Vereint
Du sagst, alles ergebe einen Sinn, alles habe seinen Grund? Wie erklärst du mir dann den Sommertag, neulich, als wir uns am Strand getroffen haben, zum letzten Mal?
Es war so schwül-heiß, dass die Luft über dem Sand, über dem Meer flimmerte. Nur in Shorts und Badehose, mit nacktem Oberkörper, war dennoch jeder Fetzen meiner Haut mit einem dünnen Schweißfilm bedeckt. In der Strandhütte, die sie Bungalow nennen, hatte ich mich geduscht, zum zweiten, oder dritten Mal an diesem Tag, und dennoch lechzte ich schon wieder nach Wasser, nach dem Meer. Ich konnte es kaum erwarten: zuerst der warme Schaum an meinen Füßen, dann die flache Gischt gegen meine Beine, meinen Bauch, und endlich den Sprung ins tiefere Wasser, den Kraul durch die kühlen, blauen Fluten, bald bodenlos unter mir wogend, das Gefühl eins zu sein mit der Unendlichkeit des Ozeans.
An jenem Nachmittag wollten wir uns wieder treffen. An unserer Stelle, weit draussen auf der Bucht, dort wo kein Tourist jemals seinen Weg hinfand, - hätte er doch über spitze Steine klettern müssen, oder aussen herum schwimmen. Dort, wo kein sanfter Strand schräg und sanft hinunterführt, sondern das Meer direkt und senkrecht und steil hinabfällt. Dort, wo es die gefährlichen Strömungen gibt, die dich schnell und ohne Warnung packen können, um dich weit hinauszuziehen, unter Wasser und tief hinunter, ohne dass dir Zeit geblieben wäre, noch einmal Luft zu holen.
Wir aber trotzten der Strömung, zuerst der eine, dann die andere. Wir fanden unseren Weg, teils über Wasser, teils unter Wasser; wir hangelten uns an den spitzen Felsen entlang, durch die spritzende, tosende Brandung hindurch. Wir tauchten tief, über uns das schwächer werdende Licht der einen Welt, unter uns die Schwärze der anderen. Von wirbelnden Wassermassen durchgeschüttelt, von grellbunten Korallenfischen bestaunt, fanden wir unseren Weg bis zur äußersten Spitze der Bucht. Erschöpft und euphorisch, ohne einen einzigen Gedanken an den gleichen beschwerlichen Weg zurück, kletterten wir zwischen den großen Felsblöcken an Land, torkelten trunken vor Leben über den nassen festen, dann feinen heissen Sand hinauf. Über uns das Kreischen der aufgebrachten Möwen, hinter uns das brüllende Meer; klatschende Wellen gegen die Felsen, das saugende Geräusch von rückziehendem Wasser durch Hohlräume im Stein.
So fanden wir uns, zuerst die eine, dann der andere. Fanden uns in unserer Welt, unserer eigenen kleinen Welt, abgeschottet von der anderen Welt draussen.
Nur du und ich.
Und wir liebten uns im heissen Sand, hielten uns eng umschlungen, enger noch wie ein Ertrinkender sich am rettenden Treibholz festhält. Wir rollten den Strand hinunter ins Wasser hinein, wuschen den Sand ab, und liebten uns erneut, im Wasser und wieder im Sand.
Viele Male trafen wir uns. Wir redeten, und wir lachten, wir weinten, weinten vor Glück. Und das reden, lachen, weinen wurde eins mit der Liebe, die wir machten, wurde Teil von ihr. Und dann glaubte ich, diese Liebe zu atmen, spürte sie im Sand, im Wasser, hörte sie im Schreien der Möwen, mit jedem Schlag der Brandung. Und ich glaubte sie zu fühlen in dir, an dir, mit jeder nassen Berührung deiner Haut, mit jedem Kuss von mir und von dir. Ich roch Liebe an dir, in deinen salzigen Haaren, schmeckte sie gar in deinem Mund und zwischen deinen Beinen.
So glaubte ich.
Bis ich dich traf mit einem anderen mich, an unserem Platz, in unserer Welt. Ein anderes Ich für dich, für mich nur ein anderer. Sogar gerufen hattest du mich. Weisst du noch? Du riefst mich hinüber, der andere grinsend in deinen Armen, vor Lust war dein Gesicht entstellt, so entstellt wie ich es niemals in deiner Lust mit mir gesehen hatte. Und auch mich packte die Lust, genauso wie der Schmerz, und beinahe wäre ich hinübergelaufen, zu dir und zu mir, nein zu ihm und zu dir. Stattdessen drehte ich mich um und warf mich ins Wasser zurück. Ich schwamm hinaus, schnurgerade hinaus aufs offene Meer, hangelte mich nicht an den Felsen zurück. Weit schwamm ich, so weit, so kräfteverschwendend weit, dass ich bald nicht mehr schwimmen konnte.
Und die immer größer, stärker, höher werdenden Wellen spielten mit mir, warfen mich hinauf und liessen mich wieder hinabstürzen, fielen über mir zusammen und drückten mich unter Wasser. Und das tiefe endlose Meer lockte mich hinab, während das Licht über mir langsam schwand, und die Dunkelheit eins wurde mit dem Meer unter mir. So eins, wie du und ich. So eins wie bald ich mit dem Meer. Vereint für einen fliehenden Moment. Bis das Leben uns trennt, dich und mich, und der Tod uns trennt, mich und das Meer.
Und du sagtest einmal, alles ergebe einen Sinn, alles hätte seinen Grund. Einen Grund, so tief wie das Meer?
Tag der Veröffentlichung: 09.09.2011
Alle Rechte vorbehalten