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Durch den Park

Eine Frostperiode, die kurz vor Silvester eingesetzt hatte, ließ fast alle Gewässer zufrieren. Die Winterferien verbrachten wir fast ausschließlich auf dem Weiher, um so gut zu werden, wie die Eiskunstläuferinnen, die wir im Fernsehen bewunderten. Zwar besaß nicht jeder von uns eigene Schlittschuhe, aber gute Freunde teilten.

Doch leider war die schöne Zeit vorbei, sodass wir wieder im Klassenzimmer herumsaßen und auf unsere Klassenlehrerin warteten, die sich scheinbar verspätete. Ich starrte aus dem Fenster, es begann zarte Flocken zu schneien, dabei fiel mein Blick auf das naheliegende Schloss. Seine Dächer, insbesondere die Türme ließen meine Gedanken in eine andere Welt tauchen.

Plötzlich traf mich ein Papierflieger am Kopf und riss mich aus meiner Märchenwelt. Ich drehte mich um und wollte gerade die Jungen anpöbeln, doch just in dem Moment, als ich den Mund öffnete, ging die Klassenzimmertür auf und Herr Peck trat ein.

„Der fehlt jetzt noch“, vernahm ich das leise Getuschel von Jochen, der direkt hinter mir saß.

 

„Guten Morgen! - Würde es euren Anstand schaden, wenn ihr euch erhebt“, fing Herr Peck an, schon sprangen die Jungen auf und schoben ihre Stühle lautstark zurück. Auch wir Mädchen erhoben uns unverzüglich und ein gemeinsames „Guten Morgen“ erscholl.

„Frau Böb ist erkrankt und nun werde ich sie in den nächsten Tagen zeitweise vertreten. Welches Fach hättet ihr jetzt?“, erklärte und fragte in einem Satz.

„Geschichte“, hörte ich die Stimme von Ursel.

„Gut, aber bitte das nächste Mal melden! Setzen!“, entgegnete Herr Peck.

„Wo seid ihr denn?“, wollte er wissen.

Es gingen einige Hände in die Höhe.

„Ja, du mit den Zöpfen, 3. Reihe, links außen!“

„Bei Napoleon“, antwortete ihm Monika mit geröteten Wangen, da einige Jungen bereits Faxen machten.

„Danke, Herbert und Karl, möchtet ihr Liegestütze machen?“, fragte Herr Peck energisch.

„Ja“, vernahm ich Karls Stimme, man sah ihm an, er hatte gar nicht zugehört.

„Ja, gut Karl, auf und 10 Stützen, aber zackig.“

Der Rest der Klasse versuchte ein Kichern zu unterdrücken und schaute grinsend zu, wie Karl seine Liegestütze hinlegte.

 

„Was wisst ihr übers Schloss?“, wollte er schließlich wissen.

Martin hob seine Hand.

„Ja, Martin?“

„Welches Schloss meinen Sie?“

„Das Schloss in euren Rücken!“

Alle drehten sich um. Ein Gemurmel erscholl. Inzwischen hatte sich Herr Peck an die hintere Fensterfront gestellt.

„Das Liblarer Schloss?“ „Schloss Gracht“ „Kann man super Schlittschuh auf dem Weiher laufen“ „Carl Schurz“ Ritterburg“ „Das ist keine Burg, sondern ein Schloss“ „Graf von Metternich“ „Mammutbäume“ „Angeln“

Wortfetzen flogen durch die Luft, bis Herr Peck seinen Arm hob und es augenblicklich still wurde.

 

Es wurde im Anschluss alles an der Tafel gesammelt, doch bevor er weitere Erklärung dazu abgeben konnte, klingelte und die Stunde war eigentlich vorbei.

Wir wollten schon aufspringen, doch als wir uns bewegten klopfte er hart aufs Pult.

„Wir verabschieden uns wie zivilisierte Menschen“

Alle standen auf.

„Mädels, Frau Gert ist ebenfalls erkrankt, den Sportunterricht übernehme ich. Treffpunkt ist vor der kleinen Sporthalle, bringt einen Trainingsanzug mit. - An alle, versucht bis morgen etwas über das Schloss zu erfahren und haltet es in Stichpunkten fest. - Auf Wiedersehen“, schloss er die Unterrichtsstunde.

 

Während des weiteren Unterrichts fielen immer weiter die weißen Flocken, zeitweise dicke und feine Flöckchen und zum Schulschluss verabredeten wir uns noch für den Nachmittag, Treffpunkt war der Weiher.

Doch Schlittschuh laufen konnten wir nicht, denn eine dicke Schneeschicht hatte sich über das Eis gelegt, sodass wir stattdessen einige Schneemänner und Schneefrauen bauten, die uns bei der anschließenden Schneeballschlacht Deckung verschafften.

Plötzlich fragte Rike mich, „Sag mal, hast du etwas übers Schloss erfahren?“

Ich schüttelte den Kopf und meinte „Schreibe morgen früh rasch was bei Irmi ab, sie hat garantiert etwas.“

„Ich habe meine Oma gefragt und die meinte, das Schloss gibt es schon lange, aber sie hätte es noch nie von drinnen gesehen.“

„Ja dann schreibst du morgen halt von mir ab“, meinte ich grinsend.

 

 

Am nächsten Morgen staunte ich nicht schlecht, es hatte wohl die ganze Nacht durchgeschneit. Radfahren konnte ich nicht und zudem musste ich mich beeilen, dass ich den Schulbus erwischte.

Vor der Turnhalle angekommen, stellte ich mit Entsetzen fest, ich hatte den Trainingsanzug, den ich gestern Abend meinen Bruder stibitzte, leider im Flur vergessen hatte.

Zu meiner Überraschung besaßen einige der Mädchen gar keinen und erklärten dieses wortreich Herrn Peck. Der meinte nur, dann lauft ihr halt in euren Hosen. Ein lautstarkes Gemaule machte sich breit, aber er ließ sich nicht erweichen. Wir sollten durch den Park joggen. Die Jungen alle in ihren schicken Trainingsanzügen und Laufschuhen, wir dagegen in Jeans, Parka und Winterstiefeln oder Schuhen. Eine bunte Karawane begann um das Schloss im äußeren Bereich des Parks zu laufen, besser ausgedrückt zu Stampfen. Da er als Lehrer an der Spitze mitlief, kürzten wir selbstverständlich, wo es nur ging, den Weg ab, dabei hielten aber immer genügend Abstand.

Im Anschluss spielten wir in der Halle, natürlich im normalen Sportdress, Völkerball.

 

Nach der Pause freuten wir uns im beheizten Klassenzimmer sitzen zu dürfen, jedoch auf Chemie mit seinem schielenden Lehrer, der ausschließlich die Jungen bevorzugte, bzw. Mädchen waren für ihn Luft, schrieb ich erst mal Irmis Errungenschaften übers Schloss ab und wollte das Heft anschließend an Rike weiterreichen, diese lehnte aber ab und meinte, „Ich hab schon bei Silvie“.

 

Nach der Begrüßung, obwohl wir ihn schon die ersten beiden Stunden hatten, fragte Herr Peck:

„Na, was habt ihr denn alles zusammengetragen?“

Die Hände erhoben sich erst zaghaft, dann purzelte es nur aus allen so heraus.

 Das Schloss heißt Schloss Gracht und ist eines der eindrucksvollsten Wasserschlösser des Kölner Raums. Eine Anlage mit einer dreiflügeligen Vorburg und einem zweiflügeligen Herrenhaus. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde der Garten des Schlosses nach französischem Vorbild angelegt und Teile im hinteren Bereich im 19. Jahrhundert im Stil eines englischen Landschaftsparks umgestaltet. Zu Anfang war Schloss Gracht kein Rittersitz, sondern ein Nebenhof des Hauses Buschfeld. Otto von Buschfeld erbte so um 1433 das Haus und Hof von seinem Vater Hermann. Etwa 1500 entstand die zweiteilige Burganlage. Das Anwesen erbte 1538 die Enkelin von Otto, Catharina von Buschfeld, mit ihrem Mann Hieronymus Wolff gen. von Metternich. Ihr Enkel Johann Adolf I. wurde in den Freiherrenstand erhoben und 1633 vom Kölner Kurfürsten Ferdinand Liblar als Unterherrschaft. Mit dem Ausbau des Hauses begann er1658 zu einem repräsentativen Schloss. Seine Nachkommen setzten den Ausbau fort und vollendeten ihn, dass der Stammsitz der Familie Wolff-Metternich anschließend als landtagsfähiges Rittergut eingestuft wurde. Vier Jahrhunderte gehörte der Herrschaftssitz gehörte lang der Familie Wolff-Metternich, die dort bis 1945 ihren Stammsitz hatte. Im Schloss wurden mehrere berühmte Persönlichkeiten geboren, z. B. 1658 Franz Arnold von Wolff-Metternich zur Gracht der Fürstbischof von Paderborn und Münster und im Jahre 1829 der Freiheitskämpfer von 1848 und spätere US-Innenminister Carl Schurz.

Alles wurde fein säuberlich an die Tafel geschrieben und anschließend chronologisch zusammenfassend ins Geschichtsheft übertragen. Dabei schlenderte er durch die Reihen.

Plötzlich fingen eine Pitscherei an, zu meinem Pech saß ich in der Mitte und bekam von beiden Seiten etwas ab, es wurde etwas lauter und plötzlich erhielt ich einen Watschen von hinten. Nicht nur ich sondern alle in der Reihe. Herr Peck war resolut in seinen Erziehungsmaßnahmen und ich glaube nicht, dass jemand das zu Hause erzählt hat, dann hätte es sicher eine weitere Watschen gegeben oder zumindest eine nette Predigt.

 

Minuten später fragte er nach Carl Schurz und wieder wurde zusammengetragen und zusammengefasst:

Carl Schurz (1829-1906) kam als Enkel eines Gutspächters und Sohn eines Lehrers auf der Vorburg von Schloss Gracht zur Welt. Nach Schuljahren bei seinem Vater, in Brühl und Köln musste er vor dem Abitur das Marzellengymnasium verlassen, da die Familie nach Bonn umgezogen und in finanzielle Schwierigkeiten geraten war. Das Abitur holte er nach und studierte in Bonn Geschichte. Dort lernte er Professor Gottfried Kinkel und seine Frau Johanna, eine bekannte Komponistin, kennen. Gemeinsam mit ihnen und freiheitsliebenden Studenten engagierte er sich in der Revolution 1848/49 für die Einheit Deutschlands sowie für freiheitliche Gedanken und für Bürgerrechte.

Im preußischen Rheinland ließen sich diese Vorstellungen nicht durchsetzen, unterstützte Schurz die revolutionären Bestrebungen in der Pfalz und Baden. Zum Ende der Revolution führte die militärische Übermacht. Der Schlusspunkt war die Übergabe der Festung Rastatt in Baden. Durch den Abwasserkanal konnte Schurz der Festung entfliehen und sich über Frankreich in die Schweiz retten. Der Hilferuf von Johanna Kinkel erreichte ihn hier, er solle ihren gefangenen Mann befreien. Dies gelang Schurz mitseinen Helfern in der Nacht im November 1850.  

Gemeinsam mit Kinkel floh er nach Großbritannien, dort lernte er seine Frau Margarethe kennen und heiratete. In die USA wanderten sie aus, da Schurz dort seine demokratischen Vorstellungen am ehesten verwirklicht sah. Die neue Republikanische Partei unterstützte er, die sich die Bekämpfung der Sklaverei auf die Fahnen geschrieben hatte. Er machte Wahlkampf für Abraham Lincoln bei seinen deutschen Landmännern. der auch zum Präsidenten gewählt wurde. Carl Schurz wurde Gesandter in Madrid, im amerikanischen Bürgerkrieg kämpfte auf Seiten der Nordstaaten, wurde Senator für Missouri und unter Präsident Hayes als erster gebürtiger Deutscher amerikanischer Innenminister. Seine Frau gründete übrigens den ersten Kindergarten der Vereinigten Staaten.  

Nachdem er die Politik verlassen hatte, setzte sich Carl Schurz als Journalist für eine saubere Politik ein. Als er in New York starb, betrauerten ihn so unterschiedliche Menschen wie der amerikanische Schriftsteller Mark Twain und der deutsche Kaiser Wilhelm.

 

Wieder schlenderte er durch die Reihen, aber diesmal schrieben alle still und schnell ab.

 

Kurz vor Schluss des Unterrichts bedankte er sich für unsere tolle Mitarbeit, wünschte uns einen tollen Nachmittag mit Schlittenfahren, doch Liesel schaute so traurig, dass er fragte:

„Kind, was hast du, dir stehen ja die Tränen in den Augen?“

„Ich darf kein Schlitten fahren, ich muss meiner Mutter bei der Wäsche helfen und nun hoffe ich, dass ich das Waschpulver bei dem Schneefall trocken nach Hause bekomme“, nuschelte sie hervor.

„Ach dazu fällt mir eine kleine Anekdote ein, möchtest du sie hören?“

„Oh ja gerne.“

 Da begann er zu erzählen:

„ Als ich etwa in deinem Alter war, hatten wir auch viel Unsinn im Kopf und niemand dachte damals an die Umweltverschmutzung. Das mir niemand auf dumme Gedanken kommt“

Er hatte bemerkt wie alle an seinen Lippen hingen.

„Ihr seid doch heute durch den Schlosspark gelaufen, vorbei an dem Springbrunnen.“

„Der war aber abgestellt!“ quasselte einer dazwischen.

„Stimmt aber im Sommer nicht und wir Lausebengel habe damals auch Waschpulver benutzt und plötzlich war die ganze Umgebung in eine weiße Landschaft getaucht.“

Bei der Vorstellung musste ich und viele andere lachen, ebenso sie traurige Marie.

 

Die Schulklingel läutete und wir riefen Herrn Peck ein fröhliches „Auf Wiedersehen“ zu.

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Bildmaterialien: Manuela Schauten
Tag der Veröffentlichung: 04.01.2018

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