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Einbahnstraße

In Thailand gehört das Sterben zum alltäglichen Leben. Mord, Selbstmord oder Unfall, jeden Tag trifft es ein paar Dutzend Menschen, allein in der Stadt Bangkok. Seltener findet man die Leiche eines Touristen, aber das ist genauso unbedeutend wie der Tod eines Einheimischen. Nur die Art und Weise, wie die beiden Deutschen an ihrem ersten Urlaubstag ums Leben gekommen sind, ist ungewöhnlich für dieses Land, wo das Leben nur eine kurze, unwesentliche Umdrehung auf dem ewigen Rad der Wiedergeburten ist...

Als ich damals zur deutschen Botschaft gehen musste, steckte ich in einer persönlichen und finanziellen Krise.
Meine langjährige Freundin hatte mich verlassen und vorher noch meine Konten geplündert. Der Herzschmerz und der Verlust meiner Ersparnisse hatten meine Gedanken so durcheinander gebracht, dass ich beinahe versäumt hätte, meinen Reisepass zu verlängern.
Am letzten gültigen Tag war es mir Gottseidank eingefallen, und ich sprang in das erstbeste Taxi. Ohne zu feilschen liess ich mich zum Botschaftsgebäude fahren, wo ich gerade noch rechtzeitig, zehn Minuten vor Toreschluß um zwölf Uhr mittags, eintraf.
Selbst im menschenleeren Empfangsraum musste ich die unvermeidlichen zwei Wartestunden hinter mich bringen, bevor ich in ein Büro gerufen wurde und mich vor den Schreibtisch eines Sachbearbeiters setzen durfte.
Trotz der eiskalt aufgedrehten Klimaanlage war der Angestellte in Schweiss gebadet. Seine Finger zitterten, und seine Gesichtsfarbe war leichenblass, so dass man es kaum für möglich gehalten hätte, dass der Mann in den sonnigen Tropen lebte!
Etwas schien seine geordnete Arbeitswelt in Aufruhr gebracht zu haben...

Mit fahrigen Bewegungen und in die Ferne gerücktem Blick hatte er es fertig gebracht, aus einer gewöhnlichen Reisepassverlängerung einen mittelgroßen Umstand zu machen.
Sein Stempel verfehlte zur Hälfte die Seite des roten Dokuments, beim zweiten Versuch vertat er sich im Datum und musste mit einem ärgerlich am Lineal entlanggezogenen Strich die ganze Ausweissseite ungültig machen. Ich stellte ihn mir als Chirurgen vor, und die Haare standen mir zu Berge.
Als er endlich seine Amtspflicht vollbracht hatte, zitterte ich fast vor Ungeduld - durfte mich aber für fünf weitere Jahre als Deutscher legal in Thailand aufhalten.
Wortlos schob er mir den Pass über die Tischplatte herüber, stand auf und vergrub die Hände in den Taschen seiner scharf gebügelten, grauen Anzugsuniformhose. Er machte keine Anstalten, mich zu verabschieden, lief ein paar Schritte in seinem winzigen Büro auf und ab und blieb schließlich in einer Ecke des Zimmers stehen. Er hob seine schmächtige Brust und entließ einen langgezogenen Seufzer.
'Dem muss ein Geist begegnet sein!' dachte ich und wollte ihn verlassen, als mich sein Blick traf. Die Augen des jungen Mannes erschienen mir so unendlich traurig, dass er mir plötzlich leid tat.
Ich entspannte mich, streckte die Beine aus und schob, ohne aufzustehen, meinen Pass in die Hosentasche.
"Haben Sie etwas auf dem Herzen?" fragte ich.
Zur Antwort nickte der Sachbearbeiter nur sekundenlang mit dem Kopf. Dann trat er zu einem kleinen, hohen Büroschrank, öffnete ihn und nahm eine schmuddelige, grüne Reisetasche heraus. Vorsichtig, als würde es sich um ein kostbares, zerbrechliches Gut handeln, trug er das Ding zu seinem Schreibtisch hinüber und stellte es sanft vor meinem Stuhl ab.
Ich runzelte die Stirn und senkte meinen Blick auf den unscheinbaren Seesack zu meinen Füßen. Der Botschaftsangestellte zog seinen Stuhl scharrend zurecht, setzte sich mir wieder gegenüber und räusperte verlegen.
"Ich... muss es mir von der Seele reden", begann er leise seine Geschichte und verschränkte die Hände unter dem Kinn. "Ich kenne Sie zwar nicht, aber ich muss mit jemandem darüber sprechen - in meiner Muttersprache. Und meine Kollegen lachen nur und machen sarkastische Bemerkungen - aber mich nimmt es einfach zu sehr mit, verstehen Sie? Ich bin erst sechs Monate in diesem Land..."
"Ja, ja, erzählen Sie schon!" erwiderte ich und verstand nicht.
Meine Neugierde war geweckt, und ich hatte nichts zu tun an diesem Tag. Bei einem Ämtergang in Bangkok plant man viel Zeit ein - selbst wenn es sich um eine deutsche Behörde handeln sollte.
Also erzählte der Angestellte, und seine Worte klangen so pathetisch und klischeehaft, dass ich mir kaum ein Grinsen verkneifen konnte: "Heute morgen haben zwei junge Urlauber aus Deutschland jäh und unverhofft den Tod in Bangkok gefunden..."

Schwankend setzte die alte Tupulev-Maschine zum Landeanflug auf den Don Muang Flughafen in Bangkok an. Hans und Werner streckten mühselig die verschlafenen und verkaterten Glieder. Der lange Flug, die unzähligen Zwischenstops in Moskau und in längst wieder vergessenen Städten in Sibirien und Indien, hatte die Deutschen genauso ermüdet, wie der reichlich genossene Wodka an Bord der Aeroflot.
Hans und Werner verstauten die fast leere Flasche in der leichten grünen Tasche, in der sie nur die allerwenigsten Kleidungsstücke für ihre große Reise gepackt hatten. Sie grinsten sich an, in wenigen Minuten konnte das Abenteuer beginnen. Als das Flugzeug holpernd auf der Landebahn ausrollte, malte sich jeder der beiden jungen Männer aus, was sie in Thailand erwarten würde: menschenleere Strände, Sonne, Sand und Meer, heiße Tropennächte mit exotischen Schönheiten und Drinks von dem einheimischen Gebräu, Mehkong-Whisky.
Zügig passierten sie die Passkontrolle, durchquerten die klimatisierte Flughafenhalle und traten in die abendliche Tropenhitze ins Freie hinaus. Sofort wurden sie von einer Meute wild durcheinander rufender Taxifahrer umringt, die versuchten, sich gegenseitig die Kunden abspenstig zu machen.
Enttäuscht mussten sie ablassen. Die beiden Deutschen hatten längst beschlossen, nur das allernötigste Geld auf ihrer Reise auszugeben und auf jeden Luxus zu verzichten. Nur so, glaubten sie, ließe sich ihr Aufenthalt in Thailand so lange wie möglich ausdehnen...
Schon im Flugzeug hatten sie ihren alternativen Reiseführer gelesen, und so wussten sie genau, wie man zu Fuss und mit der Eisenbahn in die Stadt Bangkok gelangen konnte.
Mit großen Augen überquerten sie die Fußgängerbrücke über der Hauptstraße vor dem Flughafen, und sie reihten sich ein in die Trauben von Pendlern auf dem Weg zu dem kleinen Bahnhof von Don Muang.
Dort angekommen, waren sie von der ungewohnten Hitze durstig und erschöpft, und der Schweiss drang ihnen aus allen Poren ihrer ungewaschenen Körper. Gierig tranken sie am Kiosk einige eisgekühlte Colas und kauften sich eine Taschenflasche Mehkong.
Der Bummelzug nach Bangkok war überfüllt, aber die Thais machten gerne Platz für die langen Ausländer, die sich in dem engen Abteil die Köpfe an der Decke stießen, und ließen sie sogar am offenen Fenster sitzen.
Der schwüle Fahrtwind blies den Deutschen ins Gesicht, und sie beobachteten fasziniert die langen Reihen von Hütten aus Wellblech, morschem Holz und Pappe, die sich die Ärmsten der Stadt am Bahngleis entlang gebaut hatten.
Hans und Werner tranken abwechselnd aus der Flasche Mehkong; und am Ende der halbstündigen Fahrt hatten sie zwei fast bis zur Neige ausgetrunkene Schnapsflaschen in ihrer Tasche verstaut.
Zischend und mit quietschenden Bremsen hielt die altertümliche Dampflok im Hauptbahnhof "Hualomphong", mitten im Stadtzentrum Bangkoks. Erwartungsvoll sprangen die Urlauber von den unbequemen Holzbänken der dritten Klasse und ließen sich von der Masse der Reisenden aus dem Zugabteil treiben.
Der Schweiss war ihnen getrocknet, Alkohol kreiste in ihren Blutbahnen und ließ ein angenehm betäubendes Gefühl zurück. Die fast ungenießbaren Bissen kalten Huhns, im Flugzeug als Frühstück serviert, waren längst verdaut, und ein Riesenhunger machte sich langsam in den Mägen der beiden Deutschen bemerkbar.
Auf einer Sitzbank in der Bahnhofshalle stellten sie ihre Reisetasche ab und entfalteten die kleine Stadtkarte in ihrem Reiseführer. Mehrere Billighotels befanden sich in der Nähe, noch wenige hundert Meter, und sie würden auf ihrem Zimmer sein, könnten duschen, essen, ausruhen.
Dann würde ihnen die große Stadt ganz allein gehören!
Hans und Werner grinsten sich wieder an, und ihre Herzen klopften gleichermaßen vor freudiger Erregung. Sie nahmen ihre kleine Tasche zwischen sich und traten leichten Schrittes aus dem Bahnhofsgebäude.
Sie hatten gelesen, dass Bangkok mit einem ausgeklügelten Einbahnstraßensystem durchzogen sei, um die endlosen Staus in der mit Autos verstopften Millionenstadt einzudämmen. Sie wussten auch, daß in Thailand Rechtsverkehr herrscht.
Also schauten sie an der Hauptstraße nach rechts und warteten geduldig, bis der morgendliche Stossverkehr an der Ampel weiter hinten stoppte und die Fahrbahn frei geworden war.
Sie liefen auf die Straße, - und als sie das Hupen des Busses hörten, war es zu spät. Das Ungetüm aus Holz und Blech erwischte die beiden jungen Männer und warf sie mehrere Meter weit im hohen Bogen durch die Luft.
Sie waren schon tot, als ihre Körper auf den Asphalt stürzten.

Der Botschaftsangestellte verstummte und öffnete die unscheinbare grüne Tasche, die vor meinen Füßen stand. Zwei Schnapsflaschen lagen zuoberst auf einigen gefalteten, unbenutzten Hemden.
Er hielt mir eine Flasche vors Gesicht, und der farblose Wodka gluckerte schaurig im stillen Büro.
"Wie ein Wunder", sagte er, "sind die beiden Flaschen heil geblieben."
Plötzlich fröstelte es mich in der künstlich gekühlten Atmosphäre, und ein winziger Schauder krabbelte meinen Rücken hinunter.
Was hatte die beiden Jungen in den Tod getrieben? Übermäßiger Alkoholgenuss oder schlichte Unwissenheit?
Ich würde es nie erfahren. Ich konnte nur vermuten, daß es eine Kombination von beidem gewesen war - mit einer gehörigen Portion "Bhap", wie die Thais sagen.
Unheil oder Schicksal.
Hastig stand ich auf, winkte dem Sachbearbeiter einen kurzen Abschied zu und hatte meine Hand schon auf dem Türgriff, als ich ihn hinter mir flüstern hörte: "Das Schlimmste steht mir noch bevor, ich muss die Tragödie noch einmal erzählen. Morgen kommen die Eltern der beiden Toten nach Bangkok, um die Leichen ihrer Söhne abzuholen."
Leise klirrend hörte ich die Flasche in die Tasche zurückfallen, und ich öffnete entschlossen die Tür. Ohne mich noch einmal umzuschauen, verließ ich meinen Landsmann.
Ich hatte kein Mitleid mehr mit ihm.
Ich durchquerte den Warteraum, eilte an der thai-deutschen Rezeptionistin vorbei und flüchtete aus der unterkühlt klimatisierten Leichenhalle der Deutschen Botschaft.
Die Hitze draußen, über die ich immer so gerne geflucht hatte, schlug mir als vertraute Wolke entgegen. Wohlig hüllte sie mich ein und ließ meine Haut angenehm prickeln. Laut dröhnte der Verkehrslärm in meinen Ohren, ich hieß ihn willkommen.
Ich liebte den Lärm, genauso wie den Gestank der Abgase, den Staub und den Smog, der die Stadt in einen schmutzig-grauen Nebel einhüllt.
Ein neues Gefühl breitete sich in mir aus. Es war eine merkwürdige Erleichterung, eine Art von Euphorie, die mich in diesem Augenblick durchströmte.
Ich war am leben!
Und mit dieser Erkenntnis verloren sich meine Probleme und Sorgen, die ich bis dahin in einem schweren Bündel mit mir herumgetragen hatte, im Nichts.

Ich erreichte die Straße und schaute ganz vorsichtig nach rechts... und nach links. Ich wußte, daß die Stadtbusse in Bangkok von dem Einbahnstraßensystem ausgenommen sind und ihre eigenen Fahrspuren haben. Erst, als ich mir absolut sicher war, daß keines dieser Ungeheuer von links herangebraust kam, überquerte ich die Fahrbahn.
Ich hatte Zeit, viel Zeit, ein geschenktes Leben; und so beschloss ich, diesen Tag zu vertrödeln. Meine Gedanken waren leicht und unbeschwert, als ich meine Schritte in den nahgelegenen Lumpini-Park lenkte.


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Tag der Veröffentlichung: 09.09.2011

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