Cover

Lockruf des Geldes

 

Andreas Krämer

 

Lockruf des Geldes

 

Nathaniel Glaser war ein Veteran des ersten Golfkriegs, den er mit Auszeichnungen überstanden hatte und nun unter den Symptomen einer wenig erforschten Krankheit litt. Das Golfkriegs-Syndrom veränderte sein Leben, er litt unter Schlaflosigkeit, war gereizt und kämpfte gegen ein zeitweiliges Schwindelgefühl an. Seit seiner Rückkehr aus dem Irak im Jahre 1991 sind 16 Jahre vergangen, und in dieser Zeit hatte er mit Glaser Enterprises & Logistics ein Logistikunternehmen für Spezialtransporte aufgebaut.


Der Verkauf seiner Firma stand kurz vor dem Abschluss. Nathaniel stand am Fenster seines Büros im zehnten Stock der Firmenzentrale, die sich in San Francisco befand. Von hier aus beobachtete er, wie sich der Frühnebel über der Golden Gate Bridge langsam lichtete. Es war erst kurz nach sieben Uhr morgens, aber Nathaniel war schon seit zwei Stunden wach. Er hatte die halbe Nacht an der Unternehmenspräsentation gearbeitet. Plötzlich klingelte sein Telefon auf seinem schwarzen Schreibtisch, und er nahm ab.

„Mister Glaser, die Delegation der Canadian Logical Group ist gerade eingetroffen und wartet im Konferenzraum auf sie“, sagte seine Sekretärin Lena Kowalski.

„Danke Lena, ich bin in fünf Minuten da. Bieten Sie den Gentleman heißen Kaffee mit Gebäck an und verteilen Sie die Infomappen“, erwiderte er und legte auf. Der alte Mann packte sein Notebook mit der Powerpoint-Präsentation seiner Firma unter den Arm und begab sich zum Konferenzraum gleich nebenan.

 

Als er die Tür öffnete, begrüßte ihn herrlich duftender Kaffee und die drei Mann starke Delegation der kanadischen Beteiligungsgesellschaft Canadian Logical Group. Der schwarze Konferenztisch war der Form eines Hufeisens nachempfunden. Die Morgensonne schien durch das große Fenster hinein. Das ovale Ende bildete ein weißer Tisch und war Nathaniel vorbehalten. Er nahm nicht Platz, sondern stellte sein Notebook darauf ab und schaute in die Runde.

„Guten Morgen, ich begrüße Sie recht herzlich in den bescheidenen Räumen meines erfolgreichen Logistikunternehmens. Vor Ihnen liegen die Infomappen, dort stehen alle Unternehmensdaten im Detail; wie alles begonnen hat und wie ich die Zukunft meines Lebenswerks sehe“, sagte er grinsend, schaltete sein Notebook ein und verband es über ein USB-Kabel mit einem Beamer.

Er klatschte zweimal in die Hände, worauf die in silbergrauen Anzügen gekleideten Herren von ihren Infomappen aufschauten. Es waren zwei Anwälte, die Winston Bedford zur Seite standen. Im gleichen Moment verdunkelte sich der Konferenzraum, als sich eine Jalousie schloss und den Raum verdunkelte.

„Der Segen der modernen Technik.“, schmunzelte Nathaniel und startete die Powerpoint-Präsentation, die nun auf eine weiße Leinwand projiziert wurde. Aufwändige Grafiken, Animationen, Bilder, Umsatzdiagramme und Statistiken zeigten ein beeindruckendes Gesamtbild des mittelständischen Logistikunternehmens.

Nach einer halben Stunde endeten die letzten fünf Minuten der Präsentation zu den Klängen der „Kleinen Nachtmusik“ von Mozart. Die Jalousie lichtete sich und der Raum wurde vom hellen Sonnenlicht durchflutet.

„Eine erstklassige Darstellung Ihrer Firma. Sie wollen hundert Millionen US-Dollar dafür haben, und diese Summe ist durchaus gerechtfertigt, da Sie in den vergangenen zwei Jahren nach den uns vorliegenden Informationen Ihre LKW-Flotte umfassend modernisiert haben. Die Betriebskosten ihres Fuhrparks konnten dadurch um zwanzig Prozent gesenkt werden. In Anbetracht der hohen Dieselpreise haben Sie gegenüber Ihren Wettbewerben einen Kostenvorteil. Wir sind jedoch nur bereit, Ihnen sechzig Millionen US-Dollar zu zahlen“, gab Winston Bedford, der Chef der Canadian Logical Group zu verstehen, und seine beiden Rechtsanwälte nickten zustimmend.

Nathaniels Gesichtsausdruck verfinsterte sich, und er warf seinem Verhandlungspartner einen harten, entschlossenen Blick zu.

„Ich habe die Firma mit meinen eigenen Händen aufgebaut. Jeden Dollar, den ich verdient habe, investierte ich wieder, und nun steht mir der Lohn für all diese Mühen zu. Sie sind fein raus mit Ihrer Beteiligungsgesellschaft, da Sie nicht mit Ihrem Privatvermögen haften müssen. Ich hingegen schon, und die Modernisierung der vierzig Lastkraftwagen habe ich aus eigener Tasche und den laufenden Gewinnen bezahlt. Hat mich mit fünfzig Millionen Dollar eine ordentliche Stange Geld gekostet, aber die Firma ist nun für die Zukunft gut gerüstet.“, trug der Selfmade-Millionär eindringend vor und musste sich hinsetzen. Er goss sich ein Glas Mineralwasser ein.

 

Nach diesem Vortrag genehmigte er sich einen Schluck. Seine Verhandlungspartner steckten währenddessen ihre Köpfe zusammen und diskutierten eifrig. Die Minuten zogen sich dahin wie Kaugummi, in denen Nathaniel die Käufer unauffällig mustern konnte.

„Gentleman, ich ziehe mich zurück und erwarte Ihre Entscheidung in den nächsten Stunden“, sagte Nathaniel und zog sich in sein Büro zurück. Dort steckte er sich seine geliebte Pfeife an und beobachtete die Schiffe, die unter der Golden Gate Bridge hindurch fuhren. Er holte seine Digitalkamera aus einer seiner Schubladen hervor und begann, die Schiffe zu fotografieren.

„Wieder ein paar Schiffe mehr für meine Sammlung“, sprach er zu sich selbst und blickte auf eine vier Meter große Fotoleinwand, die eine Wand seines Büros schmückte und ein halbes Dutzend Containerschiffe zeigte. Er liebte die Containerschiffe und hatte sich vor drei Jahren mit einem Teil seines Vermögens an einer australischen Reederei beteiligt. Leider war das Investment eine Fehlinvestition gewesen, und er musste seine Anteile mit Millionenverlust wieder verkaufen.

Er ließ sich in seinen Ledersessel sinken und begann zu sinnieren. Seine Gedanken schweiften um ein Projekt, welches er mit seiner Rechtsanwältin, die zugleich seine Geliebte war, ausgeklügelt hatte. Die Hände hatte er entspannt hinter seinem Kopf verschränkt. Plötzlich klingelte das Telefon, und er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Es war eine Frauenstimme, und sofort war Nathaniel hellwach.

„Hallo Cindy, mein Schatz, was gibt es Neues?“, begrüßte er Cindy Rainford forsch.

„Es ist alles vorbereitet, dein Team hat den Tagesablauf von Professor Paul Henderson studiert. Auf deine Anweisung hin werden sie ihn entführen. Die Blockhütte mit dem Labor wurde eingerichtet, und nun liegt es an dir, wann es losgehen kann. Ein zweites Labor befindet sich in Norwegen im Aufbau. Ach ja, wie schaut’s eigentlich mit dem Verkauf deiner Firma aus?“, gab Cindy kurzerhand Antwort, ohne auf seine süßen Worte einzugehen.

„Schätzchen, die kanadischen Investoren sitzen im Konferenzraum und diskutieren über meine Preisvorstellung. Denen sind 100 Millionen US-Dollar offenbar zu viel. Der Verkauf dürfte aber glatt über die Bühne gehen“, erwiderte er liebevoll und wippte vergnügt im Ledersessel. Ein paar Sekunden herrschte Schweigen in der Telefonleitung.

„Unser Projekt „Mayflower“ hängt am seidenen Faden, wenn die Finanzierung nicht gesichert ist. Du hast doch noch einen Trumpf im Ärmel. Erzähl ihnen von dem Fünfjahres-Vertrag mit dem Landwirtschaftsministerium, den du abgeschlossen hast. Immerhin sind das 20 Millionen Dollar an zusätzlichen Einnahmen für dein Unternehmen. Wenn es nicht klappt, drohe Winston Bedford. Meine Recherchen haben ergeben, dass er seine Frau mit einer anderen betrügt und in einem Swingerclub sehr aktiv ist. Habe dir eine Mail mit brisanten Daten über deinen Kaufinteressenten geschickt.“, erklärte Cindy wohlwollend und verabschiedete sich mit einem Kuss durch das Telefon.

Auf Nathaniels Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen, und er legte auf. Er suchte die Vertragsunterlagen zusammen, rief die Mail auf, druckte die schmutzigen Dokumente aus und begab sich in den Konferenzraum.

 

Er wurde vom Zigarettenqualm eingehüllt und musste husten. Die Gentlemen sahen auf und lächelten verschmitzt, als sie Nathaniels erhobenen Finger sahen.

„Oh, tut uns leid. Wir hatten ganz vergessen, dass hier Rauchverbot herrscht. Davon abgesehen haben wir unsere Beratungen abgeschlossen und wären bereit, Ihnen 75 Millionen zu zahlen“, sagte Winston Bedford freundlich und drückte seine Zigarette in den Aschenbecher.

„Kein gutes Angebot, aber dieser Vertrag sollte Sie überzeugen, den Preis zu zahlen, den ich verlange“, antwortete er, schaute zuversichtlich in die Runde und reichte den Herren eine Kopie des Logistikvertrages. Überrascht nahmen Winston und seine beiden Kollegen das Vertragsdokument entgegen.

„Klingt sehr lukrativ und wird Ihren Umsatz auf 140 Millionen US-Dollar steigen lassen. Eine stattliche Umsatzsteigerung gegenüber heute, wo Ihr Unternehmen im vergangenen Geschäftsjahr 2006 rund 120 Millionen US-Dollar erzielte. Geben Sie uns noch einmal eine halbe Stunde für eine Beratung.“, sprach Bedford beeindruckt, als er die ersten drei Seiten des millionenschweren Staatsauftrags las.

„Okay, ich warte so lange in meinem Büro“, gab er zu verstehen und verschwand aus dem Konferenzraum. Er steckte sich seine Pfeife an und blickte rauchend auf das Wahrzeichen San Franciscos. Eine Fähre und ein Öltanker passierten die gigantische Brücke, auf der sich der Nachmittags-Verkehr staute. Nathaniel schaute auf die Uhr. Es war eine halbe Stunde vergangen. Langsam packte ihn die Ungeduld.

„Lena, was machen die Gentlemen?“, fragte er über die interne Telefonleitung seine Sekretärin.

„War vor fünf Minuten da. Sie führen eine hitzige Diskussion und paffen eine Zigarette nach der anderen; keine Ahnung, wie lange das noch dauern soll“, erwiderte Lena mit russischem Akzent.

„Okay, sagen Sie ihnen, wenn sie in einer Viertelstunde kein Ergebnis haben, werde ich die Verhandlungen abbrechen und mir einen anderen Käufer suchen! Teilen Sie Winston Bedford dezent mit, dass ich gewisse Beweise bezüglich einer Affäre in der Hand habe und ich auch bereit bin, diese brisante Information zu veröffentlichen“, stellte er klar und knallte den Telefonhörer auf die Gabel.

 

Keine Minute später war Lena im Konferenzraum, informierte die Kanadier über seine Entscheidung und flüsterte Bedford sein dunkles Geheimnis ins Ohr. Zugleich drückte sie ihm dezent Fotos seiner Affäre in die Hand. Nathaniel spielte mit dem Feuer, und dies war ihm bewusst. Sollten die fein gekleideten Herren die Verhandlungen abbrechen, könnte er sein Projekt vergessen.

Zwei Minuten später klingelte das Telefon, die Investoren hatten ihre Diskussionen abgeschlossen und waren zu einem Ergebnis gekommen. Sein Magen knurrte, aber er ignorierte den Hunger. Im Konferenzraum begrüßte ihn erneut dicker Zigarettenrauch. Er musste stark husten und rettete sich auf seinen Platz.

„Wie haben Sie sich nun entschieden?“, fragte er hüstelnd. Winston Bedford war kreidebleich, ergriff das Wort und schaute seinem Verhandlungspartner verunsichert in die Augen.

„Nach fünf Stunden sind wir zu einem Ergebnis gekommen. Wir legen noch 20 Millionen US-Dollar zu unserem letzten Angebot drauf und zahlen Ihnen 95 Millionen Dollar für Ihr florierendes Logistikunternehmen. Ein anderes Angebot wird es nicht geben!! Zwar toleriere ich Ihre Methoden nicht, aber nun ja, wir alle sind nur Menschen ...“, gab er sachlich aber bestimmt zu verstehen. Seine Anwälte schauten sich gegenseitig verdutzt an und zuckten mit den Schultern, als sie den letzten Satz hörten. Nathaniel dachte kurz nach und nickte.

„Okay, ich nehme Ihr Angebot an und befinde meine Firma bei Ihnen in guten Händen.“, erwiderte er und betätigte eine grüne Taste auf der Telefonanlage. Im nächsten Moment kam Lena mit einer Ledermappe unter den Arm in den Raum und übergab sie Nathaniel. Darin befand sich der Kaufvertrag in zweifacher Ausfertigung, den er sogleich unterschrieb und an Winston Bedford weiterreichte. Sein harter Verhandlungspartner setzte mit einem edlen Luxus-Füllfederhalter seine Unterschrift unter den Vertrag.

„Ich danke Ihnen für die harte Verhandlung und hoffe, die 95 Millionen US-Dollar sind ihren Preis wert“, bedankte er sich und stand auf.

„Der Einstieg in den amerikanischen Logistikmarkt wird sich für Sie rechnen. Bedenken Sie allein nur die umfassende Modernisierung der LKW-Flotte und den millionenschweren Regierungsauftrag“, stellte Nathaniel klar und verabschiedete sich von den drei Herren. Kaum hatten diese den Raum verlassen, aktivierte er das Luftreinigungssystem und rief Cindy an.

„Meine Geliebte, der Verkauf ist abgeschlossen, allerdings wird es laut Kaufvertrag rund drei Monate dauern, bevor alles Geld überwiesen worden ist.“, sprach er freudig. Er verabredete sich mit Cindy zu einem Dinner mit Lachs und Champagner, um letzte Details der geplanten Entführung zu besprechen.


Drei Monate später ....
Steffen Winterhagen hatte es von Hamburg nach New York verschlagen, denn in Deutschland fand er als Notar keinen Job. Er hatte fünf Jahre lang als selbstständiger Notar gearbeitet, aber durch ein paar selbst verschuldete Fehler in der Buchhaltung musste er Steuern in vierstelliger Höhe nachzahlen. Die Nachzahlung hatte schwerwiegende wirtschaftliche Folgen, und er musste seine Firma aufgeben.

Seine Zulassung als Notar behielt er. Zwar sah er seine weitere berufliche Zukunft in den USA, aber nicht mehr in seinem bisherigen Beruf. Kurz entschlossen wanderte er vor einem Jahr in den „Big Apple“ aus und fand tatsächlich eine Arbeit. Er ist nun Fahrradkurier des jungen Kurierdienstes „Speedy Mail“ und kommt mit dem Verdienst mehr oder weniger gut über die Runden. Steffen bewohnte ein kleines heruntergekommenes Apartment im New Yorker Stadtteil Brooklyn.

Sein Rennrad ist zugleich sein Arbeitsgerät und seine einzig verbliebene Erinnerung aus Deutschland. Einen Führerschein hatte er zwar, aber ein Auto konnte er sich aufgrund seiner angespannten wirtschaftlichen Lage zurzeit nicht leisten.

 

Es war an einem schönen sonnigen Mittwoch, als er geschafft wie immer von seiner Arbeit nach Hause kam und sich nur noch auf das Sofa legen wollte. Doch dann entdeckte er einen Brief, der unter seiner Tür lag.

„Wer schreibt mir denn da? Eine Rechtsanwaltskanzlei?“, dachte er stutzig und öffnete voller Neugier den Briefumschlag. Bei dem Schreiben, welches auf teurem japanischem Seidenpapier gedruckt war, handelte es sich um eine Einladung der Rechtsanwaltskanzlei Rainford Associates, verbunden mit einem Jobangebot.

Seine jahrelange Berufserfahrung im Rechtswesen hatte ihn jedoch skeptisch gemacht. Er befand die Angelegenheit zwiespältig. Auf der einen Seite konnte er kaum das Geld für die Miete aufbringen, und auf der anderen Seite schien das Angebot lukrativ zu sein.

„Naja, dann will ich mir das Mal anhören und mir einen halben Tag freinehmen“, sagte Steffen und telefonierte gleich mit seinem Chef. Obwohl er auf wenig Begeisterung stieß, bekam er den nächsten halben Tag frei und konnte die ungewöhnliche Einladung wahrnehmen. Pünktlich um neun Uhr des kommenden Tages stand er in seinem besten Anzug vor der Rechtsanwaltskanzlei im Nobelviertel Queens.

Die Kanzlei war in einem alten viktorianischen Herrenhaus untergebracht. Er betätigte den großen Türklopfer aus massivem Messing. Die grüne Tür öffnete sich. Eine in langem schwarzen Rock und weißer Bluse gekleidete junge Frau trat hervor. Steffen schätzte sie auf Mitte Dreißig und bewunderte ihren sportlich gebauten Körper.

 

„Guten Tag, ich bin Cindy Rainford. Ich hatte Sie angeschrieben. Kommen Sie herein und trinken Sie eine Tasse Tee mit mir.“, begrüßte Cindy Rainford ihn höflich lächelnd. Durch einen gediegenen, hell erleuchteten Flur, der mit einem feinen Cashmere-Teppich bedeckt war, gelangte Steffen in ein rustikales Schreibzimmer.

Die Wände waren mit allerlei Gemälden geschmückt, und vor den zwei einzigen Fenstern hingen schwere Vorhänge. Der Raum wurde von einem Schreibtisch aus massivem dunklem Eichenholz dominiert. Nur ein Notebook wies auf moderne Technik hin.

„Fein“, dachte Steffen und setzte sich in einen dunklen Ledersessel, der vor dem Schreibtisch stand, und versank einige Zentimeter darin.

„Entschuldigen Sie, Herr Winterhagen. Der Ledersessel ist ein Erbstück und hat schon 100 Jahre auf den Buckel“, sagte die Frau. Die Dame schaute geknickt. Steffen setzte sein bestes Lächeln auf.

„Soll ich wieder aufstehen?“, fragte er. Wortlos goss Cindy ihm Tee ein und behielt ihre Antwort für sich.

 

„Ich bin einfacher Fahrradkurier, was will eine noble Rechtsanwaltskanzlei wie Ihre von mir?!“, setzte er nach und trank einen kleinen Schluck des Grüntees.

 

„Nun, Sie haben in der Vergangenheit in dieser Richtung gearbeitet. Sie waren vor Ihrem wirtschaftlichen Absturz ein angesehener Hamburger Notar, stimmt’s?“, sagte Sie keck. Das Angebot schien sehr verlockend für Steffen, aber er war doch recht erstaunt über die Spitzfindigkeit der Rechtsanwältin.

Er musste schlucken und überlegte eine kleine Ewigkeit, woher sie die Informationen hatte. Die Rechtsanwältin hatte einen norddeutschen Dialekt. Stammte Cindy etwa aus Hamburg?

 

„Wo kommen Sie denn her? Ich war selbstständiger Notar, musste aber meine Firma durch eigene Fehler leider wieder aufgeben. Jetzt verdiene ich 600 Dollar netto als Fahrradkurier ....“, sprach er und musste dabei tief durchatmen. Cindy Rainford nahm einen kräftigen Schluck und spielte dabei mit ihrem Füllfederhalter.

 

„Nein, ich bin keine Hamburgerin, sondern komme aus Bremen. Ich habe gewisse Kontakte, die nicht jeder hat. Sie werden verstehen, dass ich Ihnen nichts Näheres dazu sagen kann. Sie sind beruflich am Boden und ich will Ihnen eine neue Chance geben. Na, wie sieht’s aus?“

Ein paar Minuten musste Steffen nachdenken, in denen er sich die Situation klar machte und die Rechtsanwältin genau musterte. Unbeeindruckt trank Cindy Rainford ihren Tee und schrieb mit ihrem Füllfederhalter ein paar Notizen auf ein Blatt Papier.

 

„Kommen Sie mal mit ein paar Details herüber. Was soll ich schon machen, wenn ich weder eine Zulassung als Notar habe, noch Rechtsanwalt bin?“, fragte Steffen.

 

„Herr Winterhagen, Sie sollen keine großen, anders gearteten Aufgaben übernehmen, sondern weiterhin als Fahrradkurier arbeiten. Aber exklusiv nur für mich!“, antwortete sie klar. Steffen staunte nicht schlecht und musste erst mal kräftig schlucken.

 

„Schön, aber was springt dabei für mich heraus?“, wollte er wissen. Cindy schaute kurz zu ihrem Diplom an der Wand und wandte sich dann wieder Steffen zu.

 

„Sie kündigen bei Speedy Mail und lassen sich einen Kündigungsgrund einfallen. Bei mir werden Sie höchst exklusive Post austragen und dabei nach Postsendung bezahlt. Ungewöhnlich, aber dabei springen bis zu 500 Dollar pro Sendung für Sie heraus.“, erwiderte sie und lehnte sich entspannt in ihrem gemütlichen Lederstuhl zurück. Mit so einer Spitzenvergütung hätte Steffen niemals gerechnet. Aber er verspürte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Die hohe Bezahlung machte ihn stutzig.

 

„Wo ist der Haken?“, bohrte er nach.

 

„Es gibt keinen Haken; einzige Bedingung ist höchste Diskretion und Verschwiegenheit. Sie erhalten außerdem 800 Dollar Grundgehalt. Na, wie schaut’s aus?“, sprach sie keck. Die ausstehende Miete für diesen Monat schwirrte ihm im Kopf herum, daher setzte er alles auf eine Karte. Er forderte mit festem Blick ein Grundgehalt von 1200 US-Dollar.

 

„1000 US-Dollar Grundgehalt und keinen Cent mehr! Denken Sie an die exzellente Vergütung pro Postsendung.“, gab Cindy zu verstehen und schaute ihn dabei grimmig an.

 

„Ich möchte einen Probemonat! Bedenken Sie die amerikanischen Bestimmungen, was Kündigungen bei Arbeitgebern betrifft“, schlug er vor und erntete ein leichtes Grinsen.

 

„Einen Probemonat werde ich Ihnen nicht geben, sondern möchte Sie sofort innerhalb der nächsten drei Tage einstellen“, antwortete Cindy. Sie deutete ungeduldig auf das Telefon. Das ging Steffen ein wenig zu schnell, und er wollte einen Tag Bedenkzeit.

 

„Okay, aber morgen um 12 Uhr will ich Ihre Entscheidung haben, klar? Und nun entschuldigen Sie mich, ich habe noch Wichtigeres zu tun, als mich um abgestürzte Existenzen zu kümmern ...“, sagte Cindy forsch und geleitete Steffen zur Tür hinaus. Er schluckte ihren neckischen Kommentar herunter, schwang sich auf sein Rennrad und fuhr zu seinem Stammcafé „Mayer’s“ in Brooklyn. Das Café war in die Jahre gekommen.

Die Fenster waren leicht verschmutzt und das einst rote Namensschild „Mayer’s“ wies eine Verfärbung zu Orange auf.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 17.11.2014
ISBN: 978-3-7368-5663-9

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /