Am Esstisch saßen die Kinder Lisa und Max, Lisa blätterte ein Zeitschrift durch, während Max etwas malte. Nachdem Lisa die Zeitschrift zur Seite gelegt hatte, schaute sie in die Runde.
"Oma, erzählst du uns von früher?", bat Lisa und schaute dabei erwartungsvoll ihre Großmutter an. Die Großmutter legte ihre Stricksachen zur Seite, räusperte sich und erhob sich aus ihrem Ohrensessel. Zuerst holte sie noch einige Kekse und eine Karaffe mit Apfelsaft, dann setzte sie sich u den Kindern Lisa und Max.
"Was für eine Geschichte möchtet ihr den hören?"
"Du erzählest heute Mittag, dass Tante Mela jetzt schon ein Jahr tot ist. Erzähle uns doch bitte von ihr etwas Besonderes", meinte Max.
Die Großmutter dachte einen Moment nach.
"Vor einigen Jahren erzählte mir eure Tante Mela, dass sie an einem Wintertag hinüber zu ihrer Schwiegermutter gegangen sei, um nachzusehen, wie es ihr ging. Sie wohnten nur durch den Garten getrennt, jeder halt in ihren Häuschen. Seinerzeit war der Schwiegervater von Mela gestorben und die Schwiegermutter war gerade von einem Klinikaufenthalt zurückgekommen. Man hatte sie am Auge operiert und leider unterlief dem Krankenhaus ein Fehler, denn statt die Sehstärke zu verbessern, wurde eines der Augen milchig und sie begann daraufhin auf dem Auge zu erblinden. Nach dem fast 14-tägigen Krankenhausaufenthalt wollte Tante Mela ihr nicht zumuten, die schweren Holzrollladen hinunterzulassen. Das Ganze nahm die Schwiegermutter sehr mit, denn gut einen Monat vorher hatte ihr Mann für immer die Augen geschlossen. Obwohl die Schwiegermutter zwar immer gehofft hatte, er würde es schaffen, sich gegen den Lymphdrüsenkrebs aufzulehnen und zu besiegen. Genau in diese schwere Zeit der Trauer musste ihr der Augenarzt mitteilen, dass eine sehr akute Gefahr ihres Augenlichtes bestand.
Da Tante Melas Schwiegermutter wieder aus dem Krankenhaus entlassen war, versuchten alle Familienangehörige ihr ein wenig zu helfen. Nach einem Plausch verabschiedete sich Mela von der Schwiegermutter und machte sich auf den Weg. Es begann bereits zu dämmern, als sie sich auf den Rückweg machte und nachdem Tante Mela die kleine Gartentür geöffnet hatte, die früher den Ziergarten vom Nutzgarten trennte. Am Ende des damaligen Nutzgartens befand sich das kleines Häuschen von Tante Mela."
"Dann wohnte Tante Melanie ja ganz in der Nähe zu ihren Schwiegereltern", meinte Lisa impulsiv.
Die Großmutter nickte und erzählte weiter:
"Mela erzählte mir, dass sie ganz langsam schlenderte, als sie den damals vorhandenen links liegenden Zierteich und an dem kleinen Tannenwäldchen vorbei ging. Gerade als sie sich auf der Höhe des leerstehendem Kaninchenstalls befand, übermannte Mela ein seltsames Gefühl. Seinerzeit hatten sie Graf van Racker den Nachfolger ihres Prinz Präsident Krümmel den Winter über in die Garage einquartiert, da er noch keinen Winter draußen verbracht hatte."
"Oma, wer ist Graf von Racker und Prinz Präsident Krümmel?", möchte Lisa wissen.
"Das waren Kaninchen von Melas Tochter", erklärte ihr die Großmutter und goss jedem ein Glas Apfelsaft ein.
"Und was passierte dann?", fragte Max neugierig.
Bevor die Großmutter weiter erzählte, trank sie einen Schluck Apfelsaft.
"Tante Mela wäre stehen geblieben und hatte sich ganz langsam umgedreht. In dem Moment traute sie ihren Augen nicht und begann zu zwinkern, denn da stand wohl ihr Schwiegervater mit einem Lächeln im Gesicht, er soll ein kariertes Hemd und eine braune Cordhose getragen haben. Auf seinem rechten Arm trug er den Prinz Präsident Krümmel, der im Juli des Jahres die Regenbogenbrücke passiert hatte und winkte ihr mit der linken Hand fröhlich zu.
Wie versteinert muss sie da gestanden haben und konnte sich nicht bewegen. Mela starrte die Beiden an, dann kniff sie sich in den Arm. Das hat scheinbar weh getan, also träumte sie nicht. Die Beiden schauten sie an und als wollten sie ihr sagen, "Uns geht es gut". Wie lange sie dort stand und auch keinen Ton herausbringen konnte, dass wusste sie nicht mehr. Langsam lösten sich der Schwiegervater mit dem Kaninchen in Luft auf und sie konnte sich wieder bewegen. Daraufhin drehte sie sich um, lief drei bis vier Schritte, drehte sich nochmals um, aber da war nichts mehr zu sehen. Niemand stand mehr am Gartentor und inzwischen dunkelte es bereits.
Zuerst traute sie sich nicht von dem Erlebten zu erzählen. Ihrem Mann erzählte sie es zuerst, doch meinte zuerst, du hast geträumt. Nein, beharrt sie, sie hätte nicht geträumt. Seitdem ist sie eine Zeit lang mit schummrigen Gefühlen dort entlang gegangen."
"Oma, das kann ich mir vorstellen, ich wäre auch mit gemischten Gefühlen den Weg dort entlang gegangen ", meinte Lisa und zeigte auf die Zeitschrift.
"Ja Lisa, das glaube ich auch, hattest du auch den Artikel gelesen, mit den Erscheinungen von den Verstorbenen? ", wollte nun die Großmutter wissen.
"Ja, jetzt verstehe ich auch weshalb du uns die Geschichte von Tante Mela erzählt hast. Das es so etwas wirklich gibt, konnte ich mir nicht so recht vorstellen", erwiderte Lisa.
"Da ich ja auch den Artikel gelesen hatte, erinnerte ich mich direkt an die Erzählung von Mela."
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2023
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