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Rückblicke

 

Weihnachten rückt unaufhaltsam näher.

So wie in jedem der vergangenen dreißig Jahre fühle ich mich seltsam leer, obwohl ich doch weiß, dass ich nicht allein sein werde.

Irgendjemand wird mich schon zu sich einladen, das ist so sicher, wie das Amen in der Kirche.

Und doch…

Weihnachten hat seinen Zauber für mich endgültig verloren, seit die Kinder erwachsen und aus dem Haus sind.

 

Entsprechend lustlos stapfe ich durch Kaufhäuser und besorge Geschenke für all meine Lieben.

Sie sollen es nicht merken, dürfen nicht wissen, was mir seit so langer Zeit fehlt und trotzdem noch immer wehtut.

 

Es wird früh dunkel draußen und ich gönne mir einen kleinen Spaziergang über den Weihnachtsmarkt, bevor ich nach Hause gehe.

Der Glühwein ist wie immer überteuert, genau wie alles andere, was es hier zu kaufen gibt, aber er hilft, zumindest ein bisschen in die richtige Festtagsstimmung zu kommen.

 

Satt und wohlig warm von innen schlendere ich nach Hause, kehre zurück in meine kleine, einsame Welt hoch oben über den Dächern der Stadt.

Eine geräumige Zweiraumwohnung im vierten Stock ist mein Rückzugsort.

Der einzige Ort auf der Welt, an dem ich wirklich ganz ich selbst sein kann, wo ich mich nicht verstellen muss und an dem die Erinnerungen ungehindert ihren Weg in mein Bewusstsein finden dürfen.

Ich unterdrücke sie nicht, heiße sie sogar willkommen.

 

Die Bilder in meinem Kopf sind verblasst, wie alte Fotografien, die niemand ordentlich in ein Album geklebt hat.

Ich habe versucht, sie so gut es geht zu bewahren, aber das ist wohl der Lauf der Dinge.

Dreißig Jahre.

Eine verdammt lange Zeit und doch sehe ich es noch genau vor mir.

Als wäre es erst gestern gewesen und ein Teil von mir wünscht sich nichts sehnlicher, als dass es wirklich erst gestern gewesen wäre, dass ich ihn zum letzten Mal sah.

 

Ja, ihn.

Friedrich.

Ehemals Fußballtrainer der Jugendmannschaft meines Vereins und seines Zeichens die Liebe meines Lebens.

Eine Liebe, die von Anfang an keine Zukunft hatte, die so unmöglich erschien, dass wir beide kaum wagten, das Wort überhaupt auszusprechen.

Liebe.

 

Ja, ich habe ihn geliebt. Mehr als alles andere auf der Welt, aber die Gesellschaft, meine Erziehung, einfach alles stand uns im Weg.

Ein schwules Paar mitten in dieser Kleinstadt?

Nicht auszudenken!

 

Wir beide hatten Angst vor den Konsequenzen.

Er als Sportlehrer am hiesigen Gymnasium und als Fußballtrainer der Jugendmannschaft meines Vereins und ich als verantwortungsbewusster Familienvater mit drei Kindern und einer Frau, die es allein niemals geschafft hätte, Kinder und Beruf unter einen Hut zu bringen.

Martina war auf mich angewiesen, sie brauchte mich, ganz besonders in den Phasen, in denen es ihr schlecht ging.

Wie hätte ich sie jemals im Stich lassen können?

Damals erschien es unmöglich, aber die Zeit war auch eine andere, als heute.

 

Ich sehe es und jedes Mal ist es, als würde man mir ein Messer in den Rücken rammen und nur so zum Spaß noch zwei oder dreimal umdrehen.

 

Schwule Pärchen, die auf der Straße Händchen halten können, ohne Angst haben zu müssen.

Schwule Ex-Profi-Fußballer, die sich in den Medien outen.

Schwule Fußballtrainer, Lehrer, Polizisten, Feuerwehrmänner, Fernsehmoderatoren, Sänger…

 

Sie alle leben einfach ihr Leben und auch wenn ich mir sicher bin, dass auch sie wissen, was Schwulenhass bedeutet, so haben sie doch ganz andere Möglichkeiten als wir damals.

Sogar schwule Ehen gibt es… oder zumindest die eingetragene Lebenspartnerschaft.

All das hat sich in diesen Jahren verändert und einmal mehr wünschte ich, ich wäre in einer anderen Zeit geboren.

Zwanzig Jahre später vielleicht. Dann hätte ich dieses Opfer niemals bringen müssen.

 

Aber es ist zu spät.

Ich kann weder die Zeit zurückdrehen, noch die Vergangenheit ändern und nun ist Friedrich kaum mehr als ein heller Lichtblick in meinem Lebenslauf, von dem aber bis heute niemand weiß.

Ich habe noch nie über diese glücklichste Zeit in meinem Leben gesprochen und habe es auch nicht vor.

Er ist weg, hat mich vielleicht schon längst vergessen und ich habe nach ihm keinen Mann mehr kennengelernt, der mich so in seinen Bann gezogen hat.

 

Sicher gab es solche Begegnungen.

Heimliche Treffen in einschlägigen Etablissements, aber das alles war nie meins.

Ich bin kein Aufreißer, bin es nie gewesen und werde mich auf meine alten Tage auch nicht mehr ändern.

Es ist verdammt lange her, dass ich überhaupt jemanden an mich herangelassen habe, aber normalerweise stört mich das nicht mal.

Ich habe meine Erinnerungen an die beste Zeit meines Lebens und die kann mir niemand wegnehmen.

 

Nur in diesen Momenten, wenn schwules Leben sich so einfach, so herrlich unkompliziert erscheinend, vor meiner Nase abspielt, werde ich sentimental.

 

Ich kann es nicht ändern und denke an das, was ich verloren habe, was hätte sein können… an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit.

 

Gegenwart

 

Wie erwartet meldet sich Christian und lädt mich für den Heiligen Abend zu sich ein.

Er ist mein Ältester und in gewisser Weise mir am ähnlichsten, nur hatte er von Anfang an mehr Mut, ist viel offener und geht schnell auf Menschen zu.

Während seine Geschwister früh geheiratet haben, blieb er Junggeselle und genoss das Leben in der Großstadt in vollen Zügen.

 

Oft habe ich gerätselt, ob er wohl auch meine Veranlagung teilt, aber es gab niemals Anzeichen dafür und fragen wollte ich nicht.

Letztendlich war er wohl nur wählerischer als sein Bruder Oliver, der mit seinen siebenunddreißig Jahren schon zum zweiten Mal geschieden ist und stets und ständig schwört, dass keine Frau ihn jemals wieder vor einen Altar zerren wird.

 

Stefanie, meine Jüngste hingegen, hat scheinbar ihr Glück früh gefunden und auch festgehalten.

Ihr Mann Mario ist ein wirklich netter Kerl, der seine Frau und seine zwei Kinder abgöttisch liebt.

Sie spiegeln das Ideal wider, dem ich so lange hinterhergelaufen bin und das ich doch nie erreichen konnte.

 

Nicht in einer Ehe mit einer Frau, die ich nie wirklich geliebt habe und die mich nur geheiratet hat, weil ich eine ganz gute Partie war. Vorgeschlagen von ihren Eltern, hat sie alles Menschenmögliche versucht, mich wirklich zu lieben.

Von Anfang an war alles falsch und doch habe ich mich daran festgeklammert, wollte mit allen Mitteln erreichen, dass es funktioniert.

Meine Homosexualität wollte ich ausmerzen, als den Makel, der sie in meinen Augen war.

 

Niemand hat damals gesagt, dass ich eben so geboren wurde, dass man sich seine Sexualität nicht aussuchen konnte, aber jeder hatte Erwartungen, die ein Mann gefälligst zu erfüllen hatte.

So lange Zeit habe ich mich selbst belogen und mich selbst verleugnet und in gewisser Weise tue ich das auch heute noch.

Niemand weiß, dass ich schwul bin.

Nicht mal meine Kinder, die sich wirklich rührend um mich kümmern, seit ihre Mutter vor sieben Jahren von uns ging.

 

Es war eine schwere Zeit für uns alle.

Am schwersten lastete aber nicht die Trauer auf mir, sondern das schlechte Gewissen.

Ein Teil von mir war einfach froh, die Verantwortung endlich abgeben zu können, endlich allein zu sein, ohne tagtäglich die Rolle des aufopferungsvollen, liebenden Ehemannes spielen zu müssen.

 

Der Rest fühlte sich schuldig, weil ich mit dieser Scharade Martina nicht nur angelogen, sondern ihr auch jegliche Chance auf ein Leben mit einem anderen Mann weggenommen hatte.

Vielleicht wären wir ja beide glücklich geworden, wenn ich nur einmal den Mut gehabt hätte. Vor dreißig Jahren....

Aber ich hatte ihn nicht und so habe ich weiterhin gelogen, bis zum bitteren Ende.

 

„Papa, was ist denn nun? Kommst du zu uns oder sollen wir dich abholen?“, holt Chris mich wieder zurück in die Gegenwart, in der ich noch immer den Hörer fest an mein Ohr presse.

 

„Macht euch keine Umstände! Ich schaffe den Weg schon noch allein! Nur vom Bahnhof abholen könntet ihr mich…“, sage ich ihm und muss schmunzeln.

Er würde doch tatsächlich die vierhundert Kilometer bis zu mir fahren, nur damit ich so bequem wie möglich reise!

Dabei bin ich weder zu alt, noch zu krank, um mit dem Zug zu fahren.

 

„Okay, dann sag Bescheid, wenn du weißt, wann du ankommst. Ich hol dich dann ab. Franzi freut sich schon!“, sagt er und dann verabschieden wir uns und legen auf.

 

Franzi. Sie ist ein wirklich nettes Mädchen und sie hat es geschafft, unseren wilden Christian einzufangen und zu bändigen.

Niemand weiß, wie sie es vollbracht hat, aber die beiden sind schon seit über vier Jahren ein Paar.

Ich freue mich darauf, sie wiederzusehen, sind sie doch diejenigen, die am weitesten weg wohnen.

 

Oliver und Stefanie sind hier geblieben und fühlen sich in der Kleinstadt wohl, auch wenn Stefanie mit ihrem Mann am Stadtrand wohnt, wo es schon sehr ländlich ist.

 

Mein Weihnachtsfest ist also „gerettet“. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Kinder sich untereinander absprechen, wer mich in welchem Jahr bekommt, aber sie alle scheinen es wirklich gern zu tun, also beschwere ich mich nicht.

 

Wie immer fliegen die Tage im Dezember nur so dahin und was eigentlich eine besinnliche Zeit sein sollte, artet für die meisten Menschen in Stress aus.

Ich sehe es ihnen an, wenn sie von einem Ort zum anderen hetzen, immer auf der Suche nach dem tollsten Geschenk, dem günstigsten Schnäppchen, dem besten Braten und dem schönsten Baum.

 

Ich selbst sehe ihnen aber nur dabei zu.

Außer den Geschenken für meine Kinder und Enkel, die ich schon seit Wochen fix und fertig zu Hause zu liegen habe, muss ich nichts besorgen.

Meine Wohnung bleibt ungeschmückt, bis auf einen kleinen Adventskranz auf dem Wohnzimmertisch und den obligatorischen Adventskalender, den Stefanie mir jedes Jahr vorbeibringt.

Früher hat ihre Mutter dafür gesorgt, dass ich jeden Tag ein kleines Schokoleckerli bekam und irgendwie hat es sich so ergeben, dass meine Tochter diese Tradition aufrecht erhält.  

 

Es ist still hier in meiner kleinen Wohnung und ich genieße diese Ruhe vor dem Sturm.

So wie ich meinen Sohn kenne, werden wir nicht mal am Heiligabend nur zu dritt bleiben.

 

Sicher macht er wieder eine Party daraus, für alle Freunde und Bekannten, die sonst nicht wissen, wohin sie sollen oder die keine Lust auf ihre Familien haben.

Es wäre nicht das erste Mal.

 

 

 

Auf Reisen

 

Für die Zugfahrt gut ausgerüstet stehe ich überpünktlich am Bahnhof und eine merkwürdige Vorfreude erfasst mich.

 

Ich habe meinen Ältesten und seine Franzi ein halbes Jahr lang nicht mehr gesehen, aber ich spüre, dass das nicht der einzige Grund für meine innere Unruhe ist.

 

Schon oft im Leben hatte ich dieses Gefühl und immer ist danach irgendetwas Entscheidendes geschehen.

Sollte ich Angst haben?

 

Nein. Es waren ja nicht immer nur negative Dinge, die mein Leben verändert haben.

Oft hat das Gefühl die Geburten meiner Lieben angekündigt.

Auch an dem Tag, als mein Chef mich zum Gespräch bat und mir vorschlug, in Altersteilzeit zu gehen, hatte ich es und ich habe es nie bereut.

 

Bleibt also nichts zu tun, als abzuwarten.

 

Im Zug lese ich den Roman, den ich mir erst kürzlich zugelegt habe.

Eine schwule Romanze, die ich auf Amazon entdeckt habe und an der ich einfach nicht vorbei kam.

Die Rezensionen waren durchweg positiv und schon nach den ersten zwei Seiten weiß ich, dass auch ich mehr als drei Sterne vergeben werde.

 

Ich versinke völlig in dieser mir fremden Traumwelt, so dass ich regelrecht aufschrecke, als der Berliner Hauptbahnhof durchgesagt wird.

Knapp die Hälfte der Geschichte habe ich geschafft und würde am liebsten sofort weiterlesen.

Aber bei Christian wird das sowieso nicht möglich sein, also verstecke ich das Buch in meinem Koffer und freue mich auf die Rückfahrt, auf der ich hoffentlich erfahren werde, ob die zwei männlichen Hauptcharaktere trotz ihrer vielen Unterschiede zueinander finden können oder nicht.

 

Auf dem Bahnsteig ist kein bekanntes Gesicht zu sehen.

Christian und seine chronische Unpünktlichkeit! Die hat Franzi ihm wohl noch nicht ausgetrieben.

Ich muss grinsen. Manche Dinge ändern sich doch nie.

 

Langsam mache ich mich auf den Weg, gehe in Richtung Ausgang.

Auch hier erwartet mich niemand, aber dafür klingelt mein Handy.

Auch so eine Errungenschaft, die meine Kinder mir erst aufschwatzen mussten, aber im Moment bin ich ganz froh, es zu haben, denn so erfahre ich, dass Christian sich um zehn Minuten verspätet.

 

Ich ziehe meinen Mantel enger um mich. Der Wind ist ganz schön kalt, aber ich will nicht im lauten, überfüllten Bahnhof warten.

Von dem Stimmengewirr und Zuglärm wird mir immer ganz schwindelig.

 

Ich bin eben ein Langweiler, der lieber mit einem guten Buch auf dem Sofa hockt, als die Welt zu bereisen, ohne zu wissen, was einen erwartet.

Auch das hat sich nicht verändert.

 

Irgendwann hat die Warterei ein Ende.

Christians kleiner Stadtflitzer hält direkt vor meiner Nase.

Im Parkverbot, wie immer, aber das kümmert meinen Sohn nicht.

Er steigt aus und umarmt mich, als hätte er mich seit Jahren nicht gesehen.

Dabei haben wir doch erst am letzten Wochenende geskyped.

 

Als er sich endlich lösen kann, betrachte ich sein Gesicht.

Ein paar Fältchen verraten sein wahres Alter, während seine grauen Augen noch immer genauso schelmisch blitzen, wie eh und je.

Ich bin froh, ihn zu sehen.

 

Rasch verstauen wir meinen Koffer auf der Rückbank, denn der Kofferraum ist zu klein.

In Berlin ist ein großes Auto nur hinderlich.

Das merken wir wieder einmal, als es darum geht, vor seiner Haustür einen Parkplatz zu ergattern.

Der dicke Benz, der vor uns in Schrittgeschwindigkeit sucht, muss weiterfahren, aber wir passen in die winzige Parklücke direkt vor der Tür, auch wenn nach einigem Gekurbel nur noch jeweils eine Hand breit Platz vor und hinter dem Wagen ist.

 

Franzi erwartet uns mit frischem Kaffee und Kuchen und wir machen es uns gemütlich, plaudern über dies und jenes und schneller als man gucken kann, ist der Abend da.

Nach einem leckeren Abendessen beim Italiener unten an der Ecke bin ich einfach nur noch satt und zufrieden.

Die paar Gläser Wein, die ich getrunken habe, tun ihr Übriges und ich ziehe mich bald zurück in Franzis Arbeitszimmer, in dem ein Gästebett fertig bezogen auf mich wartet.

 

Am nächsten Morgen sind wir beide allein in der Wohnung. Chris muss noch arbeiten, aber das hat er sich so ausgesucht.

Die Selbstständigkeit tut ihm gut, hat seinen Ehrgeiz geweckt. Außerdem macht ihm niemand Vorschriften und er ist sein eigener Boss.

Alles andere wäre auch kaum denkbar bei meinem sturköpfigen Sohn.

Was das angeht, unterscheiden wir uns wohl doch stark voneinander.

 

Franzi arbeitet von zu Hause aus. Sie ist Grafikerin und ein echter Freigeist.

Schon oft hat sie gesagt, das liegt wohl an ihrer Erziehung. Sie ist bei einem alleinerziehenden Vater aufgewachsen, aber wir alle stimmen darin überein, dass es wesentlich Schlimmeres gibt.

 

Im Moment schläft sie noch, also setze ich Kaffee auf und decke den Tisch für zwei.

Eine Straße weiter gibt es einen kleinen Bäcker und von dort hole ich frische Brötchen und ein paar Stück Kuchen für den Nachmittag.

 

Beim gemeinsamen Frühstück erzählt Franzi mir von ihren diesjährigen Plänen fürs Weihnachtsfest.

Chris hat ausnahmsweise mal nicht Hinz und Kunz eingeladen.

Nur Franzis Vater wird uns besuchen und ich bin wirklich gespannt auf ihn.

Irgendwie hat es sich nie ergeben, dass wir uns treffen, aber das soll sich nun ändern.

„Er ist jetzt auch im Ruhestand“, meint meine Schwiegertochter in spe und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich zucke nur mit den Schultern.

Was soll ich dazu auch sagen? Herzlichen Glückwunsch?

 

„Ihr habt viel gemeinsam… du und mein Dad…“, meint Franzi und ich sehe sie neugierig an.

„Er vergräbt sich gern zu Hause in seinen Büchern und seinen Computer hat er erst seit ein paar Monaten. Hat sich lange geweigert, aber jetzt surft er mehr im Netz, als Chris und ich zusammen!“

Sie lacht und ich stimme mit ein.

 

Ja, genau so war es bei mir auch.

Die Computer in den Büros in der Firma haben mir ein völlig falsches Bild davon vermittelt, was man mit so einem Ding alles anstellen kann.

Mittlerweile liebe ich dieses Tor zur großen, weiten Welt und kann mir ein Leben ohne den elenden Flimmerkasten kaum noch vorstellen.

 

Ganz besonders, wenn es um das irgendwie geartete Ausleben meiner heimlichsten Fantasien geht, aber das geht nur mich etwas an.

 

Heiligabend

 

Die letzten Tage bis zum großen Ereignis vergehen wie im Flug.

Christian ist vormittags noch unterwegs, aber versucht wenigstens, pünktlich zum Mittagessen zu Hause zu sein.

Die Vormittage verbringe ich zum Teil mit Franzi und zum Teil mit mir selbst.

Es ist okay! Ich bin es gewohnt, mich mit mir selbst zu beschäftigen.

 

Am Heiligen Abend arbeitet aber niemand.

Chris holt den Baum aus dem Keller, den er schon vor einiger Zeit besorgt hat und gemeinsam schmücken wir ihn mit allem, was uns in die Hände fällt.

Meine Kinder haben – bis auf eine Lichterkette – kaum traditionellen Baumschmuck, aber das stört mich nicht wirklich.

Ich genieße es sogar, einmal mehr aus Scheiße Bonbon zu machen und fädele gutgelaunt frisches Popcorn auf eine Garnrolle, die Franzi irgendwo aus den Tiefen ihrer Küchenschublade gefischt hat.

 

Letztendlich sieht die Nordmanntanne richtig festlich aus, auch  wenn nur drei echte, gläserne Kugeln daran hängen.

Ich finde, er sieht fantastisch aus und lasse keinen Zweifel.

 

Das familiäre Plätzchenbacken gestaltet sich weniger problematisch, auch wenn Christian beim Einkauf die fertigen Teigstangen, die man nur noch zurechtschneiden muss, vergessen hat.

 

Aus ein paar Eiern, Mehl, Butter und Zucker zaubere ich einen Teig, den die Kinder am liebsten roh aus der Schüssel essen wollen.

Ein bisschen fühle ich mich an frühere Zeiten erinnert und bin unfassbar glücklich darüber.

Martina hat mich oft zum Küchendienst verurteilt und wenn meine kleinen Küchenhelfer bei mir waren, ging zwar vieles schief, aber wir hatten immer unseren Spaß dabei.

 

Beinahe muss ich mir eine Träne aus den Augenwinkeln wischen, als Christian genau dieselben Erinnerungen abruft, wie ich es tue.

Es ist ein schönes Gefühl, zu wissen, dass man solch bleibende Eindrücke hinterlassen wird, wenn man eines Tages nicht mehr unter den Lebenden weilt.

 

Aber über der allgemeinen Festtagsstimmung bleibt mir kaum Zeit, um so richtig sentimental zu werden und die wirklich traurigen Gedanken werde ich sowieso erst zulassen, wenn ich wieder zu Hause, in der Sicherheit meiner eigenen vier Wände bin.

 

So vergehen die Stunden wie Minuten und ehe wir auch nur damit rechnen, wird es dunkel draußen.

Ich verziehe mich kurz ins Arbeitszimmer.

Die Zeit reicht nicht mehr, um noch zu duschen, aber wenigstens ein ordentliches Hemd kann ich mir überwerfen.

Es ist schließlich Weihnachten.

 

Aus den überdimensionierten Boxen im Wohnzimmer erklingen Weihnachtslieder, aber als traditionell würde ich die nicht bezeichnen.

Chris hat wie jedes Jahr seine ‚Rock Christmas‘ hervorgeholt und augenblicklich schreit uns Freddie Mercury sein „Thank God it’s Christmas“ entgegen.

 

Ich mochte ihn und seine Stimme schon immer, aber seit damals, im Jahr ‘91 bekannt wurde, dass er nicht nur schwul war, sondern auch noch an AIDS gestorben ist, fühle ich mich ihm irgendwie sogar noch verbundener.

Vielleicht ist das aber auch nur Einbildung.

Er ist und bleibt trotzdem eine Legende, ein Gott unter so vielen, die in der Masse untergehen.

Genießerisch schließe ich die Augen und lausche seiner einmaligen Stimme.

 

Die Dämmerung hat mittlerweile einer satten Dunkelheit Platz gemacht und Franzi beginnt, sich zu fragen, wo Fritz bleibt.

Auf meinen verwirrten Blick hin erklärt sie mir, dass das der Spitzname ihres Vaters ist und dass sie ihn wohl zuletzt mit drei Jahren Papa genannt hat.

 

Okay, dafür fehlt mir jedes Verständnis.

Meine Kinder nennen mich wie eh und je Papa und daran soll sich bitteschön auch nichts ändern!

 

Endlich, endlich klingelt es an der Tür und Franzi springt sofort auf, um den Summer zu drücken.

Es ist Heiligabend, da macht sie sich nicht die Mühe, nachzufragen, wer da stört.

Das kann nur Fritz sein. Ihr Vater, den ich endlich auch einmal kennenlernen darf.

 

Chris reicht mir ein weiteres Glas Punsch, den wir vor zwei Stunden spontan zusammengerührt haben und der trotzdem erstaunlich gut schmeckt.

Ich sehe aus dem Fenster, bewundere das Bild, das fahles Licht von Straßenlaternen für mich zeichnet.

Berlin ist wirklich hässlich und doch verstehe ich die Faszination der Einwohner.

 

Franzi hat derweil lautstark quietschend ihren Vater begrüßt und bittet ihn nun ins Wohnzimmer, wo Chris und ich die Stellung gehalten haben.

 

Mein Punschglas in der Hand und mit einem höflichen Lächeln im Gesicht drehe ich mich um, will den Neuankömmling so begrüßen, wie es sich gehört, aber noch während meine Hand sich in seine Richtung streckt, erstarre ich völlig.

 

Geschockt

 

„ Das ist mein Vater… Fritz, aber eigentlich heißt er…“

 

„Friedrich!“, unterbreche ich Franzi in ihrer übertrieben höflichen Vorstellungsrunde.

 

Ich schlucke. Hart. Kann nichts tun. Nur atmen, aber auch das fällt plötzlich so schwer.

 

Friedrich.

 

Er ist es! Ich habe ihn sofort erkannt, auch wenn so viele Jahre vergangen sind.

 

Ihm geht es wohl nicht anders. Sein Gesicht spiegelt all das wider, was ich fühle.

 

Völlig erstarrt. Unfähig, auch nur den kleinen Finger zu bewegen, sehe ich ihn an und weiß doch, dass dreißig Jahre nichts sind.

 

Mein Herz schlägt plötzlich Salti, die so viel mehr sind, im Vergleich zu dem, was ich in meinen stillen Stunden zu Hause gefühlt habe.

Ein schwaches Echo, ein Abklatsch, nicht wert, in die Welt hinausgetragen zu werden…

 

„Sebastian…“

Die bloße Erwähnung meines Namens tut die merkwürdigsten Dinge mit mir.

Schon lange hat mich niemand mehr so genannt.

Für die Kinder bin ich der Papa. Arbeitskollegen mit denen ich per „Du“ war, hat es lange nicht mehr gegeben.

Martina war die Letzte, die mich mit meinem Vornamen angesprochen hat.

 

Wieder schlucke ich.

Meine Kehle ist so entsetzlich trocken, als hätte ich an einem Marathon durch die Wüste teilgenommen, dabei stehe ich noch immer hier, in einer Berliner Altbauwohnung und fühle mich spontan um dreißig Jahre zurückversetzt.

 

Seine Stimme ist dieselbe, auch wenn das Aussehen sich verändert hat.

„Basti…“, flüstert er, kaum hörbar und ich kann nicht anders, reagiere auf ihn, genauso, wie ich es vor dreißig Jahren getan habe.

 

„Friedrich…“, entkommt es meiner Kehle, trocken und gekrächzt und doch ist es unvermeidbar, seinen Namen auszusprechen.

 

Er steht hier vor mir, ist so plötzlich bei mir, dass mein Verstand überhaupt keine Chance hat, die Situation zu verarbeiten.

 

Ich spüre das Zittern, das all meine Gliedmaßen ergreift und ich höre meinen Ältesten wie aus weiter Ferne.

Pure Panik in seiner Stimme, aber ich kann nichts sagen, kann nicht reagieren.

All mein Denken, all mein Handeln hängen an ihm.

An Friedrich.

Meinem Friedrich.

 

Er kommt auf mich zu und egal wie sehr sich dieser klitzekleine, ewig meckernde und nörgelnde Teil von mir dagegen wehrt, ich kann einfach nicht anders.

Seine Arme legen sich um mich und plötzlich ist es, als wäre kein einziger Tag vergangen.

Er riecht noch immer genauso, wie ich es in Erinnerung habe, nur noch tausendmal besser.

Dieser Duft ist real.

Er ist hier.

Mein Friedrich.

In meinen Armen.

Da, wo er von Anfang an hätte sein sollen, wo schon immer sein Platz war.

 

Kaum spüre ich ihn, fällt das Atmen mir wieder leichter, auch wenn es von lauten Schluchzern unterbrochen wird.

Meine Finger gehorchen mir nicht mehr, krallen sich an ihm fest, als gäbe es kein Morgen, als wäre dies der letzte bewusste Augenblick auf Erden.

 

Genau so fühlt es sich an.

Friedrich sehen und sterben.

So habe ich es mir oft vorgestellt, aber die Realität übertrifft alles.

Ich lebe! Auch wenn es sich kaum so anfühlt.

Mein Herz scheint der Belastung nicht gewachsen zu sein, setzt ein paar Schläge aus und ich glaube fast, ich bin doch schon tot und im Himmel angekommen.

 

Aber nein.

Ich lebe noch.

Ich stehe hier, mitten in Berlin, im Wohnzimmer meines Sohnes und halte das im Arm, was ich längst als verloren angesehen habe.

Meinen Friedrich.

 

Sein Gesicht in meinen Händen ist so schön, wie eh und je. Ich halte es fest, will nicht, dass es verschwindet, so wie alle Träume und Trugbilder der letzten dreißig Jahre.

 

„Was soll der Scheiß?“ Christians Stimme erinnert mich daran, dass wir nicht allein sind.

Ich kann meinen Blick trotzdem nicht lösen.

„Das ist ein Scherz, richtig? Ihr kennt euch und… wollt uns verarschen, oder?“

 

Was soll ich ihm sagen? Die ganze Wahrheit? Ist er bereit dafür?

Ich weiß es nicht, weiß nur, dass ich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen will.

Ich kann mich nicht länger verstecken! Nicht mit Friedrich in meinen Armen.

 

Vereint

 

Eng aneinandergeschmiegt liegen wir auf dem schmalen Bett im Gästezimmer, das ja eigentlich Franzis Arbeitszimmer ist.

Friedrich sollte eigentlich im Wohnzimmer auf der Couch nächtigen, aber allein der Gedanke daran, auch nur eine einzige Minute unnötig voneinander getrennt zu sein, erschien so sinnlos.

 

Die Kinder verstehen es. Gott sei Dank!

Ich war noch nie so erleichtert in meinem Leben, wie ich es seit diesem Gespräch heute Abend bin.

 

Ausgerechnet unter dem Weihnachtsbaum und bei heißem Punsch haben wir abwechselnd unsere Geschichte erzählt.

Franzi hatte Tränen in den Augen, während mein Sohn von Minute zu Minute blasser wurde.

Ich hatte solche Angst, dass er sich ekeln würde, dass er mich jetzt nicht mehr als den Vater ansehen würde, der ich ihm immer war, dass ich mich beinahe übergeben hätte.

 

Im Bad, wo ich würgend über der Kloschüssel hing, kam Chris dann aber auf mich zu, legte eine Hand auf meine Schulter und sagte, er hätte kein Problem damit. Es wäre nur der Schock gewesen, der ihn so harsch reagieren lassen hat.

Und er hat sich gewünscht, ich hätte es früher gesagt und mich nicht mein ganzes Leben lang versteckt.

 

Aber er hat es auch verstanden.

Die Zeiten früher waren anders und als ich endlich frei war, hatte ich den einzigen Grund für ein Coming Out längst verloren.

 

Dass dieser Grund jetzt hier bei mir ist, ist noch immer so unfassbar, dass ich mich gar nicht traue, die Augen zu schließen, aus Angst, es könnte doch wieder nur ein Traum sein.

Und so liege ich hier, in seinen Armen und kann mich gar nicht sattsehen an ihm.

Der Zahn der Zeit hat an uns beiden genagt, aber das stört uns nicht.

Die Haare sind grau geworden und verabschieden sich von Jahr zu Jahr mehr.

Wo früher glatte Haut war, sind jetzt Falten.

Ein kleines Wohlstandsbäuchlein tragen wir beide mit uns herum.

Unsere Lesebrillen liegen nebeneinander auf dem kleinen Beistelltisch.

 

Trotz allem ist Friedrich noch immer der schönste Mann, den ich je gesehen habe. Mit weichen Lippen, die so zärtlich an mir knabbern, dass ich ein leises Stöhnen nicht unterdrücken kann.

 

Wen stört es da, dass wir längst zum alten Eisen gehören?

Manche Dinge ändern sich wirklich nie.

 

 

 

 

Impressum

Texte: Schokischlecki
Bildmaterialien: Schokischlecki
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2014

Alle Rechte vorbehalten

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