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Die Begegnung mit der Angst

Tropf, tropf. Langsam fließen die Tropfen an seiner Scheibe herab. Die Straßenbeleuchtung spiegelt sich in den Tropfen auf dem silbernen Geländer wieder. Es blitzte, donnerte, stürmte, doch nun ist es ruhig. Er hofft, dass es vorbei ist, doch das ist es nicht. Nur ein kleiner Hoffnungsschimmer, der jetzt verflogen ist. Die Tropfen fließen schneller. Die Lichtspiegelung im Geländer verschwimmt, das Prasseln des Regens wird stärker. Ein entsetzlicher Sturm folgt. Die Erde bebt, er vernimmt ein Brummen und entlang seines Fensters sieht er ein Flugzeug vorbeigleiten. Ein Blick aus diesem: Der Postbote fährt langsam die Straße entlang. Im strömendem Regen tut er seine Arbeit.
Ein Moment der Ruhe, nur kurz, dann sieht er, wie ein weiteres Flugzeug vorbei fliegt. Tropf, tropf.

Er erhebt sich, langsam und ruhig, leise und sacht tippelt er durch seine Wohnung. Angst. Angst, dass durch das Knarren der Dielen sein Nachbar wach wird. Angst, dass er herauf kommt. Angst vor dem Geschrei, vor dem Ärger. Ein weiteres Flugzeug fliegt an seinem Fenster vorbei. Er sieht es nicht, doch es ist laut genug, um gehört zu werden. Bald putzt er sich die Zähne. Dann zieht er sich um und geht er ins Bett.
Angst- Angst, dass sein Haus abbrennt. Angst vor Überschwemmung. Angst, dass er im Schlaf verstirbt. Angst, dass er verschläft. Angst, dass Diebe seine Wohnung plündern. Doch trotz dieser Angst schläft er langsam ein, kann ihr aber nicht ganz entrinnen. Die Angst verfolgt ihn bis in seine Träume...

Langsam geht er die Straßen entlang, sieht Autounfälle, Diebstähle, Überfälle. Nur ein Schritt und neben ihm explodiert ein Haus. Nur ein Schritt und hinter ihm wird ein Mensch überfahren. Nur ein Schritt und der Laden neben ihm wird überfallen.
Soviel Zeit, die er schon verlebt hat - und schon so viele Opfer, die er verursacht hat. So viele Menschen, die während dieser Zeit gestorben sind, teilweise viel jünger als er. So viele Katastrophen in der Welt.
Hinter sich vernimmt er Schritte. Er neigt seinen Hut nach vorne, sodass er nicht erkannt werden kann und flüchtet schnell um die Ecke. Unter einer Brücke hindurch, durch den Kanal. Anschließend steht er wieder vor seiner Wohnung. Er schließt auf und tut einen Schritt - doch unter seinen Füßen nur Leere. Er fällt, fällt... immer tiefer, tiefer und tiefer. Kein Halt unter seinen Füßen, keine Wände - nur schwarze, einsame, trostlose Leere. Kein Boden, kein Ende. Bis er schließlich erwacht.

Freitag, der 13.Juni 2008
Viele solcher Nächte hatte er schon durchlebt. So viele Tage schon der Qual und der Angst. Angst vor Einsamkeit, Angst vor der Leere, Angst vor der Schuld, Angst vor dem Entdecktwerden.
Er reibt sich die Augen, schwerfällig steht er auf, zieht sich an. Zuerst die Hose, dann die Strümpfe, schließlich ein altes, zerknittertes Hemd. Langsam schlurft er ins Bad. Er sieht in den Spiegel. Dann fährt er sich durch seine fettigen Haare. Lange hatte er sich nicht mehr ordentlich gepflegt. Er hatte Augenringe unter den trüben, grauen Augen und ungekämmtes, braunes Haar. Nach langer Zeit sollte er sich wieder waschen, kämmen und ordentlich essen - er selbst nannte es seine „Henkers-mahlzeit“. Nur langsam kommt er voran.

Er hatte genug gelitten. Heute sollten die Qual, die Pein, die Schuldgefühle, die Angst bei jedem kleinen, verdächtigen Geräusch - All das sollte zu Ende sein.
Er konnte nicht mehr. Er wollte mit all diesem nicht mehr leben.
Schließlich verlässt er das Haus, die letzten Cent zusammensuchend. Er setzt sich in ein Taxi.
Nur quälend langsam rollt dieses vorwärts.

Er dachte, es würde leicht werden - nach diesen langen Qualen würde dieser Schritt nun leichter sein, als jeder andere vorher. Doch das war er nicht.
Sein Herz wird schwer, sein Atem stockend. Er schluckt, versucht die Angst hinunterschlucken. Doch es klappt nicht. Es will nicht klappen! Gott, wie wünscht er sich nun einen schnellen Tod durch einen Autounfall. Wie wünscht er sich, der Taxifahrer würde sich umdrehen und eine Waffe ziehen.
Doch der Taxifahrer dreht sich nicht um. Er fährt weiter, durch Straßen, Gassen und Wege.
Mit jeder Sekunde fühlt er einen Stich, tief in seinem Herzen. Dann ist die Qual endlich vorbei.
Der Taxifahrer hält an, er schleudert ihm das Geld entgegen und rennt hinaus. Rennt, dass ihm fast der Atem wegbleibt. Rennt, dass er fast über seine eigenen Füße stolpert. Rennt hinein in das Polizeipräsidium.
Er wirft sich auf den Boden vor dem Beamten, faltet die Hände und sieht ihn flehend an.
Schwer atmend folgt sein hilfloser Schrei: „Nehmt mich fest! - Ich bin der Mörder.“

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Tag der Veröffentlichung: 29.04.2010

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