Miss Robinson
Sie waren besser angezogen als gestern. Seltsam fremd standen sie sich gegenüber und betrachteten das, was sie so aneinander noch nicht erlebt hatten: Er mit steifem Kragen und einer komischen Fliege drumherum. Die Anzugjacke spannte bei jeder Bewegung. Sie im langen Kleid, apricotfarben. Die Schultern frei und immer das unangenehme Gefühl, dass der weibliche Vorbau gleich frei liegen würde. Was natürlich Unsinn war, denn er hatte noch vor einigen Momenten etwas von "eingesperrt" gespöttelt, obwohl sie sich eher zu frei fühlte. Um die Schulter trug sie einen Schleier. ("In der Kirche bedeckt man sich!", hatte die Schwiegermutter behauptet und dabei streng geschaut. - Was, so fragte sich nun, soll i c h eigentlich in einer Kirche?)
Gestern war es leger zugegangen, manche kamen sogar kostümiert. Das Wetter war gut gewesen und man konnte im Garten feiern. Einer der Freunde hatte einen Projektionsapparat so aufgestellt, dass an der weissen Wand die Filme von früher zu sehen waren: Urlaub am Meer im Wechsel mit Kindergartenaufnahmen. Sie hatten getrunken, getanzt, zuweilen sich (sie ihn oder er sie) oder auch den oder jenen Freund, diese und jene Freundin umarmt. Es fühlte sich an wie ein Abschied, obwohl doch keiner von ihnen weg gehen wollte. Sie blieben alle da, auch wenn sie nachher aus der Kirche kämen. Sie blieben die, die sie vorher waren.
Oder nicht?
Sie drehte sich vor dem mannshohen Spiegel und konnte sich mit dieser Frau da drinnen nicht recht anfreunden. Nicht, dass die schlecht ausgesehen hätte, eher gar nicht übel, aber mit ihr, der da drinnen in ihrem Kopf, hatte sie nichts zu tun. Die da drinnen in ihrem Kopf war eine von denen gestern Abend gewesen. Eine von den Tänzern, die später erhitzt in den Pool sprangen. Eine von denen, die sich beim Übergang von der Nacht zum Tag in Badetüchern auf dem Rasen zur Ruhe legten und der beruhigenden Endlosschleife des Projektors zusahen bis sie einschliefen und von der Vormittagssonne geweckt wurden.
Sie trat einen Schritt näher an den Spiegel heran: "Du, ich sehe scheisse aus!"
Er, hinter ihr, rückte den Schritt nach und meinte: "Es gibt Schlimmeres." Er küsste sie auf die nackte Schulter.
"Aber auch Besseres.", meinte sie.
" Das Taxi wartet, komm."
Unten angekommen, öffnete er ihr die Autotür, half ihr mit dem Kleid nach drinnen, klopfte suchend an seine Brust.
" Ich bin gleich wieder da, hab´ die Ringe vergessen."
Sie sah ihm nach, wie er in der Haustür verschwand, schlug die Wagentür zu und atmete bei geschlossenen Augen zwei Mal tief ein und aus. Dann sagte sie zu dem Taxifahrer:
"Fahren Sie."
"Wie bitte?" Der Taxifahrer wandte sich zu ihr um.
"Ja, fahren sie einfach. Irgendwohin ans Meer."
Tag der Veröffentlichung: 18.07.2008
Alle Rechte vorbehalten