Melanie ging wie in Trance die Zeil entlang. An der Konstablerwache hatte sie sich von ihrer Clique getrennt und passierte gerade H&M und Zara. Am Freitagmittag war die Einkaufsstaße schon voll gepackt mit flanierenden Windowshoppern, und Melanie ließ sich von der Menge treiben. Rechts vorne sah sie schon den Karstadt und würde bald ihr Ziel, das Einkaufszentrum MyZeil erreicht haben.
Was für eine coole Klassenfahrt!, dachte sie. Das Museum war schnell abgehakt, und jetzt ist nur noch Shopping angesagt. Und das in Frankfurt! In Mainz klappten sie ja wirklich schon um 18.30 Uhr die Bürgersteige hoch. Außerdem gibt es nur hier in Frankfurt den hipsten, megamäßigsten Einkaufstempel aller Zeiten: das Hollister! Und in ein paar Minuten würde sie dort sein. Melanies Herz klopfte heftiger.
Den Vormittag hatte die Klasse 9f der Goetheschule Mainz im Kommunikationsmuseum verbracht. Dort gab es die Ausstellung "Spickzettel im Laufe der Jahrzehnte". Unter anderem wurde eine Uhr ausgestellt, in der ein findiger Schüler der 1950er Jahre eine winzig kleine Rolle Papier zum Abschreiben in seine Armbanduhr eingebaut hatte. Prompt war der Typ Ingenieur geworden.
Bestimmt sehr erfolgreich, dachte Melanie und grinste. Frau Schulte, die Deutsch-Lehrerin war überhaupt nicht begeistert gewesen. Eigentlich wollte sie ihren Schülern die "Geschichte der Kommunikation im letzten Jahrhundert" näher bringen. Dabei hatte sie keine Ahnung gehabt, was für eine Art Kommunikation gerade ausgestellt wurde. Die Schüler waren von den mannigfaltigen Spickmethoden begeistert und hatten einen sehr kurzweiligen Aufenthalt im Museum. Danach wurden sie freigestellt, und durften sich in Gruppen die Stadt ansehen, bis sich alle um 14 Uhr wieder zur Rückfahrt nach Mainz am Hauptbahnhof treffen sollten.
Melanie schlenderte am Karstadt vorbei und malte sich aus, wie sie in den tollen neuen Teilen aussehen würde. Mit einem völlig gelangweilten Blick würde sie ihrer Clique morgen in der Schule die Hollister-Errungenschaften vorführen. Zwei Tops und eine Jacke mussten es sein! Und vielleicht noch ein paar Römersandalen. Im Geist ließ sie ihre Kasse klingeln: 50 Euro von der Mutter für die „Eins“ in Deutsch (ja, die war verdient, sie hatte nicht abgeschrieben, und genausowenig ihre Nachbarin und beste Freundin Alice abschreiben lassen), 100 Euro vom Onkel (weil er vergessen hatte, ihr von seiner letzten Geschäftsreise in die USA die bestellte Abercrombie&Fitch-Jeans mitzubringen) und weitere 250 Euro, die sie von ihrem 500 Euro Konfirmations-Geld abzwacken wollte.
400 Euro zum ausgeben! Wie geil ist das denn! Melanies Herz raste auf Overdrive. Das langt sogar noch für ein Ed-Hardy-Parfum bei Douglas, und den blöden Shopper dort konnte sie bei der Gelegenheit gleich mitnehmen. Der ist zwar potthäßlich, aber mega-in, und kostet eh nur 10 Euro.
Sie erreichte das Schaufenster vom Douglas-Gebäude und lief prompt rot an. In der Auslage saß ein junger Mann mit nacktem Oberkörper und perfekt modelliertem Sixpack, ein lebendes Mannequin! Die "Schaufensterpuppe" lächelte Melanie zu und winkte ihr. Gott wie peinlich, dachte sie, ich bin direkt vor ihm stehen geblieben und starre ihn an. Sie kicherte verlegen, warf ihm einen Blick zu, den sie für kokett hielt, und ging schnell weiter. Auf dem Rückweg würde sie wieder vorbeikommen und konnte dann immer noch hineingehen.
Wieso hat mich dieser halbnackte Esel so verwirrt, dachte Melanie. Wer konnte schon was mit diesen künstlichen Typen anfangen? Wahrscheinlich hat er eh eine Erbse im Kopf als Hirn. Außerdem wird er mindestens schon 20 sein, also viel zu alt! Ihr Schulkamerad Sören war eher dünn und schlaksig, dafür viel größer als dieser doch eher kleine Modeltyp. Und ein Sixpack würde Sören wohl nie im Leben entwickeln. Dafür war er ernst und klug, und machte sie vor allem nicht so dumm an wie die meisten der anderen Jungs in ihrer Klasse. Warum dachte sie bloß andauernd an Sören? Der war ja mediensüchtig! Laberte pausenlos über Games, Onlinezocken, und konnte sogar in der Klasse während des Unterrichts seine Finger nicht vom iPhone lassen. Aber ein geiles Handy hatte er und wunderschöne zarte Hände dazu.
Heute morgen im Zug nach Frankfurt hatte er sich sogar ein paar Minuten von seinen Kumpels getrennt und war den Gang runter extra langsam an ihr vorbeigegangen. Eine endlos lange Minute schaute er sie an, und brachte sogar ein schiefes Lächeln zustande. Wie süß! War das aus Interesse an mir, oder wollte er nur vor seiner Clique angeben? Mensch, käme Sören mir jetzt entgegen, das wäre obermegageil!
Wieder kam ihr das Hollister in den Sinn, und ihr Herz schlug noch einen Takt höher. Auch vor dem Hollister haben sie männliche Models, die nackte Oberkörper zeigen, fiel ihr ein. Schon bereute sie den Streit mit ihrer Clique vorhin, die unbedingt zu H&M wollten. Mit ihren Freundinnen wäre das Erlebnis perfekt. Sie könnte lässig mit ihren Geldscheinen wedeln, und so tun, als wäre sie jede Woche zum Shoppen hier.
Sören war ebenfalls auf der Zeil unterwegs. Er ging in die andere Richtung, Melanie entgegen. Sören wollte zu GameStop, das neue PC-Spiel „FIFA 11“ kaufen. Nicht dass er unbedingt scharf darauf war, das Spiel am PC spielen zu wollen. Er wollte sich nur schon damit vertraut machen, damit er es auf dem iPhone spielen konnte, sobald die App dafür herauskommen würde. Er brauchte ein halbwegs cooles Game für die Schule, um sich von dem blöden Farming auf Facebook abzulenken. Sören spielte Farming nur, weil es ein Onlinespiel war, und ihn somit an das „Spiel der Spiele“ überhaupt erinnerte: Wars Of World. Dieses Spiel war zu umfangreich, um auf einem Handy gespielt werden zu können.
Ich brauche das iPad, dachte Sören, dann kann ich zumindest auf dem Klo spielen, oder auf dem Schulweg im Bus. Auch Sörens Herz raste, er wusste dass in eben diesem Moment eine feindliche Bande seinem Charakter „Exitus Warrior“ auflauerte, um ihn vernichten zu wollen. Sollte er in ein Internetcafe einkehren, um sich kurz einzuloggen? "Das Spiel" ging schließlich weiter, auch wenn er nicht online war. Seine Gegner schliefen nicht: er kannte einige Mitspieler, die wirklich Tag und Nacht online waren. Wahrscheinlich warfen die Speed ein, oder gleich Koks und blieben wochenlang wach! Nein, besser er brachte diese Klassenfahrt hinter sich. Dann hatte er wieder endlos Zeit, zu spielen. Den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht durch, immerhin war morgen Samstag, und er konnte ausschlafen. Inzwischen war sein Charakter mehrere Tausend Euro wert, über die Jahre hatte er soviele Gegner erledigt und soviele Quests gewonnen, dass sein Schurke superstark und entsprechend wertvoll geworden war. Dafür zahlte Sören 12,90 Euro jeden Monat für den Zugang zu dem Wars Of World Portal. Ein kleiner Preis für eine total neue Welt, in der niemals Langeweile herrschte, und die ihm andauernd Adrenalin pur verschaffte!
Sören hielt sein iPhone in der Hand (leider nur die 3. Generation und nicht, noch nicht!, das brandneue iPhone 4) und tippte eher abwesend und automatisch auf den Touchscreen. Das kleine Display war zwar ein Abturner im Vergleich zu seinem 21-Zoll Flachbildschirm zuhause, aber es gab schon eine paar coole Apps, die sich easy auf dem iPhone spielen ließen. Gerade spielte er den Klassiker „Asteroids“; er war gut und hatte schon 11 Levels geschafft. Erst als ihn ein Passant anrempelte, schoss Sören daneben und sein Raumschiff wurde von einem Asteroiden gerammt.
Auch Sören war allein. Er hatte sich von Ludwig und Malte getrennt, die zu Elektro-Conrad wollten.
"Wie langweilig!" hatte Sören seinen Freunden zugeworfen. "Conrad gibt's doch auch in Mainz. Ich will in den coolen Zockerladen, da habe ich wenigstens eine ordentliche Auswahl. Und nachher gehe ich vielleicht noch in den Apple-Store.“ Klar, auch den gibt’s in Mainz, aber der in Frankfurt ist natürlich viel größer!
Sören schob das Asteroidenspiel beiseite und klickte auf den Facebook-Icon. Vielleicht gab's ja eine Nachricht von seinem Kumpel Björn, andererseits war der wohl eher auf Twittr online. Aber dann blieb Sören doch auf Facebook und kümmerte sich ein wenig um seine Farmen. Parallel dazu lief das Musikprogramm und Clueso nölte in voller Lautstärke in seine Ohren: „Ich bin dabei, du bist dabei, wir sind dabei, uns zu verlieren..“
Ein Anruf von seiner Mutter kam durch, doch er drückte sie sofort weg. Die würde eh nur wieder nerven, weil er nicht wie versprochen um 12 Uhr angerufen hatte, nachdem sie aus dem Museum draußen waren.
Plötzlich musste er an Melanie denken. Sie war hübsch und groß und schlank, und sehr ernsthaft, und eine der Klassenbesten. Nicht so ordinär wie Bianca und Jessica in ihren nuttenhaft kurzen Miniröcken und weit ausgeschnittenen Tops, die ganz offensichtlich beide um ihn konkurrierten und ihn immer abwechselnd anmachten: „Sööören! Wen von uns findest du hübscher?“
Melanie ist eine „stille Schönheit“, hatte sein älterer Bruder einmal gesagt, der in die 12. ging und Melanie auf dem Schulhof gesehen hatte. Leider war sie auf dem Shoppingtrip und total oberflächlich. Im Zug war er trotzdem aus einem Impuls heraus an ihr vorbeigegangen und hatte sie angelächelt. Sag bloß nochmal einer, ich wäre schüchtern, dachte Sören. Melanie hatte zurückgelächelt und lange zu ihm interessiert aufgeschaut.
Wie absolut traumhaft schön es jetzt wäre, mit ihr Hand-in-Hand über die Zeil zu schlendern!
Melanie ging weiter und ließ das Schaufenstermodel hinter sich. Lautlos sprach sie im Takt ihrer Schritte: Hol-lis-ter. Hol-lis-ter. Neben sich nahm sie für einen kurzen Moment einen Jungen wahr, der den Kopf auf das Handy in seiner Hand gesenkt hielt, und ihr irgendwie bekannt vorkam. Schon wollte sie ihn sich genauer ansehen, aber dann kam ihr das MyZeil mit dem trichterförmigen Riesenloch in der Fassade in den Blick. Sie richtete sich auf und lief schräg durch die Menschenmenge direkt auf den Eingang zu. Hol-lis-ter. Hol-lis-ter.
Sören hielt die Augen auf sein iPhone gerichtet und sah aus den Augenwinkeln heraus einen Typen mit nacktem Oberkörper im Schaufenster irgendeines Parfümladens sitzen. Er hatte ein Sixpack wie gemeisselt und trug eine schwarze Fliege um den Hals. Ein paar Mädels waren stehengeblieben und kicherten; einer großen schlanken Blonden schien der Typ zuzuwinken. Sören konzentrierte sich auf das Display seines iPhones und tippte auf die Mailbox in Facebook. Vielleicht hatte ihm ja schon der Typ aus dem Wars Of World-Forum den neuen Cheat gemailt? Für einen Moment sprach er lautlos im Takt seiner Schritte: We-Oh-We. We-Oh-We.
Tag der Veröffentlichung: 09.09.2011
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