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Vorwort

Storys, die uns ein Leben lang begleiten ... Oder verfolgen? Erinnerungen haben ihren eigenen Willen; mal muss man sie mit Mühe verdrängen, dann wieder bleibt alles im Schemenhaften – man kann nicht näher ranzoomen. Dann müssen die Dicht- und Erzählkunst aushelfen. Mittels einer Story schlägt man eine Brücke in seine Historie. Man sollte darauf achten, dass sie begehbar ist. Man kann damit sogar besseren Kontakt zu seinen Emotionen aufbauen; die liegen ja oft verschütt. Mit Worten etwas freiräumen, etwas bergen, sichern. Insofern sind manche Storys so etwas wie Freunde, mit denen man auch nicht ständig Kontakt hat, aber an die man des Öfteren gerne denkt.

 

Der Erlös dieses Buches geht an: Aktion Deutschland Hilft e. V.

Inhaltsverzeichnis

Phil Humor - Vorwort

 

Elke Immanuel  - Ein Tag

 

Ursula Kollasch - Das geheime Notizbuch

 

Phil Humor - Zu Besuch bei Noah und Haikal

 

Gitta Rübsaat - Mein Denkmal

 

Dörte Müller - Valerie und der Eisbär

 

Matthias März - Das irische Mädchen

 

Angela Ewert - Goldhochzeit ohne Feier

 

Ralf von der Brelie - Großes Herz und feuchte Nase

 

Coco Eberhardt - Das schwarze Klavier

 

Michaela Schmiedel - Lindes Geflüster

 

Roland Schilling - Zeit der Abenteuer

 

Milly B. - Umwelt und mehr

 

Manuela Schauten - Träumte mal wieder

 

Anneliese Koch - Vom Esel, der so gern ein Goldesel sein wollte.

 

Martina Hoblitz - Ein Fisch lernt fliegen

 

Petra Peuleke - Glück gehabt

 

Karl Plepelits - Die Weisheit der Bäume

 

Heike  Brands - Die Botschaft der Engel

 

Coco Eberhardt - Dein Julius

 

Matthias März - Für alle Felle Stefan nie

 

Michaela Schmiedel - Winternacht Himmel

 

Martina Hoblitz - Sommerliebe - Winterhass?

 

Elke Immanuel - Man weiß nie ...

 

Ein Tag

© Elke Immanuel

 

Es ist ein Tag wie jeder andere

meint man

Ein neuer Tag wie viele vorher

alles ist ruhig, normal

Dann kommt ein Regen

nichts Besonderes

Hatten wir schon

Tausendmal

Doch heute hört er nicht auf

wird stärker und stärker

Noch fällt uns nichts auf

noch laufen wir unseren Tageslauf

Dann wird es Abend, Nacht

und plötzlich kommt ein Schlamm

die Straße entlang

steigt höher und höher

bricht sich durch Kellerfenster Bahn

steigt ins erste Geschoß, ins Zweite

zerbricht Schaufenster-Scheiben

reißt Autos wie Spielzeug mit

Menschen, Tiere, Hab und Gut

Vom Campingplatz schwimmen Wohnwagen los

zerschmettern an uralten Sandstein-Brücken

Riesige Bäume fallen wie Streichhölzer

verhaken sich im angestauten Müll

reißen Straßen weg

verbiegen Bahnschienen wie dünner Draht

Die alten Brücken bersten und fallen zusammen

Noch nie dagewesenes geschieht

Die Erde rutscht

Felder weichen einem Loch

einem Krater gleich

Häuser zerbersten und schwimmen davon

Die Autobahn versinkt im meterhohen Schlamm

40-Tonner verschwinden

Die Angst um Eingeschlossene wächst

Hilfe ist unmöglich

u - n - m - ö - g - l - i - c - h

Gibt es diese Wort überhaupt

gibt es dieses Wort in Deutschland

Im Land der Sauberkeit

der Regeln und Vorschriften

der Straßenschilder und Fahrpläne

Seit diesem Tag JA!

Zusehen müssen

Verzweifeln unterdrücken

Alltag für die nächsten Wochen

Monate - Jahre

Der Schock sitzt tief

das Handy tot

kein Wasser, kein Strom, nichts mehr

keine Heimat mehr für Viele

 

Dann - dann endlich sinkt das Wasser

zeigt seine Macht

am Hinterlassenen

Der Mensch atmet auf

trotz Verzweiflung wächst Dankbarkeit

das Leben ist übrig

Schaufeln, Schubkarren, unendlich Müll

prägen das Bild

doch alle packen an

von nah und fern, vom Ausland sogar

Tausende mit Schippen,

Eimern und Schubkarren

Baggern, 40-Tonner, Manpower

THW und Feuerwehren

Polizei und Hilfsorganisationen

leisten Unmenschliches

Drum herum die betroffenen Menschen

Deutschland steht zusammen

seit langem wieder

Die Alten sprechen von

"Wie im Krieg"

und uns Jungen stockt das Blut

Die Alten sind´s

die Alten machen Mut

"Wir schaffen das - Hauptsache gesund"

Videoaufnahmen beweisen es

sie lachen mitten im Müll

sind echt dankbar, nicht gespielt

Über-Lebens-Mut sammelt die Menschen

läßt sie erkennen, was wirklich zählt

Zusammenhalt, Frieden, Liebe zum Nächsten

Die Tage vergehen

Straßen erscheinen wieder

Müllverbrennungsanlagen haben Hochbetrieb

Die Autobahn läuft trocken

Viele PKW erscheinen erstmals im Schlamm

Keine Menschen in den Fahrzeugen

Aufatmen bei den Hilfskräften

sie haben Mammut-Aufgaben gemeistert

werden noch Wochen im Einsatz sein müssen

Tun es, müde, abgekämpft, unermüdlich

 

Gott sei Dank - hört man zum ersten Mal

GOTT SEI DANK!!! WIR LEBEN!

WIR SCHAFFEN DAS!!!

 

Wir haben ein wunderbares Land

mit wunderbaren Menschen

 

WIR SCHAFFEN DAS!!!

Das sagt nicht nur die Regierung

DAS SCHAFFEN WIR GEMEINSAM!

WIR MENSCHEN!!!

 

 

 

Das geheime Notizbuch

© Ursula Kollasch

 

 

Montagmorgen. Müde schlurfte ich auf den Eingang der Schule zu, an den Fahrradständern und geparkten Rollern vorbei, sah einige andere, die wie ich zu spät waren, sich aber etwas mehr beeilten, in das ungeliebte Gebäude zu gelangen.
Ich hatte nur wenig Schlaf bekommen. Immer, wenn ich an meinen eigenen PC-Games herumbastelte, neue Programme installierte, Welten, Waffen, Endgegner und Rätsel entwarf, vergaß ich die Zeit. So auch gestern. Fuck. Wenn das mal keinen Eintrag brachte, wegen zu häufigem Zu-Spät-Kommens. Ach, wenn schon, versuchte ich mich zu beruhigen. Gibt Schlimmeres ...
Ich gähnte herzhaft, als ich über den Flur auf meinen Klassenraum zu schlenderte. Jetzt durfte ich die Kiefer noch aufreißen, gleich, vor dem Lehrer, würde ich das krampfhaft unterdrücken müssen. Durch die geschlossene Tür hörte ich Kramers sonore Stimme, die meine Mitschüler auf Spanisch zutextete. Mit dieser übertriebenen Betonung, die jeder echte Spanier vermutlich nur mit hochgezogenen Augenbrauen belächeln würde. Die Uhr auf dem Flur zeigte Viertel nach acht an. Mist. Rasch setzte ich ein zerknirschtes Gesicht auf und öffnete die Tür.
„Ah, Tom, buenos dias, wie schön, dass du uns noch mit deiner Anwesenheit erfreust!“ Der Sarkasmus troff nur so aus Kramers Stimme.
Sein Blick, der mich fast aufspießte, sagte wesentlich direkter: „Das gibt Ärger, kleiner Penner. Ich sitze am längeren Hebel.“
Ja, bei Kramer sollte man sich Unpünktlichkeit, Vergessen der Hausaufgaben, aber vor allem Kritik oder Aufmucken in jeder Form verkneifen. Der Alte erwiderte selbst bei höflichst vorgebrachten kritischen Fragen mit süßlich-fieser Stimme: „Meine Lieben, wenn das so ist, weiß ich Bescheid. Gracias! Das werde ich mir merken!“ Dabei war Maikes Kommentar über seine schief kopierten Arbeitsblätter gar nicht böse gemeint gewesen.
Letztens hatte sich jemand unbedachterweise beklagt, er wäre nicht mitgekommen. Statt noch einmal zu erklären, kündigte Kramer, die beleidigte Leberwurst, einen ‚längst ausstehenden‘ umfassenden Vokabeltest an, dann setzte er als kleine Sofortrache noch immens viele Hausaufgaben oben drauf und drohte abschließend in seiner Tirade für die nächste Doppelstunde einen Besuch des Sprachlabors an. Horror. Das wollte ich mir und den Mitschülern ersparen. Rasch suchte ich im Kopf die spanischen Vokabeln meiner Entschuldigung zusammen.
Lo siento, perdí el tranvía.“ Das hieß doch hoffentlich - grammatikalisch korrekt - Entschuldigung, ich habe die Straßenbahn verpasst, oder?
Otra vez. Deberías levantarte más temprano y salir más temprano de casa“, gab er mit tadelnder Stimme zurück. Schon wieder. Sie sollten früher aufstehen und das Haus eher verlassen. War ja klar. Auch, dass er mich plötzlich siezte. Klang nicht nach: Entschuldigung angenommen.
Ich begab mich an meinen Platz. Glücklicherweise ließ er von mir ab und wandte sich wieder der gesamten Klasse 12a zu. Hinter meiner interessierten Maske ließ ich die Gedanken abdriften.
Doch am Ende der Doppelstunde holte mich die Realität wieder ein. Als ich gerade meine Sachen einpackte, baute sich Kramer vor mir auf. „Dreimaliges Zu-Spät-Erscheinen bedeutet Informieren der Erziehungsberechtigten sowie einen Eintrag.“ Shit. Ich blickte zu ihm auf. Sah das miese kleine Lächeln um seinen Mund und wappnete mich innerlich für das, was nun folgen würde.
„Das möchtest du sicher nicht, oder?“ Eine rhetorische Frage, denn er wartete meine Antwort gar nicht ab. „Wenn du, statt jetzt in der Pause in der Raucherecke herumzuhängen, lieber was Sinnvolles tun möchtest, könnte ich vorerst von den Konsequenzen deiner bisherigen Unpünktlichkeit absehen.“ Jetzt hatte er meine volle Aufmerksamkeit. Was wollte er von mir? Er spuckte es auch sofort aus. „Im Kopierraum liegen ein paar Stapel, bereits in der korrekten Reihenfolge angeordnet. Die Blätter müssten nur noch zu Heften zusammengetackert werden. Eine Sache von nicht mal zehn Minuten, wenn man flott arbeitet, und das heutige Zu-Spät-Erscheinen wäre vergessen.“
Ja, damit er, Kramer, selbst mal eine paffen gehen konnte, draußen, vor dem Schulgelände hinter der Bushaltestelle, wo sich die rauchenden Lehrer trafen. Dort hatte ich ihn schon das eine oder andere Mal gesehen. Oder er würde sich einen Latte Macchiato beim Bäcker holen. Egal, wägte ich ab, tu, was der alte Sack will. Denn ich hatte keinerlei Lust auf Stress mit meinen studierten, an Schulleistungen äußerst interessierten Eltern. „Okay“, gab ich knapp zurück, was Kramers mieses kleines Lächeln verstärkte. „Na, dann komm mit.“
Er wandte sich ab und schritt mir voraus aus dem Klassenraum. Ich schulterte meinen Rucksack und folgte ihm in einigem Abstand, denn ich wollte nicht, dass mich andere mit ihm sahen und für einen Schleimer hielten.
Beim Kopierraum angekommen, zeigte er auf die Papierstapel. Die Bezeichnung ein paar war etwas untertrieben, es handelte sich um exakt zwanzig.
„Von links nach rechts, drei Mal tackern, oben, Mitte, unten. Ich nehme die Hefte am Ende der Pause hier von dir entgegen.“ Er wandte sich ab, drehte sich aber an der Tür noch einmal um. „Und lass dir bloß nicht einfallen, dabei zu frühstücken. Ich will keine Fettflecken von deinen Wurstfingern darauf sehen, klaro?“ Erneut wartete er meine Antwort nicht ab und verschwand auf dem Flur. Ätzende Bazille! Ich zeigte dem leeren Türrahmen den Mittelfinger.
Dann stellte ich meinen Rucksack ab und machte mich ergeben an die Arbeit, die so stupide war, dass ich mich nebenbei gedanklich mit der Weiterentwicklung meines neuen Spiels beschäftigen konnte. Als eine Lehrerin in den Raum stürmte, an einen der Kopierer, erschrak ich regelrecht, sodass mir die Blätter, die ich gerade zusammenheften wollte, aus der Hand glitten, sich auf dem Boden verteilten. Frau Becker war die Furie, die jetzt hektisch an dem Gerät herumdrückte. „Na, musst du das zur Strafe machen?“, fragte sie über die Schulter.
„Ich helfe immer gerne“, gab ich lakonisch zurück, während ich in die Hocke ging, um die verstreuten Papiere aufzusammeln. Sie gluckste leise. Vielleicht besaß sie doch einen Funken Humor. Dann sagte sie etwas, was ich jedoch nicht mitbekam, denn als ich das letzte Blatt unter der Krankenliege, die unsinnigerweise im Kopierraum stand, hervorklaubte, entdeckte ich ein kleines, rotes Notizbuch, das dort im Halbdunkel an der Wand lag. Ich reckte meinen Arm so weit es ging und bekam es zu fassen. Ich schaute mich um zu Frau Becker, die wandte mir weiter den Rücken zu. Bestens. Rasch steckte ich mir den Fund unter den Pullover in den Hosenbund und richtete mich mit dem letzten Papier in der Hand wieder auf.
Die Lehrerin hatte nichts von der Aktion bemerkt, denn sie griff sich ihre Kopien und verließ wortlos den Raum. Ich spähte zur offenen Tür. Überlegte, ob ich einen Blick in das Notizbuch riskieren durfte, das ich hart an meinen Bauch gepresst spürte. Besser nicht. Wollte keinesfalls damit erwischt werden. Also ließ ich es nur fix im Rucksack verschwinden.

Mechanisch erledigte ich meinen Auftrag und pünktlich zum ertönenden Gong, der die Pause beendete, erschien Kramer.
„Fertig geworden?“, fragte er mit hämischem Unterton. Er stank nach Rauch, also hatte ich richtig vermutet, wo er seine gewonnene Freizeit verbracht hatte ... Ich nickte nur, hin zu den ordentlich aufgereihten Heften über spanische Grammatik. „Fein.“
Er fasste unter den dicken Stapel und hob ihn an. „Dann nimm dich zukünftig in acht, und halt dich an meine Regeln. Denn nächstes Mal bist du dran.“ Wahrscheinlich hatte er lässig und eiskalt wie ein Berufskiller klingen wollen, aber ich fand die Ansage eher peinlich und zuckte innerlich mit den Achseln. Verkniff mir dieses Mal, seinem Rücken den Mittelfinger zu zeigen und machte mich, mit inzwischen knurrendem Magen, auf zum Deutschunterricht von Frau Siebert-Löschner.

Erst nach Schulschluss kam ich dazu, das Notizbuch in Augenschein zu nehmen. In der Straßenbahn holte ich es heraus und klappte die erste Seite auf. Kleine, flüssige Schrift. Lesbar, aber nicht unbedingt sauber. Eine reife Schrift, nicht von einem Schüler, und eher die einer Frau als die eines Mannes, vermutete ich. Ich begann zu lesen. Und schon nach den ersten Sätzen wurden meine Augen rund. Vor Erstaunen.

Das Humboldt-Gymnasium - was soll ich sagen? Baulich eine Sünde der 80er, seitdem kaum modernisiert oder renoviert worden. Lehrertoilette? Ein Hort des Grauens. Fast so eklig wie die der Schülerinnen und Schüler. Turnhalle? Katastrophe, schlecht ausgerüstet.
Schülerschaft: so weit in Ordnung, bis auf wenige Ausnahmen. Das kriege ich aber in den Griff.
Es sind eher einige nervige, besserwisserische Kolleginnen und Kollegen, die Harmonie im Mitarbeiterzimmer und in der Zusammenarbeit verhindern.

Die Netten:

1. Bea Brammer, Typ Alt-68erin, könnte meine Mutter in burschikos sein, Kettenraucherin mit Transvestiten-Stimme, aber gute Unterrichtsmethoden, fair im Umgang mit ihren Schülern, sie folgen ihr meist auch ohne Druck, sie hat Humor.
 
Ich hielt inne. Ja, die Brammer war etwas schräg, aber in Ordnung. Bisher konnte ich der Person, die wirklich nach einer Frau klang, voll und ganz zustimmen. Das musste eine der Lehrerinnen sein! Aber welche? Ich las weiter.

2. Frederik Metzner, bisschen peinlich mit seinen Cargohosen, den Metal-Band-T-Shirts und der umgedrehten Base-Cap, macht einen auf Kumpeltyp, wirkt wie ein Student oder Referendar, dabei ist er in seinen Vierzigern. Unkompliziert, infantil, immer gut drauf. Seine Witze findet er selbst allerdings am lustigsten, das Kollegium lacht nie darüber und auch den Anschluss an den Humor der Sch. hat er längst verpasst. Ist süchtig nach deren Bestätigung, dafür macht er sich zum Affen und übt Fortnite-Moves, hat nach wie vor nicht kapiert, wie fist bumping, auch Ghettofaust genannt, funktioniert. Aber er ist harmlos-nett, hilfsbereit.
 
Ich lachte leise. Treffende Beschreibung. Metzner, den Chemie- und Erdkundelehrer, hätte ich auch ohne Namensnennung erkannt. Oh, als Nächstes kam meine Deutsch- und Englischlehrerin dran ...

Die Unangenehmen:

Sigrid Siebert-Löschner, sieht zehn Jahre älter aus, als sie ist. Petzt und lästert bei der Schulleitung über Kollegen. Die verhuschte, konfliktscheue Pädagogin liebt ihre Fächer so sehr, dass es sie schmerzt, Gedichte von Goethe oder Sonette von Shakespeare den pubertierenden Banausen vorstellen zu müssen. Eigentlich ist sie zu sensibel für den Schuldienst, zu durchsetzungsschwach, zu lärmempfindlich. Sie hat sich wohl aufgrund lebenslanger chronischer Migräne für die sichere Beamtenlaufbahn entschieden, wo ihre exorbitanten Fehlzeiten schulterzuckend akzeptiert werden. Leider hat sie didaktisch wenig drauf. Trotz fachlicher Hingabe endet ihr Unterricht, wenn er denn mal stattfindet, regelmäßig im Chaos - für die Schüler reine Zeitverschwendung. „Leute! Bitte!“, piepst sie mit schwacher Stimme durch den Raum, wenn in der 11b wieder Partystimmung herrscht. In der letzten Reihe schmierte Calvin Heuer mit Edding „Ohne Handy auf dem Klo gewesen. Es gibt 124 Fliesen.“ auf die Tischplatte - was sie nicht bemerkte. Genauso wenig, dass die Hälfte der Schüler Airpods trug. Beschäftigen tut sie sich sowieso am liebsten nur mit ihren zwei Lieblingsschülerinnen.

Das strotzte ja nur so vor Ironie. Traf genau meinen Humor. Und auch in diesem Fall konnte ich der Schreiberin - ja, es war sicher eine Frau! - nur beipflichten. Mit einem breiten Grinsen senkte ich meine Augen wieder auf die Seite. Uh - jetzt kam der alte Kramer dran. Herrlich!

Martin Kramer: eine empfindliche, aggressive Lehrerpersönlichkeit. Nahe dem Größenwahn. Nicht kritikfähig. Lebt seine Allmachtsfantasien im Klassenraum aus. (Zuhause hat er wahrscheinlich nichts zu melden, habe ihn mal beim Einkaufen mit seinem Drachen von Ehefrau gesehen, der erste Eindruck reichte, bevor ich schnell im nächsten Gang untertauchte ...) Seine Schüler müssen regelrecht vor ihm kuschen, wenn der kampfeslustige Pädagoge mit weit ausladenden Gesten und der Zornesfalte zwischen den Brauen alles mal wieder viel zu persönlich nimmt. Fürchterlicher Kerl! Hat bereits mehrfach sexistische Sprüche über mich losgelassen. Am liebsten hätte ich ihm eine reingehauen.

Oha, dachte ich. Wieder bestens getroffen, mit Insiderinformationen gewürzt. Die Sache mit Kramers Frau war ja lustig. Ich grinste. Blätterte um, wollte noch mehr erfahren, aber die nächsten Seiten waren blütenweiß und leer. Mmh. Ich klappte das Büchlein zu, tippte mit den Fingern darauf herum. Ob die Verfasserin der Schmähreden ihr Buch bereits vermisste? Schiss hatte, dass es in die falschen Hände, in die der Kollegen, geraten war? Bäche schwitzte und schlaflose Nächte erlebte?
Das hatte die Frau nicht verdient. Es waren ihre geheimen Gedanken, die sie nur unvorsichtigerweise in einem Büchlein bei sich trug und jetzt verloren hatte. Gut, dass ich der ehrliche und zutiefst belustigte Finder war. Denn ich würde niemandem davon erzählen und es ihr zurückgeben. Doch dazu musste ich zuerst ihre Identität lüften.
Welche Infos hatte ich? Frau Brammer könnte vom Alter her ihre Mutter sein, hatte da gestanden. Demnach war sie etwa um die Dreißig, vielleicht jünger. Ich grübelte weiter. Sie hatte viel über Frau Siebert-Löschner geschrieben, Eindrücke und Beobachtungen aus deren Unterricht ... als ob auch sie anwesend gewesen wäre. Eine Doppelbesetzung? Nein, die gab es nicht. Aber Moment ... natürlich! Mit der Siebert-Löschner schlich ab und zu eine neue Referendarin über den Flur. Garantiert war sie das! Eine kleine, dunkelblonde Frau, ganz hübsch, aber eher unscheinbar, stets mit schwerer Tasche. Die hatte ich bisher gar nicht weiter beachtet. In unserer Klasse war sie ja nicht gewesen. Morgen würde ich die vorsichtig abchecken, ob sie die heimliche Autorin war.

Der nächste Morgen. In der Innentasche meiner Jacke steckte das Notizbuch. Ausnahmsweise war ich zwanzig Minuten zu früh auf dem Schulgelände, denn ich wollte Lehrerparkplatz und Eingang im Auge behalten. Ich hoffte, dass ich sie noch vor der Schule abpassen konnte, die junge Frau, von der ich annahm, dass sie die Schreiberin war und mir witzige Minuten in der Straßenbahn beschert hatte.
Nacheinander trafen neben der Schülerschaft die Lehrerinnen und Lehrer ein, mit dem Auto, mit dem Fahrrad, doch sie war nicht darunter. Mmh. Ich sah auf die Uhr. Nur noch fünf Minuten bis Unterrichtsbeginn.
„He, Tom!“, rief mein Freund Nicolas. Er schlenderte auf mich zu. Wollte mit mir zusammen hineingehen, doch ich blieb stehen. Er drehte sich zu mir um. „Was’n los? Du willst doch wohl nicht mit Absicht wieder zu spät kommen, Alter!“
„Nein, ich komm‘ gleich nach.“ Er zuckte mit den Schultern und verschwand.

Noch zwei Minuten bis acht. Langsam wurde ich unruhig. Da! Eine rasche Bewegung auf dem Weg. Die Referendarin. Sie raste viel zu schnell mit ihrem Mountainbike den Weg entlang, umkurvte aber geschickt eine Schülertraube. Hielt mit einer flotten Bremsung bei den Fahrradständern der Lehrer.

Ich atmete durch und ging auf sie zu, während sie ihr Rad abschloss.
„Entschuldigung“, machte ich auf mich aufmerksam. Sie richtete sich auf und schaute mich, etwas außer Atem, an. „Ja, was gibt’s?“
Ich sah mich rasch um, ob uns auch niemand beobachtete, dann zog ich das Buch hervor. „Gehört das Ihnen?“, raunte ich. Sie erstarrte, ihre Augen weiteten sich leicht, sie leckte sich über die Lippen. Offensichtlich gehörte es ihr.
„Lag im Kopierraum unter der Liege. Keine Angst, das hab‘ nur ich gelesen. Sehr geil! Ich sag' nix davon, zu niemandem, versprochen. Aber passen Sie besser auf die kleine Rohrbombe auf.“
Ich hielt es ihr grinsend hin und mit einer fließenden Bewegung nahm sie es und schob es in ihre Jacke. Ihre Augen waren sehr hübsch, fiel mir auf, groß und grün mit langen Wimpern, aber vor allem, weil sie jetzt leuchteten.
„Danke dir“, flüsterte sie zurück, obwohl wir inzwischen allein standen. Ihre Erleichterung war spürbar wie Sonnenstrahlen. „Was hast du denn unter der Liege im Kopierraum zu suchen gehabt?“ Sie kicherte, während sie ihre Tasche schulterte.
„Das ist eine andere Geschichte, die in meinem Notizbuch stehen könnte. Jetzt darf ich nicht wieder zu spät kommen, und Sie auch nicht, oder?“
Wir lächelten uns an und bevor wir auseinandergingen, um in unsere jeweiligen Klassen zu eilen, zwinkerte sie mir dankbar zu.

 

 

Zu Besuch bei Noah und Haikal

© Phil Humor

 

Unsere heutige Zeitreise führt uns zu Noah – er ist bereits drei Monate auf der Arche, die Stimmung ist nicht die beste; Noah ist nicht erfreut, mich zu sehen.

"Was sagst Du zu der Sintflut? Wie sind Deine Eindrücke?"

"Lass uns über was anderes als das Wetter sprechen", meint er nur; er ist kurz angebunden, wirkt gar nicht so freundlich; immerhin ist er derjenige, der als nicht ganz so sündig verschont blieb.

"Was zeichnet Dich aus, warum bist Du der nächste Stammvater der Menschheit?"

"Reporter-Fragen beantworte ich zu diesem Zeitpunkt nicht; muss mich um die Tiere kümmern." Sieht schlimm aus. Ein Saustall wäre ein verdammter Euphemismus. "Ich hätte die Zebras nicht zusammen mit den Löwen in einer Kabine unterbringen sollen. Dauernd Differenzen, Streitigkeiten." Er klingt wie ein übermüdeter Steward.

"Und sonst so? Freust Du Dich auf die Friedenstaube? Und immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel!" Er haut mir eine runter. Als Zeitreisender bin ich unkontrollierte Wutausbrüche gewohnt; die Legende beschönigt; deshalb sind Zeitreisen so wichtig: aufdecken, nachhaken. Er versucht, mich von Bord zu stoßen. "Nicht sehr gastfreundlich. Aber für die Tiere ist Platz? – Sag mal, von vielen Tieren seh ich nur ein Exemplar."

"Wer schaut da schon so genau hin? Ich war im Zugzwang, außerdem beißen manche Tiere; man muss ja nicht jeden Auftrag wortwörtlich nehmen."

"Das ist Larifari."

"Bist Du etwa so ein Kontroll-Engel?" Er hetzt die Löwen auf mich. Ich habe ein asiatisches Kampfschwert dabei und zerkleinere die Löwen. "Das verzeiht Er mir nie!" Noah ist fix und fertig mit den Nerven.

"Schon bedenklich, wenn man bedenkt, dass Deine Gene Quelle sein sollen für alles Nachfolgende." Okay, er sieht athletisch aus, aber als Stammvater hätte ich mir jemand Intelligenteres gewünscht. Das sage ich ihm auch. Er lässt die Tiger frei. Und die Haie. "Sag mal, das ist doch echt unnötig. Was sollen die Haie an Bord?"

"Keine Ahnung! Die Direktiven waren nicht so ganz eindeutig. Ich wollte auf Nummer sicher gehen. Wenn Du aus der Zukunft kommst, dann heißt das doch, dass ich alles richtig gemacht habe?" Er sieht erleichtert aus, entspannter. Die Tiger besuchen die Gnus. Die Füchse sind bei den Hühnern. "Das ist alles so bescheuert! Ich hätte mindestens drei Boote nötig gehabt. So was trennt man doch. Das sind keine Vegetarier. Auch meine Familie isst ganz gerne ein saftiges Steak. Da bleibt nicht viel übrig, wenn dieser verdammte Regen endlich aufhört." Wir grillen zwei Hühner. "Na also, geht doch." Er sieht ein wenig zufriedener aus. "Der Hunger setzt einem zu. Und dies scheußliche Musterschüler-Gefühl." Er blickt sich um. "Ich darf mir ab jetzt keine Fehler erlauben. Ich gelte als mustergültig. Dabei fühle ich mich gar nicht so vorbildhaft. Allein meine Wutanfälle. Ich weiß nicht, wer das eruiert hat, welche Späher Er ausgesandt hat, aber mich beschleicht das unheimliche Gefühl, da liegt ein riesiger Behörden-Fehler vor. Ich verdiene nicht diese Bevorzugung. Auslöschung der übrigen Menschheit – und ich werde verschont? Ich fluche gern, ich bin ein Choleriker, ich bin der leibhaftige Jähzorn." Wie um das zu beweisen, tritt er gegen einige Käfige. Die Tiere rasten völlig

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Der jeweilige Autoren:innen
Bildmaterialien: Bild von 愚木混株 Cdd20 auf Pixabay mit CC0 Lizenz Schrift von dot colon auf 1001fonts mit CC0 Lizenz
Cover: Tess M. Heingand
Tag der Veröffentlichung: 04.08.2021
ISBN: 978-3-7487-9352-6

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