Wir waren uns der Ausmaße unserer Handlung sehr wohl bewusst, und doch wollten wir es beide. Ich hatte die Schnauze voll vom Leben, hatte schon zu viele falsche Menschen gesehen und kennengelernt. Und wenn ich so Jeremy retten konnte…
Kira aber wollte die Welt im wahrsten Sinne des Wortes aus meiner Sicht der Dinge betrachten, und da ich ihren Körper – zumindest den Rest – für die Beerdigung haben konnte, war ich nur allzu einverstanden gewesen. Ein letztes Mal sahen wir einander aus den eigenen Augen an. Dann begann die Maschine zu rattern.
Ich schlug die Augen auf. Meine Sicht war verschwommen, verwirrt schwenkte ich den Kopf hin und her und blinzelte wie blöd, doch es besserte sich nicht. Ein paar Dinge aber konnte ich doch erkennen: Mein gesamtes Umfeld war weiß, nicht schön weiß, sondern wie dieses kalte, sterile Krankenhausweiß. Mein Bett, die Decke, selbst die Gesichter der Gestalten, die im Zimmer herum huschten, waren weiß. Ich hob die Hände. Auch sie hatten die Farbe des Porzellans meiner Großmutter.
Mit einem Schlag erinnerte ich mich an alles, und wellenartig ließen Panik und Ungläubigkeit meinen – oder Kiras? – Körper zittern. Hysterisch begann ich nach Luft zu schnappen, doch bevor ich wirklich begriff, presste mir schon jemand eine Maske aufs Gesicht und ich stürzte zurück in ein schwarzes Loch voller Alpträume.
Als ich das zweite Mal erwachte, war ich durch die schrecklichen Bilder meines Schlafs irgendwie vorbereitet. Dennoch zitterte ich, und das Laken war schweißnass. Es bot sich mir noch dasselbe Bild, ich konnte immer noch nicht deutlich sehen. Aber jetzt verstand ich, warum: Kira hatte früher eine Brille, doch seit sechs Jahren trug sie immer Kontaktlinsen, sodass ich ihre Sehschwäche schon fast vergessen hatte. Kira hätte sich die Augen operieren lassen, wenn wir nicht…
Bevor ich mich allerdings zu einem Nachttisch umdrehen und dort nach einer Brille tasten konnte, kam eine der weißen Gestalten auf mich zu und schob mir eine auf die Nase. Dann streckte sie mir die Hand hin. Ich musterte die Frau misstrauisch, doch ihr Lächeln war pure Freundlichkeit. Ob diese nicht aufgesetzt war, konnte ich in meinem Zustand nicht beurteilen. Zögernd reichte ich ihr die Hand.
„Hallo, mein Name ist Dr. Miller. Wie fühlen Sie sich? Haben Sie starke Kopfschmerzen? Können Sie sich an etwas erinnern? Vielleicht erstmal an ihren Namen?“
Ich war verwirrt. Was redete die da nur? Sie hatten uns doch nicht etwa verwechselt!?
„Wo ist Kira?“ Ich verschluckte mich schier an den Worten, so schnell wollte ich sie aus meinem trockenen Mund hinaushaben. Und als ich begriff, mit wessen Stimme ich sprach, wurde mir schlecht.
„Ruhig meine Liebe, Sie sind verwirrt. Die Operation war nicht unproblematisch, es kann gut sein, dass sie sich an ihren Namen oder anderes, eigentlich präsentes, nicht sofort erinnern.“
„Ich weiß, wer ich bin. Amelie Clark. Reden Sie nicht so einen Müll, sagen Sie mir gefälligst, wo meine beste Freundin ist und wie es ihr geht.“
Die Ärztin seufzte, doch der Ausdruck der Engelsgeduld wich keinen Zentimeter von ihrem Gesicht.
„Schlafen Sie noch ein bisschen, ich sehe, Sie brauchen noch etwas Ruhe. Ist ja auch selbstverständlich, viele überleben einen solchen Autounfall nicht, erst recht nicht, wenn sie sich so sehr den Kopf stoßen...“
WAS!? Welcher Unfall? Was gab diese aufgesetzt grinsende Pute für einen Mist von sich?
Kira konnte doch nicht… nein… schnell blinzelte ich die Tränen weg. Vor dieser Tussi wollte ich nicht heulen, doch jetzt begriff ich, was wir getan hatten. Wäre Kira am Leben, wäre ich nicht wach.
Meine beste Freundin war tot. Und… es war meine Schuld. Verzweifelt versuchte ich, das stechende Schuldgefühl zu ignorieren, das mir schon wieder das Wasser in die Augen trieb. Dr. Miller lächelte die ganze Zeit seelenruhig auf mich herab, während in meinem Inneren Gefühle gegen Willen kämpften.
Mein Wille gewann gegen die Trauer, doch bevor er, ich oder die Ärztin richtig begriffen, was ich tat, hatte ich schon die Uhr vom Tischchen in der Hand und schleuderte sie Dr. Miller ins Gesicht. Sie konnte ausweichen, doch das widerliche Grinsen war verschwunden.
„Wo ist Kira!? Sagen Sie mir, was mit ihr passiert ist!“
Dr. Miller beantwortete meine Fragen nicht, sie sagte nur etwas verkniffen: „Schlafen Sie.“
Schon spürte ich, wie die künstliche Müdigkeit eines Schlafmittels mich zum dritten Mal innerhalb weniger Tage – oder Stunden – übermannte.
Auch dieser Schlaf war von düsteren Träumen erfüllt, doch zum ersten Mal wachte ich auch in einer solchen Düsternis auf. Wieder zitterte ich, doch diesmal waren weder Trauer noch Angst die Ursache. Ich hatte seit Beginn der Operation, die mittlerweile bestimmt vierundzwanzig Stunden her war, nichts mehr gegessen und ich hatte viel zu viel geschlafen, das musste sich ja irgendwie auf meinen - oder war es Kiras? – Körper auswirken. Um irgendetwas im Magen zu haben, schluckte ich die in meinem Mund übrige Spucke, allerdings blieb mir dabei fast die Zunge am Gaumen hängen.
Das einzige meiner Umgebung, dessen ich mir sicher war, war, das ich auf etwas weichem lag. Ob es dasselbe Bett war, in dem ich nach der Operation zum ersten und zweiten Mal aufgewacht war – keinen blassen Schimmer. Das unkontrollierte Zittern verringerte ich, indem ich ein paar Mal tief ein-und ausatmete. Dabei fing ich den sterilen Geruch eines Krankenhauses auf, allerdings erinnerte ich mich nicht, ihn schon einmal beim Aufwachen wahrgenommen zu haben. Das langsame, tiefe Atmen half, bald hatte ich mich und meinen – Kiras – Körper wieder unter Kontrolle.
Vielleicht war irgendetwas in meiner Umgebung, doch um mich umsehen zu können, musste ich den Kopf wenden. Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, dass ich das nicht konnte. Ein Riemen spannte sich über meine Stirn und hielt meinen Kopf sanft, aber unnachgiebig in einer Position.
Mit einer grausamen Vorahnung unternahm ich den Versuch, die Hände anzuheben. Fehlanzeige. Auch Beine und Füße ließen sich nicht einen Zentimeter bewegen, selbst Hüften und Bauch wurden von straff gespannten Bändern festgehalten. Als ich zu schreien versuchte, versagte meine Stimme.
Schon schlotterte ich wieder, mein Zähneklappern hallte laut in einem Raum wider, dessen Größe mir noch immer verborgen blieb. Mein Herz schlug so wild wie ein gerade gefangener Wildvogel im Käfig und pumpte das Adrenalin nurnoch schneller durch meine Adern.
Krampfhaft vertrieb ich die Horrorszenen aus meinem Kopf, die sich mir alle gleichzeitig aufdrängten.
Ich hatte zu viele solcher Filme gesehen und Bücher gelesen. Die Panikattacke dauerte wohl nicht länger als höchstens fünf Minuten, dennoch kam es mir wie eine Ewigkeit vor.
Die Zeit danach war noch schlimmer, ich lag nur kraft-, mut- und ahnungslos herum und wusste nicht, ob und was ich tun sollte oder konnte. Irgendwann schlief ich ein, vielleicht war es auch eine Ohnmacht. Ein merkwürdiges, nerviges Piepsen weckte mich, indem es erst Teil meines Traumes wurde und am Ende den ganzen Traum einnahm. Als ich mir die Augen reiben wollte, hielten die Riemen mich fest. Nein, in Panik ausbrechen würde ich nicht mehr. Dazu hatte ich nicht mehr die Nerven.
Plötzlich wurde es so strahlend hell, dass meine Augen, obwohl ich sie so schnell wie möglich schloss und fest zusammenkniff, vor Schmerz brannten. Ich hörte, wie eine Tür aufging und schwer wieder ins Schloss fiel. Schritte kamen näher. Nicht nur einer. Mindestens… vier. Vielleicht fünf. Sie stellten sich rund um mein Bett, ich konnte ihre Schatten durch meine Augenlider sehen. Ich versuchte nicht, die Augen zu öffnen. Vielleicht hätten sie mich dann wieder betäubt, und ich hätte sowieso nichts gesehen. Auf meiner Nase spürte ich keine Brille und das Licht war viel zu grell. Ein Mann begann zu sprechen.
„Amelie Clark?“ Ein Krächzen kam au meiner Kehle, das eigentlich ein Ja sein sollte. Gleich darauf schrie ich erschrocken und schmerzerfüllt auf, als ein elektrischer Schock meinen Körper heftig zucken ließ.
„Das sind Sie nicht. Sie sind Kira Taylor. Ihre beste Freundin und Sie hatten einen Autounfall, bei dem Amelie Clark ums Leben kam, ihr größter Wunsch ist es, Medizin zu studieren. Haben wir uns verstanden?“
„Was… argh!“ Noch ein Stromschlag, stärker.
„Haben wir uns verstanden?“, fragte der Mann, diesmal eindringlicher.
„Ja“, ächze ich mit schwacher Stimme.
„Wir brauchen Ihre Unterschrift. Kira Taylors UND Ihre. Sollten Sie uns verraten oder irgendwelche Probleme machen, werden wir Ihre Familie in Schwierigkeiten bringen.“ Die Schlinge um meinen rechten Arm wurde gelöst. Jemand drückte mir einen Kugelschreiber in die Finger und führte meine Hand zu einem Klemmbrett. Aus Angst vor einem weiteren Stromschlag schrieb ich blind - und wahrscheinlich nicht sonderlich schön – Kiras und meinen Namen unter den Vertrag.
„Okay, “ sagte eine Frauenstimme, „wir werden Sie jetzt zu Ihrer neuen Familie bringen. Sie werden sich so verhalten wie Ihre beste Freundin sich verhielt und Sie werden nicht auffallen. Wenn Sie es doch tun, wird uns der Pfleger, den Sie wegen Ihrer tiefen Trauer um Ihre Freundin erhalten werden, informieren.“
In meinem Kopf wirbelte alles durcheinander, und doch herrschte gleichzeitig gähnende Leere.
Ich sollte einfach so weiterleben. Ins Leben zurückkehren. Aber nicht einfach in irgendein Leben.
Ins Leben meiner besten Freundin.
Texte: K. S. F.
Bildmaterialien: M. J. A. St.
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2013
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