Verhängnisvolle Hochzeitsreise
Die schwarze Katze wartete geduldig in der Dunkelheit. “Mauzi?” erklang eine vertraute Stimme. Sie hob den Kopf und miaute. Die grünen Augen leuchteten. Das Tier schnurrte behaglich, als zarte Hände es berührten. Die beiden Kreaturen bewegten sich geschmeidig und sicher auf dem schmalen Felsvorsprung ihrem Ziel entgegen. Zwischen Felswänden, umgeben von dichtem Gestrüpp, fremden Augen verborgen, verschwand das ungleiche Gespann. Hohl klangen die Schritte im Inneren des Felsgesteins.
Es zischte kurz. In der Flamme des Streichholzes erglühte ein blasses Gesicht.
“Hochzeitsreise?” fragte Sandra erstaunt. “So etwas in der Art jedenfalls!” bestätigte Nils. “Erinnere dich. Aufgrund des kritischen Zustandes deines alten Herren, haben wir schließlich damals darauf verzichtet. Dann hatten wir in der Firma alle Hände voll zu tun. Später passierte die andere Sache, letztes Jahr starb dein Vater. Es kam immer etwas dazwischen. So habe ich mir nun erlaubt, endlich nachzuholen, was wir versäumt haben” fügte er erklärend hinzu. Sandra blickte gedankenverloren zu Boden. “Die andere Sache!” Nils` Worte hallten in ihren Ohren. Die andere Sache war die, über welche er nicht mehr sprechen wollte. Der Unfalltod ihrer kleinen Tochter Juliana. Seine zur Schau gestellte Gefühlskälte machte sie traurig und wütend gleichermaßen. Liebe, Geborgenheit und Herzenswärme waren ein Fremdwort für ihn geworden. Sie musste sich eingestehen, dass ihre Ehe vor dem Aus stand, noch bevor diese richtig begonnen hatte.
Nils tat alles für die Firma, war durch und durch Geschäftsmann. Doch wo war Nils, der zärtliche Liebhaber, der romantische Verführer, der tolerante, verständnisvolle Freund geblieben, den sie kennengelernt hatte? Wie aus weiter Ferne drang seine Stimme an ihr Ohr. “Hast du mir überhaupt zugehört?” erkundigte er sich. Sandra nickte nur. “Gut! Dann rate ich dir nur, dir ein paar ordentliche, bequeme Wanderschuhe zu besorgen!” meinte er. “Wanderschuhe? Willst du etwa in die Berge?” fragte sie. “Lass dich einfach überraschen! Nun jedoch sollten wir das Frühstück beenden, die Pflicht ruft!” erwiderte Nils, wischte sich mit der Serviette den Mund sauber, schob seine Kaffeetasse zurück und erhob sich. Sandra, die noch immer lustlos an ihrem Brötchen kaute, starrte ihm nach, als er mit großen Schritten das gemütliche Speisezimmer verließ.
In der Jugendherberge der Burg Hohnstein herrschte helle Aufregung. Jemand hatte sich an den Rucksäcken der Kinder zu schaffen gemacht. Es fehlten Kleidungsstücke, Taschenlampen, Trinkflaschen und Proviant.
“Das darf doch wohl nicht wahr sein!” empörte sich Frau Heine, eine der Lehrerinnen Sie hatte mit den anderen Aufsichtspersonen, Zimmer für Zimmer nach den verschwundenen Sachen durchkämmt. Erfolglos. Einen Dieb unter den Schülern ihrer Klasse vermutete sie nicht und an einen Dummejungenstreich dachte sie ebensowenig. Die große Eingangstür zum Aussichtsturm im Oberen Schloß war zwar über Nacht nicht verschlossen, jedoch waren keine Burgbesucher seit der Schließzeit am Vortag mehr hier gewesen. Wo aber waren die Sachen?
Die kleine Laura saß auf dem breiten Fenstersims im Treppenaufgang, starrte gebannt nach draußen. Sie hatte etwas gesehen, doch keiner würde ihr glauben.
Ihr glaubte selten jemand, weil sie zu gern flunkerte. Einer der Jungen aus ihrer Klasse, stürmte die Treppen hinauf. “Julian!” rief sie ihm zu: “Ich weis, wer die Sachen geklaut hat!” Der angesprochene Junge blieb stehen und starrte sie neugierig an. “In echt?” fragte er. “Ja! Stell dir nur vor, es war ein ganz kleiner Geist mit langen weißen Haaren!” ereiferte sich Laura sofort. “Ein Gespenst? Du spinnst doch total!” Julian tippte sich an die Stirn und stiefelte weiter, die Stufen empor. Bald darauf hörte Laura schallendes Gelächter aus den oberen Räumen. Sie schniefte geräuschvoll und wischte sich verstohlen eine Träne weg.
“Und ob ich es genau gesehen habe!” behauptete sie trotzig. Ein schwarzes Kätzchen sprang zu ihr auf die Fensterbank, rieb den Kopf an Lauras Hand und schnurrte leise.
Sandra Steinerts Laune war im Keller. Drei Tage lief sie nun schon, mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken, die Elbe entlang. Ihre sogenannte Hochzeitsreise hatte sie sich anders vorgestellt. Nicht, wie eine Rucksacktouristin wandernd, im Schnelldurchlauf die Sehenswürdigkeiten Sachsens bestaunend, ohne wirklich alles davon erfassen zu können.
In Radebeul, bei Dresden, hatte ihre Besichtigungstour begonnen. Im Schloss Wackerbarth, wo früher Grafen residierten und schon der Hof von August des Starken rauschende Feste feierte, war ein Erlebnisweingut vom Feinsten entstanden. Sandra gefiel es ausgezeichnet dort, doch danach ging es bereits weiter.
Die Brühlsche Terrasse in Dresden, der sogenannte Balkon der Stadt. Der Zwinger, das Carolaschlösschen im großen Garten, Schloß Albrechtsberg und vieles mehr.
Es lief alles an ihr vorbei, oder vielmehr, sie lief mehr oder weniger an allem vorbei, da die Zeit nicht war, länger zu verweilen. Vor einer Stunde waren sie im Schlosspark Pillnitz, der einstigen Sommerresidenz des Sächsischen Hofes, angekommen. Der chinesische Baustil des Schlosses war beeindruckend. Die großzügige Gartenanlage, einerseits als englischer Landschaftsgarten gestaltet, an anderer Stelle in kunstvoller Barockbauweise dargestellt, ebenso. Die Krönung war jedoch die über 200 Jahre alte und 8,6 Meter hohe Kamelie.
Sandra saß auf den untersten Stufen der breiten Freitreppe und kühlte ihre schmerzenden Füße im Wasser der Elbe, während ihr Blick über den Fluss ging, hinüber zu einer kleinen Insel. Währenddessen war Nils unterwegs in den Ort, um das Domizil für die kommende Nacht ausfindig zu machen. Morgen früh beizeiten würde es schon weitergehen.
Ein paar unbedeutende Steigungen hinein ins Elbsandsteingebirge, hatte Nils gemeint.
Was Nils als unbedeutend anpries, war für Sandra mit höllischen Schmerzen verbunden.
Die neuen Wanderschuhe drückten. Kilometer für Kilometer quälte sie sich vorwärts.
Ihre Wut stieg an, als sie sah, das er ihr bereits weit voraus war. Die Gegend war traumhaft. Gigantische Felsen, Tafelberge, Schluchten und Höhlen. Felsenspitzen, die wie Schornsteine in den blauen Himmel ragten und die ruhig fließende Elbe, das alles verschmolz zu einer einzigartigen Landschaft, wie Sandra sie in Deutschland noch nie gesehen hatte. Zu gerne hätte sie mit einem anderen Mann an ihrer Seite diese phantastische Aussicht genossen.
Sie wusste, dass sich etwas in ihrem Leben ändern musste. Wie ein Mantra wiederholte sie in Gedanken: So kann es nicht weitergehen! Während sie sich Schritt für Schritt,
mit schmerzenden Füßen vorwärts quälte, formte sich ihr Plan, an dessen Ende eine Firma stand, die nicht mehr, wie bisher, im Briefkopf zwei Partner auswies.
Der Marktplatz im idyllischen Hohnstein wirkte noch wie ausgestorben, als Luise Marschall die Bäckerei Mehnert betrat. Sie kaufte, wie täglich, zwei frische Semmeln und plauderte kurz mit der Bäckerin, bevor sie ging. Winkend grüßte sie Mary, die gerade ihr Lädchen aufschloss und lief dann auf das große Tor der Burg Hohnstein zu.
Sie liebte ihren Arbeitsplatz. Die einst böhmische Herrschaftsburg, welche vermutlich im zwölften Jahrhundert gebaut wurde und anfangs dem Schutz der Handelsstraßen und als Grenze zur Mark Meißen diente. Wie jedes alte, ehrwürdige Gemäuer, hatte auch Burg Hohnstein seine eigene Geschichte. Nachdem 1443 der Kurfürst von Sachsen die Herrschaft an sich nahm, wurde Hohnstein zum Verwaltungs- und Justizamt für fünf Städte und 48 Dörfer der Region. Sie diente ebenso als Jagdschloss und Staatsgefängnis. Im Jahr 1934 begann der Ausbau zur größten Jugendherberge Deutschlands. 1933/1934 war sie Schutzhaftlager für politische Gefangene. Ein Jahr darauf, Herberge, Schullandheim, Wehrertüchtigungslager. 1939 fungierte die Burg als Kriesgsgefangenenlager. Nach dem zweiten Weltkrieg bot sie Obdach für Flüchtlinge und Vertriebene. 1997 wurde mit der Erweiterung zur Familienferienstätte begonnen. Heute bietet sie als Besichtigungsstätte und Naturfreundehaus wieder vielen Gästen einen erholsamen Aufenthalt. Erlebnisreich und spannend aufgrund der Vielzahl an Angeboten, Attraktionen, Veranstaltungen und Vorträgen.
Viele Requisiten in den Ausstellungsräumen des Museums, sowie original erhaltene Räumlichkeiten, wie der berüchtigte Kerker, sind noch heute stumme Zeugen der Vergangenheit. Luise nahm ihren täglichen Weg durch den unteren Burghof am mittleren Schloss vorbei, durchquerte den oberen Burghof, lauschte für Augenblicke dem sanften Plätschern des kleinen Teiches vor dem Pavillon, bevor sie ihren Weg fortsetze und den großen Burggarten betrat. Dort suchte sie sich ein Plätzchen mit unwiderstehlichem Panoramablick, an dem sie ihre Frühstücksutensilien auspackte.
Die Sächsische Schweiz, Burg Stolpen, dass alles hatte Sandra hinter sich gebracht. Ihre Fersen zierten schmerzende, entzündete Blasen. So tauschte sie die derben Wanderschuhe gegen bequemere Turnschuhe ein. Dennoch schmerzte jeder Schritt. “Du bekommst mich kein Stück weiter!” stöhnte sie. “Jetzt hab dich doch nicht so. Die paar Kilometer bis nach Hohnstein schaffst du noch, dort ist Endstation vorerst. Da kannst du dann deine Wehwehchen pflegen!” meinte Nils mit verächtlichen Unterton. Sandra beachtete diesen nicht, zu froh war sie, zu hören, dass die tagelangen Wanderungen endlich ein Ende haben sollten. Sie mobilisierte alle Kraftreserven, stapfte tapfer hinter Nils her. Am späten Nachmittag erreichten sie Hohnstein! Ein märchenhafter Ort, wie aus dem Bilderbuch. Mit verschlungen Wegen, kleinen Gassen, gemütlichen Bistros und einem Marktplatz wo es sogar noch einen “Tante Emma” Laden gab. Die majestätische Burg war ebenso faszinierend, wie das Familiengästezimmer im unteren Schloss, welches Nils vor der Reise noch gebucht hatte. Sandra zog ihre Schuhe aus und ließ sich auf das gemütliche Bett fallen, erschöpft, müde und hungrig.
Ausgeschlafen und gut erholt erwachte Sandra am anderen Morgen. Nach einer erfrischenden Dusche folgte sie Nils auf die Terrasse des Burgcafès. Während er sich setzte, ließ sie ihren Blick über die Mauern schweifen. Was sie sah, war die Strapazen wert, die hinter ihr lagen. Zur einen Seite lag das verträumte Örtchen mit seinen kleinen Häuschen, was aus dieser Perspektive wie eine Spielzeugmärchenstadt aussah. Zur anderen Seite reichte der Blick über die Wipfel der Bäume und Steinmassive weit ins Sachsenland hinein. Es war atemberaubend schön. Sandra atmete tief die frische Luft ein, drehte sich mit einem Lächeln um, setzte sich zu Nils an den Tisch. Nach einem ausgedehnten Frühstück, schloss sie sich spontan der Führung einer Reisgruppe im Schloß an, während Nils es vorzog, erneut die Wanderschuhe zu schnüren um die Gegend, rund um die Burg herum, zu erkunden.
Gebannt lauschte Sandra der Dame, welche interessante Details der Burggeschichte vermittelte. Als die kleine Gruppe den Burggarten erreichte, hörten sie plötzlich die Rufe einer Frau. “Mauzi! Marianne! Wo seid ihr?” Sandra blickte sich suchend um, konnte jedoch die Person zur Stimme nicht ausmachen. Sie hörte abermals interessiert den Interpretationen der Museumsführerin zu, bis ihre Aufmerksamkeit aufs Neue unterbrochen wurde. Die beinahe schon verzweifelten Rufe wurden immer lauter. Dann sah Sandra eine Gestalt näher kommen. Die hochbetagte Frau, schmächtig und gramgebeugt, lief, auf einen Stock gestützt, langsam an der Brüstung entlang. Ihr Blick schweifte suchend umher, während sie immer wieder die beiden Namen rief. Ein Gemurmel wurde laut. Die Teilnehmer der Führung waren auf einmal beunruhigt. “Kein Grund zur Besorgnis!” beschwichtigte Luise Marschall. “Das ist Mütterchen Gruschke. Alle im Ort hier nennen sie so. Seit Jahren kommt sie Tag für Tag, bei Wind und Wetter auf die Burg. Sie gehört schon hierher, wie die Requisiten der vergangenen Zeiten” Neugierige Blicke, erstauntes Gemurmel folgten dieser Aussage. “Wonach sucht sie denn? Nach wem ruft sie da?” wollte ein junge Frau neugierig wissen. “Das ist eine traurige Geschichte!” Luise seufzte. Nicht zum ersten, wohl auch nicht zum letzten Mal, würde sie diese nun erzählen.
“Erna Gruschke, war eine der vielen Flüchtlinge hier auf Burg Hohnstein. Eines Tages verschwand ihre kleines Töchterchen spurlos von diesem Ort. Sie war ihrem Kätzchen nachgelaufen. Trotz intensivster Suche wurde sie jedoch niemals gefunden.” Sandra zuckte schmerzlich zusammen, als hätte sie ein Schlag getroffen. Wie erstarrt hörte sie weiter zu.
“Viele Geschichten ranken sich um das mysteriöse Verschwinden des Mädchens. Manch ein Besucher, der hier übernachtete, hat schon behauptet, mitten in der Nacht, im Schlossgarten ein kleines blondes Mädchen erblickt zu haben!” Schauergeschichten, dachte Luise bei sich und noch immer fröstelte sie, wenn sie Mütterchen Gruschke begegnete. Etwas unheimliches hatte diese Sache schon. “Eine Burg mit Schreckgespenst also!” warf ein älterer Mann aus der Gruppe ein. “Ich arbeite bereits seit Jahren hier und sie können gewiss sein, mir ist noch kein einziges Gespenst über den Weg gelaufen!” Luise war dankbar für diesen Einwurf, da sie mit dem kleinen Scherz, der traurigen Geschichte den Schrecken nehmen konnte. Ein Kichern ging durch die Gruppe. Während diese sich wieder in Bewegung setzte, sah Sandra den Weg hinauf, den die alte Frau eingeschlagen hatte. An einer Laterne blieb diese stehen, stützte sich schwer atmend ab, ruhte sich aus. Als sie sich umsah, blickte sie Sandra direkt in die Augen. Tiefe Trauer, Verzweiflung und Unrast lagen in diesem Blick. Sandra fühlte das unermessliche Leid der alten Frau beinahe körperlich. Schnell wand sie sich ab, lief den anderen nach und schloss sich der Führung wieder an.
Während des Abendessens im gemütlichen Gästezimmer, erzählte Sandra, Nils die Geschichte der Erna Gruschke und deren verschwundener Tochter. Sie hoffte sehr, er würde endlich einmal mit ihr über das reden, was seit zwei Jahren unausgesprochen blieb. Ihm war sofort klar, worauf sie hinauswollte. “Willst du jetzt auf diese Art alte Geschichten wieder aufwärmen?” fragte er mit gereiztem Unterton. Sandra war geschockt. Für ihn war der Tod seiner eigenen Tochter, eine alte Geschichte! Unfassbar. Seine Kälte ließ sie erstarren.
Ein Wort ergab das andere. Während dieser heftigen Debatte schleuderte Sandra ihm wütend entgegen, dass sie es satt hatte, noch länger an der Seite eines so egoistischen, gefühlskalten Ehemannes zu leben. Ungläubig sah er sie an, ohne noch irgendeinen Kommentar abzugeben, drehte er sich um und stürmte zur Tür hinaus.
Nils Steinert irrte ziellos durch den großen Schlossgarten. Dunkelheit war hereingebrochen. Die ersten Sterne leuchteten am Himmel, doch er hatte keinen Blick für die Schönheiten der Nacht. “Du verlässt mich nicht!” brüllte er in einem plötzlichen Anfall aus Wut und Ohnmacht laut hinaus. Seine Worte wurden in einem mehrfachen Widerhall zurückgegeben. Erstaunt lauschte er. Wie aus dem Nichts heraus, tauchte überraschend eine schwarze Katze vor ihm auf, fauchte ihn an. Nils erschrak und taumelte, als er vor dem Tier zurückwich.
“Mauzi, nicht weglaufen!” vernahm er ein glockenhelles Stimmchen.
Ein kleines Mädchen, mit langem blonden Haar, rannte an Nils vorbei, dem Kätzchen hinterher. “Na warte nur, du Ausreiser, gleich habe ich dich eingeholt!” rief es fröhlich.
Nils stutze, rieb sich die Augen. Träumte er? Dann starrte er auf die fast leere Rotweinflasche in seiner Hand. Er trank sonst nie. War ihm der Alkohol zu Kopf gestiegen? Vermischten sich hier Realität und Vergangenheit? In der Hoffnung, dem Spuk ein Ende bereiten zu können, setzte er die Flasche an und trank sie bis zur Neige. Dann schleuderte er diese mit voller Wucht weit von sich. Ein klägliches Miauen erklang, danach war Totenstille. Nils torkelte weiter. Was er dann sah, ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Das kleine Mädchen lag Bäuchlings auf den Felsen, den Rumpf gefährlich weit über dem Abgrund, hielt sich mit einer Hand am Geländer fest, schrie angstvoll nach ihrem Kätzchen. Nils zögerte keine Sekunde. Auch in seinem volltrunkenem Zustand wusste er, was passieren würde. Diesmal musste er sie retten, durfte nicht noch mal zu spät kommen. “Halte durch Kleines. Papa ist gleich bei dir!” rief er seiner vermeintlichen Tochter zu. Nach wenigen Sekunden, die wie eine Ewigkeit erschienen, erreichte er das Geländer. Er streckte seine Hand aus, um nach dem Mädchen zu greifen, doch genau in diesem Augenblick, verlor es den Halt und stürzte in die Tiefe. “Nein!” schrie er wie von Sinnen. In dem verzweifeltem Versuch, sein kleines Mädchen noch zu retten, beugte er sich über die Brüstung, verlor das Gleichgewicht und stürzte hinunter. Drei Meter tiefer wurde sein Fall abrupt gestoppt. Hart schlug sein Körper auf einem Felsvorsprung auf. Er hörte deutlich das Knacken als sein Genick brach. Danach wurde es dunkel um ihn.
Für Nils Steinert kam jede Rettung zu spät, nur seine Leiche konnte noch geborgen werden. ”Hier ist noch etwas!” hatte einer der Bergwachtmänner gerufen. Er hatte ganz zufällig den, von dichtem Gestrüpp zugewucherten, Eingang in eine Felsenhöhle entdeckt. Darin lagen die sterblichen Überreste zweier Wesen. Die kleine Marianne und ihr Kätzchen waren so endlich gefunden. Mütterchen Kruschkes verzweifelte Suche hatte damit ein Ende. Wenige Wochen nach dem Fund schlief sie für immer friedlich ein, wieder vereint mit ihrem kleinen Mädchen. Sandras Steinerts Wunsch, das am Ende eine Firma stand, die nicht mehr, wie bisher, im Briefkopf zwei Partner auswies, war auf grausame Weise zur Wirklichkeit geworden.
Texte: ohne meine ausdrückliche Genehmigung nicht zum Copyright zugelassen
Tag der Veröffentlichung: 24.01.2009
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