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Vorwort

Man hofft auf viele Dekaden – aus dem Leben rausholen, was drin ist. Ist aber kein Glücksspielautomat. Kann man aus den vorigen Runden was lernen, profitiert die nächste Dekade aus den geernteten Erfahrungen? Man kann sie ja ganz konkret befragen: sich die Jahre wieder in Erinnerung rufen, Muster erkennen, sich selbst auf die Spur kommen. Vielleicht wird einem erst im Nachhinein klar, welchem Drehbuch und Skript man da gefolgt ist? Jede Dekade trägt ihre Erwartungen an einen heran. Es gilt Soll-Werte zu erreichen; dennoch soll das Ganze nicht allzu sehr Routine sein. Wie viel Kreativität gestattet man sich in jeder Dekade? Nimmt das eher zu oder ab? Wird man kritischer mit sich selbst oder kann man die anfängliche "Sturm und Drang"-Begeisterung hinüberretten? Ist man Biedermann, Romantiker oder richtig dekadent? :-) Die klassischen Fragen.

 

 Mit dem Erlös dieses Buches wollen die Autorinnen und Autoren die Forschung der DMSG, Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband e.V. unterstützen.

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Dekade des Lebens

Pferde - Phil Humor 

Der grantige Nachbar - Ursula Kollasch

Meine erste Freundin Ursula - Heidrun Böhm

Zwischenkind - Ralf von der Brelie

Die Überraschung hintern Babillion! - Gitta Rübsaat

Sultan - Doris Frese

Die Straße meiner Kindheit - Matthias März

Lausemädel  - Manuela Schauten

Mausgeschichten - Roland Schilling

2001 bis 2003 – Sachliteratur ist Fehlanzeige! - Esra Kurt

 

2. Dekade des Lebens

Highnoon im Freibad -Ursula Kollasch

Zickenkrieg - Gitta Rübsaat 

Die stillen Tage sind vorüber - Ralf von der Brelie

Lehrjahre sind keine Herrenjahre - Doris Frese

Eine Kindheit Erinnerung - Dörte Müller

Videospiele - Matthias März

Sommerferien, damals in der DDR (Wir waren17) - Ulf Heimann

Der gestrickte Badeanzug - Anneliese Koch 

Mein Vater, meine Schwester, der Minirock und andere Hindernisse - Heidrun BöhmSchauten

 

 

3. Dekade des Lebens

Sommerliche Rutschpartie - Gitta Rübsaat

Verliebt, verlobt, verheiratet - Doris Frese

Meine Discozeit - Matthias März

Abenteuer zu zweit - Angela Ewert

 

4.Dekade des Lebens

Ein eiskaltes Silvester - Matthias März

Vier Pfoten im Schnee - Gitta Rübsaat

Familienleben - Doris Frese

Meine Vorfahren - Klaus-Rainer Martin

Das offenste Pfarrhaus Mecklenburgs - Angela Ewert

 

5.Dekade des Lebens

Das Tor ist offen - Gitta Rübsaat

Gegen den Uhrzeigersinn - Klaus-Rainer Martin

Die Kinder sind aus dem Haus - Doris Frese

Die Fed-Con 2008 - Matthias März

Frauenstammtisch - Angela Ewert 

 

 

 

 

6. Dekade des Lebens

Ein kleines Gefühl veränderte mein Leben - Heike Brands

Abschiedsträumereien - Gitta Rübsaat

Pascal - Klaus -Rainer Martin 

Von Staffelstein nach Regensburg - Doris Frese

Das Ende von Egon - Matthias März

Meine fünfziger Jahre - Angela Ewert

 

7. Dekade des Lebens

Mein Mann , ich und der tägliche Wahnsinn - Anneliese Koch

Ein Nachmittag mit Sofia im Park - Doris Frese

Meine Eltern waren Nationalsozialisten - Klaus-Rainer Martin

Umzug nach dreißig Jahren - Angela Ewert

Heimat – was ist das? - Gitta Rübsaat

 

Danke 

 

Autorinnen und Autoren 

 

Anthologien

1. Dekade des Lebens

 

 

 Eine Zeit während der ersten 10 Lebensjahre!

Pferde

 Phil Humor

 

 

Mein Schaukelpferd wurde einfach
an den Straßenrand gestellt;
auf die ewigen Jagdgründe des Sperrmülls.
Immerhin erbarmte sich ein Autofahrer
und nahm es für seinen Sohn mit.
Auch das Münz-Ross vor dem Supermarkt
war sehr beliebt.
Oder die Karussell-Pferde.
Im Grunde eine langweilige Strecke.
Ein bisschen bedauert habe ich die Pferde,
die immer im Kreis rungeführt wurden,
damit Kinder darauf reiten konnten.
Ein arrangiertes Abenteuer.

 

Jedes Fantasy-Buch braucht Pferde –
als die Autos noch nichts zu melden hatten.
Elfen auf 'ner Harley-Davidson?
Das Trojanische Pferd
wirkt einfach glaubwürdiger
als der Trojanische Biber,
strahlt mehr Seriosität aus.

Das Pferd darf beim Schach mitspielen;
das ist kein echtes Pferderennen,
dafür stehen zu viele Figuren im Weg.
Sonderbarer Parcours.
Über Bauern springen –
und der König schickt einen immer wieder
auf neue Missionen.

 

Reiter werden immer gebraucht –
besonders die Prinzipienreiterei
scheint für das Bestehen des Staates unentbehrlich.
Märchen-Prinzen gewinnen an Glaubwürdigkeit
durch ein klasse Pferd.
Ein Schaukelpferd beeindruckt da keinen.
Selbst ein Pferd mit Münzeinwurf
hätte Cinderella nicht wirklich überzeugt.

 

Echte Pferde haben aber den Nachteil,
dass man über gewisse Grundfähigkeiten
beim Reiten verfügen sollte,
anderenfalls geht das Pferd
seinem Tagwerk nach, ohne sich weiter
um den oben anwesenden Reiter zu kümmern.
Man wird schlichtweg ignoriert.
Da machen sich die fehlenden
Schaukelpferd-Lektionen bemerkbar.
Und die Karussell-Pferde kannten ihren Weg,
man brauchte ihnen kaum Anweisungen zu geben.

 

Das rechte Marlboro-Gefühl
will sich so nicht einstellen,
man rutscht unentschlossen
auf dem Pferd hin und her.
Es befinden sich hier
auch keine Schalter oder Hebel.
Wo sind beim Pferd die Armaturen?
Aber Ritter Sport essen.
Im Vorgefühl weltbewegender Missionen
mit diesem 1-PS-Kameraden.

 

Vergleichsweise harmlos
wirkt das das Pferd in der Turnhalle:
anständige Griffe –
erträgt es geduldig die Fitnessbemühungen.
Es interessiert sich nicht für Grasbüschel,
es bleibt voll konzentriert.

 

Reiten ist eigentlich ein seltsames Steckenpferd –
es besteht überhaupt kein Grund dafür.
Man ist motorisiert, man reitet ins Gestern,
man will es anachronistisch.
Selbst das Pferd findet,
dass es bessere Hobbys gibt,
als sich das Kreuz
mit seltsamen Personen zu belasten.
Was wollen die da?
Nicht mal ein Fernseher steht im Stall.
Man steht sich die Beine in den Bauch.
Während Pegasus draußen seine Runden fliegt.
Ihn nennt keiner 'Hafermotor'.
Nein, Reiten ist kein tragfähiges Konzept.

 

Die apokalyptischen Reiter
sähen auf putzigen Eichhörnchen
nicht wirklich imposant aus.
Ein Pferd ist ein Prestigegewinn.
Hannibal hat versucht,
das mit Elefanten zu toppen –
aber sie sind in etwa so wendig
wie eine Schildkröte,
die gerade ihre Schlaftabletten genommen hat.
Mit der könnte man allerdings bedenkenlos
im Porzellanladen einkaufen.
Pferde sind jedenfalls häufiger
in Bars anzutreffen,
wenn man den Witzen Glauben schenken darf.

 

Ein Pferd säße gewiss auch mal gerne
in einer Kutsche.
Oder es würde beim Pferderennen
gerne mal auf sich selbst wetten.
Pferdewetten von Pferden
werden nicht angenommen.
Sie gelten als zu gut informiert –
haben angeblich Insider-Wissen.

 

Flugverbot für Hexen:
Das Reiten auf dem Besen gefährde angeblich
die holde Eintracht des Staates –
die Luftverkehrs-Ordnung hat das bereits
im Mittelalter unterbunden.
Keine Fluglizenzen für Hexen.
Vielleicht satteln sie deshalb
alle um auf Pferde?
Pferde sind Besen
auch beim Traben und Galoppieren überlegen.
Es ist auch nicht sicher,
ob sich Besen an der Longe führen lassen.

 

Manchmal glauben die Pferde,
dass sie der Teufel reitet –
besonders beim Rodeo würden sie gerne etwas
in der Art von 'Hoppe hoppe Reiter' singen:
"Wenn er fällt, dann schreit er."
Kann man so ein Lied Kindern überhaupt zumuten?
"Fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben."
Das ist schon recht brutal.
Kein Wunder, dass die Kinder
eine gewisse Scheu vor Pferden entwickeln.
Dem Schaukelpferd misstraut man von Anfang an;
dann wird die Schaukelpferd-Ausbildung
jählings unterbrochen,
man hat sich inzwischen
mit dem Schaukelpferd angefreundet –
und jetzt steht es da samt Zaumzeug
auf der Straße und wiehert leise vor sich hin.
Traumatische Ereignisse ...

 

So verabschiedet man sich nach und nach
von den besten Freunden aus jeder Lebensphase.
Das Leben ist zwar kein Ponyhof,
aber manchmal ist es ein Pferderennen,
bei dem man aufs richtige Pferd gesetzt hat.

 

 

Der grantige Nachbar

 

Ursula Kollasch

 

Ich wurde im Mai 1973 als zweites Kind meiner Eltern in Bremen geboren, war von klein auf sehr lebhaft und meistens fröhlich. Man merkte mir – im Gegensatz zu meinem eher introvertierten Bruder - eigentlich nie an, dass wir in einer launischen, teils explosiven Atmosphäre zwischen Eltern aufwuchsen, deren Ehe die Temperatur eines Gefrierschranks besaß. Vielleicht war ich deshalb stets auf der Suche nach Spaß und Abwechslung und am liebsten draußen.
Meine Streiche begannen schon im Kindergartenalter und zogen sich durch mein Leben wie ein roter Faden, bis hinein ins Erwachsenenalter. Aber welche Geschichte soll ich euch erzählen??
Die von dem 70er-Jahre-Zivi Andre, der in meiner Kindergartengruppe eingesetzt war, aussah wie John Lennon, streng müffelte und im Winter jeden Tag einen langen Kaninchen-Fellmantel trug?
Als meine drei Kindergartenfreunde und ich ihn fragten, ob das echtes Fell sei, grinste er selbstgefällig und meinte: „Ja, dafür mussten ganz schön viele Karnickel sterben …“
Das schockierte und empörte uns Kinder gleichermaßen. Damit war für uns das „Todesurteil“ für den schrecklichen Mantel gesprochen. Wir gruben ein Loch auf dem Kindergartengelände, zerrten heimlich das Fellungetüm herbei, „beerdigten“ die gefallenen Kaninchen und verzierten das Grab mit Blumen.
Das gab reichlich Ärger.

 

Oder soll ich vom 75. Geburtstag meiner bayrischen Oma berichten, als ich andächtig vor der mühevoll errichteten Pyramide süßen Sekts stand und nur ein Mal heimlich probieren wollte …
Was dann für eine Schweinerei passierte, könnt ihr euch vorstellen. Deutlich habe ich noch das Gezeter meiner Oma im Ohr und die Aufregung ihrer in erster Linie betagten Gäste.
Doch am stärksten ist mir eine andere Lausemädchengeschichte in Erinnerung geblieben, die ich mit meiner besten Freundin 1981 erlebte.
Seit meinem sechsten Lebensjahr wohnten wir in Bremen-Habenhausen am Werdersee, einem eher beschaulichen Wohngebiet. Alle Familien hatten 1979 etwa im selben Zeitraum ihre Häuser gebaut, so dass kein Mangel an Spielkameraden bestand, die zum großen Teil das gleiche Alter hatten wie ich und dieselbe Klasse oder Schule besuchten.
Meine Freundin Heike, die auch heute noch meine allerbeste Freundin ist, wohnte eine Straße weiter im „alteingesessenen“ Teil Habenhausens, in einer von alten Eichen gesäumten Straße, wo villenähnliche Häuser auf parkartigen Grundstücken standen.
Heike war, als ich sie kennenlernte, das genaue Gegenteil von mir: mädchenhaft, lange Zöpfe, hübsche Kleider, wohlerzogen, angepasst. Mein Benehmen und Aussehen glich eher dem eines wilden Jungen. Und dennoch war es bei uns Freundschaft und Zuneigung auf den ersten Blick. Wie Magnete rasselten wir aufeinander, um uns nie wieder loszulassen.
So oft es ging war ich bei ihr zu Hause, tauchte ein in ihre warme, geborgene Familienwelt, in der es nie laute Worte oder Streit gab. Es war wie eine friedliche Oase für mich, denn ich selbst musste immer den befeuchteten Finger in die Luft strecken, bevor ich das eigene Zuhause betrat, stets auf der Hut, wie wohl die Stimmung gerade war.
Der von Heikes Mutter liebevoll gepflegte, riesige Garten voller Blumen und Obstbäume war ein Paradies, sogar ein kleines, dunkles Rhododendron-Wäldchen gab es dort. Und so verbrachten wir, egal ob Sommer oder Winter, viel Zeit mit fantasievollen Spielen in diesem Garten.
Wäre da nur nicht der mehr als grantige, alte Nachbar gewesen. Ein Zahnarzt im Ruhestand, der oft auf seinem akkuraten, Rasenkanten-beschnittenen aber dunkel bewachsenen Grundstück werkelte. Kaum begannen wir in Heikes Garten zu lachen oder herumzutoben, stand er schon am Zaun, mit krebsrotem Gesicht, neben ihm sein scharfer Schäferhund Rex, knurrend oder bellend wie sein Herrchen.
„Seid gefälligst leise und haltet die Klappe!“, brüllte er, und beschimpfte uns weiter auf übelste Weise als Gören, die mal eine ordentliche Abreibung bräuchten, um nur ein Beispiel zu nennen.
Heikes Mutter, stets auf Harmonie bedacht, bat uns dann inständig, leise zu spielen. Aber selbst wenn wir nur kicherten oder durch Heikes Wäldchen schlichen und Verstecken spielten, kam der Nachbar wie eine Tarantel an den Zaun geschossen und keifte.
Mehrmals hatte er sogar seinen Hund auf Kinder losgelassen, die seiner Meinung nach zu laut auf der Straße vor seinem Haus spielten. Als einmal ein Junge einen heftigen Biss erlitt, gab das einen kleinen Skandal, einige Eltern empörten sich und sagten ihm gehörig die Meinung, drohten mit einer Anzeige, aber an seiner Gesinnung und seinem Verhalten Kindern gegenüber änderte das nichts.
Der alleinstehende Grantler machte es einem wirklich nicht leicht, ihn zu mögen und man lästerte über ihn hinter vorgehaltener Hand.

 

An besagtem Tag spielten wir wieder in Heikes Garten. Es war ein herrlicher Sommernachmittag, wir hatten Ferien und gute Laune, und meine Freundin von ihrer Mutter einen nagelneuen Ball geschenkt bekommen, den wir hin und her warfen und kickten. Dann geschah das, was geschehen musste: Heike schoss den Ball auf das dunkle Grundstück des Zahnarztes, er sauste durch die ordentlich aufgehängte weiße Wäsche, die im lauen Lüftchen wehte und landete an einer Stelle, die wir nicht sehen konnten.
Betreten standen wir einen Moment da, bis ich mir ein Herz fasste und gerade mein Bein über den Zaun schwingen wollte, da kam der Alte schon angehetzt. Zornesrot im Gesicht schrie und tobte er, schnappte sich den Ball, klemmte ihn unter den Arm, und bevor er sich umwandte und mit Heikes Spielzeug davon stapfte, rief er: „Mir das Sch...ding auf die Terrasse zu schießen! Das können deine Eltern bei mir abholen. Wenn ich es dann noch habe …“ Weg war er.
Heike begann zu weinen und ich war schockiert und - wütend. Was fiel diesem Kerl eigentlich ein? Der hatte wohl eine Meise! Jeder andere Nachbar hätte uns den Ball zurückgegeben.
„Das sagen wir deiner Mama!“, sagte ich sauer.
„Nee, bloß nicht, die geht dann rüber und hat auch noch Ärger mit dem“, schluchzte Heike. Sie überredete mich, Stillschweigen zu bewahren, nahm mich an die Hand und führte mich in ihre Küche. Dort schmierte sie für mich und sich eine dicke Scheibe Brot mit Nutella – eine Angewohnheit, die sie heute noch hat, wenn sie wütend oder traurig ist. Während wir frustriert unsere Stullen kauten, starrte ich sinnierend auf den Tisch und da kam mir ein Gedanke. Wir würden uns rächen! Und ich wusste auch wie.
Im Nebenzimmer bügelte ihre Mama und hörte dabei leise klassische Musik, deshalb weihte ich Heike flüsternd in meinen Plan ein und sie lauschte mit großen Augen. Dann verzog sie skeptisch das Gesicht.
„Das können wir nicht machen“, wisperte sie.
„Klar können wir“, gab ich zurück. „Aber es muss so wirken, als wenn wir beide hier drinnen sind!“
Und ich setzte ihr genau auseinander, was sie zu tun hätte und was ich vorhatte.
Heike ging lachend und plaudernd in ihr Zimmer, als ob ich bei ihr wäre,  und ich schlich mit einer kleinen Tüte und einem doch etwas mulmigen Gefühl im Bauch aus dem Haus. Hoffentlich erwischte er mich nicht – oder sein Schäferhund … 

 

Zehn Minuten später etwa huschte ich mit immer noch klopfendem Herzen aber breit feixend zurück über den Flur und betrat Heikes Zimmer. Sie hörte gerade Musik und redete mit sich selbst.
„Fertig!" Ich strahlte und Heike stand auf, hatte ebenfalls ein Grinsen im Gesicht.
„Zeig! Das will ich sehen!“
„Später. Das fällt sonst auf, wenn wir uns da unten jetzt rumtreiben“, erwiderte ich.
In dem Moment betrat ihre Mutter das Zimmer und fragte, ob wir was trinken wollten. Schwein gehabt, dass sie nicht früher hereingekommen war …
Artig folgten wir ihr in die Küche. Da es Sommer war, stand das Küchenfenster weit offen. Und nach einer Weile, als wir gerade unsere Limonade ausgetrunken und Kekse verspeist hatten, begann draußen jemand sirenengleich zu brüllen. Heikes Mutter ließ beinahe ihr Glas fallen.
„Was ist denn mit dem los?“, fragte sie kopfschüttelnd und trat ans Fenster, von dem aus man auf das Nachbargrundstück blicken konnte. Sie sog die Luft ein, dann presste sie eine Hand vor den Mund und bekam einen Lachanfall. Heike begann zu grinsen und ich stieß schnell ihr Bein an. Wir durften ja von nichts wissen …
„Was ist los, Mama?“, fragte Heike.
„Das müsst ihr euch anschauen, um Himmels Willen …“
Wir traten zu ihr ans Fenster und endlich durften wir lachen, vor allem Heike, es war wie ein Befreiungsschlag.
Unten im Nachbargarten stand der Zahnarzt neben seiner Wäscheleine, an der seine weißen Unterhemden und Unterhosen mit Eingriff lustig vor sich hin flatterten, aber auf jedem der riesigen Schlüpfer prangte auf der Rückseite ein brauner Fleck … sah das eklig aus!
Einige Nachbarn waren wegen des Tumults zusammengekommen und gafften, viele lachten, einer machte sogar ein Foto von der befleckten Wäsche …
Der Zahnarzt fluchte und zeterte, dann sah er uns oben am Fenster stehen.

 

„Das waren doch Ihre Gören, Sie …!“, keifte er zu uns hinauf. Heikes Mutter straffte die Schultern. „Jetzt ist es aber genug! Die beiden Mädchen haben die ganze Zeit in Heikes Zimmer gespielt. Lassen Sie Ihre Unterstellungen. Irgendjemand anders mag sie wohl nicht …“ 
Ich hatte Heikes Mutter noch nie wütend gesehen oder ihre erhobene Stimme gehört, fast bekam ich ein schlechtes Gewissen deswegen, aber auch nur fast. Wir schauten dem Grantler kichernd dabei zu, wie er unter den belustigten Blicken seiner Nachbarn die Wäsche abnahm und dabei vor sich hin motzte. 
Dann musste ich auch schon wieder nach Hause, es war Abendbrotzeit. Beim Abschied umarmten Heike und ich uns innig.
„Saubere Aktion!“, flüsterte sie mir zu.

 

Als ich zu Hause eintrat, fragte mich meine Mutter: „Du, Uschi, was war denn bei dem alten Reimann los? Barbara hat so was Wirres erzählt.“ (Barbara war unsere „verhuschte“ Nachbarin.) Ich berichtete es ihr mit möglichst gleichgültiger Miene. Meine Mutter betrachtete forschend mein Gesicht. „Und du hast da nicht zufällig was mit zu tun?“
„Nö, wieso denn immer ich?“ Irgendwie war ich ein bisschen beleidigt, dass stets mir so etwas zugetraut wurde.
„Wollen wir hoffen, dass das stimmt“, murmelte sie und deckte weiter Teller und Besteck auf.
Zufrieden setzte ich mich mit meiner Familie zu Tisch und dankte insgeheim dem Menschen, der die Nussnougatcreme erfunden hatte …

 

 

Meine erst Freundin Ursula

 

Heidrun Böhm

 

Die Frau war alt und ihr Nachname war Seitz. An ihren Vornamen kann ich mich nicht erinnern. Mama sagte, „für dich heißt sie Frau Seitz.“ Und wenn Mama das sagte, war es unumstößlich. Frau Seitz hatte weiße Haare, blaue Augen ein nettes Lächeln und ein Gesicht, in dem sich viele Falten wie ein Spinnennetz ausbreiteten. Das Haus, in dem sie mit ihrem Mann wohnte, war ein altes schiefes Eckhaus, direkt an der Straße, nicht weit von unserer Wohnung entfernt.

 

Wenn der Kindergarten zu Ende war, holte Frau Seitz mich ab und nahm mich mit zu sich nach Hause. Dann spielte ich dort mit meiner Puppe oder mit meinem Teddybären. Später, wenn Mama Feierabend hatte, holte sie mich bei Frau Seitz ab. Mama hatte eine sehr wichtige Arbeit im Krankenhaus. Sie arbeitete im Büro und war die Ernährerin der Familie, was Ende der fünfziger Jahre noch selten war. Aber das war für mich selbstverständlich. Und einen Papa hatte ich nicht. Aber einen Opa, der jeden Tag das Mittagessen kochte, und offenbar verhindern wollte, dass ich verhungere. Ich war ein dünnes Kind, und er verlangte von mir, den Teller stets bis zur letzten Kuttel leer zu essen. Kutteln mochte ich nicht. Ich wollte die kleinen Schokoladetafeln, die ich nur selten bekam, und die Opa fast nie rausrückte. Er vergrub sie in den Taschen seiner weiten Hosen. Opa arbeitete beim Wach und Schließdienst. Das war auch eine sehr wichtige Arbeit. Ich vermutete, seine Hosentaschen waren so weit, weil er darin die Schlüssel aufbewahren musste, mit denen er die Fabriktore abschloss, damit kein Einbrecher in den Betrieb kam.

 

Wenn er mit der Arbeit fertig, und alle Türen verriegelt waren, holte er mich mitunter bei Frau Seitz ab. Hatte er sein Gehalt bekommen, ging er mit mir zum Bahnhofskiosk und kaufte mir eine kleine Tafel Schokolade. Sie war in dunkelrot glänzendem Papier mit einer goldenen Aufschrift verpackt. Das Papier bewahrte ich auf, und legte es ins Fenster, weil es prächtig glitzerte, wenn die Sonne darauf fiel. 

Im Kindergarten hatte ich eine Freundin, die Ursula. 

Sie lebte in einem großen Haus mit einem schönen Garten. Ursula hatte ein eigenes Zimmer, in dem ein großes Puppenhaus und viele andere Spielsachen waren, die ihr allein gehörten. Denn sie hatte keinen Bruder der ihr ständig die Puppen klaute, so wie ich. Und ihre Eltern konnten ihr jeden Tag Schokolade kaufen. Sie bekam auch Limonade zu trinken, die nach Orangen schmeckte. Die Schokolade und die Limonade wurden ihr von einem Mädchen für alles namens „Minna“ gebracht. Bei uns zu Hause gab es Pfefferminztee zu trinken, und Opa bekam ab und zu eine Flasche Bier. Eine Minna hatten wir nicht. Mama musste selbst den Haushalt machen.

 

Eines Tages nahm ich das rote Schokoladenpapier mit in den Kindergarten, um es Ursula zu zeigen. Stolz sagte ich: Sieh mal, mein Opa hat mir gestern Schokolade gekauft.“ Ursula schaute das Papier aus den Augenwinkeln an und sagte: „Das kann ich jeden Tag haben, wenn ich will, davon haben wir genug.“

 

Ursula war nett zu mir und lud mich zum Spielen ein, wann immer es ging. Dann bekam ich Limonade, soviel ich wollte. Sie konnte nichts dafür, dass die Tante im Kindergarten ihr erlaubte, einen silbernen Ring mit einem roten glitzernden Stein zu tragen. Ich dagegen durfte im Kindergarten keinen Ring tragen. Auch keinen, den ich für zehn Pfennig aus dem Kaugummiautomaten gezogen hatte. Die Tante mit dem komischen schwarzen Tuch auf dem Kopf, und den glitzernden blauen Augen, die wie Knöpfe aussahen, hatte es mir verboten. „Sie ist eine Nonne. Nonnen sind nun mal so, “ erklärte mir die Mama. Allerdings konnte sie mir nicht erklären, warum Ursula einen Ring tragen durfte, und ich nicht. Ich fragte Mama, warum Ursula alles hatte, die Limonade, den Ring, die Schokolade das Puppenhaus. Mama sagte: „Ursulas Eltern haben eine Fabrik, sie sind reich und können sich alles leisten.“ Ich begriff, wenn man reich war, hatte man viel Geld, konnte sich kaufen, was man wollte, und musste nicht so viel arbeiten wie Mama. 

 

Eines Tages kam Mama aufgeregt von der Arbeit nach Hause. Mit Tränen in den Augen erzählte sie Opa: „Ein Unglück ist geschehen, Ursula ist gestorben. Der Arzt hat Herzversagen festgestellt. Die armen Eltern, sie war das einzige Kind, sie war ihr Sonnenschein.“ „Ja, und sie hätte alles geerbt, die Villa und die Fabrik“, ergänzte Opa. „Warum ist sie gestorben, sie war doch nicht alt?“, fragte ich. 

„Auch junge Menschen können sterben“, sagte Mama. „Sogar Kinder?“ „Ja, auch Kinder“, erklärte sie. „Was ist mit dem silbernen Ring, und der Schokolade, hat sie das alles mitgenommen?“ Diese Frage war wichtig für mich. Ursula hatte doch alles gehabt, sie würde es eventuell im Himmel vermissen. „Das braucht sie nun nicht mehr“, antwortete Mama.

 

Dieses Ereignis war eine wichtige Lektion für mein späteres Leben. Ich lernte daraus, dass es nicht auf Hab und Gut ankommt, um gesund und glücklich zu sein. Ursulas Grab kann man auch heute, über fünfzig Jahre nach ihrem Tod, noch in unserer Stadt auf dem Friedhof finden. Sie liegt dort neben ihren Eltern. 

 

 

 

Zwischenkind

 

Ralf von der Brelie

 

Wenn ich an die ersten Jahre meines Lebens denke, dann ist es mir, als würde ich in einem verstaubten Fotoalbum blättern. Ein Album in dem sich nie irgendwer die Mühe gemacht hatte, all die Fotos der Vergangenheit sauber, in zeitlicher Reihenfolge einzuordnen.

So klappe ich das auf meinem Schoss liegende Album auf, in welchem sich all die Bilder befinden. Manche sind angerissen und wirken vergilbt. Andere wiederum wurden sorgfältig eingeklebt und sind mit manchmal ungelenker, manchmal sauberer, bemühter Handschrift untertitelt. Andere wiederum wurden nur lose und wie mir scheint, lieblos in das Buch gelegt und kommen mir nun entgegengefallen.

Es ist schwer, ja fast unmöglich, die ersten Jahre meines Lebens in meiner Erinnerung Revue passieren zu lassen, denn vieles von dem, was mir einfällt, sind nur Fragmente, anderes nur das, was man mir über mein eigenes Leben erzählte und irgendwann zur eigenen Erinnerung geworden ist.

Die Erinnerung an meine ersten Lebensjahre ist kein Fluss, der bestätig dahinfließt und an dessen Ufer ich entlanggehen kann. Vielmehr ist es wie das Tröpfeln nach einem Regenschauer. Tropfen die von Dächern und Bäumen herunterfallen und nur hier und da größere Pfützen bilden, in denen ich mein Spiegelbild erkenne.

 

Auf die Welt gekommen bin ich in Winsen an der Aller, einem kleinen Dorfe inmitten der Lüneburger Heide. Fast wäre der Tag meiner Geburt auch schon das Ende meines Lebens geworden, denn, so wurde es mir oft erzählt, ich war das letzte Kind das in dem Krankenhaus, welches es damals noch in unserem Dorf gab, zur Welt gekommen ist, bevor es geschlossen wurde, um später dann, bis zum heutigem Tag, als Altenheim zu dienen. Wie mir später erzählt wurde, hatte dieses Krankenhaus eine lange und bewegte Geschichte hinter sich. Wann es erbaut wurde, kann ich nicht sagen, aber es hatte schon beide Weltkriege erlebt. Meine Mutter erzählte, dass man zum Ende des Zweiten Weltkrieges auf das Flachdach des Krankenhauses ein großes, rotes Kreuz gemalt hatte, um es als solches auch aus der Luft erkennbar zu machen und so vor Luftangriffen zu schützen. Als die Alliierten vorrückten, mussten sie nur noch die Aller, den Fluss, der unser Dorf in zwei Teile teilte, überqueren. Um das zu verhindern, wollte der Volkssturm oben auf dem Dach des Krankenhauses ein Maschinengewehr stationieren, wurde aber durch das Krankenhauspersonal daran gehindert und davongejagt. Meine Mutter erzählte, dass der Volkssturm, bestehend aus meist alten Männern und wenigen Frauen, verbissen kämpfte, um das englische Militär am Überqueren des Flusses zu hindern. Drei Tage soll dieser Kampf angedauert haben und natürlich wurde der Volkssturm besiegt und das englische Militär konnte so nicht nur das Dorf besetzen, sondern auch das nur wenige Kilometer entfernte KZ Bergen-Belsen befreien. Meine Mutter musste anschließend, zur Strafe wie sie meinte, mit vielen anderen aus dem Dorf zur Zwangsarbeit in dem KZ antreten. Leichen bergen und begraben, Baracken säubern und vor allen Dingen, all die Gräuel und das Ausmaß all des Mordens ansehen, welcher während des Nationalsozialismus begangen worden war. Es gibt noch heute Filmaufnahmen davon, die hin und wieder im Fernsehen gezeigt werden.

 

Ich glaube, meine Mutter hat ihr Leben lang die Engländer dafür gehasst, weil sie ihr das angetan haben, wo sie sich selbst doch, als damals noch ganz junges Mädchen, unschuldig an dem was geschehen war, fühlte.

 

Warum ich das erzähle, obwohl das alles doch schon lange vor meiner Geburt stattfand und scheinbar nichts mit mir zu tun hat?

So lange meine Mutter lebte, hat sie für den BDM, Bund deutscher Mädchen, geschwärmt und das, was sie dort vielleicht tatsächlich Schönes erlebte, musste sie später mit dem in Einklang bringen, was sie in Bergen-Belsen gezwungen wurde, zu erkennen. Ich denke, unser Leben beginnt nicht mit dem Tag unserer Geburt, sondern lange zuvor, ist abhängig und geprägt durch das Verhalten unserer Vorfahren und hätte meine Mutter nur den BDM, nicht aber das Grauen von Bergen-Belsen erlebt und gesehen, ich wäre heute ein anderer Mensch. So aber bin ich, sind wir, meine Geschwister und ich, zu Freidenkenden Menschen erzogen worden. Zu Menschen, die den Wert eines jeden anderen Lebens erkennen und respektieren können und frei von Vorurteilen und Hass anderen Kulturen und Religionen gegenüber sind.

Jedenfalls, ohne dieses Krankenhaus wäre ich wohl an der Blausucht gestorben, mit der ich das Licht der Welt erblickte.

In meiner Erinnerung kommt mir mein eigener beinahe Tod fast wie ein Ohmen vor, denn es ist seltsam, wie oft er in meinem Leben meinen Weg kreuzte. Ich erinnere mich an Heike, die eine der Töchter unserer Nachbarn war und etwa in meinem Alter und mit ihr ich als Kind immer spielte. Auch Doktor hatten wir miteinander gespielt. Ihre Mutter hatte uns dabei, ohne dass wir es bemerkten, beobachtet und wiederum meiner Mutter erzählt. Als ich nach Hause kam, bekam ich von meiner Mutter eine schallende Ohrfeige dafür. Oder eigentlich nicht wirklich dafür, denn außer der Ohrfeige gab es keine Erklärung, weshalb und wofür ich diese erhielt. Ich fühlte mich unschuldig und zu Unrecht bestraft und ja, unschuldig war ich, waren wir, Heike und ich in unserem Spiel gewesen.

Heike starb an einem Ostersamstag bei einem Autounfall. Ihr Vater, der mit ihr starb, hatte das Fahrzeug gelenkt und wie es damals in der Zeitung stand, durch überhöhte Geschwindigkeit die Kontrolle über das Auto verloren. Heike war damals etwa sieben Jahre alt und es muss schlimm für ihre Mutter und ihre Schwester gewesen sein, nicht einmal einem Dritten die Schuld an ihrem Tod geben zu können.

 

Dann erinnere ich mich an Katja, meine erste große Liebe. Auch wenn ich heute nicht mehr weiß, wie ich als Kind geliebt habe, was ich wirklich empfand und welche Träume uns verbanden.

Katja war eine meiner Klassenkameradinnen, hatte lange blonde Haare und ein bezauberndes Lächeln. Sie war der Mittelpunkt unserer Klasse, vielleicht sogar der ganzen Schule, denn alle schwänzelten um sie herum, egal ob Junge oder Mädchen, jeder suchte ihre Nähe und ich war so stolz und glücklich darüber, dass sie mich zu ihrem Freund erwählt hatte.

Sie starb mit neun Jahren bei einem Flugzeugunglück.

Das Flugzeug, eine kleine Propellermaschine, gehörte ihrem Vater und zumindest damals blieb die Ursache, warum er die Kontrolle über die Maschine verlor und in den nahegelegenen Wald stürzte, ungeklärt.

Beide starben bei dem Unglück.

Ich weiß, Erwachsene glauben oft, Kinder können nicht lieben, nicht wirklich und nicht, wie Erwachsene es tun. Trotzdem habe ich Katja geliebt und obwohl ich sie liebte, ertappte ich mich irgendwann dabei zu vergessen, wie sie aussah, wie sich ihre Stimme anhörte und ihr Lachen klang, selbst ihren Namen vergaß ich. Ich gab ihr den Namen Katja, weil mir der Name gefiel und sie für mich immer aussah wie eine Katja und auch, weil dadurch, dass ich ihr einen Namen gab, ich nicht vergessen musste, dass es sie einmal gegeben hatte. 

 

Auch an das andere Mädchen aus unserem Dorf erinnere ich mich. Auch sie hieß Heike. Richtige Freunde waren wir nicht geworden, eher Spielkameraden, die sich zusammenrauften, wenn niemand anderes zum Spielen da war.

Sie stand neben mir an der Hauptstraße, als ihre Mutter auf dem Rad vom Einkaufen wiederkam und uns auf der Straße entgegenkam. Unvermittelt rannte Heike los, ihrer Mutter entgegen.

Ich habe die Bilder lange nicht aus meinem Kopf bekommen. Das dunkelrote Auto, von dem sie erfasst wurde. Wie ein Ball wurde sie vor dem Auto hergetrieben, wurde herumgeschleudert, wurde ihr kleiner Körper schließlich unter das Fahrzeug gedrückt, bis es endlich stillstand. Das alles geschah für mich wie in Zeitlupe. Ich stand am Straßenrand, sah das Auto, hörte den Aufprall, dass quietschen der Bremsen, sah die Menschen, die plötzlich von überall her angelaufen kamen und ihre Mutter, die sich über den kleinen Körper warf.

Ich bin froh, dass Heike nicht mehr zu sich kam, dass sie starb, ohne noch einmal das Bewusstsein zu erlangen und vielleicht vor Schmerz zu schreien. Ihre Schreie hätten mir sicher die Seele zerbrochen.

Geschrien hat nur meine Großmutter, bevor sie starb. Sie lebte bei uns im Haus in ihrer eigenen kleinen Wohnung und auch wenn ich noch sehr jung war, ich glaube, ich habe sie sehr gern gemocht, denn noch heute kann ich mich so gut an sie und ihren Dackel Purzel erinnern, der immer zu ihren Füßen lag, als hätten beide mich erst gestern verlassen.

Großmutter war so etwas wie die Kräuterhexe in unserem Dorf. In ihrer Wohnung standen Regale voller selbst angerührter Wundermittel aus Kräutern und allerhand anderem Zeug in langen Reihen von Gläsern, Flaschen und Tiegel. Fast jeden Tag bekam sie Besuch von meistens älteren Leuten, die sich durch sie Heilung versprachen. Sie schworen auf die Fähigkeiten meiner Oma, die nicht nur in der Heilung durch Kräuter bewandert war, sondern angeblich auch die weiße und schwarze Magie beherrschte und durch Handauflegen und allerlei Zaubersprüche heilen und helfen konnte, aber auch die Zukunft vorauszusagen vermochte und durch Liebeskummer gebrochene Herzen zu heilen wusste.

Durch ihre, ihr nachgesagten Fähigkeiten, war sie eine angesehen, aber auch ebenso gefürchtete Frau in unserem Dorf, denn, so sagten die Leute, sie besaß nicht nur das Wissen um Heilung, sondern konnte selbst den Teufel herbeirufen.

Ob sie all dieses, oder zumindest einiges von dem, was man ihr nachsagte, wirklich beherrschte, mag ich nicht beurteilen. All ihre Geheimnisse hat sie mit in ihr Grab genommen.

Großmutter war die erste die starb, und mir zeigte, dass das Leben endlich ist. Niemand vermochte zu sagen, wie alt sie geworden war. Einige behaupteten, sie wäre 94 Jahre alt gewesen bei ihrem Tod, andere wiederum winkten Kopfschüttelnd ab und behaupteten steif und fest, sie musste schon weit über hundert gewesen sein.

Lange Zeit war sie bettlägerig und oft lag ich nachts in meinem Bett und hörte ihre Schreie. Damals bereitete mir der Gedanke an den tot noch Furcht und so lag ich da, lauschte ihren Schreien und war erstarrt vor Angst, die erst aufhörte, wenn ich meine Mutter die Treppe herunterkommen hörte, weil ich wusste, sie würde sich um Oma kümmern und die Schreie würden verstummen.

Ich selbst traute mich nicht, in das Zimmer meiner Oma zu gehen. Tat dieses auch am Tag nur ungern. Sie lag in ihrem altmodischen, viel zu großen Bett, in ihrer altmodischen kleinen Wohnung, in der es immer seltsam nach all den Kräutern roch, die auf den Regalen in der Küche standen. Ihr Körper wirkte so klein und zerbrechlich in diesem Bett und ich glaube, ich habe schon als Kind gespürt, dass sie nicht alleine dort lag, sondern neben ihr der Tod ruhte, was mir furcht bereitete.

Ob ich traurig war, als sie starb weiß ich nicht mehr, aber ich weiß, dass ich darüber erleichtert war, nachts ihre Schreie nicht mehr hören zu müssen.

 

Auch an den Tod meiner Katze erinnere ich mich noch allzu genau.

Sie war ein kleines, wohl ziemlich hässliches Tier, welches ich bei uns im Garten, halb verhungert unter der Hecke gefunden und wieder aufgepäppelt hatte.

Alle fanden diese Katze abscheulich, mit ihrem schmutzig gelben Fell und dem einen Ohr, welches aussah, als wäre es ihr bei einem Kampf zur Hälfte abgerissen worden.

Ich liebte dieses Tier und für mich war sie die schönste Katze der Welt, die immer nur Katze hieß, weil mir kein gescheiter Name für sie einfiel.

Ich war ungefähr sechs Jahre alt, als ich dazukam, wie meine Tante Agnes meinen Freund im Putzeimer ertränkte. Damals habe ich gelernt, wie grausam Menschen sein können und das erste Mal in meinem Leben Wut und Hass gespürt habe. Auch später, als ich schon viel älter war, stand das, was sie meinem Freund und mir angetan hatte immer zwischen uns und viele Jahre habe ich mit ihr kein Wort gesprochen und selbst später nur das, was unbedingt nötig sein musste.

 

Ich bin am 18. Oktober 1964 in diesem besagtem Krankenhaus zur Welt gekommen und dieser Tag war für mich immer ein ganz besonderer Tag, denn ich wurde das Geburtstagsgeschenk für meinen Vater, der damals bereits 52 Jahre alt war, und weil wir am gleichen Tag Geburtstag hatten, hielt ich das für etwas ganz Besonderes, da ich glaubte, dass zwischen mir und meinem Vater somit eine ganz besondere Verbundenheit entstanden war. Ob das nun stimmt oder nicht, das sei dahingestellt, aber bis heute bin ich froh und dankbar dafür, der Sohn dieses großartigen, von allen geliebten Menschen gewesen sein zu dürfen. Außerdem fiel der 18. Oktober 1964 auf einen Sonntag und uns Sonntagskindern wird nachgesagt, dass uns das Glück mit in die Wiege gelegt wurde. Wohl auch deshalb war mein Lieblingsmärchen immer "Das kalte Herz", indem das Glasmännchen im Schwarzwald sich nur Sonntagskindern zeigt und diesen drei Wünsche erfüllt.

Das eine mag Aberglaube sein, dass andere nur ein Märchen, aber für mich wurde beides zur Erfüllung, denn ich bin ein glücklicher Mensch geworden.

 

Hineingeboren bin ich in eine große, glückliche Familie. Meine Eltern waren beide, vor ihrer gemeinsamen Ehe, schon einmal verheiratet gewesen und beide hatten aus ihren ersten Ehen jeweils drei Kinder mitgebracht und dann kamen auch noch ich und meine drei anderen Geschwister hinzu. Meine Oma und ihren Dackel nicht zu vergessen, die damals ja auch noch lebten. In unserem Haus herrschte ständig Trubel und es war immer angefüllt mit Leben und sehr viel Lachen. Immer waren neben uns auch viele andere Menschen bei uns. Freunde, Bekannte, Verwandte oder einfach Leute, die so vorbeikamen, um Hallo zu sagen.  Manchmal kam es

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: die jeweiligen Autorinnen und Autoren
Bildmaterialien: Dörte Müller
Cover: Dörte Müller
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2020
ISBN: 978-3-7487-6725-1

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