Ich begrüße Sie herzlich, Ihr, die unter den Lebenden wandelt. Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Wie ist es? Wie fühlt es sich an? Zu leben...? Ich selbst habe es nie gespürt. Ich selbst hatte nie das Recht gehabt einen Körper, ein Herz oder eine Lunge zu besitzen. Also frage ich Sie? Wie ist es? Das Leben?
Wissen Sie, es gab in meinem Leben eine Zeit, da scherte ich mich weder um die Existenz der Lebenden, noch um meine Eigene. Ich akzeptierte die Dinge, so wie sie waren. Nie stellte ich die Meine noch die Ihre in Frage.
Ich saß tagein, tagaus in meiner dunklen Kammer, gelegen zwischen Zeit und Raum. Die Sanduhren, die mir die noch verbleibende Lebenszeit eines jeden von euch kundtaten, rieselten ununterbrochen. Sandkörner fielen durch den schmalen Pass und Sekunden, Minuten und Stunden verstrichen.
Wenn das letzte Sandkorn in einer meiner Sanduhren gefallen war, so erhob ich mich aus meinem schweren Eichensessel und machte mich auf den Weg, die Seele des Verstorbenen von seinem Körper zu trennen. Denn sonst war es ihm nicht gewährt in ein anderes Reich zu wechseln. Mir selbst ist dieses Reich unbekannt. Meine Aufgabe ist es allein über die Seelen der Verstorbenen zu wachen, und sie auf ihrem Weg zu begleiten.
So saß ich also zu einer schönen Stunde in meinem Sessel und betrachtete den Sand der durch die Uhren rieselte. Fragen Sie sich, ob dies eine langweilige Beschäftigung ist? Nun, ich kann ihnen diese Frage nicht wirklich beantworten. Es gibt so viele Unterschiede zwischen Ihnen und mir.
Wenn sie Hunger haben, essen sie. Wenn sie durst haben, dann trinken sie. Wenn sie auf die Toilette müssen, dann tun sie dies. Selbst wenn sie atmen müssen, blähen sich ihre Lungen auf. Vieles tun Sie unbewusst, Sie akzeptieren dieses Leben, diese Notwendigkeiten. Sie akzeptieren sie, so wie ich die Meinen akzeptiere. Und meine Notwendigkeiten bestehen darin, die Sanduhren zu bewachen, so wie Sie atmen müssen. Und können Sie mir sagen, ob Atmen 'langweilig' ist?
Aber ich schweife schon wieder ab. Ich saß nun dort und sah, wie sich der Sand einer Uhr dem Ende neigte. Es war die Uhr eines kleinen Schmetterlings. Für ihn war zu dieser Stunde die Zeit gekommen, das Reich der Lebenden zu verlassen und sich in meine Obhut zu begeben. Ich nahm, wie zu jeder Zeit auch, meine Sense, mit der ich die Seelen vom Körper trenne und machte mich auf den Weg.
Mein Ziel war ein kleiner Busch mit Lavendel an dem Schmetterlinge so gerne den Nektar aus den Blüten ziehen, wie ich mir habe sagen lassen. Es dauerte nicht lange, da sah ich ihn auch schon. Er flatterte noch munter vor sich hin. Ich beobachtete ihn eine ganze Weile.
Seine anmutigen Flügel schlugen auf und ab. Sie leuchteten im Sonnenlicht. Die Farben waren so wunderschön, wie ich noch nie Farben gesehen hatte. Es dauerte nicht lange, da erblickte mich der Schmetterling. Ich trat auf ihn zu. Seine Schönheit benebelte meine Sinne noch immer.
Erst als ich an ihn herangetreten war erhob ich meine Stimme: "Guten Abend." Sagte ich und sah ihn an. Er setzte sich auf eine der Blüten auf dem Lavendelbusch und flatterte immer wieder mit seinen Flügeln.
Und das, das war der Moment, wo ich mir zum ersten Mal die Frage stellte: 'Was ist Leben?'
"Guten Tag, werter Gevatter." Sprach der Schmetterling. Seine Stimme war so süß, so hell und so klar wie die Farben die seine anmutigen Flügel zierten. "Ich nehme an, du weißt warum ich gekommen bin?" Fragte ich eine völlig überflüssige Frage. Sie war bis zu diesem Zeitpunkt wie ein Ritual für mich, das ich bei jedem meiner Besuche den Betroffenen durchführte.
Doch ich hatte nie wirklich über diese Worte nachgedacht. Er wusste natürlich warum ich hier war. "Natürlich." Antwortete er mir. "Es wird Zeit, für mich zu gehen..." Er sprach diese Worte so selbstverständlich, ohne jegliche Furcht, ohne Hass, ohne Zögern aus. Noch immer sah ich ihn an. Für einen kurzen Moment war ich hin und her gerissen zwischen Sprachlosigkeit und Verwunderung.
"Ich hätte eine Frage, Gevatter..." Ich blickte zu ihm auf, fühlte mich sogar ein wenig ertappt, auch wenn ich nicht wusste, was ich denn hätte verbrochen. "Ich wusste, dass du eines Tages kommen würdest. Ich habe mein Leben lang auf dich gewartet, nur um dir diese Frage zu stellen: Was ist der Sinn meines Lebens?"
Ich sah ihn an. Wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich überlegte, doch so sehr ich mich auch anstrengte, ich vermochte keine Antwort auf seine Frage finden. Ich empfand zum ersten Mal Gefühle, die ich nie gekannt hatte.
Ein Gefühl der Enttäuschung machte sich in mir breit. Ich war enttäuscht darüber, dass ich dem Schmetterling keine Antwort geben konnte. Ich fühlte mich schuldig. Schuldig, weil ich mich verpflichtet fühlte ihm eine Antwort auf seine Frage zu geben. Doch ich kannte sie nicht... Ich war so aufgewühlt, dass mir Tränen kamen. Tränen, ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, dass ich welche besaß geschweige denn, dass ich sie hätte weinen können.
"Verzeih mir, doch...ich bin nicht in der Lage dir eine Antwort auf diese Frage zu geben..." Gab ich letztendlich zu. Die Gefühle schienen mich zu verschlucken. Sie ließen mich zittern und ich war nicht mehr in der Lage den Schmetterling anzusehen.
Ich nehme bis heute nur an, dass er den Kopf gesenkt hatte. "Nun denn..." Sagte er auf einmal. Ich blickte auf. "Es wird Zeit, Gevatter." Sprach er zu mir und erhob seine Flügel. Anmutig flatterte auf meinen Zeigefingerknochen. So hielt ich ihn eine Weile, sah ihn weinend an, und er... er lächelte.
Er lächelte, als ich seine Seele von seinem Körper trennte, der schlaff auf meine Hand hinabfiel. Seine Seele war zum Himmel aufgestiegen, oder wo auch immer sie nun ihre Ruhe fand. Zaghaft legte ich den leblosen Körper auf ein Blütenblatt, dass man später Vergissmeinnicht nennen sollte...
Etliche Stunden sind seitdem vergangen. Doch dieses Erlebnis hat mich nachhaltig geprägt. Heute habe ich mein Ritual aufgegeben. Früher fragte ich "Ich nehme an, Sie wissen, weshalb ich hier bin..." oder irgendetwas, das diesen Sinn hatte. Heute frage ich sie nach dem Sinn ihres Lebens.
Es gibt den Menschen, wie auch den Tieren die Kraft ihr altes Leben los zulassen. Auch wenn sie den Sinn ihres Lebens nicht erreicht haben, so sehen sie dennoch was ihnen der Weg dorthin beschert hat.
Auch ich habe viel über die Frage des Schmetterlings nachgedacht. Erst viele Stunden, die in eurer Zeitrechnung etliche Jahre betragen mögen, fand ich eine zufriedenstellende Antwort:
"Das Leben hat den Sinn, den man ihm gibt."
Und mit diesen Worten verabschiede ich mich von Ihnen. Ich wünsche Ihnen wirklich, dass Sie den Sinn ihres Lebens finden. Vielleicht haben Sie ihn ja auch schon gefunden?
Eines Tages werden wir uns begegnen. Und wenn ich Sie nach dem Sinn ihres Lebens frage, so antworten sie mir ohne Scheu und Angst.
Denn der Sinn meiner Existenz ist nicht, dass Sie mich fürchten, hassen oder verabscheuen. Mein Sinn, ist ihnen den erlösenden Frieden zu bieten...
Gevatter Tod
Tag der Veröffentlichung: 11.03.2013
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