Sich von einem Bild zu einer Geschichte, einem Gedicht inspirieren lassen; was steckt in ihm, was ist darin verborgen, wie weit reicht der Blick des Schriftstellers, was sieht man auf dem Grund des Bildes? Im Grunde fragt man sich das bei jedem Gemälde: Was verbirgt es, welche persönliche Mitteilung ist da für mich hinterlegt?
Man greift unterschiedliche Aspekte auf, verwebt sie mit seinen Assoziationen. Was erscheint auf dem Schirm?
Es geht um Sonderlinge, die Gedanken kreisen um Schirme, ums Beschirmt-Werden. Wie viel Sonne bzw. Regen verträgt die Seele?
Der Erlös geht an caritative Zwecke.
Da war ein leuchtend gelber Fleck inmitten einer bunten Blumenwiese. Als wäre die heute leider nicht scheinende Sonne vom Himmel gefallen.
Die kleine Gestalt die den Schirm hielt, hatte etwas Magisches an sich. Bekleidet war sie mit einem weichfallenden, bis zum Boden reichenden, braunen Umhang. Unter dem flachen Hut kringelten sich blonde Locken in den schmalen Nacken. Zuerst hatte man den Eindruck es handle sich um ein Kind. Doch gleichzeitig drückte seine Haltung, neben etwas Verträumten, eine erstaunliche Stärke aus.
Zaghaft ging ich näher heran. Ich wollte diese Idylle nicht stören, doch irgendetwas zog mich in seinen Bann. Als erstes hörte ich eine unerwartet tiefe Stimme: „Bitte geben sie acht, damit sie nicht zu viele zertreten.“ Als ich nicht gleich antwortete drehte er sich um. Und ich sah in zwei klare blaue Augen. Nein, eigentlich sah ich nicht hinein, sondern ehr hindurch. In ihnen spiegelten sich alle Farben der Wiese. Er musste meine Irritation bemerkt haben. Denn schon hatte der kleine Mann sich wieder umgedreht. Nur kurz nahm ich in seinen Gesichtszügen eine gewisse Reife wahr. Zwei tiefe Falten um einen Mund der sicher vieles zu erzählen wusste. Aber auch winzige Lachfältchen in den Augenwinkeln.
„Ist die Schöpfung nicht schön.“ Ich wusste nicht ob er eine Antwort erwartete und schwieg immer noch. „Das saftige grün des Grases, die Leuchtkraft der Blumen.“ Er atmete tief, als sauge er das alles in sich ein. Und schon beachtete er mich nicht mehr. Dafür hatte ich jetzt das Bedürfnis mehr über ihn zu erfahren. „All dies“ erklärte er mir mit einer weitausholenden Geste „ist mein Arbeitsplatz.“ „Ihr seid wohl ein Künstler, denn nach einem Bauern seht ihr nicht aus.“ Ein kleines Lachen war die Antwort. „Der Künstler“ meinte er dann schon wieder ernst, „der Künstler ist dort oben. Wir hier unten können nur kopieren. Und es bleibt uns überlassen wie gut es uns gelingt.“ Er erzählte mir noch einiges über die Wirkung der Farben und wie man sie für sich nutzen konnte. Ich hätte ihm gerne noch länger zugehört. Hatte darüber Zeit und Raum vergessen. Und nicht einmal bemerkt, wie langsam die Feuchtigkeit der Erde durch meine dünnen Schuhsohlen drang. „Ich glaube es wird Zeit zu gehen“ meinte er plötzlich. Auf meine Frage ob ich ihn einmal besuchen könnte und wo er zu Hause sei, machte er eine vage Bewegung mit seiner kleinen Hand. Es war als flöge ein Schmetterling durch die Luft. Ich aber deutete es als Zustimmung und Hinweis auf das nächstliegende Dorf, von dem man hier nur die Kirchturmspitze sah. Als ich mich beim gehen noch einmal umdrehte, war er verschwunden. Nun hatte ich vergessen nach seinem Namen zu fragen.
Einige Wochen später kam ich wieder in diese Gegend. Diesmal strahlte die Sonne mit aller Kraft vom Himmel. Da ich noch etwas Zeit hatte, beschloss ich spontan meinen neuen Bekannten zu besuchen. Das kleine Dorf lag sehr ruhig. Ein paar Katzen und streunende Hunde liefen mir über den Weg. Die Bewohner hielten sich um die Mittagszeit wohl in ihren Häusern auf. Da ich den Namen des kleinen Mannes nicht wusste, nur seine Tätigkeit, lag es nahe im Pfarrhaus nachzufragen.
Ein alter Herr öffnete mir. Nachdem ich ihm mein Anliegen erklärt hatte bat er mich in einen Raum mit einem großen alten Schreibtisch und unzähligen Büchern an den Wänden. Er bat mich Platz zu nehmen. Sie haben Paddy getroffen“ erklärte er mir ohne weitere Einleitung. Um mehr für sich hinzuzufügen: „Also war er doch noch einmal da.“.
Auf meinen fragenden Blick hin, erhob er sich etwas schwerfällig und öffnete die Schublade einer alten Kommode. Dann legte er einen ziemlich neu aussehenden Zeitungsauschnitt vor mich hin. Die fett gedruckte Überschrift fiel mir sofort ins Auge:
Wir trauern um Paddy M. einem großen Künstler und Maler, der weit über die Grenzen seiner Wahlheimat hinaus berühmt war.
Das Todesdatum lag genau einen Tag bevor ich den kleinen Mann auf der Wiese traf. Ein leichter Schauer lief mir über den Rücken. „Erzählen sie mir etwas von ihm“ bat ich den Geistlichen.
Der alte Herr setzte sich wieder in seinen Sessel und schaute mich nachdenklich an. „Paddy, war das sechste von neun Kindern. Vor ihm alles Mädchen. Man muss sich die Freude, vor allem seines Vaters, vorstellen. Bis eines Tages klar war, dass Paddy nicht mehr wachsen würde. Von da an war er nur noch lästig. Solche, wie man es damals nannte, missgebildeten Kinder hatten keine Daseinsberechtigung. Seine hohe Intelligenz wurde nicht erkannt. Und wenn, dann wäre sie für den Sohn eines Bauern unwichtig gewesen. Schon früh entdeckte Paddy seine Vorliebe für Farben. Einmal bekam er erhebliche Schwierigkeiten, weil er die Schulkreide für ein Gemälde auf der Tafel benutzte. Kreide war damals Mangelware. Nur eine seiner älteren Schwestern, die in der Stadt eine Anstellung gefunden hatte, hatte Mitleid und brachte ihm Papier und Stifte mit. Damit konnte sich Paddy stundenlang beschäftigen. So wich er dem Spott der anderen aus. Manchmal zerrissen sie seine Bilder oder machten aus ihnen Papierschiffchen.
Als er alt genug war nahm seine Schwester ihn zu sich. Ihr Arbeitgeber hatte einige seiner Bilder gesehen und beschloss dieses Talent zu fördern. Ein wirklicher Glücksfall für Paddy. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er eines Tages an diesem Schreibtisch stand, und mir erzählte das er gehen würde. Und nie, nie wiederkommen.“
Der alte Herr hielt kurz inne. Und ein weiches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Ich kann ihnen gar nicht sagen wie sehr es mich freut, dass Paddy seinen Frieden mit seiner ursprünglichen Heimat gefunden hat.“ Dann ging er nach kurzem überlegen nochmal an die Schublade, und entnahm ihr ein leicht vergilbtes Blatt. Es stellte eine leuchtende Blumenwiese dar. „Nehmen sie es“ meinte er. „Und stellen sie sich dann den kleinen Mann mit dem gelben Schirm darin vor. So, wie sie ihn gesehen haben.“
Egal zu welcher Jahreszeit.
Der Mensch fragt unbeirrt:
„Was hält das Leben noch bereit?“
und
wie das Wetter wird.
Zu allen Jahreszeiten bleiben
wohl diese Fragen letztlich offen.
Der Chronist wird weiter schreiben.
Und optimistisch weiter hoffen.
Ich weiß nicht mehr genau wie alt sie war, als sie starb. Achtzehn, vielleicht neunzehn Jahre muss sie wohl gewesen sein.
Die letzten Jahre ihres kurzen Lebens hatte sie in völliger Dunkelheit verbracht, war blind geworden und dämmerte, vom Leben ausgeschlossen, in ihrem kleinem Zimmer vor sich hin.
Fast hätte man glauben können, sie wäre schon nicht mehr existent. Wäre einfach gegangen. Nicht mehr da. Hätte sich unbemerkt davongeschlichen. Wenn da nicht ihre Schreie gewesen wären.
Oft klangen diese tagelang aus dem Nachbarhaus zu uns herüber. Ohne Unterbrechung, Stunde um Stunde. Niemand nahm sie noch bewusst war. Sie gehörten einfach dazu, so wie das Rauschen der Blätter in den Bäumen, das Muhen der Kühe auf der nahen Weide, dass wiehern der Pferde in den Stallungen und all den anderen Lauten, die das Dorfleben ausmachten.
Ich weiß nicht, warum sie so schrie. Ich habe es damals nicht gewusst und weiß es auch heute nicht.
War es körperlicher Schmerz? Die verzweifelten Schreie einer gequälten Seele oder war es die Wut darüber, vom Leben betrogen worden zu sein?
Nein, ich habe mich das damals nicht wirklich gefragt.
Warum rauschen die Blätter in den Bäumen? Warum Muhen die Kühe auf der Weide und wiehern die Pferde im Stall? Warum schreit dieses Mädchen im Nachbarhaus so gellend und entsetzlich lang?
Warum nach Antworten suchen, für Dinge, die uns doch so völlig normal scheinen, als das wir sie hinterfragen würden?
Irgendwann wurde es dann still im Nachbarhaus. Erstarb der letzte Schrei, hielt das Rauschen der Blätter in den Bäumen für einen Augenblick inne.
Das Mädchen war tot, hieß es. War in der Nacht ganz friedlich eingeschlafen und, so meinten die Leute, für das Mädchen war es sicher das beste so.
War es das?
Nein, auch diese Frage stellte ich mir damals nicht.
Ute. Ich war zwei Jahre jünger als sie und als ich auf die Welt kam, soll ihr Vater erfreut ausgerufen haben: "Heute ist der zukünftige Ehemann meiner Tochter geboren!"
So ganz ernst zu nehmen war dieser Ausspruch wohl nicht, aber ein wenig Stolz darüber hätte ich schon sein können, denn er liebte seine Tochter mit zärtlicher, nicht zu beschreibender Zuneigung. Auch als später dann festgestellt wurde, dass Ute geistig behindert sei, konnte dieses nichts an seiner Liebe zu ihr ändern, vertiefte diese gewiss sogar noch.
Vielleicht glaubte Harry, Utes Vater, auch, dass es seine Pflicht sei, seine Tochter so sehr zu lieben, weil er dachte, er müsste ihr auch die Liebe geben, die ihr ihre Mutter nicht geben konnte. Ich glaube, Utes Mutter hat es nie wirklich verwunden, dieses behinderte Kind in die Welt gesetzt zu haben. Vielleicht gab sie sich auch selbst die Schuld an dieser Behinderung. Wer kann das sagen?
Jedenfalls, zwischen ihr und ihrer Tochter herrschte immer eine gewisse Distanziertheit und so tat die Mutter zwar all das, was sie wohl als Mutterpflicht erachtete, schaffte es aber nie, die Brücke zu überqueren, die aus Pflicht Liebe erwachsen lässt.
Niemand in unserem Dorf verurteilte sie jemals dafür. Wer hätte dieses auch können? Wer hätte es dürfen?
So übernahm Harry das Lieben und liebte für zwei.
Als ich noch ein kleines Kind war, gehörte Ute dazu. Zusammen mit uns Dorfkindern zog sie durch die Gegend. Tobte mit uns über Wiesen und durch die umliegenden Wälder. Pirschte mit uns durchs Unterholz, um feindlichen Indianerstämmen auszuweichen oder spielte mit uns unten am Fluss, an dessen Ufern wir gemeinsam Flöße bauten um damit hinaus in die Welt zu schippern. Gegen Piraten zu kämpfen und Kontinente zu entdecken, die noch nie ein Mensch zuvor betreten hatte.
Ja, Ute gehörte einfach dazu. Sie war nicht viel anders als wir anderen. Nur das sie größer, stärker mutiger und ja, auch Frecher war als wir. Alles Dinge, die durchaus unsere kindliche Bewunderung verdienten.
Wenn wir dann abends wieder gemeinsam Richtung Dorf trabten, in der Gewissheit alle Indianer besiegt, allen Piraten die Beute abgejagt zu haben und im dichten Schilf, am Ufer des Flusses neue, unbekannte Länder entdeckt hatten. Wenn wir gegen wilde Tiere gekämpft und alle Schlachten geschlagen hatten und unser Lohn für all unsere Mühen in unseren Gesichtern spuren vom Schweiß verkrustetem Schmutz hinterlassen hatte und uns der Rotz aus der Nase lief der, wenn auch verbotener maßen, achtlos am Ärmel abgewischt wurde, ließ sich auch Ute nicht mehr von uns anderen unterscheiden.
Nein, sie war nicht anders als wir.
1971 wurde ich eingeschult und mit mir betrat auch Ute den Klassenraum.
Ganz vorne musste sie sitzen, in der ersten Bank.
Wunderten wir anderen Kinder uns darüber, dass ein schon so großes Mädchen gemeinsam mit uns die erste Klasse besuchte?
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Erinnern kann ich mich nur daran, dass sie ziemlich genau vor mir saß und mir mit ihren breiten Schultern und ihren fast ständig wirr vom Kopf abstehenden braunen Haaren die Sicht versperrte.
Nur wenige Monate sollte ihr Schulbesuch andauern.
Monate, in denen sie mit fast verzweifelter Wut versuchte, die ersten Buchstaben und Zahlen aufs Papier zu bringen. Doch was uns anderen mit spielerischer Leichtigkeit gelang, wurde für Ute zu einem unüberwindlichem Hindernis. Der Stift in ihrer Hand wurde zu einer Waffe, die jedes Blatt Papier durchdrang. Dessen Spitze sich bis zur Tischplatte durchbohrte und statt der erhoffen Buchstaben nur zerrissene Papierfetzen zutage brachte.
Oft sprang Ute dann von ihrem Platz auf, ließ wütende Schimpftriaden verlauten und fegte mit kräftiger Handbewegung all das vom Tisch, was ihr solche Qual bereitet hatte. Trampelte dann wie ein Derwisch auf den am Boden liegenden Schulsachen herum und ließ sich nur mit sehr viel Mühe von unserer Lehrerin wieder beruhigen und zurück zu ihren Platz führen.
Auch ihr letzter Schultag war ein solcher Tag, an dem ihr nichts gelingen sollte.
Schon am Morgen, in der ersten Schulstunde begann es, als Ute merkte, dass sie die Strophen des einfachen Kinderliedes, welches wir gemeinsam sangen, vergessen hatte. Als ihr die Worte nicht einfielen, begann sie unartikulierte Laute auszustoßen, die sich dann zu einem Stakkato wildester Schimpfworte steigerten.
In den weiteren Schulstunden saß sie unruhig an ihrem Platz, wirkte desinteressiert, schaute sich ständig im Klassenzimmer um und hatte etwas von einem verwundetem Tier an sich, welches nur auf eine Gelegenheit wartete, sein schützendes Versteck verlassen zu können, um die Flucht zu ergreifen.
Mehrmals wurde sie von unserer Lehrerin aufgefordert sich ruhig zu verhalten, was ihr aber immer nur wenige Minuten lang gelang. Nach einer weiteren Ermahnung explodierte Ute dann. Von uns allen völlig unerwartet sprang sie plötzlich auf, raste auf unsere Lehrerin zu, blieb kurz vor ihr stehen und wedelte wild und drohend mit ihren Fäusten in der Luft herum. Dann schrie sie: „Halt die Klappe!“ Auch unsere Lehrerin war von diesem Ausbruch sichtlich überrascht worden. Einen Moment rang sie nach Atem, suchte stockend nach den richtigen Worten. Als sie sich dann endlich gefasst hatte, fuhr Ute ihr dazwischen „Halt die Klappe!“, schrie sie wiederum „Halt deine verdammte Schnauze, sonst hole ich meinen Harry und der haut Dir ein paar aufs Maul!“
Beklemmende Stille breitete sich im Klassenzimmer aus. Noch heute, nach all der vergangenen Zeit, kann ich diese spüren.
Ich glaube, es waren nicht einmal diese wütend ausgestoßenen Worte, die uns schweigen ließen. Heute, nach all den Jahren denke ich, es war die Angst in den Augen unserer Lehrerin, die wir alle sahen und fühlten und die uns zutiefst erschütterte. Etwas hatte sich in unser Klassenzimmer geschlichen. Hatte nach uns gegriffen und uns die Luft zum Atmen genommen.
So explosionsartig wie ihre Wut sich Platz geschaffen hatte, so schnell verflog diese auch wieder. Ute sackte regelrecht in sich zusammen. Ließ ihre Fäuste sinken und brach in Tränen aus.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Jede Geschichte und Gedicht unterliegt dem Bookrix- Autoren
Bildmaterialien: Manuela Schauten
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2017
ISBN: 978-3-7438-2015-9
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Kranken Kindern eine Freude bereiten