ihre farbigen Spuren hinterlassen.
An alle kann ich mich natürlich nicht mehr erinnern. Aber einige dieser ehemaligen Schülerinnen und Schüler sind mir noch sehr präsent. Es sind diejenigen, die sich mit einem speziellen Erlebnis oder mit einer kleinen Geschichte verbinden. Die vorliegenden Erlebnisse und Begebenheiten liegen schon eine Weile zurück und spielen in den Achtzigern und Neunzigern des letzten Jahrhunderts (mein Gott, wie tönt denn das!), als die Rechtschreibreform noch kein Thema und das neue Primarschulhaus noch nicht renoviert war. Das war die Zeit, als Schulwart Werner jedes Mal, wenn es regnete, verschiedene Eimer im Korridor aufstellen musste, um das Wasser aufzufangen, das zwischen den Fugen der Betonplatten des Daches ins Innere des Schulhauses tropfte. Es war auch die Zeit, als sich die Sekundarschule noch mit ihren drei Klassen in Netstal befand.
Natürlich gäbe es auch aus neuerer Zeit viele Geschichten oder Erlebnisse mit Schülerinnen und Schülern zu erzählen. Vielleicht werde ich mich nach meiner Pensionierung mal hinsetzen und eine Fortsetzung zu Papier bringen.
Im ersten Teil dieser schulischen Memoiren erzähle ich die Geschichten von Andrea, der seinen Namen änderte, von Pauli, der dauernd seine verrückten Ideen in die Tat umsetzte, von Tamara, die auf wundersame
Weise von ihren Magenbeschwerden geheilt wurde, von Paulis Bruder, dem schlagfertigen Goldsucher Röbeli und von Ismet, dem ahnenforschenden Krösus.
Der zweite Teil handelt von Romana, der Telefonistin, von Giorgio, der rennt, von Elena, dem Schrankgespenst, von Gewässerverschmutzung auf dem Berg und schliesslich noch von den wilden Kerlen.
Die Namen meiner Kolleginnen und Kollegen behielt ich bei, die der Kinder habe ich geändert. Die Episödchen trugen sich im Wesentlichen wie beschrieben zu. Allerdings sind sie nicht chronologisch geordnet. Ich schrieb sie so auf, wie sie mir in den Sinn gerade in den Sinn kamen. Dies geschah bereits vor einiger Zeit. Ich habe sie bearbeitet und vom Ballast vieler überflüssiger Partikel und Adjektive befreit und hoffe, dass sich mein Schmunzeln auf alle überträgt, die Spass und Freude an den hoffnungsvollen jungen Menschen haben.
1. Teil
In Schülerverzeichnissen findet man gelegentlich neben dem Vornamen des Kindes zwei Kästchen, die mit „m“ für männlich oder „w“ für weiblich gekennzeichnet sind. Die meisten Namen können zwar problemlos einem der beiden Geschlechter zugeordnet werden. Doch keine Regel ohne Ausnahme. Vor allem bei lateinischen Sprachen. Da ist es nicht zwangsläufig so, dass ein Vorname der auf „a“ endet, ein Mädchenname ist. Genauso wenig wie das “o“ auf einen männlichen Namen hinweist.
Das musste auch mein Kollege Kurt erfahren, als er vor einigen Jahren am ersten Schultag nach den Sommerferien seine neuen Fünftklässler begrüsste. Beim Appell stellte er fest, dass ihn acht Mädchen und zwölf Buben anstrahlten. Auf der Klassenliste standen aber die Namen von dreizehn Buben und sieben Mädchen. Das Rätsel war bald gelöst: der Schüler, welcher Rocio hiess, entpuppte sich als Schülerin, als hübsches Mädchen spanischen Geblüts. In Spanien nimmt man es offensichtlich auch nicht so genau mit der geschlechtlichen Zuordnung von Namen.
Aber Spanien ist Spanien. Bei uns in der Schweiz herrscht Ordnung. Wer einen unserer schönen Schweizer Namen trägt, kann unzweifelhaft dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden. Dumm nur, wenn jemand über einen jener verflixten, lateinischen Vornamen verfügt, die sowohl als Mädchen- und als Knabennamen Verwendung finden. Da sind Komplikationen vorprogrammiert, wie die Geschichte von Andrea Moretti zeigt.
Andrea besuchte die dritte Klasse der Sekundarschule, war sechzehn, gross, schlank, schwarzes, krauses Haar – und ein Junge, durch und durch. Trotz seiner leicht femininen Gesichtszüge. Er gehörte zur zweiten Generation in der Schweiz geborener Italiener.
Andrea pflegte sich immer sehr gewählt auszudrücken, war zuvorkommend und höflich. Ein wahrer Gentleman. Er legte grossen Wert darauf, als erwachsener Mann behandelt zu werden. Dieser Umstand führte dazu, dass er auf seine Mitmenschen etwas altklug wirkte. Seine Klassenkameraden hatten damit kein Problem. Sie akzeptierten ihn so wie er war. Das einzige, zu dem sie sich gelegentlich hinreissen liessen, war ein leises Kopfschütteln oder Seufzen, wenn er mal wieder zu sehr den Erwachsenen herauskehrte.
Andrea war der einzige Schüler seiner Klasse, der motorisiert zur Schule kam. Sein blaues Mofa mit dem weissen Helm am Lenker stand aber nie auf dem offiziellen Fahrradparkplatz bei der Turnhalle, sondern er pflegte es immer beim hinteren Eingang des Primarschulhauses abzustellen, dort wo die Fahrräder der Lehrpersonen standen. Erstens, weil er seiner Maschine nicht zumuten wollte, bei den Fahrrädern kleiner Kinder auf den Fahrradparkplatz bei der Turnhalle zu stehen. Man stellte schliesslich auch keinen Bentley zwischen lauter klapprige VWs. Zweitens war der Weg vom Schulzimmer zum hinteren Eingang viel kürzer. Andrea brauchte dann nicht so weit zu laufen. Zudem war der hintere Eingang überdacht. Es gab nämlich nichts Nervigeres, als bei Regenwetter jedes Mal den Sattel trocken zu reiben.
Zu Beginn der dritten Oberstufenklasse begann für die Jugendlichen die Suche nach einer geeigneten Lehrstelle. Auch Andrea blieb davon nicht verschont. Er gehörte allerdings nicht zu den Glücklichen, die bereits nach der ersten Bewerbung einen Lehrvertrag in den Händen hielten. Da halfen ihm weder sein italienischer Charme noch sein erwachsenes Gehabe. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als eine Bewerbungen nach der anderen zu schreiben und den Frust zu verarbeiten, wenn er ständig Absagen einfuhr. Und dann kam es zu allem Überfluss noch zu dieser leidigen Begebenheit mit seinem Namen, die ihn in seiner Männlichkeit zutiefst erschütterte.
Als ich eines Nachmittags nach dem Unterricht ins Lehrerzimmer kam, sah ich meinen älteren Kollegen Hans am Computer sitzen und die Tasten bearbeiten. Hans war Andreas Klassenlehrer und hatte ein gespaltenes Verhältnis zu allem, was irgendwie mit Computer zusammenhing. Daher wunderte ich mich, ausgerechnet ihn am PC arbeiten zu sehen.
«Ich habe mich endlich dazu aufgerafft, die Daten meiner Klasse in deine elektronische Kartei zu tippen», verkündete er stolz, als er mich sah. Ich hatte diese Datenbank entwickelt, um im Zeitalter der elektronischen Datenerfassung die Holzschachtel mit ihren meist unzulänglich ausgefüllten Karteikarten zu ersetzen.
Jede Lehrperson hatte den Auftrag erhalten, die Personalien ihrer Schülerinnen und Schüler zu erfassen und in die Datenbank einzutippen. Hans war der letzte, der dieser Pflicht nachkam, nachdem ich ihn etliche Male dazu aufgefordert hatte..
«Wunderbar», freute ich mich, «dann ist die Kartei endlich komplett.»
«Mhm, aber könntest du mir noch einmal zeigen, wie man die Listen druckt», bat er, nachdem er den letzten Namen in den PC getippt hatte. Ich erklärte ihm Schritt für Schritt, wie er seine Klasse aus der gesamten Schülerschar herausfiltern und auf fünf verschiedene Arten auflisten konnte. Übungshalber druckten er eine Klassenliste mit den Namen und Geburtsdaten seiner Klasse aus.
«Sehr beeindruckend», resümierte er, als er die Liste in den Händen hielt. Ich sah mir die Liste ebenfalls an und stutzte.
«Hast du dich da nicht vertippt?», fragte ich ihn. Beim Namen Moretti nicht Andrea sondern Danilo.
«Ehm, nein, der heisst jetzt nicht mehr Andrea, sondern Danilo», klärte mich Hans auf. Auf meine Frage, weshalb Andrea jetzt Danilo heisse, konnte er mir aber keine schlüssige Antwort geben. Andrea wünsche eben, ab sofort Danilo genannt zu werden. Ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.
Da ich den Jungs der dritten Sekundarklasse Werken erteilte, wollte ich Andrea – pardon, Danilo, selber fragen, was ihn zu dem Schritt bewogen habe. In der nächsten Stunde fehlte Andrea. Ich weiss nicht, ob er krank war oder gerade in irgendeinem Betrieb eine Schnupperlehre absolvierte. Deshalb fragte ich seine Kollegen, ob sie wüssten, was es denn mit Andreas neuem Namen auf sich habe. Ich konnte ein Lachen nicht verkneifen, als ich die Erklärung hörte.
Andrea hatte einmal mehr Bewerbungen an verschiedene Firmen abgeschickt. Und wie immer bekam er eine Absage nach der anderen. Das wäre weiter nicht so tragisch gewesen. An Absagen hatte er sich mittlerweile gewöhnt. Aber als er las, was in einem dieser Schreiben stand, bekam sein männliches Ego einen gewaltigen Knacks. Vorbei war es mit seiner Contenance. Er lief rot an und stiess auf Italienisch einen unflätigen Fluch aus.
«Sehr geehrte Frau Moretti», stand in diesem Brief, «Sie haben sich bei uns um eine Lehrstelle beworben. Leider müssen wir Ihnen eine Absage erteilen. Wir hoffen, dass Sie…etc., etc.»
Hier stand wirklich und ohne Zweifel Frau Moretti! FRAU! Was zum Kuckuck unterstanden die sich denn? Er war doch, verdammt nochmal, kein Weib! Nicht, dass er etwas gegen das weibliche Geschlecht gehabt hätte. Gewiss nicht. Aber dass diese skrupellosen Ignoranten davon ausgingen, er sei ein Mädchen, obwohl der Bewerbung noch eine schöne Farbfotografie beilag, die er für teures Geld in einer dieser Fotoduschkabinen am Bahnhof gemacht hatte, das war dann doch der Gipfel der Unverschämtheit. Wütend zerknüllte er den Brief und warf ihn in den Papierkorb.
Nachdem er sich beruhigt hatte, überlegte er, was er tun konnte, um zu vermeiden, dass sich so ein Debakel wiederholte. Einen Schnäuzer konnte er sich auf die Schnelle nicht wachsen lassen. Und von seinem lockigen Haar wollte er sich auch nicht trennen. Da kam er auf die Idee, seinen Vornamen zu ändern. So wurde aus Andrea Danilo. Genau genommen strich er nur seinen ersten Vornamen und wünschte ab sofort nur noch mit Danilo, seinem zweiten, eindeutig männlichen Vornamen angesprochen zu werden. Damit auch der hinterletzte verdamme Idiot merkte, dass er ein Mann war und kein Weib…
Die meisten seiner Kameraden taten ihm, hinter vorgehaltener Hand grinsend, den Gefallen und nannten ihn Danilo. Ebenso Hans, sein Klassenlehrer. Was mich betrifft, so gab ich mein Bestes. Andrea – pardon: Danilo – sah es mir gnädig nach, dass ich mich manchmal vergass und ihn mit seinem alten Namen anredete…
Danilo hat nach langem Suchen doch noch eine Lehrstelle gefunden. Inzwischen heisst er auch wieder Andrea. Hin und wieder kreuzen sich unsere Wege. Kürzlich traf ich ihn zufällig in einem Hotel, wo er als Brautführer eine riesige Hochzeitsfeier managte. Eine Aufgabe, die er mit Bravour gelöst haben soll, wie ich später aus gut unterrichteter Quelle erfuhr.
An Pauli erinnere ich mich besonders gerne. Er fiel mir zu Beginn der fünften Klasse auf, weil er ein ganz besonderer Junge war. Das runde Gesicht, die Stupsnase, der Pilzkopf und die listigen Äuglein passten wunderbar zu seinem schlitzohrigen Wesen.
Gesegnet mit einer überbordenden Fantasie, kam Pauli pausenlos auf mehr oder weniger originelle Ideen, die er ohne Rücksicht auf Verluste in die Tat umzusetzen pflegte. Nicht immer zur Freude seines näheren Umfeldes. Und etliche seiner Streiche hätten wohl schlimm geendet, wenn nicht ein Rudel unendlich geduldiger Schutzengel Tag und Nacht damit beschäftigt gewesen wäre, ihre schützenden Hände über ihn zu halten.
Pauli konnte stundenlang auf dem Pausenplatz herumdüsen, ein imaginäres Steuerrad drehen und mit aufeinandergepressten Lippen das Geräusch eines hochgezüchteten Automotors nachahmen.
Im Schulzimmer gab es Momente, in denen er gedankenverloren einmal mit dem linken, dann wieder mit dem rechten Zeigefinger in der Nase bohrte und dazu die fürchterlichsten Grimmassen schnitt. Das, was er bei seinen Sondierbohrungen zutage förderte, wurde zuerst zwischen Zeigefinger und Daumen zu einem handlichen Klümpchen geformt, welches er anschliessend von allen Seiten betrachtete, indem er den Finger, auf dem es klebte, vor seinen Augen hin und her bewegte. Endete die Inspektion zu seiner Zufriedenheit, schob er den Zeigefinger in den Mund und das Klümpchen war Geschichte.
Mit diesen tiefschürfenden Tätigkeiten handelte er sich regelmässig die geharnischten Proteste seiner Klassenkameraden ein. Meistens in Form hitziger Diskussionen im Klassenrat.
Pauli grübelt in der Nase, stand dann jeweils auf der Traktandenliste. Oder: Pauli frisst sein Nasenböögg!
Er könne halt nichts dafür, weil er einfach nicht merke, dass er in der Nase bohre, führte er zu seiner Entschuldigung an und gelobte jedes Mal reumütig Besserung. Doch bereits am nächsten Tag waren die guten Vorsätze wieder vergessen und die Nase wurde erneut Ziel von Paulis Höhlenforschung.
Damals war Manuel Paulis Freund und Spielkamerad. Die beiden sassen in der Schule nebeneinander und verbrachten auch einen grossen Teil ihrer Freizeit zusammen. Manuel, der Sohn des Pfarrers, hatte ein grosses Herz und sah grosszügig über die kleinen Schwächen seines Freundes hinweg. Umso tragischer war, dass ausgerechnet er eines Tages beim Spielen mit Pauli zu Schaden kam. Die Sache hätte schlimm ausgehen können. Wahrscheinlich waren einige von Paulis Schutzengel an diesem Tag auch zum Schutze Manuels abkommandiert worden. Was war geschehen?
«Manuel ist im Spital!», stürmten die Kinder auf mich ein, als ich das Schulzimmer betrat. Ich erschrak und wollte wissen, was denn geschehen sei. Alle redeten durcheinander, aber niemand wusste etwas Genaues. Ich verstand nichts, hörte aber immer wieder Paulis Name und „Indianer“.
Weil niemand in der Klasse genau wusste, was geschehen war, wandte ich mich direkt an Pauli. Ich forderte ihn auf zu erzählen, was geschehen sei. Aber ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, zeigte er sich nicht sehr gesprächig und murmelte etwas von hingefallen und Kopf angeschlagen.
Ich spürte, dass ihm die Sache unangenehm war und bohrte nicht mehr weiter. Aber ich beschloss, mir Informationen aus erster Hand einzuholen.
Als der Unterricht angelaufen war und die Kinder am Arbeiten waren, begab ich mich ins Lehrerzimmer, rief im Pfarrhaus an und erkundigte mich bei Manuels Vater, was mit seinem Sohn los sei. Er gab sogleich Entwarnung. Manuel sei bereits wieder zu Hause und werde am nächsten Tag zur Schule kommen. Und dann erzählte er mir, was passiert war.
Manuel und Pauli hatten den Parkplatz vor dem Pfarrhaus in eine Prärie verwandelt, in der es nur so von Bisons, wilden Mustangs, stolzen Indianerhäuptlingen und hinterlistigen Cowboys wimmelt. Pauli gab natürlich den stolzen Indianerhäuptling, während für Manuel nur die Rolle des bösen Bleichgesichts übrig blieb. Die beiden beschlichen und belauschten sich mit Hingabe, bis das Bleichgesicht so unvorsichtig war, sich vom Indianerhäuptling fangen zu lassen. Sogleich wurde es fachmännisch mit dem Lasso eingewickelt und von Kopf bis Fuss zu einem festen Paket verschnürt. Der Häuptling lehnte sein wehrloses Opfer an eine zum provisorischen Marterpfahl umfunktionierte Strassenleuchte.
Dann wurde zu Gericht gesessen und Indianerhäuptling Pauli stellte dem wehrlosen Bleichgesicht Manuel mit stolzer, unbeweglicher Miene jede Menge qualvoller Tode am Marterpfahl in Aussicht.
So musste sich seinerzeit Old Shatterhand gefühlt haben, als er bei den blutrünstigen Sioux tagelang an den Marterpfahl gebunden war. Aber wer Karl Mays Geschichten kennt, weiss, dass Old Shatterhand immer eine List gefunden hatte, den Sioux im allerletzten Moment zu entwischen und dem grässlichen Tod am Pfahl zu entgehen. Manuels List bestand darin, dass er dem fürchterlichen Häuptling, der ja eigentlich sein Freund war, zu verstehen gab, er sei jetzt lange genug am Marterpfahl gestanden, wolle wieder von den Fesseln befreit werden und mit seinem roten Bruder die Friedenspfeife rauchen. Selbstverständlich zögerte der Indianerhäuptling nicht, dem Bleichgesicht diesen Wunsch zu erfüllen.
Pauli knotete das Seil auf, packte das frei gewordene Ende und begann zu ziehen. Während sich das Seil abwickelte, drehte sich Manuel um die eigene Achse. Pauli zog immer schneller und Manuel rotierte wie eine Spindel. Anfangs konnte er sich noch auf den Beinen halten. Doch als sich das Seil gegen die Füsse hin abwickelte, geschah das, was geschehen musste: er verlor das Gleichgewicht und stürzte auf den harten Boden des Parkplatzes. Während Pauli den abgewickelten Lasso in den Händen hielt, rollte Manuel ein paar Meter weiter, knallte mit dem Kopf gegen ein Mäuerchen und blieb benommen liegen.
Der Rest ist schnell erzählt. Der Verdacht auf eine Gehirnerschütterung veranlasste den Dorfarzt, Manuel zur Kontrolle ins Spital einzuweisen. Glücklicherweise stellte sich dort heraus, dass der Sturz keine ernsten Folgen nach sich zog. Und nach einer Nacht im Spital, konnte Manuel am nächsten Tag mit einer fürchterlichen Beule am Kopf wieder nach Hause zurückkehren.
Für Pauli hatte Manuels Sturz keine Folgen. Die beiden blieben weiterhin Freunde und erlebten zusammen noch eine ganze Menge von mehr oder weniger haarsträubenden Abenteuern, bis sich ihre Wege beim Wechsel in die Oberstufe trennten.
Paulis Vater war ein ehrbarer Handwerker und entstammte der grossen Becker-Dynastie. Er hatte etliche Brüder, die allesamt mit ihren Familien im Dorf wohnten. Ich glaube, es gab damals keine Schulklasse, in der nicht mindestens ein Beckerlein sass.
Beckers waren rechtschaffene Leute, die geradeheraus sagten, was sie dachten. Den Unterrichtsmethoden von uns Lehrern konnten sie allerdings nicht immer nur positive Seiten abgewinnen. Sie vertraten mehr oder weniger unverblümt die Meinung, dass eine Ohrfeige zur rechten Zeit noch keinem Kind geschadet habe. Sie hätten früher auch Prügel bezogen und es sei dennoch etwas aus ihnen geworden.
Pauli war inzwischen in der sechsten Klasse. Als er eines Montagmorgens das Schulzimmer betrat, fielen mir sofort die drei länglichen, roten Striemen auf, die seine linke Gesichtshälfte zierten. Man brauchte nicht viel Fantasie, um darin den Abdruck einer Hand zu erkennen.
«Hoppla, was ist denn mit dir passiert?», fragte ich Pauli, «bist du in eine Schlägerei geraten?»
«Nein», antwortete er einsilbig. Ich bohrte weiter: «Woher hast du denn diese Flecken?»
«Mein Vater hat mir eine geknallt», brummte er.
«Ach ja? Und darf man wissen, aus welchem Grund?»
«Na ja, ich habe halt einen Seich gemacht.»1)
Nun packte mich endgültig die Neugierde. Die Beckers standen zwar nicht gerade im Ruf, zimperlich zu sein. Aber angesichts der roten Male auf Paulis Gesicht, war anzunehmen, dass er eine fürchterliche Watsche einge-fangen hatte.
«Und welchen Seich hast du denn gemacht?», fragte ich beharrlich weiter. Er blieb stumm.
«Komm, spucks aus!», forderte ich ihn auf.
«Ich habe nur einen Papierflieger gemacht und ihn zum Fenster raus geschmissen.»
«Ja gut, aber das ist doch nicht so schlimm. Deswegen bekommt man doch keine Ohrfeige», wandte ich ein.
Als er sah, dass ich nicht locker liess, rückte er schliesslich mit der ganzen Geschichte heraus.
Es war am Sonntagnachmittag. Paulis Eltern sassen im Schatten des Sonnenschirms friedlich im Garten, lasen die Zeitung, tranken Kaffee und genossen den schönen Sommersonntag.
Pauli befand sich in seinem Zimmer, im Obergeschoss des Hauses, unmittelbar über der Gartenidylle. Er faltete aus einem Blatt Papier den erwähnten Papierflieger und liess ihn ein paar Mal vom Bett zum Kasten und zurück sausen. Aber wer Pauli kannte, der wusste, dass ihn diese Tätigkeit bald einmal langweilen würde. Neue Herausforderungen mussten her. Er schaute sich im Zimmer um und sein Auge fiel auf das Feuerzeug, welches er letzte Woche auf der Strasse gefunden hatte. Sogleich wusste er, wie er dem langweiligen Spiel mit dem Papiersegler eine neue, spannende Wendung geben konnte.
Im Fernsehen hatte er vor einiger Zeit mal einen Filmebericht über die Luftschlachten im zweiten Weltkrieg gesehen. Da gab es eine Menge Kampfflugzeuge, die mit brennendem Heck noch eine ganze Weile weiterflogen, bevor sie zu Boden oder ins Meer stürzten. Aber wie verhielt es sich mit einem Papierflieger? Wie lange würde der sich mit brennendem Heck in der Luft halten können? Würde er noch während des Fluges in Rauch und Asche aufgehen oder auf dem Boden landen, bevor er ganz verbrannte? Solche und ähnliche Fragen gingen Pauli durch den Kopf, während er den Flieger von allen Seiten betrachtete. Schliesslich kam er zur Erkenntnis, dass nur ein Experiment diese Fragen klären konnte und griff zum Feuerzeug.
Das Heck glimmte auf und begann lichterloh zu brennen. Pauli trat ans Fenster, entliess das brennende Flugobjekt mit einem kräftigen Schwung in die Lüfte und schaute ihm gespannt nach. Doch das Experiment geriet ausser Kontrolle.
Das brennende Flugobjekt drehte zwei, drei Runden und stürzte ausgerechnet auf den Sonnenschirm, unter welchem Paulis Eltern ahnungslos die sonntägliche Ruhe genossen. Kaum war das havarierte Flugobjekt gelandet, frassen sich die Flammen in den von Sonne, Wind und Wetter gegerbten, knarztrockenen Stoff. Und wumm! stand der ganze Sonnenschirm in Flammen. Der Brand dauerte nur ein paar Sekunden. Dann hingen nur noch ein paar rauchende Stofffetzen am Metallgerippe. Der Spuk war vorbei.
Und Paulis Eltern? Sie hatten sich mit einem gewaltigen Sprung aus der Gefahrenzone gebracht. Schreckensbleich und aus sicherer Entfernung sahen sie zu, wie der Sonnenschirm ein Raub der Flammen wurde, bis nur noch ein schwarzes Räuchlein gen Himmel stieg und einige Ascheflocken auf den Tisch segelten. Beiden war sofort klar, wer hinter diesem Attentat steckte. Und tatsächlich, als sie nach oben zu Paulis Zimmerfenster blickten, sahen sie gerade noch, wie der Kopf ihres Sprösslings im Innern des Zimmers verschwand.
«Paul…!», brüllte Vater Becker und stürmte wutentbrannt die Treppe hinauf. Für einmal sah es aus, als hätten sich Paulis Schutzengel von ihm abgewendet. Die Ohrfeige fand ihr Ziel, bevor Pauli auch nur den Hauch einer Chance hatte, Pip zu denken oder Pap zu sagen, und hinterliess an seiner Backe den anfangs erwähnten Abdruck.
Seit diesem Erlebnis war Pauli um eine Erfahrung reicher. Auch ein Papierflieger mit brennendem Heck kann sich noch eine ganze Weile in der Luft halten, bevor er abstürzt. Und stürzt er zu allem Überfluss auf einen alten Sonnenschirm, sind Kollateralschäden in Form roter Striemen auf der Wange vorhersehbar.
«Ich ha mösä chotzä!»(2), verkündete Tamara am Mittwochmorgen, vor dem Frühstück, mit strahlendem Gesicht.
Es war die erste Woche in einem unserer Sommerlager im Bündner-land. Wir sassen im Speisesaal. Fritz blätterte in der gestrigen Zeitung, während ich die letzte meiner Morgenpatiencen legte.
Walter und Ursi standen am offenen Lift, um Putzkessel, erste Brotkörbe und ein paar Gläser vom gestrigen Abend herauszunehmen. Alles in allem schien es ein prächtiger Mittwoch zu werden. Das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite. Die Sonne schien und es war schon am Morgen ziemlich warm. Nach dem feuchtkalten Wochenbeginn brannten die Kinder darauf, endlich im kleinen Schwimmbecken auf der Spielwiese zu baden. Idylle pur, wäre da nicht Tamaras nächtliches Unwohlsein gewesen.
Tamara war eine hübsche Sechstklässlerin, die in der Nachbargemeinde die Kleinklasse besuchte. Sie war gross, schlank und hatte langes, dunkelblondes Haar. Mit ihren grossen, braunen Rehaugen und den langen Wimpern zauberte sie Augenaufschläge hin, die alles und jeden in ihrer näheren Umgebung schmelzen liessen. Was allerdings nicht ganz zu ihrem Aussehen passen wollte, war die ruppige Sprache, mit der sie sich auszudrücken pflegte.
«Wie bitte?!» Fritz schaute von der Zeitung auf. «Du hast aber nicht etwa auf den Matratzenüberzug…?»
«Nänäi, ich ha gad nu chännä uf d Schiissi seggle»(3), erklärte Tamara, indem sie uns der Reihe nach ansah.
Jeder gebildete Pädagoge weiss, dass er immer auf die Kinder eingehen muss, ganz egal, was sie sagen.
«Du bist also noch rechtzeitig aufs WC gerannt und hast dich nicht auf den Überzug übergeben? Das hast du aber gut gemacht!», beeilte sich deshalb auch jemand von uns zu sagen, ich weiss nicht mehr, wer es war. Allgemeines Aufatmen. Gott sei Dank! Der Matratzenüberzug hatte einmal mehr eine Attacke überstanden.
Das war so eine Sache mit diesen Matratzenüberzügen. In den Massenlagern des Ferienheims spannte sich jeweils ein einziger Überzug quer über sämtliche Matratzen. Ein riesiges Tuch aus massivem Stoff, das erstens den Schlafenden als Unterlage diente und zweitens verhindern sollte, dass Unterhosen, Socken, Kaugummis, Schleckstängel, Comics und andere kindliche Kostbarkeiten zwischen den Matratzen im Untergrund verschwanden.
Dummerweise gab es nur zwei Exemplare von jedem dieser Überzüge. Wenn einer stark verschmutzt worden war, musste er ausgewechselt werden. Das war immer mit einem Riesenaufwand verbunden. Schlafsäcke, Kissen, Wolldecken und Kinderutensilien runter von den Betten, Überzug entfernen, neuen Überzug über die Matratzen ziehen, Kinderutensilien, Wolldecken, Kissen, Schlafsäcke wieder rauf auf die Betten. Ausserdem mussten die verschmutzten Überzüge zur Reinigung ins Nachbardorf gebracht werden, weil es hier im Dorf weit und breit keine Waschmaschine gab, welche gross genug gewesen wäre, dies riesigen Überzüge zu waschen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass wir den Kindern jedes Jahr aufs Neue einbläuen mussten, die Überzüge mit Sorge zu behandeln und sie unter gar keinen Umständen schmutzig zu machen und schon gar nicht vollzukotzen…
In all den Jahren musste glücklicherweise nie einer der Überzüge ausgewechselt werden. Kleinere Missgeschicke konnten wir immer irgendwie beheben, so dass der Überzug bleiben konnte, weil die Hauseltern entweder nichts merkten oder, wenn sie es merkten, mindestens nichts zu beanstanden hatten.
Wir atmeten also auf und waren heilfroh, dass Tamara mit ihrem beherzten Uf-d-Schiisi-Seggle eine Katastrophe verhindert hatte. Trotzdem wollte Ursi auf Nummer Sicher gehen und begab sich unauffällig in den Mädchenschlag im oberen Stock, um den Schlafplatz Tamaras und das WC zu inspizieren. Wie wir später erfuhren, war alles sauber. Nirgends auch nur der kleinste Hinweis auf Erbrochenes. Auch hatte während der Nacht niemand etwas von Tamaras Ungemach mitbekommen, wie unsere diskreten Nachforschungen ergaben.
«Ist dir denn schlecht gewesen?», fragte Fritz überflüssigerweise. Tamaras Gesicht begann noch mehr zu strahlen. «Nei, schlächt isch mer nüd gsii. Ich ha ja ä nüd fescht mösa chotze, nu es bitzäli.» (4)
An diesem Punkt hatten wir zum ersten Mal Mühe, ernst zu bleiben und nicht ein paar dumme Sprüche zu klopfen. Aber dann gab Tamara noch einen drauf:
«Ich ha nu d Wurscht mösä chotzä, d Höräli nüd. D Höräli han i ebe gära gha. Aber d Wurscht isch grüsig gsi»(5), erklärte sie. Wir schauten uns an und dachten, wir hätten uns verhört. Walter wollte sicher gehen und bohrte nach: «Du hast also nur die Wurst erbrochen, die Hörnli nicht?»
«Ja, will d Wuurscht ebe grüsig gsi isch und d Höräli nüd»(6), bestätigte Tamara.
Du meine Güte! Getrennt erbrechen? Das war mal etwas ganz Neues. Mit unserer Zurückhaltung war es aus. Ob Tamara wegen unseres Gelächters beleidigt war – ich weiss es nicht. Jedenfalls drehte sie uns den Rücken zu und verschwand in Richtung Saaltüre.
Walter fand, Tamara sei ein höchst merkwürdiges Phänomen. Wurst und Hörnli im Magen zu trennen sei an sich schon eine reife Leistung. Dann aber nur das Eine von sich zu geben und das Andere zurückzuhalten, das zeuge schon fast von überirdischen Fähigkeiten. Jemand meinte, man esse schliesslich auch getrennt. Dann müsse es doch eigentlich auch möglich sein, getrennt zu reihern.
Beim Mittagessen sass Tamara am Tisch bei ihrer Gruppe. Nichts deutete darauf hin, dass sie in der Nacht so schrecklich hatte leiden müssen. Sie plauderte angeregt mit ihren Kolleginnen, zeigte einen gesunden Appetit und langte tüchtig zu.
Der Tag endete schliesslich so schön wie er begonnen hatte. Nach dem ausgiebigen Badeplausch waren die Kinder müde und das Zähneputzen dauerte nicht so lange wie sonst. Erstaunlicherweise gab es auch keinen Tumult, als wir im Knabenzimmer das Licht löschten.
Die Mädchen waren allerdings noch nicht so weit. Einige mussten noch einmal dringend aufs WC, bevor sie in ihre Schlafsäcke krochen. Tamara war die letzte, welche aus dem WC kam. Als sie an uns vorbei ins Zimmer huschen wollte, hielt Ursi sie auf und drückte ihr ein Plastikbecken in die Hand.
«Da! Nimm das Becken mit ins Bett, falls du dich in dieser Nacht wieder übergeben musst. Denk daran: auf keinen Fall den Überzug schmutzig machen!» Tamara schaute Ursi lange an, schnappte sich das Becken und verschwand im Zimmer.
Wie immer standen wir dann noch eine Weile vor den Schlägen, bis endgültig Ruhe eingekehrt war und die Kinder schliefen. Dann begaben wir uns ins Restaurant zum wohlverdienten Feierabendtrunk.
Am nächsten Morgen stand Tamara an unserem Tisch.
«Ich ha mösä chotzä! Aber nüd ufd Madratzä. Ich ha is Beggi gchotzet…»(7)
Auch heute wollten wir die kindliche Seele nicht verletzen und versuchten ernst zu bleiben. Doch Walter, der hinter der Theke die Medikamente bereit legte, konnte es nicht verkneifen zu fragen: «Was hast du denn diesmal gekotzt? Die Polenta oder das Geschnetzelte? Oder ein paar einzelne Salatblätter?»
Kindliche Seele hin oder her. Fritz vergrub sich hinter der Zeitung. Ursi drehte sich um, sortierte auf Teufel komm raus Teekrüge und schob Putzkessel hin und her. Auch ich gab mir alle Mühe, Herr meiner selbst zu bleiben, indem ich mich intensiv den Patiencekarten widmete. Rote Sieben auf schwarze Acht, schwarze Sechs auf rote Sieben…
Tamara schaute Walter mit grossen Augen und verständnislosem Gesicht an. Wie konnte man nur so dumm fragen!
«Ich weiss es nüd, es isch ja tunggel gsi.»(8) Sie wandte sich wieder Fritz und mir zu und erklärte stolz: «Ich ha d Chotzete in d Schissi abe gläärt und ds Beggi am Brünneli putzt.» Und nach einer kurzen Denkpause: «Ich glaube, s isch s Fleisch gsi.»(9) Ohne unsere Reaktion abzuwarten, verliess sie den Saal.
Nachdem unser Gelächter verstummt war und wir die Tränen abge-wischt hatten, meinte Ursi: «Die nächtliche Kotzerei scheint ihr aber gut zu bekommen. Die sieht von Tag zu Tag blendender aus.»
Bei der späteren Ämtli-Inspektion warfen wir einen gespannten Blick in das Plastikbecken, welches Tamara sorgsam neben ihr Kopfkissen gestellt hatte. Das Becken war trocken. Ob immer noch oder schon wieder, liess sich nicht feststellen.
Tagsüber erkundigte sich Ursi bei einigen Mädchen, ob sie denn nichts von Tamaras nächtlichem Leiden mitbekommen hätten. Doch wieder hatte niemand etwas gesehen, gehört oder gerochen.
Am Freitagmorgen warteten wir vergebens darauf, dass Tamara an unseren Tisch trat und uns mitteilte, welche Bestandteile des Nachtessens vom Vorabend sie von sich gegeben hatte. Sie erschien erst kurz vor dem Morgenessen und setzte sich auf ihren Platz. Beim Frühstück verdrückte sie mit Heisshunger ein paar Brote und trank zwei Tassen Kakao. Ausserdem redete sie auf ihre Tischgenossinnen ein, plapperte links, plapperte rechts. Die anderen mussten ihr zuhören, ob sie wollten oder nicht. Offenbar hatte es in der Nacht keinen Zwischenfall gegeben. Wir fanden das zwar schade, denn Tamaras Eröffnungen, dass sie in der Nacht habe kotzen müssen und was sie im Einzelnen gekotzt habe, waren uns bereits nach zwei Tagen zu einer lieben Gewohnheit geworden.
Doch wie so oft trügt der Schein. Zwei Mädchen aus Tamaras Tischgruppe waren dran, das saubere Geschirr im Schrank zu versorgen. Dieses Ämtli war nicht sehr anstrengend, aber unbeliebt. Es dauerte nämlich immer längere Zeit, bis das Geschirr mit dem Lift von der Küche in den Saal zurückkam. Deshalb stand man noch im Saal herum und musste warten, während die andern längst ihre Schlafplätze in Ordnung gebracht hatten und in ihren Badeanzügen das Haus verliessen.
Die beiden Mädchen standen also vor der Lifttüre und tuschelten miteinander. Ich glaubte, zwischendurch den Namen Tamara zu hören.
«Was ist mit Tamara?», erkundigte ich mich.
«Sie hat sich in der Nacht erbrechen müssen», sagte eines der Mädchen.
Wir schauten uns vielsagend an. «Ach nein, habt ihr denn gesehen, wie sie sich übergeben hat?», erkundigte sich Fritz mit einem leisen Ton der Unsicherheit in der Stimme. Hatten wir Tamara Unrecht getan? Was, wenn sie sich wirklich erbrochen hatte? Vielleicht nicht gerade getrennt, wie sie uns weismachen wollte, aber immerhin. Es war ja durchaus denkbar, dass sie es jeweils rechtzeitig auf das WC geschafft oder sich das Becken vor den Mund gehalten hatte. Am Ende hatten wir sie doch noch in ihrer kindlichen Seele verletzt mit unseren einfältigen Sprüchen und dem blöden, unangebrachten, Gelächter.
«Nein, aber sie hat es uns beim Frühstück erzählt», erklärte eines der beiden Mädchen. Und das andere fügte hinzu:
«Ja, und Tamara hat ganz fest Bauchweh gehabt. Deshalb hat sie auch brechen müssen. Und jetzt hat sie immer noch Bauchweh. Sie ist ins Zimmer gegangen und hat sich hingelegt.»
Ursi machte sich sogleich auf, um nach der Patientin zu sehen. Tamara lag nicht auf dem Bett, sie sass. Anstatt sich den schmerzenden Bauch zu reiben, blätterte sie in einer Mädchen-Zeitschrift. Selbstverständlich wurde sie von Ursi sofort und unbarmherzig aus dem Zimmer gejagt und aufgefordert, mit den anderen ins Freie zu gehen.
Wir verbrachten den ganzen Morgen auf der Spielwiese. Während die einen Federball oder Fussball spielten, genossen die andern das Bad im kleinen Schwimmbecken, lasen, spielten mit Karten oder lagen einfach auf der faulen Haut. Tamara hatte ihr Bauchweh offenbar vergessen, denn sie planschte mit den anderen im Schwimmbecken, machte mit ihren Freundinnen eine Wasserschlacht, ging aus dem Ringkampf mit einem Jungen als Siegerin hervor, beteiligte sich an einem Federballturnier und diskutierte mit einer Gruppe Mädchen angeregt über einen der Stars in der Mädchenzeitschrift.
Als wir kurz vor dem Mittagessen zum Lagerhaus zurückkehrten, wollte es der Zufall, dass ich ein paar Meter hinter Tamara und ihren Kolleginnen den schmalen Weg zum Haus hinaufstieg. Da hörte ich, wie sie zu ihren Kolleginnen sagte, sie werde sich vor dem Mittagessen noch ein wenig hinlegen, sie habe Bauchweh.
Ich wusste, dass ihre Tischgruppe heute mit Auftischen an der Reihe war. Mir war klar, dass es die Arbeit war, die ihr Bauchschmerzen bereitete. Tamara würde totsicher zum Mittagessen wieder völlig schmerzfrei und gesund am Tisch sitzen und mit grossem Appetit ihr Mittagessen verdrücken. Ich ärgerte mich über die Simulantin und beschloss, ihr das Handwerk zu legen. Ich wusste auch schon wie.
An diesem Tag standen Hackbraten, Kartoffelstock und Salat auf der Speisekarte. Ein Menu, das den Kindern erfahrungsgemäss mundet. Als ich kurz vor dem Mittagessen den Saal betrat, sassen die meisten Kinder bereits an ihren Tischen und warteten hungrig auf das Surren des Aufzugs, das die Ankunft des Mittagessens ankündete. Wie ich vermutet hatte, sass Tamara ebenfalls am Tisch. Sie hatte gerade ihr erstes Glas Tee geleert und war dabei, sich ein zweites einzuschenken, als Walter die ersten Schüsseln aus dem Lift nahm und auf die Anrichte stellte.
Es gab in unseren Lagern zwei Anstandsregeln, die konsequent durchgesetzt wurden, egal, wer das Lager leitete. Erstens wird gewartet, bis alle Schüsseln auf dem Tisch stehen und erst dann beginnt man mit Schöpfen. Zweitens wird gewartet, bis alle geschöpft haben und erst dann beginnt man zu essen. Auf diese beiden Regeln baute meine Strategie zur Heilung Tamaras.
Ich musste dabei nur aufpassen, dass ich den richtigen Moment erwischte. Und der kam, als ich die letzte Schüssel auf Tamaras Tisch stellte und den Kindern einen guten Appetit wünschte. Tamara zog als erste die Schüssel mit dem Kartoffelstock zu sich heran und wollte sich gerade eine herzhafte Portion schöpfen. Da fuhr ich dazwischen und nahm ihr die Schüssel aus der Hand:
«Ou, ou, Tamara, ich glaube nicht, dass Kartoffelstock gut für ist deinen Magen. Denk doch daran, dass es dir heute Morgen Bauchweh hattest. Und die letzten Nächte? Hast du vergessen, dass du hast brechen müssen? Da müssen wir etwas dagegen tun. Ich habe dir heute ein Spezialmenü bestellt. Du musst dich noch einen Moment gedulden, Frau Thöny wird es in Kürze herunterschicken.»
Tamara schaute mich mit verständnisloser Mine an und liess den Löffel sinken. Sie konnte diesen Eingriff in ihre inneren Angelegenheiten nicht einordnen. Doch sie war schlau genug zu wissen, dass sie, um ihr Gesicht zu wahren, nicht laut protestieren durfte. Ich sah ihr an, dass sich sämtliche Rädchen in ihrem Gehirn auf Hochtouren drehten:
Etwas anderes? Vielleicht ist Kartoffelstock wirklich nicht gut, wenn man kotzen muss. Was hat er mir wohl bestellt? Pommes? Hm, das wäre nicht schlecht. Aber die passen doch nicht zum Hackbraten. Reis! Nur keinen Reis! Bääh! Das wäre fürchterlich. Aber Polenta. Polenta und Hackbraten. Das würde mir schmecken. Egal, mal schauen, was da kommt.
Plötzlich fing ihr die Sache an Spass zu machen. Einmal mehr stand sie im Brennpunkt des Geschehens und ihre Miene hellte sich auf beim Gedanken, dass sie etwas anderes bekommen würde als ihre Kolleginnen. Dafür war sie sogar bereit, auf den Kartoffelstock zu verzichten. Da war ja noch der Hackbraten. Und ob man den zusammen mit Kartoffelstock oder etwas anderem ass, spielte eigentlich keine Rolle, oder?
Während sie noch am Überlegen war, schöpften sich die andern Kinder ihre Portion Kartoffelstock und machten sich dann über die Schüssel mit dem Hackbraten her. Als letzte griff Tamara zur Gabel und wollte sich ein Stück Hackbraten auf den Teller laden. Das war der Zeitpunkt für mein zweites Eingreifen:
«Ou, ou, Tamara, Hackbraten ist Gift für dein empfindliches Mäglein. Davon würdest du noch viel mehr Bauchweh bekommen und müsstest womöglich wieder erbrechen. Aber schau, hier ist dein Mittagessen.»
Dabei stellte ich ihr einen Teller vor sie hin. Er enthielt eine Schleimsuppe, die ich boshafterweise vor dem Mittagessen in der Küche bestellt hatte.
«Schau mal, Frau Thöny hat extra für dich dieses Schleimsüppchen gekocht. Für deinen Magen gibt es nichts Besseres. Und damit es schneller wirkt, hat Frau Thöny kein Salz und kein Aromat hinein getan. Hier hast du einen Löffel. Guten Appetit, ich wünsche dir, dass du ganz schnell wieder gesund wirst..»
Auf Tamaras Gesicht stand blankes Entsetzen! Sie verstand die Welt nicht mehr und starrte nur noch auf die unappetitliche Schleimpampe. Einige der Kinder begannen zu kichern. Schadenfreude machte sich breit. Kein Wunder. Tamaras Beliebtheit bei den anderen hielt sich in Grenzen. Bei jeder Gelegenheit drängte sie sich in den Vordergrund, nahm auf niemanden Rücksicht und verstand es meisterhaft, jeglicher Form von Arbeit aus dem Weg zu gehen. Deshalb gönnten ihr die Tischgenossinnen das Schleimsüppchen von ganzem Herzen.
Hackbraten, Kartoffelstock und Salat. Welch für ein Festschmaus! Die Kinder langten tüchtig zu. Die meisten schöpften sich noch eine zweite Portion. Und Tamara? Zuerst fuhr sie mit der Löffelspitze in der Schleimsuppe umher. Dazu machte sie ein säuerliches Gesicht. Am meisten schien sie zu ärgern, dass die andern grinsten und ihr nicht das erwartete Mitleid entgegen brachten, auf das sie Anrecht zu haben glaubte. Schliesslich blieb ihr nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und begann mit feuchten Augen, die schon fast kalte Suppe zu löffeln. Sie verzog ihr Gesicht, rümpfte ihre Nase und ich befürchtete schon, sie würde sich richtig übergeben. Zögerlich verschwand die schleimige Masse, Löffel um Löffel, in ihrem Mund. Als sie fertig war, schob sie den leeren Teller mit einem tiefen Seufzer von sich. Man konnte ihr die Erleichterung förmlich ansehen, dass sie die eklige Schleimsuppe endlich vertilgt hatte.
Fritz erhob sich und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Theke beim Aufzug. Die Kinder wussten, wenn Herr Kistler aufsteht und sich gegen die Theke lehnt, will er etwas sagen und möchte, dass alle zuhören. Der Lärm ebbte ab und Fritz erhob seine Stimme:
«Heute gibt es noch einen Dessert. Die Eltern von René haben einen feinen Schokoladenkuchen spendiert. Ich finde, das ist ein Applaus wert.»
Nachdem das Geklatsche, Gejohle und Gepfeife geendet hatte, schickte die Küche die Teller mit den Kuchenstücken in den Saal und wir stellten sie auf die Theke.
Fritz liess die Kinder tischweise nach vorne kommen, damit sie sich ihr Stück Kuchen holen konnten. Ich hatte gerade das Servierbrett mit den letzten Desserttellern aus dem Lift genommen, als Tamara mit ihren Tischgenossinnen zur Theke kam. Natürlich stand sie zuvorderst in der Reihe.
Ich wartete, bis sie einen Teller vom Brett genommen hatte und wieder an ihren Platz zurückkehren wollte. Da trat ich zu ihr hin, nahm ihr den Teller aus der Hand und sagte:
«Oje, Tamara, ich glaube nicht, dass Kuchen gut für dich. Du weisst, dein Magen…»
Ich stellte den Teller auf die Theke.
«Schau, ich stelle deinen Kuchen hier auf die Theke. Wenn es dir bis zum Abend besser geht, darfst du ihn dann essen, in Ordnung?»
Nichts war in Ordnung. Ich werde ihr Gesicht nie mehr vergessen, als sie mit leeren Händen zum Tisch zurückkehrte, sich wie ein Häufchen Elend auf den Stuhl fallen liess und zuschauen musste, wie die andern rund herum genüsslich den Kuchen vertilgten. Ich glaube, in diesem Augenblick war Tamara wirklich krank. Und wenn die Blicke, die sie auf mich abschoss, tödliche Pfeile gewesen wären, bei Gott, ich wäre heute eine Leiche.
Einen grossen Teil des Nachmittags verbrachten die Kinder im Saal, weil wir trotz des schönen Wetters T-Shirts bemalen wollten. Dazu benötigt man Tische und die standen nun mal im Saal. Pech für Tamara. Trotz des Lärms glaubte ich, ihren Magen knurren zu hören, wenn sie sich von Zeit zu Zeit wehmütig und wie per Zufall in die Nähe der Theke schlich und auf den Teller mit ihrem Stück Kuchen schielte.
Je näher der Abend rückte, desto besser wurde Tamaras Laune. Beim Nachtessen langte sie tüchtig zu. Kein Wunder, eine Schleimsuppe soll ja die Magen- und Darmwände beruhigen und nicht satt machen. Deshalb genoss Tamara mit vollen Backen und strahlendem Gesicht ihr Nachtessen. Während des Essens schaute sie immer wieder nach dem Kuchen auf der Theke. Vermutlich befürchtete sie, jemand könnte sich daran vergreifen.
Als sie den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte, stand sie auf und trat an unseren Tisch. Wir wussten natürlich genau, was jetzt kam. Der letzte Akt des Dramas konnte beginnen.
«Herr Bolliger», säuselte sie, «mir gahts ganz guet und es isch mer nümme schlächt…»(10)
«Soso, das freut mich natürlich. Siehst du, die Schleimsuppe hat gewirkt. Jetzt hoffe ich nur, dass du in der Nacht gut schlafen kannst. Aber falls du in der Nacht noch einmal erbrechen musst, werden wir Frau Thöny bitten, dir morgen zum Mittagessen noch einmal ein Schleimsüppchen zu kochen. Das wird dir dann ganz sicher helfen.»
Mit offenem Mund und grossen Augen stand sie da und ihr Gehirn versuchte zu verarbeiten, was sie gerade gehört hatte. Noch einmal eine Schleimsuppe? Um Himmels Willen! Nur das nicht!
«Nänäi, ich ha kä Buuchweh mih»(11), beeilte sie sich zu sagen, indem sie auf den Kuchen starrte.
«Na, dann ist ja alles in Ordnung. Du kannst dich wieder setzten.»
Sie zögerte. «Aber…»
«Was ist denn noch, Tamara?», fragte ich scheinheilig.
«Dr Chueche…»(12)
«Ach ja», tat ich ganz erstaunt, «natüüürlich, dein Kuchen! Tz, tz, den hätte ich jetzt beinahe vergessen. Aber vielleicht wäre besser, noch bis morgen zu warten. Wenn es dir in der Nacht wieder schlecht werden sollte…»
Weiter kam ich nicht. Wieselschnell schnappte sie sich den Teller, eilte an ihrem Tisch vorbei und setzte sich auf die Treppenstufen bei der Saaltür. So schnell hatte ich noch nie ein menschliches Wesen ein Stück Kuchen verdrücken sehen. Als sie den Kuchen auf sicher in ihrem bemerkenswerten Magen hatte, leckte sie mit Hingabe die Finger und den Teller ab. Als kein Krümelchen mehr zu sehen war, stiess sie einen zufriedenen Seufzer aus und stellte den Teller auf die Theke. Dabei murmelte sie:
«Nei, mir isch nümme schlächt und ich mos nümme chotze! Villicht…»(13)
Von diesem Tag an war Tamara geheilt. Ihr bemerkenswerter Magen regte sich bis zum Ende des Lagers nicht mehr. Dafür entwickelte sie mit ungeahnter Kreativität jede Menge Strategien, um möglichst unauffällig allem aus dem Weg zu gehen, das irgendwie nach Arbeit roch. Doch das ist eine andere Geschichte, die allein schon ein ganzes Buch füllen würde. Also lassen wir das und wenden uns lieber dem kleinen Röbeli zu.
Paulis kleiner Bruder heisst Röbeli. Damals war er sieben Jahre alt und besuchte die erste Klasse. In Sachen origineller Ideen stand er seinem grossen Bruder in nichts nach. Kenner der Familie behaupteten sogar, dass der kleine Röbeli noch viel schlimmer sei als sein Bruder Pauli.
Aus irgendeinem Grund hatte ich bei Röbeli einen Stein im Brett. Jedes Mal, wenn er mir im Korridor des Schulhauses oder in der Pause über den Weg lief, grüsste er mich und begann zu erzählen, was er auf dem Herzen hatte.
Röbeli war ein schlankes Bürschchen mit schmalem Gesicht, leicht vorstehenden Oberzähnchen, braunen Locken und zwei Kulleraugen, welche von dicken Brillengläsern noch vergrössert wurden.
Eigentlich hätte Röbeli diese Brille den ganzen Tag über tragen müssen. Anfangs sogar mit einem abgedeckten Glas, um seinen leichten Silberblick zu korrigieren. Doch der Kleine nahm es mit dem Brillentragen nie so genau. Als er mir im Treppenhaus wieder einmal ohne seine Brille begegnete, fragte ich ihn:
«He, Röbi, wo hast du dein Lueg-Ysä?» (14) Ich war gespannt, wie Röbeli auf das umgangssprachliche Synonym für Brille reagierte. Er musterte mich mit fragenden Augen und erkundigte sich neugierig:
«Was ist denn das, ein Lueg-Ysä?»
Ich klärte ihn auf. Da begann er zu strahlen und meinte kichernd:
«So ein lustiges Wort habe ich noch nie gehört.»
«Also, wo ist sie nun, deine Brille?», fragte ich noch einmal.
«Verloren.»
«Verloren? Du hast deine Brille verloren? Das ist aber gar nicht gut. Wo hast du sie denn zuletzt gehabt?»
«Weiss nicht. Vielleicht zu Hause.»
«Und hast du sie denn auch ganz fest gesucht?»
«Ja, Mami hat mir geholfen, aber wir haben sie nicht gefunden. Jetzt muss ich gehen. Adieu, Herr Bolliger.» Er drehte sich um und verschwand im Schulzimmer.
Zwei Tage später betrat ich mit meinen Kollegen nach der Mittagspause das Schulhaus. Da hörte ich hinter mir Röbelis Stimme:
«Herr Bolliger, ich habe das Lueg-Ysä gefunden!»
Ich drehe mich um und wirklich, Röbeli stand da, die Brille auf der Nase.
«Und wo hast du das Lueg-Ysä gefunden?»
«Zuunterst in der Legokiste», antwortete er.
Ich fragte ihn nicht, wie seine Brille dorthin gekommen war und wie er sie wieder gefunden hatte. Wahrscheinlich wusste er es selber nicht mehr.
Ein anderes Mal ereignete sich die folgende hübsche, kleine Geschichte mit Röbeli. Es war unmittelbar nach Beginn der Pause. Ich kam durch den langen Korridor in den vorderen Trakt des Schulhauses, wo die Zimmer der Unterstufe sind. Die Erst- und Zweitklässler sassen lachend und schwatzend auf den Bänklein, zogen ihre Schuhe an und machten sich für die Pause oder für den Heimweg bereit.
«Grüezi, Herr Bolliger», rief mir Röbeli zu, als er mich kommen sah. Ohne meine Antwort abzuwarten, drehte er mir den Rücken zu und widmete sich wieder dem Geplauder mit seinen Kollegen. Ich liess das kindliche Durcheinander hinter mir und betrat das Lehrerzimmer.
«Hast du an meine Platten gedacht?», empfing mich eine Kollegin, der ich am Morgen versprochen hatte, einen Bund Sperrholzplatten aus dem Materialmagazin zu holen. Ich bekleidete das Amt des Materialverwalters in unserem Schulhaus und es gehörte zu meinen Pflichten, die Kolleginnen und Kollegen mit Schulmaterial zu versorgen.
Nein, an diese verflixten Platten hatte ich nicht mehr gedacht. Und weil die Kollegin das Sperrholz nach der Pause brauchte, machte ich mich auf, es zu holen. Dazu musste ich noch einmal zurück ins Schulzimmer, wo mein Schlüsselbund auf dem Pult lag.
Röbeli war gerade damit beschäftigt, seine Schuhe zu binden, als ich das Lehrerzimmer verliess und im Korridor verschwand. Das tat er mit einer solchen Hingabe, dass er mich gar nicht bemerkte. Ich holte also den Schlüsselbund aus dem Schulzimmer und kam zum zweiten Mal durch den Korridor in den vorderen Trakt. Röbeli sass auf dem Bänklein, als er mich zum zweiten Mal aus dem Korridor kommen sah. Durch seine Brillengläser starrte er mich mit seinem Silberblick an, wie wenn ich von einem andern Planeten käme. Dann erhob er sich, stellte sich vor mich hin und fragte mit erstaunter Stimme:
«Herr Bolliger, säged Si mal, chänd Si zauberä? Jetzt sind Si doch grad is Lehrerzimmer inä gangä und jetzt», dabei zeigte er mit dem Daumen in den Korridor, «chänd Si wieder vu da hinde fürä…»(15)
Jaja, für ein Kind mit der Fantasie eines Röbeli verfügt manchmal auch ein ganz gewöhnlicher Lehrer über magische Fähigkeiten.
Die folgenden zwei Geschichten habe ich nicht selber erlebt. Die erste erzählte mir meine Kollegin Bärbi Müller, welche im gleichen Quartier wohnte wie Röbeli. Die zweite Geschichte hat sich in einem unserer Sommerlager im Bündnerland ereignet und zeigt, dass Röbeli nicht nur fantasiebegabt, sondern auch äusserst schlagfertig war.
Müllers hatten auf der anderen Strassenseite ein grösseres Haus gekauft und standen kurz vor dem Umzug. Wieder einmal eine Gelegenheit, allerhand Gerümpel fortzuwerfen, der sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Im Garten stand deshalb eine Mulde, die schon ziemlich voll war. Bärbi war gerade dabei, altes Spielzeug ihrer Kinder in die Mulde zu werfen, als Röbeli vom Kindergarten kam. Er blieb am Zaun stehen und schaute durch die Drahtmaschen hindurch interessiert zu, wie eine Kostbarkeit nach der anderen in der Mulde verschwand. Nach einer Weile hielt er es nicht mehr aus und fragte Bärbi, ob er ein paar dieser Spielsachen haben dürfe.
«Selbstverständlich darfst du», antwortete ihm Bärbi. «Du kannst dir aussuchen und mitnehmen, was du willst.»
Eilends betrat Röbeli den Garten, kletterte flink wie ein Äffchen in die Mulde und begann, die alten Spielsachen einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Er drehte jedes Stück in den Händen hin und her, begutachtete es von oben, von unten, von allen Seiten, prüfte kritisch dessen Funktionstüchtigkeit und warf es aus der Mulde auf den Rasen, wenn er es für röbelitauglich hielt. Wie immer in solchen Augenblicken vergass er die Welt um sich herum und hatte nur noch Augen für die Herrlichkeiten in der Mulde. Deshalb merkte er auch nicht, dass ihn Bärbis Mann Mic bei seinem Tun beobachtete. Mic war gerade dabei, im Büro aufzuräumen, als Röbeli in der Mulde am Fuhrwerken war. Mic, immer für ein Spässchen zu haben, öffnete das Bürofenster und rief hinaus:
«He, Röbeli! Da drin hat es noch Goldstücke. Die liegen aber ganz zuunterst!»
Röbeli schaute fragend über den Muldenrand hinweg zu Mic hinüber. Mic nickte und deutete mit dem Zeigefinger nach unten.
Als er etwas später wieder durch das Fenster schaute, war von Röbeli nichts mehr zu sehen. Doch plötzlich flog eine Kartonschachtel im hohen Bogen aus der Mulde. Bald darauf folgte ein alter Lampenschirm, dann ein Gummistiefel. Und so ging es weiter. Es dauerte nicht lange und fast der ganze Inhalt der Mulde lag auf dem Rasen verstreut.
Ganz unten auf dem Boden der Mulde kroch Röbeli im restlichen Gerümpel umher und suchte verzweifelt nach den Goldstücken. Wenn ihm ein Gegenstand im Weg war, schmiss er ihn kurzerhand über Bord. Doch, wie sehr er auch suchte, Goldstücke fand er keine. Sichtlich enttäuscht kletterte er aus der Mulde.
«Da sind ja gar keine Goldstücke!», schimpfte er, sammelte seine Spielzeuge ein und machte sich davon.
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis Mic und Bärbi die verstreuten Gegenstände aufgelesen und wieder in der Mulde versenkt hatten. Doch beide waren sich einig: für diesen Spass hätten sie sogar zwei Stunden lang aufgeräumt.
Eigentlich gehören Wanderungen nicht unbedingt zu den beliebtesten Aktivitäten eines Sommerlagers, auch wenn sich sowohl Wandermuffel als auch Wanderfreak, nach der Rückkehr am späten Nachmittag, einig sind: das war die schönste Wanderung aller Zeiten.
Die Aussicht, einen ganzen Tag auf irgend welchen steinigen Pfaden bergauf zu tappen, nicht machen können, was man will, den Stechmücken in der Luft und den Kühen auf der Weide auszuweichen, von Rucksack-Food zu leben, dies alles lässt bei einigen der Kinder nicht gerade Hochstimmung aufkommen.
Kommt noch dazu, dass man früher als sonst aus den Federn muss. Für ein gemütliches Frühstück fehlt die Zeit, weil die Leiter es für angebracht halten, die Kühle des Morgens für die ersten Wanderstunden zu nutzen.
Rucksack packen, Tee abfüllen, Sonnencreme einreiben, Sonnenbrille und Hut suchen, Stress pur! Und kaum sind die ersten 200 Meter zurückgelegt, kommt Frage Nummer 1 aus dem Wander-Fragenkistchen: «Wie weit müssen wir noch latschen?»
Grundsätzlich gehören Wanderungen für uns Lehrpersonen zu den Highlights eines Lagers: die herrliche Bergwelt, das Schreiten durch Gottes wunderbare Natur, die Rast am kühlen Bergsee, der Abstieg zum Lagerhaus, die Vorfreude auf eine erfrischende Dusche und auf das bevorstehende Nachtessen. Und ausserdem, so meint Fritz, müsse man für die Wandertage kein Lagerprogramm vorbereiten.
Aber auch unter Lehrpersonen und Lagerleiter gibt es ein paar wenige Individuen, denen Wanderungen nicht unbedingt nur eitel Freude bereiten. Ich gestehe zähneknirschend, dieser Spezies anzugehören. Wanderungen sind für mich eine Plackerei. Bei grösseren Steigungen beginnt mein Puls zu rasen. Ich bekomme Atemnot und der Schweiss fliesst hektoliterweise aus allen Poren. Geht es dann wieder bergab, so rebellieren meine Kniegelenke. Doch damit noch nicht genug. Oft rächt sich der Wadenmuskel mitten in der Nacht im schönsten Schlaf mit einem ausgewachsenen Krampf für die Strapazen des Tages. Mit einem Schrei fahre ich dann an die hölzerne Decke des Zimmers und verbringe die restlichen Stunden der Nacht mit Massieren der gepeinigten Wade.
Das sind die körperlichen Strapazen einer Wanderung. Es gibt aber noch andere, viel schlimmere, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Ich meine die seelischen Strapazen, verursacht durch Kinder, welche meine Hilflosigkeit schamlos ausnutzen. Sie laufen leichtfüssig neben mir her und erzählen mir ihre ganze Lebensgeschichte, angefangen bei der Geburt bis zum heutigen Tag.
Und wenn der kleine Plagegeist findet, er habe jetzt genug erzählt und sich nach vorne zu seinen Kollegen verabschiedet, schliesst mit todbringender Sicherheit von hinten ein anderer zu mir auf und es geht munter weiter: «Herr Bolliger, …».
Ich staune immer wieder über die Fähigkeit von Elf-, Zwölfjährigen, ohne sichtbare Anstrengung den Berg hinaufzufliegen und gleichzeitig pausenlos von Mutter, Vater, Tante, Cousine, Oma, Opa, Hund, Katze, Goldfisch und Hamster zu erzählen, während ich den steilen Weg hinauf keuche und zwischen zwei Herzattacken höchstens mal ein mageres «Aha!», «Toll!» oder «Was du nicht sagst!» hervorbringe.
Und oben auf dem Berg? Wenn zu Herzattacken und Luftmangel noch der Sonnenbrand kommt, weil ich mir unterwegs die Sonnencreme vom Leib geschwitzt habe? Wenn ich kaum die Kraft habe, die Feldflasche zu öffnen, um der unmittelbar bevorstehenden Dehydrierung mit einem Schluck lauwarmem Tee entgegenzuwirken? Wenn ich nur dasitzen, mit vom Schweiss brennenden Augen die wunderschöne Bergwelt betrachten möchte und einfach nur meine Ruhe haben will?
«Herr Bolliger, ich setze mich zu Ihnen. Mit Ihnen kann man so gut plaudern…»
Es war wiederum in einem unserer Sommerlager, Ende der Neunziger-jahre. Röbeli war damals in der vierten Klasse. Kurt und Walter leiteten das Lager und wieder einmal stand die grosse Wanderung auf dem Programm.
Während der ersten zwei, drei Kilometer war der Weg eher flach. Dann begann der steile Anstieg, hinauf zum Bergseelein, wo man rasten und sich aus dem Rucksack verpflegen wollte. Die ganze Wandertruppe schlängelte sich, geführt von Kurt, auf dem schmalen Zickzackweg den Berg hinauf und genoss die schöne Bergwelt des Prättigaus. Plötzlich tauchten Röbeli und zwei seiner Freunde bei Kurt an der Spitze auf.
«Herr Meyer, wir müssen mal.»
«Das ist doch kein Problem», meinte Kurt, «ihr rennt voraus zur nächsten Kurve. Dort könnt ihr pinkeln. Und bis ihr fertig seid, haben wir euch wieder eingeholt.»
Die drei Burschen zischten ab. Kurze Zeit darauf standen sie einträchtig nebeneinander, ein paar Schritte vom Weg entfernt, auf einem Felsband. Sie hatten dem nachfolgenden Wandertross den Rücken zugekehrt und pinkelten im hohen Bogen über die Felskante, hinaus in Gottes freie Natur.
Das Timing stimmte. Gerade als das Hauptfeld die Wegbiegung erreichte, waren die drei fertig und reihten sich wieder in die Kolonne ein. Kurt drehte sich zu den drei Pinklern um und fragte sie mit einem schelmischem Grinsen auf dem Gesicht:
«Habt ihr den Mann dort unten hinter dem Felsen nicht bemerkt, der euch beim Pinkeln fotografiert hat?»
Während Röbelis Kollegen zutiefst erschraken und vor lauter Peinlichkeit rot anliefen, zuckte dieser mit keiner Wimper und antwortete wie aus der Pistole geschossen:
«Momol, aber dem hani gad uf d Linse gschiffet…»(16)
Während der Wandertross um den nächsten Felsen verschwand, trat ein Mann hinter einem Baum hervor. Mit einem Lappen putzte er fluchend und schimpfend die Linse seiner teuren Spiegelreflexkamera. Aber nein, das bilde ich mir nur ein…
Ismet und Kemal Ergün waren Halbbrüder, zwei Buben, die unter-schiedlicher nicht hätten sein können. Während Kemal der gradlinige und ehrliche der beiden war, zeichnete sich Ismet durch ein eher hinterhältiges Naturell aus. Er verstand es meisterlich, unter seinen Mitschülern Zwietracht zu säen. Wo er auftauchte, flogen in kürzester Zeit die Fetzen. Und zwar immer ohne seine direkte Beteiligung. Er stand scheinbar unbeteiligt daneben und sah zu, wenn zwei Kameraden aufeinander eindroschen, die vor fünf Minuten noch friedlich miteinander geplaudert hatten. Wenn ich dann eingriff, die beiden Streithähne trennte und versuchte, die Umstände des Streites zu ergründen, stand Ismet als Zeuge in den Startlöchern. Mit scheinheiliger Miene schilderte er das Geschehen auf eine Art und Weise, welche ein noch schlechteres Licht auf die beiden Streithähne warf. So, als wollte er sagen: Tz, tz, ich habe schon immer gewusst, dass die beiden einen gewalttätigen Charakter haben…
Ismet und Kemal stammten aus der Türkei. Während Ismet bei mir die Schulbank drückte, studierte Kemal bei Kurt in der Parallelklasse. Die beiden entstammten einer Grossfamilie mit – vorsichtig ausgedrückt – etwas speziellen Verhältnissen. Die Männer waren kreuz und quer miteinander verwandt. Niemand wusste genau, ob die Brüder den gleichen Vater und unterschiedliche Mütter hatten oder umgekehrt. Wie kompliziert die Familienverhältnisse waren, zeigt anschaulich die folgende Geschichte:
In der fünften Klasse besprachen wir die Verwandtschaftsverhältnisse. Dabei stand im Mittelpunkt, welche Beziehung die Kinder zu ihren Verwandten hatten. Ich notierte die Sätze an die Wandtafel und die Kinder schreiben sie in ihre Sprachhefte ab.
a. Der Bruder meiner Mutter ist mein Onkel.
b. Der Sohn vom Bruder meines Vaters ist mein Cousin.
c. Die Mutter meines Onkels ist meine Grossmutter.
Dann erteilte ich den Kindern die Aufgabe, einen Stammbaum ihrer nächsten Verwandten zu erstellen. Auf dem Stammbaum sollten die Kinder selber, ihre Eltern und Geschwister, die Grosseltern und die Onkel und Tanten aufgeführt sein. Auf Cousins und Cousinen wollten wir verzichten, da der Stammbaum sonst zu kompliziert geworden wäre.
Die Kinder sollten ihre Verwandten mit Namen und richtiger Bezeichnung auf ein liniertes Blatt schreiben, die Streifen ausschneiden und auf einem grossen Zeichenblatt so anordnen, dass immer eine Generation auf der gleichen Linie lag. Wenn alles stimmte, durften die sie die Papierschnipsel aufkleben und besassen dann einen veritablen Stammbaum ihrer Familie.
Die Kinder arbeiteten mit Feuereifer an ihrer Verwandtschaft. Nach einer halben Stunde, als die ersten schon anfingen, ihre Verwandten auf das Papier zu kleben, war Ismet immer damit beschäftigt, die Schnipsel mit seinen Familienmitgliedern auszuschneiden. Es war mir durchaus bewusst, dass seine verwandtschaftlichen Verhältnisse etwas komplizierter waren als die seiner Mitschüler. Aber als ich durch die Reihen ging und an seinen Tisch trat, glaubte ich zu träumen. Der ganze Tisch war mit Papierschnipseln übersät, auf denen irgendwelche fremdklingende Namen standen. Ismet schaute kurz auf und verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Dann widmete er sich wieder der Schere und seiner Verwandtschaft.
Als ich die ersten fertigen Stammbäume an die Wand hängte, hatte Ismet gerade seine letzten Verwandten ausgeschnitten und begann, seine umfangreiche Familie zu ordnen. Das schien aber gar nicht so einfach zu sein, denn Ismet sass mit hochrotem Kopf hinter seinem Blatt und schob Schnipsel hin und her und wieder zurück, nahm da einen weg und ersetzte ihn durch einen andern, wusste dann aber nicht, wohin der erste gehörte. Während er arbeitete, bewegten sich unentwegt seine Lippen. Es war, als führe er ein Gespräch. Mit sich selber? Oder mit den Papierschnipseln auf dem Tisch? Oder mit den unzähligen Verwandten, deren Namen auf den Schnipseln standen? Ich wusste es nicht.
Nach weiteren zehn Minuten waren alle Stammbäume fertig geworden und hingen an der Wand. Die Arbeit war eigentlich abgeschlossen. Nur Ismet brütete immer noch über seiner Verwandtschaft.
In der nächsten Lektion stand eine Übungseinheit mit schriftlichen Rechnungen auf dem Programm. Natürlich konnte ich nicht die ganze Klasse warten lassen, bis Ismet seine komplizierten Familienbeziehungen entflochten und auf das Papier geklebt hatte. Deshalb gewährte ich ihm Fristverlängerung. Erstens war es eine Seltenheit, Ismet so intensiv arbeiten zu sehen und zweitens war er sehr gut im Rechnen.
«Du kannst noch weiter an deinem Stammbaum arbeiten. Aber beeil dich, es wäre gut, wenn du heute noch fertig würdest», ermahnte ich ihn. Er nickte nur. Ich wandte mich der übrigen Klasse zu und erklärte den Kindern die schriftlichen Rechnungen. Bald darauf war es still im Schulzimmer und man hörte nur die Geräusche, die entstehen, wenn zwanzig Fünftklässler schriftliche Rechnungen lösen.
Ich sass an meinem Pult und war damit beschäftigt, eine Arbeit zu korrigieren. Nach einer Viertelstunde trat Ismet an mein Pult.
«Und?», erkundigte ich mich, «bist du fertig?»
«Nein, ich brauche ein zweites Blatt.»
«Was? Hast du einen Fehler gemacht?»
«Nein, ich habe keinen Platz mehr auf dem ersten Blatt.»
Bei allen andern hatte ein Blatt vollkommen genügt. Dass Ismet ein zweites brauchte, wunderte mich eigentlich nicht, angesichts der Menge von Papierschnipseln auf seinem Tisch. Ich gab ihm das gewünschte Blatt. Er wieselte an seinen Platz zurück und nahm die Arbeit an seiner Ahnen-forschung wieder auf.
Die Stunde war beinahe zu Ende, da kam Ismet mit stolz geschwellter Brust und zwei grossen Zeichenblättern, die er notdürftig mit zerknitterten Klebstreifen auf der Rückseite zusammengeklebt hatte, zu mir ans Pult und präsentierte mir seinen Stammbaum. Sofort begann er mir seine umfangreiche Verwandtschaft zu erklären:
«Also, das da ist mein Vater.» Er legte seinen Finger auf einen schief aufgeklebten Schnipsel.
«Und der da ist der Bruder meines Vaters», fuhr er fort, indem er auf einen weiteren Namen tippte. «Und hier, das ist meine Mutter. Und da, ein bisschen weiter oben ist die zweite Frau meines Onkels. Dieser Onkel lebt in der Türkei. Das da ist Kemals Mutter und hier ist der Bruder von Kemals Mutter. Der ist aber auch mit meinem Vater verwandt, weil er sein Cousin ist…»
So ging es weiter. Ismet hatte es trotz zweier Blätter nicht geschafft, alle Vertreterinnen und Vertreter derselben Generation auf einer Reihe anzuordnen und hatte sie deshalb in richtigen Clustern ober- und unterhalb der Linie auf das Blatt geklebt. Während er dozierte, nickte ich gelegentlich und gab mir alle Mühe, ernst zu bleiben.
Nach etwa zehn Minuten beendete er seine Ausführungen. Ich konnte nicht anders, ich musste ihm Bewunderung zollen. Licht in diesen Dschungel von Onkel, Tanten, Mütter, Väter, Halb- und Ganzgeschwister zu bringen, war schon eine meisterliche Leistung. Insgeheim dankte ich dem lieben Gott, dass ich in einer Familie mit nur fünf Geschwistern aufwachsen durfte, was das Erstellen eines Stammbaumes erheblich erleichtert, sollte ich in naher oder ferner Zukunft auf die Idee kommen, einen solchen zu erstellen.
Kemal, Ismets Halbbruder, lebt heute mit seiner eigenen, überschau-baren Familie immer noch im Dorf. Von Zeit zu Zeit treffe ich ihn im Einkaufszentrum. Da gibt es immer einen kurzen Schwatz. Wie es denn seinem Bruder Ismet gehe, wollte ich von ihm wissen, als ich ihm kürzlich wieder einmal begegnete.
«Ismet? Ach der…», antwortete er ausweichend. Ich spürte, dass es ihm unangenehm war, darüber zu reden. Daher unterliess ich weitere Fragen. Ich erfuhr später, dass Ismet wieder in der Türkei lebe und irgend welchen dubiosen Geschäften nachgehe.
Als Kind hatte Kemal immer loyal zu Ismet gehalten. Selbst dann, wenn er das, was sein Bruder gerade anstellte, nicht unbedingt billigte. Er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als Ismet zu verraten. So wie damals, als sich Ismet im Sportunterricht den Finger gebrochen hatte.
Der Unfall ereignete sich, während meines Dienstes im Zivilschutz. Als ich am Samstagmorgen wieder im Lehrerzimmer erschien, klärte mich meine Stellvertreterin auf, dass sich Ismet am Freitag im Sportunterricht einen Finger gebrochen habe. Sie habe ihn zum Arzt und dann nach Hause gebracht. Am Nachmittag sei er nicht in der Schule erschienen.
Als ich ins Schulzimmer trat, stellte ich fest, dass Ismet immer noch fehlte. Vielleicht war der Bruch komplizierter als man gedacht hatte. Ich rechnete aber damit, dass er am Montag wieder erscheinen und in der Klasse aufs Neue Zwietracht säen würde. Der Montag kam, Ismet nicht. Nicht weiter tragisch. Einen zusätzlichen Tag ohne Ismet bedeutete nicht das Ende der Welt.
Am Dienstag fehlte er noch immer und als er auch am Mittwoch nicht erschien, begann die Klasse langsam aufzublühen. Noch nie hatten wir eine so friedliche Atmosphäre im Schulzimmer. Und ich konnte weitgehend ohne Störung meine Lektionen halten. Am Ende der Woche waren sich alle einig, ohne dass es jemand aussprach: eine so geruhsame Woche hatten wir noch nie erlebt. Aber alles hat einmal ein Ende. Deshalb rechnete ich mit Ismets Erscheinen am Montag der kommenden Woche.
Doch auch am Montag blieb Ismet weg. Ich beschloss, noch einen Tag zuzuwarten und mich dann mal zu erkundigen, was los sei. Als am Dienstag der zweiten Woche immer noch kein Ismet erschien, nahm ich in der Pause Kemal beiseite.
«Was ist los mit deinem Bruder?», erkundigte ich mich, «er fehlt schon mehr als eine Woche.»
«Er hat noch Schmerzen, aber morgen kommt er wieder in die Schule», war Kemals ausweichende Antwort.
Er kam nicht und auch nicht am folgenden Tag. Und ebenso wenig an den restlichen Tagen der Woche. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich keineswegs unglücklich war, dass er nicht erschien. Denn nie war die Stimmung in der Klasse und im Schulzimmer so gut wie während Ismets Abwesenheit.
Die zweite Woche verging und die dritte begann. Am Montag war Ismets Platz immer noch leer. Am Dienstag und Mittwoch das gleiche Bild: ein leerer Ismet-Stuhl. Die Klasse begann langsam zu vergessen, wie Ismet aussah.
Am Samstag, als sich die Kinder von mir verabschiedeten, fragte mich eine Schülerin, was denn Ismet habe. Ich konnte ihr keine Antwort geben. Ich wusste es genau so wenig wie sie. Aber zum ersten Mal regte sich ein kleines Wütchen in meinem Innern. Alle diese Kinder kamen jeden Tag brav in die Schule und Ismet, dessen Knochen sicherlich schon längst wieder zusammengewachsen waren, genoss das „Dolce far niente“.
Am Montag war Ismets Platz leer. Am Nachmittag nach der Schule nahm ich mir Kemal noch einmal zur Brust:
«Du kannst deinem Bruder ausrichten, dass ich ihn morgen Dienstag hier in der Schule auf seinem Platz sehen will!»
«Ich sage es ihm», versprach Kemal und verschwand ziemlich plötzlich. Vermutlich wollte er keine unangenehmen Fragen mit Lügen beantworten. So endete der ismetfreie Montag der vierten Woche. Der Dienstag kam, Ismet nicht.
Langsam wuchs der Unmut in mir. Ich holte Kemal aus seinem Schulzimmer und fragte ihn, ob er seinem Bruder mein Ultimatum überbracht habe. Ich spürte, dass ihm die Situation unangenehm war. Ich klang wohl etwas ungehalten, denn er trat von einem Bein auf das andere und stotterte als er mir antwortete:
«Doch, doch, ich habe es ihm gesagt, aber er muss heute Morgen noch einmal zum Arzt und kommt erst am Nachmittag in die Schule.»
Am Nachmittag blieb Ismets Platz genau so leer wie am Morgen. Und es bot sich während des ganzen Nachmittags auch keine Gelegenheit, Kemal zu verhören. Und als ich ihn nach der Schule noch einmal ins Gebet nehmen wollte, hatte er sich bereits unsichtbar gemacht.
Am Mittwochmorgen machte das Gerücht die Runde, Ismet arbeite in irgend einer Fabrik im Dorf und verdiene dort 7 Fr. die Stunde. Da platzte mir der Kragen. Ich rief unseren Schulpräsidenten an und schilderte ihm die Situation.
Wir beschlossen, Ismets Vater einen eingeschriebenen Brief zu schicken, in dem wir ihm mitteilten, dass er mit Sanktionen rechnen müsse, wenn sein Sohn nicht spätestens am Freitag in der Schule erscheine. Ich setzte mich an die Schreibmaschine, schrieb den Brief, brachte ihn noch am gleichen Tag zur Post und liess ihn einschreiben.
Am Donnerstagnachmittag wurde ich mitten im Unterricht ans Telefon gerufen. Am anderen Ende heulte und jammerte es gleichzeitig.
«Bääähäää, ich komme am Freitag wieder in die Schule, bäääh. Aber bitte, bitte, nichts meinem Vater sagen, bitte, bitte, bitte, bääähäää!»
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, dass es Ismet war, der mir da ins Ohr plärrte. Eine Sache verstand ich allerdings nicht. Wieso sollte ich seinem Vater nichts sagen? Ich hatte ihm doch einen eingeschriebenen Brief geschickt. Deshalb fragte ich vorsichtig:
«Hat dein Vater den Brief gesehen, den ich ihm geschickt habe?»
«Nein, ich habe ihn aufgemacht, bääähääää, aber nichts Vater sagen, bitte, bähäääää!», heulte er ins Telefon.
«Wie um alles in der Welt kommst du dazu, einen Brief zu öffnen, der an deinen Vater gerichtet war?», fauchte ich in den Hörer. Ich war richtig ungehalten. «Sofort zeigst du diesen Brief deinem Vater. Und wehe, wenn du das nicht tust…!»
Am nächsten Morgen stand Ismet vor meinem Pult. Er sah aus wie ein geprügelter Hund und streckte mir ein zusammengefaltetes Stück Papier entgegen, das aus irgend einem Notizblock herausgerissen worden war. Ich faltete das Blatt auseinander. In krakeliger Schrift stand da eine Entschuldigung von Ismets Vater:
«Liebe Hanspeter du entschuldigug ich nicht weis das Ismet nicht in Schule. Ergün Ismet» Ergün Ismet – ach so, jetzt war mir plötzlich klar, wieso der Lümmel den Brief geöffnet hatte. Er hatte den gleichen Vornamen wie sein Vater. Als der Postbote den Brief überbrachte, war es Ismet Junior, der die Tür öffnete und den Brief entgegennahm. Er war ja auch der einzige, der zu Hause war. Und dem Pöstler war es letztendlich egal, ob die Unterschrift vom kleinen oder vom grossen Ismet stammte, Hauptsache er bekam sie.
Nachdem der Pöstler gegangen war, hatte sich Ismet die Adresse auf dem Umschlag genauer angeschaut. «Ismet Ergün», stand da. Wunderbar. Wer schickte ihm einen Brief – und erst noch einen eingeschriebenen? Dass der Brief an seinen Vater gerichtet sein könnte, auf diese Idee kam er gar nicht erst. Also öffnete er den Umschlag und las den Brief.
Schlagartig wurde ihm klar, dass mit «Ismet Ergün» nicht er, der kleine, sondern sein Vater, der grosse Ismet gemeint war und dass sich über dem kleinen Ismet Gewitterwolken zusammenziehen würden, wenn er weiterhin die Schule schwänzte. Und weiter wurde ihm auch klar, dass sich die Gewitterwolken zu einem Orkan ausweiteten, wenn der grosse Ismet den Brief in die Finger bekäme, in welchem zu lesen war, dass er, der kleine Ismet, schon seit längerer Zeit der Schule ferngeblieben war. Die Folge: eine Panikattacke und besagter Anruf im Schulhaus, verbunden mit der Bitte, seinem Vater nichts zu sagen.
Nach und nach kam dann ans Tageslicht, wie Ismet die lockersten Wochen seines Schülerlebens verbracht hatte. Nachdem ihm der Arzt seinen gebrochenen Finger gerichtet hatte, entliess er ihn mit der Weisung, am Samstag zu Hause zu bleiben und in der kommenden Woche nochmals vorbeizukommen. Ismet beschloss, diese paar Tage mit sinnvolleren Aktivitäten zu überbrücken, als mit einem unnützen Schulbesuch.
Jeden Morgen, kurz vor Schulbeginn, verliess er zusammen mit Kemal die Wohnung. Vor dem Haus trennten sich ihre Wege. Während sein Bruder schön brav in Richtung Schulhaus trabte, begab sich Ismet zum Bahnhof, bestieg dort den Zug nach Pfäffikon und lümmelte den ganzen Tag im Seedammcenter herum. Über den Mittag waren die beiden Brüder schon immer allein zu Hause gewesen. Deshalb war es auch kein Wunder, dass Ismets Abwesenheit unentdeckt blieb. Rechtzeitig zum Schichtende des grossen Ismets erschien dann der kleine Ismet, zusammen mit Kemal, in der elterlichen Wohnung und tat so, als käme er geradewegs von der Schule. Von den Eltern und anderen Verwandten, die in der Wohnung ein und aus gingen, bemerkte offenbar nie jemand etwas von Ismets Exkursionen. Und Kemal hielt dicht, obwohl er die Eskapaden seines Bruders eigentlich nicht billigte.
Stellt sich zum Schluss die Frage, wie er sich das Billet nach Pfäffikon und die Eskapaden ins Seedammcenter leisten konnte. Dieses Geheimnis soll die folgende Geschichte lüften.
Kinder sollen Taschengeld erhalten, fordern Pädagogen lauthals, damit sie lernten mit Geld umzugehen. Das stimmt natürlich, denn einem Grossteil unserer lieben Kleinen bleibt oft Ende Taschengeld noch ziemlich viel Monat. Aber es ist im Kleinen wie im Grossen. Wer über viel Bares verfügt, kann auch mehr davon ausgeben. Und wer wenig hat, dem bleibt oft nur der Neid. Ich freue mich immer über gut betuchte Zeitgenossen, die milde lächelnd auf ihre weniger begüterten Mitmenschen herunter blicken und sagen, Geld allein mache nicht glücklich und man müsse sich halt einschränken und den Gürtel enger schnallen.
Aber zurück zum Taschengeld. Da war zum Beispiel Marieli, das jüngste Töchterchen einer ehrbaren Bauernfamilie. Marieli hatte während der ganzen Kindheit nie einen roten Rappen Taschengeld erhalten. Es habe ja alles, was es brauche, hiess es. Später, in der Oberstufe, begann das Marieli, aus dem inzwischen eine währschafte Marie geworden war, wie eine Elster zu klauen.
Ismet brauchte nicht zu klauen. Im Gegensatz zu Marieli konnte er sich alles leisten, was sein Herz begehrte. So sehr er sich auch bemühte, er brachte es nicht fertig, Ende Taschengeld noch etwas Monat zu haben. Das erfuhren die Klasse und ich, als wir im Unterricht das Thema Taschengeld behandelten.
Ich fragte die Kinder, wie viel sie denn pro Monat bekämen. Im Gegensatz zu uns Erwachsenen haben Kinder kein Problem damit, ihre Einkünfte einer breiteren Öffentlichkeit preiszugeben.
«20 Franken» – «10 Franken» – «Ich bekomme 15 Franken und wenn ich der Mutter helfe, noch einen zusätzlichen Fünfliber Ende Monat», so tönte es durcheinander.
«Und du, Marieli? Was bekommst du?», fragte ich das Bauernkind. Die Antwort kam fast zu schnell: «Ich bekomme kein Taschengeld. Mein Vater sagt, ich habe alles, was ich brauche.»
Ein Raunen ging durch die Klasse. Einige schüttelten den Kopf. Marieli bekommt kein Taschengeld? Die meisten der Kinder konnten sich ein Leben ohne Taschengeld nicht vorstellen. Sie wussten: kein Taschengeld, kein Kaugummi, kein Eis in der Badi, kein Heftli am Kiosk. Marieli sass auf seinem Stühlchen und liess die Reaktionen der andern scheinbar ohne sichtbare Regung über sich ergehen.
Nachdem sich das Staunen gelegt hatte, fragte ich Ismet nach seinen monatlichen Einkünften.
«150 Franken», sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken.
Einen Moment lang blieb die Zeit stehen und es war mäuschenstill im Schulzimmer. Schliesslich ertönte aus den hinteren Rängen ein aus tiefstem Herzen kommendes «Wow…!».
150 Franken! Die meisten hatten nicht einmal eine annähernd exakte Vorstellung von dieser Riesensumme. Für sie waren 150 Franken einfach viel Geld, sehr viel Geld.
Ich glaubte zuerst, mich verhört zu haben. Deshalb hakte ich nach:
«Ismet, du bekommst 150 Franken? Im Jahr?»
«Im Monat.»
«Und dein Bruder? Was bekommt der?“
«Auch 150 Franken», grinste er.
Bis zu diesem Tag war noch nie jemandem aufgefallen, wie viel Geld die beiden Burschen pro Woche ausgaben. Doch jetzt, als alle wussten, über welche astronomische Summe Ismet und Kemal verfügten, sahen die Kinder im Geiste, wie ihre beiden Mitschüler ihr Vermögen verprassten, indem sie alle möglichen Läden leerkauften.
«Aber Ismet, wenn du Kleider oder Schuhe brauchst, musst du die aber selber bezahlen, nicht wahr?», erkundigte ich mich leicht irritiert bei meinem vermögenden Schüler.
«Nää, dann gehe ich zur Mutter», war die knappe Antwort. Hätte ich eigentlich wissen müssen.
Niemand konnte sich einen Reim daraus machen, wie es dem grossen Ismet möglich war, dem kleinen Ismet und seinem Halbbruder ein so fürstliches Taschengeld zu zahlen. Die finanziellen Verhältnisse der einfachen Arbeiterfamilie gingen natürlich niemanden etwas an. Aber vielleicht hatte der grosse Ismet seinen neuen Mercedes vor dem Wohnblock ja auch in einer Tombola gewonnen…
Es war im November. Wie jedes Jahr traf die braune Schachtel mit den Bastelbogen im Schulhaus ein. Diese Bastelbogen erfreuten sich grosser Beliebtheit bei den Schülern. Schloss Sargans, Schloss Chillon, Helikopter, Spanisch-Brötli-Bahn, Flugzeuge, Dörfli, Stadt, Strohsterne, Krippe, Weihnachtsfenster, Adventkalender und viele weitere Kostbarkeiten enthielt die braune Schachtel zur Ansicht. Zusammen mit einem gelben Bestellblatt für die Klassenbestellung und einem weissen für die Schulhausbestellung. Preis pro Bogen 1 Franken.
Die Schachtel lag im Lehrerzimmer auf dem Tisch und Corinne, die für den Ablauf der Bestellung im Schulhauses verantwortlich war, mahnte uns wie jedes Jahr, die Schachtel möglichst rasch dem Kollegen oder der Kollegin auf der weissen Liste weiterzugeben, denn es mache ja keinen Sinn, wenn der Adventkalender erst am 24. Dezember an die Wand gehängt werden könne. Wenn die Schachtel alle Klassen durchlaufen hatte, landete sie wieder bei meiner Kollegin. Die nahm den weissen Zettel mit den Klassenbestellungen und wollte ihn schon in den Umschlag – Porto wird vom Empfänger bezahlt – stecken, als ihr kritischer Blick auf die Bestellung 5. Klasse Bolliger fiel.
«Sag mal, stimmt das? Du hast 108 Bastelbogen bestellt? Ist da nicht ein Fehler passiert?», wollte sie wissen.
«Mitnichten, liebe Kollegin», gab ich ihr zur Antwort, «ich habe eben lauter Kinder in der Klasse, die fürs Leben gern basteln.»
Sie konnte meinem Witz nicht ganz folgen. Deshalb klärte ich sie über die wahren Gründe der ziemlich hohen Bestellung auf:
«Die meisten Kinder haben so zwei bis höchstens vier Bastelbogen bestellt. Aber da ist ja noch Ismet. Der richtet sich wohl auf lange Winterabende im trauten Familienkreis ein, an denen er am Tisch sitzt und bastelt. Er hat nämlich 64 Bastelbogen bestellt…»
Die Kollegin lachte laut auf, weil sie dachte, ich würde scherzen.
«Nein, ohne Witz! Es ist tatsächlich so. Ismet hat 64 Bastelbogen bestellt und nichts auf der Welt hätte ihn dazu bewegen können, auch nur auf einen zu verzichten.»
Erst als ich ihr das gelbe Bestellblatt mit der Klassenbestellung zeigte, glaubte sie mir. Ein paar Tage später legte mir Ismet mit stolz geschwellter Brust die 64 Franken auf den Tisch, nahm seine 64 Bogen unter den Arm und verschwand nach Hause.
Ein Jahr später, als die braune Schachtel wieder in unser Schulzimmer kam, fragte ich ihn:
«Ismet, möchtest du wieder 64 Bastelbogen kaufen?»
«Nein, diesmal kaufe ich keine.»
Brauchst du denn keinen Nachschub? Du hast doch letztes Jahr gewiss alle Modelle zusammengebaut», fügte ich ein wenig boshaft hinzu.
«Nää.»
«Wie viele hast du denn geschafft?»
«Drei habe ich fertig und einen habe ich angefangen.»
«Und die restlichen 60?», fragte ich weiter. «Die liegen immer noch unter dem Bett»
Grosser Gott! 60 Bastelbogen, die während eines ganzen Jahres unter dem Bett liegen. Das lässt nur zwei Schlüsse zu: entweder wurde während eines ganzen Jahres nie Staub gesaugt unter dem Bett oder Mama Ismet hat jeweils nach dem Staubwischen die Bastelbogen wieder unter das Bett geschossen. Wir werden es nie erfahren.
Nachtrag zu Ismet. Obwohl er mich manchmal zur Weissglut brachte und mich herausforderte, wo er nur konnte, erinnere ich mich mit Vergnügen an diesen Lümmel. Zurückblickend, und nachdem die Zeit nur die lustigen Episoden durch ihre wohltuenden Filter gelassen hat, muss ich sagen: wenn es Ismet nicht gegeben hätte, man hätte ihn erfinden müssen.
2. Teil
Das Hotel Schwert in unserem Dorf ist weit herum bekannt für seine vorzügliche Küche. Hotelier und Küchenchef Franz Heiniger bekommt regelmässig Auszeichnungen von einschlägigen Hotel- und Restaurationsführern.
Während Herr Heiniger eine Kapazität in der Küche war, kümmerte sich seine Frau mit viel Leidenschaft um die Gäste im Restaurant. So ergänzten sich die beiden auf ideale Weise und als Gast fühlte man sich wohl im Schwert.
Heinigers haben eine Tochter. Romana, heisst sie. Sie wuchs als Einzelkind mitten im Hotelbetrieb auf. Schon als kleines Mädchen half sie ihrer Mutter und dem Personal bei einfachen Arbeiten. Später durfte sie auch dann und wann im Restaurant hinter dem Buffet mithelfen.
Immer von Erwachsenen umgeben, das hinterlässt natürlich Spuren bei einem Kind. Romana wirkte manchmal etwas altklug und pflegte gerne die Tradition des letzten Wortes.
Sie war gerade Erstklässlerin geworden und drückte bei meiner Kollegin Rosmarie die Schulbank, als sich die hübsche Geschichte mit dem Telefon ereignete.
Rosmaries Schulzimmer befand sich unmittelbar neben dem Lehrerzimmer. Deshalb verstand es sich fast von selbst, dass es zu ihren Obliegenheiten gehörte, die Telefonanrufe entgegenzunehmen, welche während der Unterrichtszeit eingingen. Das Telefon stand in einem kleinen Raum des Lehrerzimmers, in welchem die Lehrerbibliothek, der Fotokopierer und anderes Material untergebracht waren. Die Glocke des Telefons war an die Schulhausglocke gekoppelt. So konnte man im ganzen Schulhaus hören, wenn das Telefon schellte.
Im ersten Quartal nahm Rosmarie die Anrufe jeweils selber entgegen. Ab zweitem Quartal setzte sie dazu immer öfter auch ihre Schülerinnen oder Schüler ein. Natürlich nicht, ohne sie vorher genau zu instruieren, wie man telefoniert:
Erstens Hörer abnehmen.
Zweitens höflich den Namen der Schule und den eigenen Namen sagen.
Drittens gut zuhören, was der Anrufer wünscht.
Viertens das dann der Lehrerin mitteilen.
Die ersten zwei, drei Male begleitete Rosmarie ihre kleinen Telefonistinnen oder Telefonisten ins Lehrerzimmer, um ihnen hilfreich zur Seite zu stehen, falls etwas schief laufen sollte. Für die Erstklässler war dieser Telefondienst eine grosse Herausforderung. Vermutlich klopften ihre kleinen Herzen bis zum Hals, wenn sie zum ersten Mal nach dem Hörer griffen. Mit der Zeit gewöhnten sie sich aber daran. Und schon bald musste die Lehrerin die Kleinen nicht mehr begleiten. Bis zu jenem Mittwochmorgen.
Meine Schülerinnen und Schüler schrieben gerade eine Klassenarbeit. Deshalb war es im Schulzimmer still genug, dass ich das Telefon läuten hörte. Erstaunlicherweise klingelte es kurz darauf ein zweites und ein paar Minuten später noch ein drittes Mal. Das war ungewöhnlich und machte mich stutzig.
In der Pause klärte mich Rosmarie auf. Als sich das Telefon zum ersten Mal meldete, schickte sie Romana ins Lehrerzimmer, um den Anruf entgegen zu nehmen. Kurz darauf kam das Mädchen wieder zurück ins Schulzimmer, setzte sich an seinen Platz, griff nach dem Buntstift und malte dort weiter, wo es vor dem Gang ins Lehrerzimmer aufgehört hatte.
Rosmarie wunderte sich und fragte Romana, wer denn am Telefon gewesen sei.
«Niemand», war die Antwort.
Es kam gelegentlich vor, dass sich jemand verwählte. Man kann ja auch aus Versehen mal die Nummer einer Schule erwischen. Soll alles schon vorgekommen sein. Rosmarie wollte den Unterricht wieder aufnehmen, da klingelte das Telefon erneut.
Romana legte den Stift auf das Blatt und machte sich zum zweiten Mal auf den Weg ins Lehrerzimmer. Dann wiederholte sich das Spiel. Sie kam zurück, setzte sich an ihren Platz und malte weiter an ihrer Zeichnung. Wer denn diesmal am Telefon gewesen sei, fragte Rosmarie mit leichtem Stirnrunzeln. Die Antwort war die gleiche wie beim ersten Mal:
«Niemand.»
Das kam Rosmarie dann doch etwas seltsam vor. Irgendetwas stimmte da nicht. Sie hakte noch einmal nach:
«Romana, hast du dich auch schön angemeldet?»
«Ja, habe ich.»
«War denn ein Mann oder eine Frau am Telefon?»
«Weiss nicht.»
«Du weisst nicht, ob es ein Mann oder eine Frau gewesen ist?»
«Nein.»
«Was hast du dann getan?»
«Ich habe den Hörer wieder aufgelegt.»
Noch während dieses Verhörs klingelte das Telefon zum dritten Mal. Romana erhob sich brav und verschwand zum dritten Mal in Richtung Lehrerzimmer. Rosmarie, von einem undefinierbaren Gefühl des Misstrauens beseelt, beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen und folgte Romana auf leisen Sohlen. Als sie die Tür zum Lehrerzimmer öffnete, verschwand Romana gerade im Arbeitsraum. Vorsichtig spähte Rosmarie um die Ecke und sah, wie Romana den Hörer ans Ohr drückte und in die Sprechmuschel piepste:
«Hotel Schwert, Romana Heiniger.»
Blitzartig stand Rosmarie hinter Romana, nahm ihr den Hörer aus der Hand und meldete sich beim Anrufer, bevor der zum dritten Mal ziemlich entnervt den Hörer auflegen konnte und klärte das Missverständnis auf.
Der Anrufer wird dem lieben Gott auf Knien gedankt haben, dass er doch noch nicht ganz so vertrottelt war, wie er befürchtet hatte, nachdem er dreimal die Nummer der Schule gewählt hatte und jedes Mal mit dem Hotel Schwert verbunden wurde…
Kürzlich traf ich vor dem Wiggispark zufällig auf Giorgio. «He, wie geht es dir?», rief er schon von weitem und kam mit erhobenen Armen auf mich zu gelaufen, als wollte er mir an sein Herz drücken. Das wäre allerdings nicht so bekömmlich gewesen, denn unter dem Stoff seiner Hemdsärmel erkannte man gewaltige Muskelpakete. Er liess es dann bei einem Händedruck bewenden. Doch auch dieser Händedruck hatte es in sich. Er verwandelte meine Hand in Brei und ich musste auf sämtliche Zähne beissen, um nicht das ganze Einkaufscenter zusammenzuschreien.
Giorgio strahlte wie ein stillgelegtes Atomkraftwerk. Sein breites Gesicht glänzte vor Freude. Und dann stellte er mir die Frage, die mir eigenartigerweise immer wieder von Ehemaligen gestellt wird, wenn wir uns irgendwo über den Weg laufen: «Bist du immer noch Lehrer in Netstal?»
Ich weiss nicht, weshalb diese Frage ständig wieder kommt. Vermutlich denken die jungen Leute beim Verlassen der Primarschule, dass sämtliche Lehrerinnen und Lehrer noch zwei, drei Tage leben und dann das Zeitliche segnen.
Daher eröffnete ich ihm, dass ich a. immer noch Lehrer in Netstal sei und b. keinen Grund habe, die Schule zu verlassen.
«Gäll, mir sind schu unütz Chäibä gsi»(17), brachte er die beiden Schuljahre, die er bei mir verbracht hatte, auf den Punkt. Dabei schüttelte er vielsagend seine riesigen Schaufeln und grinste über das ganze Gesicht. Natürlich sprach er in der Mehrzahl. Wenn er «ä unütze Chäib» gewesen war, dann alle andern selbstverständlich auch.
Oh je, dachte ich, wenn du wüsstest, wie recht du hast. Aber nicht „wir“. Der einzige „unnütz Chäib“ in der Klasse warst du…
Giorgio, Sizilianer, ausgestattet mit dem entsprechenden Temperament, war klein von Gestalt, dafür aber breit und ausserordentlich kräftig gebaut. Wer aus irgend einem Grund das Pech hatte, von ihm in die Zange genommen zu werden, der hatte nichts mehr zu husten. Selbst als Erwachsener hätte man einen schweren Stand gehabt, wenn er handgreiflich geworden wäre. Auf mich wirkte er manchmal wie ein Stier, der mit seinem breiten Kopf jede Wand hätte durchstossen können.
Giorgio war ein ausgekochtes Schlitzohr. Wenn irgendwo Blödsinn veranstaltet wurde, konnte man seine Grossmutter gegen eine ungewaschene Socke wetten, dass Giorgio seine Finger im Spiel hatte oder sonst wie daran beteiligt war. Das Dumme war, dass er zu denjenigen Schülern gehörte, denen man nicht böse sein konnte, was immer sie auch anstellten. Nur eines machte mir zu schaffen: seine Tobsuchtsanfälle. Unter diesen Anfällen litt die ganze Klasse.
Giorgio war ein richtiger Heisssporn. Wenn er schlecht drauf war, war er unberechenbar. Jede Kleinigkeit konnte ihn dermassen in Rage bringen, dass sich sein Gesicht zu einer Fratze verzog und er mit allem um sich zu werfen begann, was ihm in die Hände geriet. Mehr als einmal musste ich ihn unter Aufbietung aller Kräfte festhalten, damit er mir nicht die ganze Einrichtung des Schulzimmers demolierte. Nach einer Weile sackte er in sich zusammen und erst dann konnte ich ihn wieder loslassen. Meistens plumpste er auf seinen Stuhl, legte den Kopf auf die Arme und begann wie ein Schlosshund zu plärren.
Gewöhnlich verzog sich das Gewitter nach einigen Minuten wieder. Giorgio putzte sich dann mit Handrücken und Ärmel Tränen und Rotz aus dem Gesicht und grinste kurz darauf schon wieder.
Anfänglich wurde ich jeweils auch wütend, wenn Giorgio um sich schlug und alles auf den Boden schmiss, was ihm in die Finger kam. Doch dann ging mir auf, dass er sich in einer solchen Situation einfach nicht mehr kontrollieren konnte. Er sah und hörte buchstäblich nichts mehr. Mit ihm schimpfen oder ihn anbrüllen nützte gar nichts. Das einzige, was ich tun konnte, war warten, bis er sich wieder beruhigte.
Als er wieder einmal einen ganz besonders heftigen Tobsuchtsanfall ohne nennenswerte Personen- und Sachschaden überstanden hatte und wie ein Häufchen Elend am Tisch heulte, hatte ich eine Eingebung. Als er wieder so weit war, dass er mir zuhören konnte, ging ich mit ihm vor die Tür. Wir setzten uns auf das Bänklein neben dem Eingang.
«Schau, Giorgio, so geht es nicht weiter. Wenn du solche Wutanfälle hast, müssen alle darunter leiden. Du am allermeisten. Deshalb machen wir jetzt einen Deal miteinander. Sobald du merkst, dass du wütend wirst, stehst du auf, verlässt das Schulzimmer – du brauchst gar nicht zu fragen, du gehst einfach – und rennst so schnell du kannst hinter dem Schulhaus der Strasse entlang bis zum Ende des Sportplatzes und wieder zurück. Und wenn du immer noch wütend bist, rennst du noch einmal. Sobald du dich beruhigt hast, kommst du wieder ins Schulzimmer und setzt dich an deinen Platz. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, du setzt dich einfach hin und arbeitest weiter, wie wenn nichts gewesen wäre, ok?»
Giorgio nickte, ohne viel zu sagen und putzte sich mit dem Ärmel die Nase.
Dann kam der Tag, an dem er zum ersten Mal rannte. Die Klasse war gerade am Zeichnen. Da sagte irgendjemand etwas, das Giorgio aufs Äusserste erzürnte. Die Gewitterwolken zogen sich über ihm zusammen und seine Gesichtszüge begannen sich zu verkrampfen. Ich erwartete schon seinen Anfall, als er plötzlich aufsprang, zur Türe stürzte und im Korridor verschwand.
Ich verliess das Zimmer und begab mich zum grossen Panoramafenster. Giorgio wetzte dem Zaun des Sportplatzes entlang. Er gab alles und rannte, als gälte es sein Leben. Hinten angekommen, gönnte er sich eine kurze Verschnaufsekunde, drehte sich um und rannte wieder zurück zum Schulhaus. Schnell betrat ich das Schulzimmer. Er sollte nicht merken, dass ich ihn beobachtet hatte.
Nach ein paar Augenblicken öffnete sich ganz manierlich die Tür, Giorgio kam herein, setzte sich an seinen Platz und arbeitete weiter, wie wenn nichts gewesen wäre. Ich tat so, als würde mich die Sache gar nichts angehen. Doch als mich die andern Kinder mit grossen Augen ansahen, musste ich Farbe bekennen. Ich fragte Giorgio, ob es ihm recht sei, wenn ich die Klasse in unsern Deal einweihe. Er nickte.
Die Kinder wussten ja, dass Giorgio von Zeit zu Zeit seine Wutanfälle hatte. Ich erklärte ihnen, dass er in einem solchen Fall ohne Erlaubnis das Schulzimmer verlassen und bis ans Ende des Sportplatzes rennen dürfe, um sich abreagieren zu können. Die Klasse fand das mehrheitlich gut. Einer meinte allerdings, auch er wolle rennen, wenn er wütend sei. Ich erklärte ihm, dass Giorgio nicht selten wegen ihm und seinen Provokationen wütend werde. Das sass. Mehr brauchte ich nicht zu sagen.
Gegen Ende der Stunde kam Giorgio mit seiner Zeichnung zu mir. Nachdem er mir sein Kunstwerk gezeigt hatte, sagte er mit seinem breiten Grinsen auf dem Gesicht: «Sie, das ist eine gute Idee, das mit dem Rennen. Das werde ich wieder machen, wenn ich wütend bin.»
Und so geschah es auch. Anfänglich rannte er noch mindestens einmal pro Woche. Aber mit der Zeit liessen seine Anfälle nach. Ich weiss nicht, ob das am Rennen lag oder ob er lernte, sich besser zu kontrollieren. Wahrscheinlich beides. Jedenfalls musste bald niemand mehr unter seinen Tobsuchtsanfällen leiden. Am wenigsten er selber.
Es sind halt oft die kleinen und unkonventionellen Dinge, welche die grösste Wirkung zeigen.
Vor dem Wiggispark beruhige ich Giorgio, indem ich ihm den Standardsatz sage, mit dem ich die „Gäll-mir-sind-schu-unütz-Chäibe-gsi“-Sätze zu kontern pflege: «Ach was, es gibt schlimmere, als ihr gewesen seid.»
Zum Abschied zermanschte er meine Hand vollends und winkte noch, als ich meine Fingerknochen sortiert hatte und mit dem Auto um die Ecke fuhr.
Es gibt Mädchen, die schon in der vierten Klasse wissen, dass sie dereinst Model sein werden. Nicht Model werden wollen, sondern Model sein werden. Mit der grössten Selbstverständlichkeit behauptete auch Elena, wenn sie gross sei, werde sie als Model arbeiten und viel Geld verdienen.
Die Viertklässlerin war ein eher kleines Mädchen, hübsch, mit feinen Gesichtszügen, dunklen Augen und schwarzen Haaren. Ausserdem war sie mit einer gehörigen Portion Schalkhaftigkeit ausgestattet, die ihr manchmal eher hinderlich als förderlich war.
Sie stammte aus einer jener begüterten Familien Netstals, die sich nie mit finanziellen Sorgen abplagen mussten. Ein grosses Haus mit Pferdestall mitten im Dorf gehörte ebenso zum Besitz der Familie, wie zwei, drei Autos, die mehr als nur einen Tiger im Tank hatten. Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass Elena immer topmodisch gekleidet daherkam. Wie ein zukünftiges Modell eben.
Eines Morgens betrat ich nach der Pause das Schulzimmer. Nachdem sich die Rasselbande gesetzt hatte, bemerkte ich, dass Elenas Platz leer war.
«Wo ist denn Elena?», erkundigte ich mich.
«Wissen wir nicht», war die einhellige, aber nicht ganz überzeugende Antwort der Klasse. Einige kicherten, andere tuschelten hinter vorgehaltener Hand.
Da wusste ich, dass Elena weder plötzlich krank geworden war, noch aus irgend einem anderen Grund verspätet aus der Pause kommen würde. Nein, die Kinder spielten mal wieder ihr beliebtes Versteckspiel. Und ich glaubte zu wissen, wo ich das Nachwuchsmodel zu suchen hatte.
Damals hatten die Schränke in unseren Schulzimmern Schiebetüren. In einem dieser Schränke hörte ich dann auch ein leises Scharren und Kratzen. Zuunterst in diesem Schrank standen normalerweise zwei Kistchen mit alten Joghurtgläsern und eine Kartonschachtel mit alten Zeitungen. Wohin die Kinder diese Sachen verstaut hatten, liess sich im Moment nicht feststellen. Dass aber Elena an ihrer Stelle im Schrank steckte, war nicht zu überhören.
«Na, dann wollen wir mal», begann ich den Unterricht. «Elena wird es wahrscheinlich schlecht geworden sein. Vermutlich ist sie nach Hause gegangen», sagte ich scheinheilig. Das Gekicher ging wieder los. Auffällig unauffällig.
«Wir haben gestern über die Blumen auf der Wiese gesprochen. Ich habe euch ein paar dieser Blumen an die Wandtafel gezeichnet.» Ich drehte die Wandtafel um.
«Ihr zeichnet jetzt diese Blumen ins Heft ab, malt sie aus und schreibt ihren Namen mit Tinte schön sauber dazu. Habt ihr das verstanden?»
«Hihihi, ja, mhm, hihihi…»
Während die Kinder ihre Heft öffneten und anfingen, die Blumen abzuzeichnen, hörte ich wieder ein Rascheln im Schrank. Ich war gespannt, wie lange es Elena dort drin aushielt. Irgendwann würde es ihr schon verleiden, dachte ich. Mal schauen, wer den längeren Atem hatte, sie oder ich.
Sie hatte ihn. Nach 20 Minuten sass sie immer noch im Schrank. Und als sie nach weiteren 10 Minuten immer noch keine Anstalten machte, den Schrank zu verlassen, beschloss ich zu handeln.
Ich trat ans Wasserbecken, nahm einen Becher, der dort stand und füllte ihn halb mit Wasser, so als wollte ich trinken und schlenderte dann so ganz beiläufig zum Schrank. Dann passierte alles sehr schnell:
Schranktüre auf – Wasser hineinleeren – Schranktür zu – Gekreisch innerhalb, Riesengelächter ausserhalb des Schrankes.
Der Rest ist schnell erzählt. Prustend und mit pitschnassem Gesicht kämpfte sich Elena aus dem selbstgewählten Gefängnis. Sie blinzelte mich an und sagte nur vorwurfsvoll:
«Also, Herr Bolliger…!» Unter dem Gelächter ihrer Kameradinnen und Kameraden wischte sie sich eine triefende Haarsträne aus dem Gesicht und marschierte hoch erhobenen Hauptes, wie es sich für ein Model geziemt, an ihren Platz. Nass von oben bis unten kramte sie mit aller Würde, die ihr in dieser Situation möglich war, das Heft unter der Bank hervor und begann die Blumen zu zeichnen. Dabei ignorierte sie die dicken Tropfen, die von ihren Haaren auf die Heftseite fielen. In diesem Augenblick war sie Lichtjahre vom Aussehen eines Models entfernt.
Ein kleines Nachspiel hatte die Angelegenheit für Elena. Als sie nach der Stunde nach Hause gehen wollte, hielt ich sie zurück und zeigte mit dem Daumen über die Schulter zur Wandtafel. Sie verstand den Wink. Zuerst die versäumte Arbeit beenden.
Nachdem sie die Blumen fertig abgezeichnet hatte und ihr Äusseres einigermassen trocken war, trat sie zu mir ans Pult und sagte mit strahlendem Gesicht:
«Gell, Herr Bolliger, ich habe Sie schön reingelegt. Sie haben mich ganz lange nicht gefunden.»
Sie gab mir die Hand und verschwand im Korridor.
Als ich Ende Siebziger Jahre kurz vor dem Ende meiner Ausbildung zum Primarlehrer stand, verschlug es mich im letzten Vollpraktikum nach Obstalden, hoch über dem Walensee, wo ich zusammen mit einer Kollegin vier Wochen lang fast den gesamten Unterricht zu bestreiten hatte.
Beim Vorbereitungsgespräch erzählte uns Gret, die Mentorin einiges über das Dorf und die Leute, die es bevölkerten. Ein grosser Teil davon waren Bauern. Bodenständige Menschen, die grundsätzlich allem Neuen zuerst einmal ablehnend gegenüber standen.
«Immer so neumodisches Zeugs», hiess es, «die würden gescheiter den Kindern wieder mal ordentlich Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen!»
Mit „sie“ waren natürlich die Lehrerinnen und Lehrer gemeint. Kam eine neue Lehrperson ins Dorf, wurde sie mit einer Portion freundlich distanziertem Misstrauen empfangen. Sozusagen auf Probe. Mal schauen, ob und wie gut sich der oder die Neue anstellt und ob sie oder er sich im Dorf anpasst.
Anpassen bedeutete für männliche Lehrpersonen Besuch von den Präsidenten verschiedener dörflichen Vereine:
«Dürfen wir sie zu einem Gesänglein in den Männerchor einladen? Und wir bräuchten sowieso gerade einen neuen Dirigenten. Das wär doch was für Sie?» oder «Jeden ersten Dienstag im Monat haben wir Feuerwehrübung…» oder «Würden Sie nicht ab und zu am Sonntag in der Kirche orgeln?» Dabei spielte es für die guten Leute eine untergeordnete Rolle, ob jemand die Orgel spielen konnte oder nicht. Aber ein Lehrer musste in der Lage sein, solche Dienste zu versehen. Schliesslich hatte er ja studiert…
Man merkte als Lehrer, dass man allmählich akzeptiert und in die Dorfgemeinschaft aufgenommen wurde, wenn man abends im Wirtshaus am Stammtisch Platz nehmen durfte und kein mürrisches «Das isch dä mii Platz!»(18) mehr zu hören bekam. Oder wenn man in sämtlichen Dorfvereinen mittat oder im Gemeinderat das verantwortungsvolle Amt des Aktuars bekleidete. Ein Lehrer musste ja von Berufs wegen schreiben können. Und ausserdem hat er jede Menge Zeit…
Schliesslich wurde die finale Aufnahme in den Dorfklüngel besiegelt, wenn der Gemeindepräsident am Kränzli(19) des Damenturnvereins auf einen zukam, die „Krumme“, jene dünne Zigarre, die einen solch fürchterlichen Gestank verbreitet, dass alle Fliegen und Mücken im Umkreis von fünf Metern tot zu Boden fallen, aus dem Mund nahm, einem jovial die Hand schüttelte und gönnerhaft sagte:
«Ich bi dä dr Schaagg.»(20)
Weibliche Lehrpersonen hatten es ein wenig einfacher. Aber auch ihnen wurden gewisse Prüfungen auferlegt, die sie zu bestehen hatten. Da war zum Beispiel der Kirchenbasar.
«In zwei Monaten haben wir Kirchenbasar. Wir bräuchten noch jemand, der in der Kaffee-Stube mithilft. Hätten Sie nicht Zeit? (Diese Frage war eher rhetorischer Natur. Wie schon erwähnt, haben Lehrerinnen und Lehrer Zeit in Hülle und Fülle). Und Sie könnten doch auch mit ihren Schülern ein paar Lieder singen oder ein Theäterchen aufführen, da würden sich die Leute sicher freuen. Und jeweils am Mittwoch, um halb acht treffen wir uns im Pfarrhaus zum Stricken und Basteln. Das wäre doch für Sie eine gute Gelegenheit, ein paar Frauen aus dem Dorf kennenzulernen.»
Und früher oder später fand sich mit totbringender Sicherheit eine Delegation des Damenturnvereins bei der jungen Lehrerin ein. Was für die Lehrer der Männerchor war, war für die Lehrerinnen der Damenturnverein.
«Hätten Sie nicht Lust, bei uns mitzuturnen? Und wir suchen übrigens auch noch ein Vorstandsmitglied, weil sich s Tidi(21) Kamm beim Heuen mit der Gabel in die Wade gestochen hat und für längere Zeit ausfällt.»
Lehrerinnen merken, dass sie endgültig in die Dorfgemeinschaft aufgenommen waren, wenn die Frauen anfingen, sie am Dorfklatsch teilhaben zu lassen und natürlich erwarten, dass sie sich auch daran beteiligten.
Solches und ähnliches erzählte uns unsere Mentorin beim Vorberei-tungsgespräch. Und dann fügte sie noch die Geschichte von Anneli Kamm an, dem Töchterchen von eben jenem Tidi Kamm, das sich beim Heuen, weiss Gott wie, mit der Heugabel in die Wade gestochen hatte. Anneli besuchte die dritte Klasse, als Gret neu als Lehrerin ins Dorf kam.
Gret, damals noch nicht am Dorfklatsch beteiligt, strotzte vor Idealismus und hatte tausend Ideen, die sie in die Tat umsetzen wollte, um den kleinen Berglern etwas von den Schönheiten der grossen, weiten Welt so nahe zu bringen, wie das auf dem Chirezer(22) überhaupt möglich war. Und dann wollte sie noch ein paar kleine Neuerungen einführen.
Im Seminar hatte Gret nämlich gelernt, dass bei den Schülern auch das Bewusstsein für Hygiene und Körperpflege geweckt und gefördert werden müsse. Für sie war sonnenklar, dass auch kleine Bergler lernen mussten, was zu einer gesunden Körperpflege gehörte: Hände waschen nach der Toilette, dreimal täglich die Zähnchen putzen, sich morgens und abends sauber waschen und – nach dem Sportunterricht duschen.
Gret behandelte mit den Drittklässlern das Thema Körperpflege und kam schliesslich auf das Duschen nach dem Sportunterricht zu sprechen. Sie machte ihren Schützlingen klar, dass das Duschen zum Sport gehöre wie das Aufräumen zum Spielen. Oder wie die lästige Pflicht des Abwaschens nach dem Mittagessen. Aber das Duschen nütze natürlich nichts, wenn man nachher wieder in die gleichen verschwitzten Kleider steige. Also, immer frische Wäsche mitnehmen, wenn man Sport hat. Und noch etwas: sich richtig waschen unter der Dusche könne man natürlich nur, wenn man sich ganz ausziehe, also nackt sei. Aber es brauche sich niemand zu genieren…
Die Duschkampagne der jungen Lehrerin stiess bei den Kindern anfänglich auf einige Zurückhaltung. Doch sie merkten sehr schnell, dass es herrlich angenehm war, nach dem Sport eine warme Dusche über sich ergehen zu lassen. Ausserdem hatte die Lehrerin auch gesagt, dass man genug Zeit zum Duschen habe. Und diese Zeitspanne reizten die Kinder bis zur letzten Sekunde aus. Alle, bis auf Anneli Kamm.
Gret fiel auf, dass Anneli jeweils schon vor der Turnhalle wartete, wenn sie und die andern Kinder frisch geduscht ins Freie traten. Und dass es ziemlich streng roch, wenn man sich ihm mehr als zwei Meter näherte. Eines war klar, Anneli duschte nicht und wechselte schon gar nicht die Wäsche. Nach zwei Wochen Duschverweigerung nahm Gret Anneli beiseite und erklärte ihm noch einmal den Sinn des Duschens und dass sie erwarte, dass es morgen frische Sachen und das Duschzeug mitnehme und auch dusche, so wie die anderen.
Vielleicht hatte Gret etwas forsch gesprochen, denn Anneli bekam zuerst feuchte, dann wässrige Äuglein und schliesslich rannen die Tränchen über seine Backen und es begann zu schluchzen. Es wolle nicht duschen, schniefte es in das Papiertüchlein, welches ihm Gret, etwas verwundert über den Gemütsausbruch, in die Hand gedrückt hatte.
Am nächsten Morgen stand Anneli ohne Duschzeug, dafür mit einem Brief vor Gret. «Von meiner Mutter», sagte es und streckte der Lehrerin den Umschlag entgegen. Gret öffnete ihn und zog einen Zettel heraus, auf dem mit krakeliger Schrift geschrieben stand:
«Sehr geehrtes Fräulein Lehrerin (Fräulein war damals noch gestattet),
Anneli hat mir gesagt, dass Sie es zwingen wollen, nach dem Turnen zu duschen. Ich bin damit nicht einverstanden. Mein Anneli ist ein sauberes Mädchen. Es badet immer am Samstag, wenn ich Wäsche habe und braucht deshalb nicht noch dreimal in der Woche zu duschen. Und dass Anneli jedes Mal noch frische Wäsche mitnehmen soll, finde ich eine Frechheit. Es genügt, wenn es nach dem Baden frische Wäsche anzieht! Und übrigens können sie auch die anderen Mütter fragen. Sie finden es auch eine Zumutung, dass die Kinder nach dem Sport duschen müssen, denn…», und was Gret dann las, verschlug ihr fast die Sprache, «wenn die Kinder nach dem Sport duschen müssen, ist das Gewässerverschmutzung!»
So gesehen musste man dem Anneli ein Kränzchen winden. Es leistete als einziges Kind der Klasse einen aktiven Beitrag zur Sauberhaltung der Gewässer.
«Unmögliche Bande!», schimpfte Kollege Albert, als ich ihn nach dem Unterricht im Werkraum aufsuchte, wo er gerade die Bretter mit den aufgespannten Flügeln der Modellflugzeuge im Schrank verstaute.
«Schau mal, so ein Pfusch!», schimpfte er weiter und hielt mir eines der Bretter unter die Nase. Wirklich, man brauchte kein besonders geschultes Auge zu haben, um zu erkennen, dass die Rippen aus Balsaholz schief aufgeleimt waren, die Bespannung Risse hatte und mangelhaft lackiert war.
Albert war Sekundarlehrer der alten Schule. Drei Dinge konnte auf den Tod nicht ausstehen: schlampige Arbeit, Schwatzen ohne Grund und Unpünktlichkeit. In seinem Schulzimmer herrschte Zucht und Ordnung, und er erteilte seine Anweisungen in knappen, militärischen Sätzen. Wer nicht spurte, hatte auf dem Fuss mit Konsequenzen zu rechnen. Aber trotz dieses Unterrichtstils – oder vielleicht gerade deswegen – war Albert ein allseits geachteter, von Schülern und Eltern respektierter Lehrer. Er behandelte alle Schülerinnen und Schüler genau gleich, egal aus welchem Haus sie stammten und wie dick das Portemonnaie ihrer Eltern war.
Während Albert das Brett mit dem ramponierten Flügel im Schrank versorgte, schimpfte er weiter: «Die Kerle sind faul und haben nur Blödsinn im Kopf. Vom exakten Arbeiten haben sie keine Ahnung! Stell dir vor, Robert hat die Rippen direkt auf das Brett geleimt. Und Fredi hat die ganze Lackbüchse über den Flügel geleert. Den Flügel konnte man samt dem Brett fortwerfen. Und sie machen auch gar keinen Hehl daraus, dass ihnen die Arbeit stinkt. Jedes zweite Wort ist „schiisst mi aa“. Einzig das Schwatzen, das schiisst sie nicht aa, da sind sie einsame Spitze…»
Albert nahm die Pinsel aus dem Glas mit dem Reiniger, wusch sie einen nach dem andern unter fliessendem Wasser aus, legte sie fein säuberlich in die dafür vorgesehene Schachtel und schloss den Schrank. Dann zog er seinen blauen Berufsmantel aus und hängte ihn an den Haken neben der Tür.
Ich kannte die Jungs natürlich auch, an denen Albert kein gutes Haar liess. Ihr Ruf war schon in der Primaschule nicht der allerbeste gewesen. Zwar studierten sie in der fünften und sechsten Klasse nicht bei mir, sondern bei den beiden Fritzen, welche die ungeraden Jahrgänge unterrichteten. Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass die beiden Kollegen tief aufatmeten, als sie ihre Schüler in die Oberstufe entlassen konnten.
Inzwischen lag die Primarschule für die Bande schon zwei Jahre zurück und aus den vergleichsweise kleinen Schülern waren grosse Rüppel geworden. Fünfzehn-, Sechzehnjährige, die mich bereits um einen halben oder ganzen Kopf überragten und kurz vor dem Wechsel in die dritte Sekundarklasse standen. Und ich sollte sie im Fach Werken von Albert übernehmen.
«Mit denen wirst du das Geschenk haben!», beendete Albert seine Schimpftirade über die nichtsnutzigen Schüler, «aber lass dir von ihnen ja nicht auf der Nase herumtanzen!»
In meinem Hinterkopf begann ein winziges Lämpchen rot aber hartnäckig zu leuchten. Dazu begann ein kleines Alarmglöckchen zu schrillen. Zuerst ganz leise, dann immer lauter. Ich war ja nicht Oberstufenlehrer. Allerdings hatte ich bisher keine grossen Probleme gehabt mit Oberstufenschülern. Aber die waren bis zu diesem Tag auch pflegeleicht gewesen. Was da wohl auf mich zu kam…
Ich beschloss, die Flucht nach vorne anzutreten. An einem Freitagnachmittag, kurz vor Ende des Schuljahres, bestellte ich sie nach der Schule in mein Schulzimmer. Den Anblick werde ich nicht vergessen: die grossen Rüpel in den für sie inzwischen ziemlich klein gewordenen Bänken. Und alle machten ein Gesicht, als würden sie im nächsten Augenblick unter den Tisch fallen vor Langeweile. Manuel gähnte so demonstrativ und natürlich ohne die Hand vor den Mund zu nehmen, dass ich seine sämtlichen Plomben zählen und bis fast in seinen Magen hinunter blicken konnte.
«So, Leute», begann ich meine Rede an die Nation, «ich habe euch hierher gebeten, weil ich weiss, dass euch das Werken stinkt…»
Sie schauten sich an, Fragezeichen auf den Gesichtern. Was schwafelt der da? Will der uns etwa hereinlegen? Ist das wieder so ein Lehrerfurz? Zuerst Honig um den Mund schmieren, und am Ende kommt es knüppeldick? Offensichtlich hatten sie Mühe, meine Worte richtig einzuordnen.
«Punkt eins: ich weiss, dass euch das Werken stinkt», wiederholte ich, «Punkt zwei, und daran gibt es nichts zu rütteln, werden wir zusammen ein Jahr Werken haben. Deshalb möchte ich jetzt von euch wissen, a) weshalb euch das Werken stinkt und b) wie wir das Jahr gestalten können, ohne dass jemand ins Gras beissen muss. Ihr nicht und ich auch nicht.»
Schweigen. Ich wartete eine Weile, doch keiner wollte etwas sagen.
«Schaut, es macht wirklich keinen Sinn, wenn ihr hier jetzt die schweigende Mehrheit spielt. Ich bin offen für eure Anliegen, aber ihr müsst sie mir schon offenbaren.»
Vermutlich hatte schon lange niemand mehr so mit ihnen gesprochen. Das verunsicherte sie sichtlich.
«Also, wer macht den Anfang?», ermutigte ich sie.
Da streckte Dennis zaghaft den Finger in die Höhe. Dennis war ein wahrer Hühne. Obwohl erst fünfzehn, verfügte er über einen Satz beachtlicher Muskeln, mit deren Hilfe er mich wohl ohne Probleme hätte hochstemmen können.
«Ok, Dennis, wo drückt der Schuh?»
«Hm, immer müssen wir so einen verdammten Scheiss machen, den man nicht brauchen kann…»
Ich dachte an die Modellflugzeuge. Die andern nickten beifällig und dann begann das grosse Aufzählen von Arbeiten, die sie in der Kategorie ‚Scheiss‘ ablegten, und die man nicht brauchen konnte:
Ein Werkzeugkistchen! So ein Blödsinn! Und den Ständer mit den Schneidebrettchen. Auch nicht besser! Den habe ich meiner Oma gebracht. Und ich habe ihn zu Hause in den Ofen geschmissen.
Im Grunde genommen war alles, was sie bisher im Werken hergestellt hatten, unbrauchbarer Scheiss. Mir standen die Haare zu Berge, als ich die Burschen so reden hörte. Jetzt verstand ich Alberts Unmut.
«Stopp, stopp! Haltet mal die Luft an!», rief ich in die Runde,
«Ruhe bitte, Ruhe!» Sie waren dermassen in Fahrt mit Aufzählen von unnützen Dingen, die sie bisher im Werken hatten herstellen müssen, dass es eine ganze Weile dauerte, bis sie mir wieder zuhörten.
«Ok, ich habe verstanden. Ihr wollt nur Dinge basteln, die ihr brauchen könnt. Ist in Ordnung. Machen wir Dinge, die ihr brauchen könnt.»
Beifälliges Gemurmel.
«Gibt es noch andere Dinge, die euch am Werken stören?», fragte ich weiter. Sven meldete sich:
«Ja. Immer müssen alle dasselbe machen. Es soll doch jeder das machen können, was er will.»
«Ok, dann kann jeder machen, was er möchte.»
Kaum war dieser Satz über meine Lippen gekommen, erschrak ich zutiefst. Was hatte ich gerade eben gesagt? Jeder kann machen, was er will? Du meine Güte! Welcher Teufel hatte mich geritten? Aber wie das so ist mit Worten. Sind sie einmal – wie es der deutsche Komiker Heinz Erhardt einst ausdrückte – «aus dem Gehege der Zähne gefallen», kann man sie nicht mehr zurücknehmen, wie sehr man sie auch bereut.
Wiederum beifälliges Gemurmel. Plötzlich waren sie Feuer und Flamme und begannen einander aufzuzählen, was sie herzustellen gedachten. Mir lief es siedend heiss über den Rücken. Aber jetzt war es zu spät. Mindestens machten sie jetzt keine gelangweilten Gesichter mehr. Im Gegenteil. Sie schienen plötzlich Gefallen am Fach Werken zu bekommen.
Ich musste sie wieder zur Ruhe rufen. Aber diesmal ging es wesentlich schneller, bis sie mir ihre Aufmerksamkeit schenkten.
«Also, Leute», fasste ich das Grauen zusammen, «jeder kann das herstellen, was er will und brauchen kann. In der ersten Werkenstunde nach den Ferien geht es ans Planen. Dann will ich von jedem von euch wissen, was er herzustellen gedenkt. Ausserdem werden wir Pläne zeichnen und ausrechnen, welches Material und wie viel wir davon besorgen müssen.»
Die Jungs erhoben sich und hängten unaufgefordert die Stühle an die Tische. Beim Hinausgehen gab sie mir alle die Hand: «Adiöö, Herr Bolliger, schöne Ferien.»
Mindestens schien ich sie auf meiner Seite zu haben, obwohl ich nicht wusste, was mich erwartete.
Erste Werkenstunde nach den Ferien. Die Burschen hatten sich ihren Platz an einem der Hobelbänke gesichert und harrten der Dinge, die da kamen. Einige hatten ein paar Blätter Notizpapier vor sich liegen.
«Bevor wir mit der Arbeit anfangen, möchte ich noch ein paar allgemeine Dinge klären», begann ich den Unterricht.
«Erstens: bei mir im Werken, darf man reden. Und auch lachen. Allerdings erwarte ich von euch einen anständigen Umgangston und eine Lautstärke, welche nicht die Wände erzittern lässt.
Zweitens: wenn ich etwas erklären möchte, das alle betrifft, hören auch alle zu.
Drittens: wenn schon jeder machen kann, was er will, erwarte ich, dass dem Werkzeug, Mobiliar und Material Sorge getragen wird.
Viertens: am Ende jeder Doppelstunde werden wir die Werkstatt auf Vordermann bringen. Und da helfen alle einander. Ich halte euch für erwachsen und vernünftig genug, dass wir auf einen Ämtliplan verzichten können.»
Peng, das sass! Sie schauten mich mit grossen Augen und offenen Mündern an. Ein Lehrer, der sie für erwachsen und vernünftig hielt – das hatte es in ihrer Wahrnehmung noch nie gegeben! Da war doch sicher ein Haken dabei. Oder nicht? Meint er das wirklich so, wie er es sagt? Zu welchem Ergebnis ihre Überlegungen führten, weiss ich nicht. Aber ich glaubte, auf einigen ihrer Gesichter einen Anflug von leisem Stolz zu sehen. Oder bildete ich mir das nur ein?
«So, und jetzt möchte ich wissen, was ihr euch für Arbeiten ausgedacht habt. Dennis du machst den Anfang», fuhr ich fort.
Ich hatte den Notizblock vor mir, um das Unvermeidliche schriftlich festzuhalten und wartete ängstlich gespannt auf das, was ich da zu hören bekommen sollte.
«Also», begann Dennis, «ich mache einen Barhocker.»
«Wie bitte? Du willst einen Barhocker machen?», fragte ich nach, um mich zu vergewissern, dass ich ihn richtig verstanden hatte.
«Jawoll, einen Barhocker.»
«Ehm, ja, das finde ich ein sehr gute Idee», log ich aus vollem Herzen. «Und du, Sven?»
«Ich dachte, ich könnte – weil wir in unserem Garten – wissen Sie, wir haben im Garten eine Eisenbahn – da habe ich gedacht, ich könnte ein paar Häuser für die Gartenanlage bauen.»
Diese Idee schien mir durchführbar und vernünftig zu sein und mein Blutdruck sank um einige Rasten nach unten. Doch als ich hörte, was Robert für einen Plan hatte, schnellte er sogleich wieder in die Höhe. Stolz und selbstbewusst verkündete er:
«Ich mache einen Tisch.»
Und als ob das allein nicht schon genügt hätte, fügte er noch hinzu: «Mit einer Schublade.»
«Aha, mit einer Schublade», brummte ich.
«Genau, und den Tisch schenke ich dann meiner Gotte», ergänzte Robert.
Und so ging es weiter. Als alle ihre Vorhaben angemeldet hatten, standen folgende Arbeiten auf meinem Notizblock:
- ein Barhocker
- ein Tisch mit Schublade
- diverse Häuser für die Garten-Eisenbahn
- Aschenbecher
- CD-Ständer…
Jeder, der schon mal das Fach Werken unterrichtet hat, weiss, dass Planung und Arbeitsorganisation am einfachsten sind, wenn alle denselben Gegenstand herstellen. Es gibt auch so noch genug zu tun, denn nicht alle arbeiten gleich schnell und man muss hier helfen, da einen Rat geben. Und der Einkauf des Materials ist natürlich wesentlich einfacher, wenn alle den gleichen Gegenstand herstellen.
Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass meine Nerven damals flatterten. Aber es gab definitiv kein Zurück mehr. Mir blieb einmal mehr nur die Flucht nach vorn.
Ich erteilte den Schülern den Auftrag, mit der Detailplanung ihrer Arbeit zu beginnen und legte als Ausgabenlimit 30 Franken pro Nase fest.
Dann machten sie sich mit Feuereifer ans Werk, kritzelten Skizzen auf ihre Blöcke, überlegten hin und her, diskutierten miteinander, rechneten. Und alles in einer ruhigen und friedlichen Atmosphäre.
Ich hatte mich zu Dennis gesetzt und wollte von ihm wissen, wie er sich denn seinen Barhocker vorstelle. Er nahm den Bleistift, auf dem er mit Inbrunst gekaut hatte, aus dem Mund, legte seine Stirn in Furchen und brummte:
«Hm, wissen Sie, ich dachte, unten nehme ich ein grosses Stück Holz. Dann befestige ich einen Stab darauf und zuoberst kommt dann noch so ein rundes Holz als Sitz. Warten Sie, ich habe ein Modell macht.»
Er kramte in seiner Hosentasche und zog ein winziges Modell seines geplanten Barhockers ans Tageslicht. Er hatte tatsächlich in seiner Freizeit freiwillig für die Schule gearbeitet. Ich staunte. Das hätte ich von allen erwartet aber nicht von Dennis. Auf ein etwa zwei auf zwei Zentimeter grosses, ein Zentimeter dickes Holzklötzchen hatte er ein Holzstäbchen und auf dieses ein rundes Kartonplättchen geleimt. So hübsch das Modell auch aussah, ein paar Fragen hatte ich dann doch noch:
«Zuerst der Klotz unten. Wie hast du dir das vorgestellt, woraus soll der bestehen?»
«Aus einer Eisenbahnschwelle», antwortete er ohne zu zögern.
«Aha, und woher nimmst du die Eisenbahnschwelle?»
«Die hole ich in der Schreinerei Zweifel. Ich habe bereits angerufen. Die haben gesagt, ich könne mal vorbeikommen. Sie haben ein Stück von einer Schwelle für mich.»
Ich staunte immer mehr über diesen Knaben. Doch die besagte Schreinerei befand sich in Ennenda, etwa fünf Kilometer weit entfernt von Netstal. Deshalb erkundigte ich mich vorsichtig, wie er denn diese Schwelle zu holen gedenke. Ob sein Vater – oder am Ende vielleicht ich mit dem Auto…
«Nein, nein, die hole ich selber am Mittwochnachmittag, mit dem Mofa», zerstreute er meine Bedenken.
«Mit dem Mofa? Aha.» Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, wie Dennis mit einer Eisenbahnschwelle auf dem Mofa zwei Dörfer weit fahren wollte, aber das war glücklicherweise sein Problem.
«Gut, kommen wir zum Stab, zwischen dem Klotz und dem Sitz hier», sagte ich und deutete auf das dünne Stäbchen an seinem Modell.
«Das ist ein Vierkantholz», verkündete er stolz, «ich bekomme es von meinem Onkel. Am nächsten Freitag bringe ich es mit.»
«Und wie dick ist dieses Vierkantholz?», wollte ich wissen.
«Etwa so…»
Dennis formte mit seinen beiden Daumen und Zeigefingern ein Quadrat von etwa 6 Zentimetern Seitenlänge.
«Gut, das könnte gehen. Und das Brett für den Sitz? Hast du das auch schon?», fragte ich weiter.
«Nein, ich dachte, da hätten Sie mir vielleicht etwas.»
«Ok, schauen wir mal im Holzmagazin nach. Vielleicht finden wir da etwas Geeignetes.»
Nach einer Weile hatte er ein etwa drei Zentimeter dickes Brett gefunden, das seinen Vorstellungen entsprach. Dann machte er sich ans Zeichnen der Pläne.
Ich begab mich zu Robert, dem Knaben mit Tisch und Schublade. Während ich bei Dennis war, hatte er schon eine ganze Reihe von Skizzen gezeichnet. Wenn der Tisch am Ende so aussah wie auf den Zeichnungen, entstand da ein ganz exquisites Möbel.
Über das Gestell des Tisches und die Schublade machte ich mir keine Gedanken. Was mir aber ein leises Unbehagen bereitete, war die Tischplatte. Ich dachte an eine Sperrholzplatte aus Buchenholz. Buchensperrholz war zwar teurer als Pappelsperrholz, dafür sah es schöner aus mit seiner rotbraunen Färbung. Buchensperrholz hatten wir keines im Holzlager. Deshalb schickte ich Robert zu Schreiner Hermann Rickenbach, um sich zu erkundigen, was so eine Platte mit den Massen, die er sich vorgenommen hatte, kosten würde. Robert düste los und kam kurz vor fünf wieder zurück.
«Und, was hat Herr Rickenbach gesagt?», wollte ich wissen, selber gespannt, was so eine Buchensperrholzplatte kostet. Roberts Antwort löste bei mir einen Herzanfall aus:
«Herr Rickenbach hat gesagt, er mache mir eine richtige Tischplatte mit zusammengeleimten Brettern.»
Nach dem ich mich vom ersten Schock erholt hatte, erkundigte ich mich aufs tiefste beunruhigt, ob er denn gefragt habe, was so ein Ding koste.
«Nää…»
Ich sah vor meinem geistigen Auge schon die Rechnung des Schreiners: Tischplatte, verleimt. Material: Fr. 50.–, Arbeit: Fr. 200.–.
«Hast du denn Herrn Rickenbach nicht gesagt, dass du nur ein Sperrholzplatte brauchst?», fragte ich Robert.
«Ähm, nein, eigentlich nicht. Ich habe ihm gesagt, dass ich in der Schule einen Tisch baue und eine Tischplatte brauche. Da hat er mir gesagt, er mache mir die Tischplatte, aus zusammengeleimten Brettern und so.»
«Gut, jetzt gibt es nur eines: du saust noch einmal zu Herrn Rickenbach und fragst ihn, was die Platte kostet. Sag ihm einen Gruss von mir und dass du ein Budget von 30 Fr. zur Verfügung hast. Wenn die Platte mehr kostet, ist das Projekt „Geleimte Bretter“ gestorben. Dann fragst du nach der Sperrholzplatte.»
Robert nickte und machte sich zum zweiten Mal auf den Weg zur Schreinerei Rickenbach. Diesmal kam er schneller zurück als beim ersten Mal.
«Die hatten schon geschlossen», erklärte er missmutig und ausser Atem.
«Auch das noch! Also, dann gehst du am Montagmorgen auf dem Schulweg bei Herrn Rickenbach vorbei und erkundigst dich, was die Platte kostet. Und zwar noch bevor er anfängt, die Bretter zu verleimen. Hast du mich verstanden?»
Robert nickte. Dann half er seinen Kollegen die Werkstatt aufzuräumen. Als sich die wilden Kerle schliesslich verabschiedet hatten und verschwunden waren, setzte ich mich auf einen Hocker und zog Bilanz.
Mal abgesehen von den Beinahe-Herzanfällen wegen Dennis‘ Eisenbahnschwelle und Roberts Tischplatte, war die Doppelstunde friedlich verlaufen. Ich hatte nie ein lautes Wort sprechen müssen. Die Jungs mit ihrem schlechten Ruf hatten sich ganz gesittet benommen und ruhig gearbeitet. Ich sah deshalb den kommenden Werkenstunden einiger-massen gelassen entgegen.
Am Montagmorgen hatte ich Pausenaufsicht. Ich begab mich auf den unteren Pausenplatz und hielt Ausschau nach Robert. Nach einer Weile entdeckte ich ihn beim Pausenkiosk und rief ihn zu mir.
«Bist du bei Herrn Rickenbach gewesen?»
«Ja, heute, noch vor der Schule.»
«Und? Was hat er gesagt?»
Robert machte ein geheimnisvolles Gesicht und schaute mich mit einem listigen Grinsen an.
«Komm, Robert, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen! Was hat Rickenbach gesagt?»
«Er hat gesagt, für mich mache er es gratis. Da habe ich die Platte bestellt. Ist das in Ordnung?»
«Klar, das ist natürlich hoch in Ordnung», rief ich erfreut und lobte im Stillen Handwerker wie Rickenbach, die ein Herz für die Jugend haben.
Am Freitag kam Robert mit stolzgeschwellter Brust und einer professionell verleimten Tischplatte unter dem Arm ins Werken. Er machte sich sofort an die Arbeit und schnitt die Platte im richtigen Mass zu. Dann begann er das Gestell des Tisches zusammenzubauen. Auf die Schublade verzichtete er. Stattdessen verschloss er den Schacht, welchen er für die Schublade vorgesehen hatte, mit einem Türchen. Über den weiteren Verlauf des Möbelbaus gibt es nicht viel zu sagen. Aber am Ende stand ein kleines Tischchen da, um das ihn die Mitschüler beneideten. Wenn auch der Unterbau nicht so perfekt war, mit der professionellen Tischplatte machte das Möbelchen eine sehr gute Falle. Robert freute sich jedenfalls wie ein Honigkuchenpferd über sein gelungenes Werk.
«Eigentlich wollte ich den Tisch meiner Gotte schenken. Aber jetzt behalte ich ihn selber», meinte er abschliessend.
Und Dennis? Der kam am Freitag tatsächlich mit einem gewaltigen Stück Eisenbahnschwelle ins Werken. Wie er den Klotz die zwei Dörfer weit transportiert hatte, wollte ich lieber nicht wissen. Ausserdem brachte er noch das Vierkantholz mit, das er von seinem Onkel bekommen hatte.
«Erzähl mir mal, wie du den Hocker zusammenbauen willst», forderte ich Dennis auf.
«Zuerst befestige ich das Vierkantholz an der Schwelle», begann Dennis seine Ausführungen. «Dann schraube ich oben das runde Brett drauf und beklebe es mit Schaumstoff, damit der Sitz bequem ist.»
«Und wie willst du das Vierkantholz an der Schwelle befestigen?»
Er runzelte die Stirn, begann zu überlegen, setzte schliesslich ein breites Grinsen auf und meinte dann: «Ich befestige das Vierkantholz von unten her mit einer langen Schraube.»
«Oh, mein lieber Schwan», lachte ich, «dann müsstest du ein ziemlich langes Loch durch die Schwelle bohren, damit du das Vierkantholz an die Schwelle schrauben könntest. Und ausserdem würdest du dich genau zwei Mal auf deinen Hocker setzen können: das erste und das letzte Mal, du mit deiner kräftigen Postur.»
Dennis begriff nicht ganz, was ich meinte. Deshalb erklärte ich ihm, dass eine Schraube, und wäre sie noch so dick und lang, niemals ausreichen würde, um die beiden Holzstücke zu der soliden Einheit zu verbinden, welche sein Gewicht trug. Wenn er sich auf seinen Hocker setzte, würde der zusammenknicken wie eine morsche Tanne im Sturm.
«Nein, da musst du dir etwas anderes einfallen lassen. Denk dir mal eine andere, bessere Lösung aus!»
«Hm, und wenn ich das Vierkantholz in die Schwelle einlasse», überlegte Dennis, «würde das Ganze dann halten?»
«Genau, das musst du tun. Das ist die einzige Lösung, damit der Hocker stabil genug wird», bestätigte ich seine Überlegungen. «Du kannst dann das Vierkantholz immer noch von unten her mit einer Schraube befestigen. Aber der entscheidende Punkt ist, dass du es in die Schwelle versenken musst. Und das Loch muss sehr exakt sein. Das Vierkantholz darf kein Spiel haben, sonst ist der Hocker nicht stabil genug.»
«Und wie kriege ich ein viereckiges Loch in die Schwelle?», fragte Dennis etwas ratlos.
Ich erklärte es ihm: «Zuerst zeichnest du ganz exakt die Masse des Vierkantholzes auf den Sockel. Dann bohrst du mit einem feinen Bohrer bei den Ecken ein Loch und stemmst anschliessend mit einem Stechbeitel die Vertiefung aus. Sie muss aber tief genug sein, damit das Bein des Stuhles hält.»
Dennis nickte und machte sich an die Arbeit und ich wandte mich den Aschenbecherjungs zu. Sie standen schon erwartungsvoll hinter ihren Zeichnungen und warteten vermutlich auf eine Moralpredigt zum Thema Rauchen und dessen schädlichen Auswirkungen auf ihr junges Leben. Aber den Gefallen tat ich ihnen nicht. Ich fragte sie nur, wie sie sich denn ihre Aschenbecher vorstellten.
Tom präsentierte mir ihr bahnbrechendes Projekt: «Einen Boden. darauf vier Wände, etwa so…»
Er formte mit den Händen einen Umriss, der mir die ungefähre Grösse des Aschenbechers deutlich machen sollte. Ich verlangte die Zeichnungen zu sehen. Und wirklich, auf dem Blatt war eine Skizze zu sehen, die einen Würfel zeigte. Unten ein quadratischer Boden, rundherum vier quadratische Wände. Wahrlich ein Designer-Highlight allererster Güte. Sie schauten mich erwartungsvoll an.
«Stellt euch mal diesen Aschenbecher auf dem Tisch in eurem Zimmer vor. Wie sieht er denn aus?», versuchte ich ihre ästhetische Saite zum Schwingen zu bringen.
Sie schauten mich entgeistert an. Der kann schon Fragen stellen! Sieht doch aus wie ein Aschenbecher, ist ja auch ein Aschenbecher.
Na ja, was nicht vorhanden ist, kann auch nicht schwingen.
«Also», unternahm ich einen zweiten Versuch, «stellt euch mal vor, dieser Aschenbecher wäre eine Schmuckschachtel und würde bei eurer Schwester auf dem Tisch stehen. Das wäre doch eine ziemlich klobische Schmuckschachtel, nicht wahr?»
«Ich habe aber keine Schwester», verkündete Remo.
«Ich schon, aber die hat keinen Schmuck», liess sich Tom vernehmen.
«Den hätte die aber bitter nötig, die hässliche Schnepfe!», begann Remo zu giften.
«He, pass auf, was du sagst, sonst polier ich dir die Fresse!», gab Tom zurück und fuchtelte grinsend mit der Faust vor Remos Gesicht herum. Offenbar war er von der Schönheit seiner Schwester auch nicht gerade sehr angetan.
Als Remo laut vernehmlich verkündete, Toms Schwester mache für eine Zehnernote bei jedem die Beine breit, hielt ich den Zeitpunkt gekommen, die Konzentration der beiden Burschen von Toms Schwester zurück auf die Aschenbecher zu lenken:
«Was ich eigentlich sagen will, euer Aschenbecher sieht ziemlich klotzig aus, oder nicht? Vielleicht könnte man ihn etwas eleganter gestalten. Den Boden finde ich gerade richtig. Würde man die Wände nur halb so hoch machen, wie ihr sie gezeichnet habt, sähe der Aschenbecher doch um einiges eleganter aus.»
Sie schauten mich mit grossen Augen an. Ihre Gesichter ein einziges Fragezeichen. Ich nahm einen Bleistift und zeichnete auf Toms Blatt den Aschenbecher mit reduzierter Wandhöhe.
«Ähm, ja…», brummte er.
Remo schwieg. Vermutlich weil er realisierte, dass die Arbeit, die sie mit der Herstellung des Aschenbechers hatten, gleich gross sein würde, ob die Wände zehn oder fünf Zentimeter hoch waren. Beiden war anzusehen, dass sie, was die Ästhetik anbelangte, keinen grossen Unterschied zwischen meinem und ihrem Vorschlag ausmachen konnten.
«Dann wäre das geklärt», sagte ich ungerührt. «Aber etwas anderes müsst ihr mir noch verraten: wenn ihr eine Zigi oder einen Joint raucht…»
Aaaha! Also doch! Er kann es nicht lassen! Typisch Erwachsene! Ihr wisst ja immer besser, was für uns Jugendliche gut ist, ihr uralten Gruftis. Sauft und kifft selber und wollt uns Jungen vorschreiben, was wir zu tun und zu lassen haben. Geht euch doch eine dampfende Kacke an, wenn wir eine Zigi oder einen Joint reinziehen…
Ich sah ihnen an, wie es in ihren Gehirnen ratterte. Aber auch diesmal hatten sie sich getäuscht, wenn sie eine Moralpredigt erwarteten. Weder hatte ich die Absicht, sie vom Rauchen und Kiffen abzubringen, noch ihnen die schädliche Auswirkungen vor Augen zu führen. Das hätte ich zwar versuchen können, genützt hätte es aber herzlich wenig.
«Wenn ihr also eine Zigi oder einen Joint raucht, was passiert mit der Asche? Oder anders gefragt, was passiert, wenn ihr die Kippen in eure Holzbox werft?»
Sie schauten mich wieder mit offenen Mäulern an. Ich seufzte.
«Dann ist es eine Frage der Zeit, bis ihr im günstigsten Fall den Aschenbecher, im schlimmsten Fall das ganze Haus abfackelt», half ich ihnen auf die Sprünge.
Das leuchtete ihnen ein.
«Das heisst, ihr müsst etwas in euer Ascher hineintun, um zu verhindern, dass sie in Flammen aufgehen», fuhr ich fort, «Was schlagt ihr vor?»
Sie legten ihre Stirn in Falten. Nach einer Weile schüttelten sie ihre Köpfe zum Zeichen, dass trotz angestrengtem Nachdenken kein Ergebnis zu erwarten war.
«Liege ich richtig, wenn ich sage, dass ihr manchmal auch im Seedammcenter rumhängt?»
«Ja, dort hat es geile Weiber», wollte Remo das vom wallenden Testosteron bestimmte Lieblingsthema wieder aufnehmen. Ich ging aber nicht auf seine pubertären Fantasien ein und fuhr fort:
«Da habt ihr doch sicher auch schon die grossen Abfallbehälter gesehen, die oben eine Art Aschenbecher enthalten. Was hat es dort drin?»
«Sand!», riefen beide wie aus einem Mund.
«Genau. Sand ist das Zauberwort. Damit füllt ihr euren Aschenbecher. Am besten nehmt ihr Vogelsand. Den bekommt man für wenig Geld in jedem grösseren Laden.»
Tom und Remo waren zufrieden und machten sich an die Arbeit. Dabei gaben sie ihr Bestes und nach etlichen Werkenstunden standen zwei etwas wacklige, mit Vogelsand gefüllte Aschenbecher auf dem Tisch.
Tom wollte mich wohl testen, denn er zog ein zerknittertes Zigaretten-päcklein aus den Tiefen seiner Hosentaschen und tat so, als wolle er seinen Aschenbecher gerade hier und jetzt einweihen.
«Mach mal halblang und steck deine Zigis wieder weg, sonst sage ich es Herrn Sieber und dann setzt es was!», drohte ich. Grinsend liess Tom seine Glimmstängel wieder in der Hosentasche verschwinden.
Dennis hatte inzwischen das Loch in die Eisenbahnschwelle gestemmt. Ich staunte nicht schlecht. Es war eine perfekte Arbeit. Glatte Wände, sauber verschliffen. Die Ecken waren wirklich Ecken. Man sah nicht mehr, dass da mit einem runden Bohrer Löcher gebohrt worden waren. Ich hätte es nicht besser hingekriegt. Das Vierkantholz passte so perfekt hinein, dass es weder verleimt noch angeschraubt werden musste und trotzdem hielt. Auf den Sitz hatte er eine Scheibe Schaumstoff geklebt und zog ein Stück Stoff darüber, welches er mit dem Bostitch unten an der Scheibe festtackerte. Den ganzen Hocker malte er schwarz an und verzierte ihn mit allem möglichen und unmöglichen Schnickschnack, den er einfach irgendwo anklebte. Gäbe es einen Oskar für originelle Barhocker, Dennis hätte ihn gewonnen.
Gegen Ende des Quartals veranstalteten wir im Hobelraum eine interne Ausstellung. Als Tisch, Barhocker, Eisenbahnhäuschen, Aschenbecher, CD-Ständer so vor ihnen standen, fanden sie einhellig, dass ihnen die Sachen doch recht gut gelungen seien. Einer meinte sogar, er habe gar nicht gewusst, dass Werken Spass machen könne.
«Wie hast du es mit den wilden Kerlen im Werken? Nerven sie dich?“, fragte mich Albert einmal in der Pause. «Wahrscheinlich wäre es am besten, man würde sie vom Werken suspendieren und ihnen eine andere Arbeit geben», fuhr er fort.
«Ich kann mich nicht beklagen. Sie sind anständig und arbeiten gut mit. Wir haben es lustig miteinander und es herrscht eine friedliche Atmosphäre und ich habe den Eindruck, sie kommen gerne ins Werken», antwortete ich meinem Kollegen.
«Dann hast du den Stein des Weisen gefunden», meinte Albert neidlos, wie es seine Art war. Auch wenn er es nicht so offensichtlich zeigte, er freute sich über diesen Bescheid. Denn im tiefsten Inneren mochte er die wilden Kerle ebenso wie ich.
Mit dieser letzten Geschichte schliesse ich die Schachtel mit den Buntstiften und lege sie zurück in das Regal zu den Malutensilien. Die Farbtupfer, welche die Stifte in meinem Leben hinterlassen haben, bleiben aber bestehen. Farbtupfer in Form von Erinnerungen an junge Menschen, die ich ein Stück weit auf ihrem Lebensweg begleiten durfte.
In einigen Kapiteln lasse ich die Kinder auf Schweizerdeutsch reden. Das unterstreicht die Situationskomik in den entsprechenden Geschichten. Anschliessend an dieses Nachwort habe ich ein paar Worterklärungen und Übersetzungshilfen beigefügt für Leserinnen und Leser, die mit unserer Halskrankheit, wie das Schweizerdeutsche boshafterweise manchmal genannt wird, nicht so gut zurechtkommen.
In letzter Zeit bin ich nicht mehr so oft im Schulhaus unterwegs. Das liegt an meiner derzeitigen beruflichen Ausrichtung. Und doch freue ich mich jedes Mal, wenn ich die Kinder die Überführung passieren sehe, wenn ich sie sehe, wie sie miteinander herumalbern oder gegenseitig ihre Erlebnisse und Lebensweisheiten austauschen. Ich stelle dann fest, die Kinder haben sich in den letzten Jahrzehnten gar nicht so stark verändert.
Und natürlich gibt es auch heutzutage die ausgekochten Schlitzohren, die für jeden Blödsinn zu haben sind und die einem manchmal den allerletzten Nerv ausreissen.
Ich hätte noch viele Geschichten, Erlebnisse und Begegnungen mit unseren Schulkindern erzählen können. Diese Erlebnisse sind vielleicht nicht ganz so spektakulär, wie die beschriebenen. Sie sind für mich aber genauso bereichernd. Und deshalb kann ich zusammenfassend sagen:
«Ich habe den schönsten Beruf auf der ganzen Welt!»
(1) Seich (eigentlich Urin), hier eine Bezeichnung für Blödsinn
(2) «Ich ha mösä chotzä!» = «Ich musste kotzen!»
(3) «Nänäi, ich ha gad nu chännä uf d Schiissi seggle» = «Nein, ich konnte gerade noch (rechtzeitig) auf das Klo rennen!»
(4) «Nei, schlächt isch mer nüd gsii. Ich ha ja ä nüd fescht mösa chotze, nu es bitzäli.» = «Nein, schlecht war mir nicht. Ich musste ja nicht fest kotzen, nur ein wenig.»
(5) «Ich ha nu d Wurscht mösä chotzä, d Höräli nüd. D Höräli han i ebe gära gha. Aber d Wurscht isch grüsig gsi» = «Ich musste nur die Wurst kotzen. Die Teigwaren haben mir geschmeckt. Aber die Wurst war eklig.»
(6) «Ja, will d Wuurscht ebe grüsig gsi isch und d Höräli nüd» = «Ja, weil die Wurst eklig war und die Teigwaren nicht.»
(7) «Ich ha mösä chotzä! Aber nüd ufd Madratzä. Ich ha is Beggi kotzet…» = «Ich musste kotzen! Aber nicht auf die Matratze. Ich habe ins Becken gekotzt…»
(8) «Ich weiss es nüd, es isch ja tunggel gsi.» = «Ich weiss es nicht, es war ja dunkel.»
(9) «Ich ha d Chotzete in d Schissi abe gläärt und ds Beggi am Brünneli putzt. (…) Ich glaube, s isch s Fleisch gsi.» = «Ich habe das Erbrochene ins WC geleert und das Becken im Lavabo ausgewaschen (…) Ich glaube, es war das Fleisch.»
(10) «…mir gahts ganz guet und es isch mer nümme schlächt…» = «mir geht es ganz gut und es ist mir nicht mehr schlecht…»
(11) «Nänäi, ich ha kä Buuchweh mih» = «Nein, nein, ich habe keine Bauchschmerzen mehr.»
(12) «Dr Chueche…» = «Der Kuchen…»
(13) «Nei, mir isch nümme schlächt und ich mos nümme chotze! Villicht…» = «Nein, mir ist nicht mehr schlecht und ich m muss nicht mehr kotzen! Vielleicht…»
(14) «Lueg-Ysä», wörtlich übersetzt: Guck-Eisen (Brille)
(15) «Herr Bolliger, säged Si mal, chänd Si zauberä? Jetzt sind Si doch grad is Lehrerzimmer inä gangä und jetzt (.…) chänd Si wieder vu da hinde fürä…» = «Herr Bolliger, sagen Sie mal, können Sie zaubern? Jetzt sind Sie doch gerade ins Lehrerzimmer gegangen und jetzt (…) kommen Sie wieder von da hinten nach vorn…»
(16) «Momol, aber dem hani gad uf d Linse gschiffet…» = «Doch, doch, aber dem habe ich sogleich auf die Linse gepinkelt…»
(17) «Gäll, mir sind schu unütz Chäibä gsi» = «Gell, wir waren schon unnütze Chäibä» Für «Chäib» gibt es keine eigentliche Übersetzung auf Deutsch. Das Wort bedeutet ursprünglich Aas, hat aber im Schweizerdeutschen verschiedene Bedeutungen, je nach Kontext, in dem es steht. Hier heisst es so viel wie «unnütze Gesellen» oder «unnütze Tunichtgute»
(18) «Das isch dä mii Platz!» = «Das ist dann mein Platz!»
(19) Kränzli = Alljährliches Fest eines Vereins für die Dorfbevölkerung mit vereinsspezifischen Darbietungen und der unvermeidlichen Theateraufführung.
(20) «Ich bi dä dr Schaagg.» = «Ich bin der Jacques.»
(21) Tidi = Katharina
(22) Chirezer = Kerenzerberg (Berggebiet über dem Walensee)
Tag der Veröffentlichung: 30.11.2008
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