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Seitdem

 

 

An diesen Tag, den 1. Februar des Jahres 2009 erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen. Einen Tag zuvor hatten wir das Sechswochenamt meines Schwiegervaters gehalten.

Da wir noch Karten fürs Phantasialand besaßen, sollten meine Nichte und meine Tochter den Tag dort verbringen. Mein Schwager war mal wieder überpünktlich und wollte mit seiner Tochter Sveni noch vorher bei seiner Mutter vorbei schauen, die im Haus hinter unserem Garten wohnt.

 

Meine Tochter saß am Frühstückstisch, war total aufgeregt, plapperte unaufhörlich und verkündete schon mal, welche Attraktionen sie mit Sveni unbedingt aufsuchen wollte, als es plötzlich lautstark an der Terrassentür klopfte. Ziemlich aufgeregt meinte Sveni, Ro soll kommen, es wäre etwas mit Oma. Ich sagte ihr, sie solle bei Stephie bleiben, ging nach oben um meinen Mann, der noch schlief, zu wecken. Unverzüglich stand er auf und ging ins Bad. Ich machte mich auf den Weg nach drüben, dabei huschte ich schnell noch in die Küche und meinte zu den Kindern: „Bleibt hier, ich schaue mal was los ist. Stephie mach dich bitte auch fertig.“

Drüben angekommen, rief ich kurz „Jo“.

„Oben“, rief er zurück.

So stieg ich die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Als ich oben war, entdeckte ich Blut, dass unter der Badezimmertür hervorquoll. Vorsichtig öffnete ich die Tür und fand meinen Schwager, wie er versuchte einen Druckverband an den Armen meiner blutverschmierten Schwiegermutter anzulegen.

„Drück mal“, forderte er mich auf.

Ich drückte und er konnte leichter den Verband anlegen. Im Anschluss holte ich ein Kissen und Handtücher, die ich ihr unter den Kopf legte, während sie mich mit glasigen, weit entfernten Augen ansah.

„Kalt“, hörte ich sie wispern. Schnell lief ich ins Schlafzimmer und holte ihr noch eine Decke, obwohl mein Schwager sie bereits mit den Wärmedecken aus dem Verbandskasten abgedeckt hatte.

Es klingelte.

Ich wollte gerade hinunter gehen, doch mein Mann rief: „Ich öffne schon!“

Ich hatte gar nicht das Martinshorn gehört, sondern versuchte meine Schwiegermutter wach zu halten, doch Notarzt und Sanitäter öffneten plötzlich die Badezimmertür.

Keine fünf Minuten später lag sie im Krankenwagen. Auf meine Frage, wohin, erhielt ich die knappe Antwort „Uni-Klinik, lassen sie sich aber Zeit mit dem Nachkommen.“

Der Notarzt lobte noch meinen Schwager für den gut angelegten Druckverband.

 

Ich ging auf die Terrasse um erst einmal Luft zu schnappen, ihr Bruder der nebenan wohnte stand am Fenster und machte fragende Gesten und ich deutete sie ihm ebenfalls mit Gesten an, dass sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte.

Kurze Zeit später begab ich mich ins Badezimmer, packte die blutdurchtränkten Handtücher in eine Plastiktüte und begann die Wände und den Boden aufzuwischen. Inzwischen war die Frau ihres Bruders eingetroffen und half, die Schweinerei zu beseitigen. Auch meine Schwägerin kam mit dem Rad angefahren, sie stopfte die Handtücher in die Waschmaschine. Im Anschluss packte ich Nachthemden, Waschzeug und einiges anderes in eine Tasche sowie die Medikamente, welche sie einnahm.

In der Zwischenzeit fuhren die Männer die Kinder ins Phantasialand, damit die beiden nicht so viel mitbekamen. Mittags machten wir uns in Richtung Klinik auf. Man hatte sie inzwischen operiert, lag auf der Intensivstation, wurde dann Tage später in die Psychiatrie verlegt.

Kurz vor ihrer Entlassung schaffte ich es, mit ihrer zuständigen Ärztin zu sprechen, da mir die ganze Zeit eine Frage nicht aus dem Kopf ging. „Beide Arme hat sie sich an fünf Stellen zerschnitten, gut sie hatte einen Blackout, aber spätesten nach dem 3. Versuch müssen doch Schmerzen aufgetreten sein...“, doch darauf erhielt ich nur ein Achselzucken und ehrlich, diese Frau war für mich erledigt.

Meine Schwiegermutter blieb bis Ende August in der Psychiatrie, danach kehrte sie nicht gleich in ihr eigenes Haus zurück, sondern lebte erst mal elf Monate bei uns.

 

Das veränderte nicht nur mein Leben. sondern unser aller Leben. Denn während ihres Aufenthaltes in der Klinik hatte sie sich offensichtlich eine Art Tunnelblick zugelegt und niemand zählte mehr neben ihr. Nur sie allein war überhaupt noch wichtig. Und da ich nebendran wohne, nebenbei auch noch eine Frau bin - war es in erster Linie ich, die für Alles und Jedes zuständig war und blieb.

Ein klein wenig lockerte und verbesserte es sich, nachdem sie wieder in ihr eigenes Haus zurückkehrte, doch im Prinzip blieb diese Ego-Bezogenheit nur auf sich selber, bis zum heutigen Tag. Ebenso ihre Unselbstständigkeit im normalen Alltagsleben, meist unfähig, die Realität zu erkennen und zu akzeptieren. Ja, es hat mein Leben verändert - neben Beruf und normalen Familienleben, bin ich nun auch für das Wohlergehen meiner Schwiegermutter zuständig.

 

Ich persönlich habe mich auch verändert, eine Schwiegermutter (die nur sich sah, sondern gebrechlich und nicht mehr imstande selbst zu Kochen und nicht alle Haushaltsdinge erledigen kann), dazu die liebliche Pubertät unseres Kindes, sodass ich nervös und teilweise unzufrieden mit mir selbst und der Welt wurde, weil man sich einfach auf mich verließ.

Inzwischen habe ich gelernt, das Wörtchen „Nein“ oder „Jetzt nicht“ einzusetzen, meine Familie und Hobbys, sollten nicht untergehen. Im Sommer kann ich Kraft im Garten tanken oder ich setze mich um zu Malen. Meine aufgestauten Aggressionen baue ich meist durch einen Spaziergang oder am Keyboard ab.

 

 

 

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Bildmaterialien: Schnief
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2017

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