Gedankenlos blätterte ich in dem kleinen in Leder eingebundenen Kalender, der vor mir auf dem chaotisch wirkenden Schreibtisch lag.
"Du solltest Ordnung schaffen, Papa", murmelte ich mehr zu mir, als zu meinem Vater, der mit seinem Whiskeyglas in der Hand mir gegenüber in einen Sessel versunken saß. Er grummelte etwas Unverständliches, das ich nicht verstand. Vermutlich war es aber auch nicht wichtig. Mein Vater wirkte plötzlich sehr alt. Wie er dort in dem grünen, durchgesessenen Sessel versank und beinahe darin abzutauchen schien, stimmte mich traurig. Mit den Finger ließ ich die Seiten des Kalenders vorbeirauschen. Alles leer.
"Nimm dir doch etwas vor, Papa", schlug ich vor und dachte an einen Ausflug oder eine Reise.
"Da muss ich erst deine Mutter fragen. Aber sicher möchte sie wieder nach Belgien fahren. So wie früher. Ich würde viel lieber einmal nach Frankreich fahren, aber ich bin ein alter Mann und nicht Krösus!"
Seine Stimme klang brüchig und rau. Das musste vom Alkoholkonsum kommen. Ich betrachtete meinen Vater mit einer Mischung aus Mitleid und Kummer. Noch nie hatte ich meinen Vater wirklich betrunken erlebt. Aber heute war eine Ausnahme.
Wir befanden uns in seinem Elternhaus und hielten den Leichenschmaus zu der Beerdigung seines Vaters. Dieser, also mein Großvater war siebenundachtzig Jahre geworden und friedlich an Altersschwäche eingeschlafen.
Das Zimmer, in dem wir uns befanden, war das alte Arbeitszimmer. Es war ein mittelgroßer Raum, dessen Wände von Regalen verstellt wurden. Als kleines Kind hatte ich mich immer gefragt, welche Farbe die Tapete wohl habe, hatte es aber nie erfahren. Außer den vielen Büchern befand sich noch ein unordentlicher und voll gestellter Schreibtisch.
"Du brauchst Mama nicht zu fragen, Papa. Erinnerst du dich nicht? Ihr seid geschieden. Die Scheidung liegt schon einige Monate zurück."
Er schaute mir verwundert in die Augen.
"Ach stimmt ja."
Einen Moment herrschte Stille. Man konnte nicht mal die Verwandten im Wohnzimmer hören.
"Zum ersten Mal seit ich fünfzehn bin, bin ich jetzt nicht mehr vergeben", sagte mein Vater mit einem belustigten Unterton in der Stimme.
Ich lächelte.
"Ich habe ja schon von jedem von deinen legendären Romanzen gehört."
Mein Vater stimmte in mein Lachen ein.
"Ich habe meine Jugend ausgekostet. Das weit du ja. Und ich habe immer versucht, dir zu vermitteln, es auch so zu handhaben."
"Das habe ich."
Er lächelte zufrieden und lehnte sich zurück. Das Glas presste er an seine Brust, beinahe als würde er damit kuscheln.
"Es war ein wunderschöner Tag heute. Also zumindest vom Wetter her. Vater hätte es gefallen."
Ich musterte ihn.
"Es war wirklich ein schöner Tag gewesen. Ein letzter schöner Herbsttag, an dem die Blätter im Sonnenlicht golden geleuchtet hatten. Ein schöner Tag, um Abschied zu nehmen."
"Du sinnst ihm ja nach, mein Kind."
"Er war mein Großvater."
Es war einer dieser Momente, in denen die Zeit stehen zu bleiben schien.
"Ja, das war er. Aber er war auch so viel mehr."
Ich wusste nicht, was mein Vater meinte, aber ich ließ ihn in seinen Erinnerungen schwelgen und den Irrlichtern in seinen Gedanken nachgehen. Plötzlich erhob sich mein Vater aus dem Sessel und stellte das Glas auf dem Schreibtisch ab. Von oben herab lächelte er mich verheißungsvoll an.
"Na los, lassen wir diesen Tag gebührend ausklingen. Es ist so still hier im Haus. Das sollte so nicht sein."
"Was hast du denn vor?", fragte ich.
"Als erstes werde ich mir eins deiner Kinder schnappen und es küssen."
"Warum?", lachte ich und dachte an meine Tochter, die mit dreizehn Jahren jeglichen Gefühlsschwankungen ausgesetzt war. Meine beiden acht und sechs jährigen Söhne ließen sich auch nicht einfach vor aller Augen knuddeln und herzen. Dazu waren sie schließlich in ihren Augen schon zu alt.
Ich folgte meinem Vater, der plötzlich eine ungewohnte Energie an den Tag legte. Mit sicheren Schritten durchquerte er den Flur und stieß die Tür zum Wohnzimmer schwungvoll auf. Das gedämpfte Gemurmel, das vorher in diesem Raum geherrscht hatte, war verklungen und alle Augen auf meinen Vater gerichtet.
"Ich möchte, dass ihr mir alle kurz zuhört", sagte er und ließ den Blick durch die Runde schweifen. Ich wechselte einen Blick mit meiner Mutter und meinem Bruder.
"Vater hat uns alle geliebt und wir ihn ebenso. Er war ein Mann der Freude und nicht der Trauer. Also lasst uns diesen wunderschönen Herbsttag nicht mit einem gebrochenen Herzen zu Ende gehen. Denkt daran, dass wir nicht betrübt sein sollen, dass er fort ist, sondern dankbar sein sollten, dass wir ihn überhaupt kennen lernen durften. Und dass wir unser Leben durch ihn bereichern konnten."
Anschließend umarmte er die Anwesenden, die verwundert inne hielten und ihn betrachteten.
"Er hat doch Recht", stimmte mein Bruder zu und erhob sein Glas.
"Auf Opa."
"Auf Opa", antworteten einige, während manche "Auf Helmut" sagten.
Die Stimmung besserte sich. Die Versammelten fingen an, positive Erinnerungen auszutauschen und einander Mut zu machen. Ich schüttelte ungläubig den Kopf als ich Tante Franka hörte, die lauthals von ihrer Kreuzfahrt mit meinem Großvater erzählte und immer wieder betonte, dass mein Opa sich dort immer geweigert hatte, bestimmte Service des Personals anzunehmen, weil er nicht begriffen hatte, dass er dies mit gebucht hatte. Mein Onkel begann wie üblich mit seinen Astronautenwitzen und meine Cousine Susanne rutschte mit ihren Gesprächen wieder unter die Gürtellinie. Es schien wie immer.
Mein Blick huschte wieder durch den Raum, auf der Suche nach meinem Vater. Aber er war verschwunden. Verwundert runzelte ich die Stirn und durchquerte erneut den Flur und betrat das Arbeitszimmer. Dort war jedoch alles, wie wir es verlassen hatte. Das Glas stand noch unberührt auf dem Schreibtisch und die Staubkörner flogen unter der hell erleuchteten Lampe hin und her.
"Lass das, Opa", hörte ich das gedämpfte Lachen meines Sohnes Julius. Leise schlich ich die Treppe nach oben, damit sie mich nicht hörten und spingste in das Zimmer, in dem meine Kinder für die Nacht untergebracht waren. Es war zwar erst Zweiundzwanzig Uhr, aber Julius sollte mit seinen sechs Jahren schon längst am Schlafen sein. Der Kleine lag in seine Spidermandecke gekuschelt im Bett und musterte seinen Großvater mit großen Augen. Dieser kniete vor ihm, halb an den Bettkasten gelehnt, und streichelte ihm über die braunen Locken. Mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht beobachtete ich die Beiden und wünschte mir, diesen Moment für immer festhalten zu können.
Texte: Schnief und Stephie
Bildmaterialien: M.Schauten
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2016
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