Julian fuhr nach Spanien, um zu sterben, denn die Welt, die er kannte, wurde langsam kleiner und die Welt vor ihm erstrahlte im hellen Glanz des Sonnenuntergangs.
Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend wandte er den Blick von der Kleinstadt, in der er aufgewachsen war, und schaute nach vorne. Ihm gegenüber erstreckte sich die Landstraße in Richtung Westen. Er fuhr der Sonne entgegen. Wortwörtlich. Endlich hatte er seinen Schatten übersprungen und seinen inneren Schweinehund bezwungen und in seiner Wohnung eingesperrt. Das Gefühl von Freiheit überkam ihn und er konnte das spitzbübische Lächeln nicht zurückhalten. Es überkam ihn einfach und erfüllte ihn tief in seinem Innern mit einer wohligen Wärme. Nie wieder würde er zurückkommen. Nie wieder! Er hatte seine Bekannten, seine Freunde und seine Familie zurückgelassen. Seine Arbeitsstelle und alle Versicherungen waren gekündigt und alle Bankkonten geplündert. Alles was Julian noch besaß, war in seine Taschen gestopft, Bargeld, Kleidung, ein Foto von seinen verstorbenen Großeltern, seinen ersten Milchzahn und einen ersten Fußball. Julian wollte das Abenteuer seines Lebens erleben, bis er es beenden würde. Es war sowieso alles zu kurz. Die Kindheit, die Jugend, die schönsten Momente des Lebens. Julian saß direkt neben dem Busfahrer und hatte die beste Sicht. Er genoss die letzten Sonnenstrahlen und fühlte sich müde und erschöpft, als wäre er mit ihr untergegangen. Er machte es sich gemütlich und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. Hier würde er sowieso keine Ruhe finden, zwischen all den Leuten, deren gedämpftes Murmeln zu ihm nach vorne ebbte. Irgendwann öffnete Julian die Augen, die Uhr zeigte 3:56. Stöhnend rieb er sich die Augen. War er tatsächlich eingeschlafen? Es schien so, denn er fühlte sich ausgeruht und entspannt, trotz der Schmerzen in seinem Rücken, die von der unbequemen Haltung herrührten. Julian wandte sich zu dem Busfahrer und wollte gerade fragen, wann er die nächste Pause einlegen würde, als er bemerkte, dass es gar nicht mehr dieselbe Person war. Anstelle des Mitte fünfzigjährigen Busfahrers mit schütternden grauen Haar, dicken Tränensäcken und müden faltig aussehenden Augen, saß eine junge Frau am Steuer. Verdutzt rieb Julian seine Augen und die Busfahrerin musste grinsen.
»Guten Morgen«, kicherte sie. »Nein, Sie träumen nicht. Uwe und ich haben uns vor gut einer Stunde abgewechselt. «
Darauf wies sie hinter sich und Julian folgte ihrer Bewegung. Und tatsächlich. Hinter ihr saß der Busfahrer und holte eine Mütze Schlaf nach.
»Sie sahen ja ziemlich verschreckt aus«, grinste die junge Frau immer noch. Julian räusperte sich. »Ich hab mich schon gewundert. «
»Oh ja«, während sie sprach, wandte sie ihren Blick nicht von der Straße ab und Julian nutzte dies, um sie genauer zu betrachten. Sie hatte langes blondes Haar, das sie in einer Flechtfrisur zusammengebunden hatte. Dennoch fielen ihr dünne Haarsträhnen ins schmale, von Sommersprossen übersäte Gesicht. Sie war sicher nicht klein, aber dennoch schmal. Sie trug eine blaue Jeans und eine karierte helle Bluse. Als sie ihren Blick kurz Julian zuwarf, fühlte er sich ertappt und schaute kurz zu Boden.
»Warum fahren Sie mit? «, fragte sie freundlich. Julian verzog das Gesicht. Er war hier, um allein zu sein. Er wollte keine neuen Freunde finden und schon gar nicht höflichen Smalltalk mit jedem halten.
»Oh, ich bin wieder zu neugierig, stimmts? «, fragte sie und wagte noch einen kurzen Blick von der Straße. Aber Julian wollte nicht unhöflich sein und antwortete ihr mit einer sich müde anhörenden Stimme: »Ich weiß es noch nicht genau. Vielleicht erlebe ich ein Abenteuer. «
Ihm war klar, wie dämlich sich das anhörte, aber es war ihm egal.
»Und nein, Sie sind nicht neugierig. «
»Das freut mich. Ich hab mir gleich gedacht, dass Sie nicht hier sind, um mit den anderen den Jakobsweg zu gehen.«
»Nein«, meinte Julian und schaute sich noch einmal kurz im Bus um. Es waren hauptsächlich Senioren dabei. An den Jakobsweg hatte er gar nicht gedacht, aber jetzt machte es Sinn. Der Bus würde seine Fahrgäste an der spanischen Grenze gleich nach den Pyrenäen absetzen. Manche würden wohl den spanischen Teil des Jakobsweges nach Santiago de Compostella antreten. Julian jedoch wusste nicht, was für ihn folgen würde.
»Daran hatte ich ehrlich gesagt gar nicht gedacht.«
»Immer wenn ich diese Strecke fahre, ist der Bus vollgestopft mit Gläubigen, die sich nach Erlösung, Erkenntnis oder Hoffnung sehnen.«
Sie musste erneut lächeln.
»Und welcher dieser Typen sind Sie. Suchen Sie Erlösung, Erkenntnis oder Hoffnung, Julian?«
Julian verzog das Gesicht. Gute Frage. Was suchte er? Erlösung? Wovon? Seinem Leben? Den Lastern, den Fehlern, die er begangen hatte, die Dinge, die er hätte tun können, aber nicht getan hat? Erkenntnis? Wollte er zum Glauben finden? Wollte er erkennen, was richtig und was falsch war? Wollte er sich selbst erkennen? Sein eigenes Wesen, vielleicht sogar seine Seele, erkunden und finden? Hoffnung? Worauf? Ein besseres Leben? Lebensfreude und Lebenslust? Wollte er erkennen, dass sein Leben doch lebenswert war? Wollte er erkennen, dass es immer etwas Gutes gab, dass es überall ist? Dass, das Schlechte und Böse nur ein kleiner Fleck auf einer unendlich großen weißen Leinwand ist?
»Oder sind Sie auf der Suche nach allen drei Dingen, Julian?«, fragte die Busfahrerin und strich sich eine der lockigen Strähnen hinters Ohr. Irgendetwas verwunderte Julian und im ersten Moment kam er nicht darauf, doch dann fragte er sie plötzlich:
»Woher kennen Sie überhaupt meinen Namen?«
Die junge Frau ließ die Schultern ein wenig hängen.
»Julian«, sie schluckte schwer und machte eine lange Pause.
»Du stellst die falsche Frage.«
Julian zog die Augenbrauen hoch.
»Die falsche Frage?«
»Jawohl, die falsche Frage.«
»Wer sind Sie überhaupt, wenn Sie schon über mich Bescheid wissen.«
Die Frau überlegte kurz, ob sie antworten sollte. Schließlich sagte sie zögerlich.
»Das war zwar auch nicht die richtige Frage, aber ich denke, das sollte ich Ihnen wirklich sagen. Mein Name ist Eva.«
Und als würde das schon alles erklären, beließ sie es dabei. Julian starrte sie verwundert an. Wer war diese Frau? Und was wollte sie von ihm?
»Ich verstehe nicht«, begann Julian zögerlich und schüttelte leicht den Kopf. Die Busfahrerin zuckte die Achseln.
»Das macht nichts. Irgendwann wirst du es verstehen.«
Nachdem alle den Bus verlassen und ihr Gepäck geholt hatten, machte Julian sich auf den Weg zu der nächstbesten Tankstelle, um sich eine Landkarte und etwas zu naschen zu holen. Niemand verabschiedete sich von ihm und es machte ihm auch nichts aus. Julian war schon immer ein Einzelgänger gewesen. Dennoch war es ein seltsames Gefühl, diese wildfremden Menschen, mit denen man knappe zwei Tage seines Lebens verbracht hatte, einfach zurückzulassen.
»Julian, warte!«, rief plötzlich eine Frau und Julian brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer ihm auf den Fersen war. Julian blieb einen Moment lang stehen, als überlegte er sich, ob er auf Eva warten sollte. Als sie ihn nach einem kurzen Sprint erreicht hatte, ging Julian gemütlich weiter.
»Wo willst du hin?«, fragte sie und schloss zu ihm auf.
»Keine Ahnung. Irgendwohin.«
»Das passt ja«, kicherte sie.
»In die Richtung muss ich auch.«
Julian stöhnte und blieb stehen. Er war um einiges größer als Eva und musste zu ihr hinunterschauen, dennoch kam es ihm so vor, als wäre sie die größere Person.
»Was wollen Sie?« Sie grinste und verzog anschließend ihr Gesicht.
»Dir folgen.«
»Aber wohin? Und warum?«
»Die Antwort brauchst du nicht, Julian. Ich muss dir helfen, damit du den richtigen Weg nach Irgendwo findest.« Ihre Stimme war melodisch und klang freudig überrascht, als würde sie sich selbst wundern, was sie da gesagt hatte. »Ich möchte nicht unhöflich sein, Eva.«, begann Julian und kratzte sich im Nacken. Wie konnte er sie am besten abwimmeln, ohne unhöflich zu sein? »Aber ich mache diese Reise, um allein zu sein.«
»Nein«, seufzte sie. »Du machst diese Reise nicht um allein zu sein.«
Julian war verwirrt.
»Doch, natürlich.«
Es war später Nachmittag und dennoch senkte sich eine ungeheure, flirrende Hitze über die Landschaft. Julian zog sich die Kappe tiefer in die Stirn und frage sich verzweifelt in welchem Fach seines Rucksacks sein Deodorant steckte. Eva ging einige Schritte weiter.
»Komm schon, Julian. Ich begleite dich.«
»Ich möchte aber nicht, dass Sie mich begleiten«, er hoffte insgeheim, dass sie diese direkte Aussage nicht zu persönlich nahm.
»Hör doch endlich mal auf, mich zu Siezen«, Eva stampfte mit dem Fuß auf. »Ich meine wir kennen uns doch schon lange genug.«
Ein Stöhnen. Der arme Julian war überfordert.
»Wir kennen uns doch erst seit nicht einmal zwei Tagen.«
»Denkst du«, deutete Eva an und ging weiter. Julian stand noch einige Augenblicke da und beobachtete die hübsche Frau fortgehen, bis er in Gedanken den Kopf schüttelte und ihr aus unerfindlichen Gründen folgte, ohne genau zu wissen, warum.
»Willst du reden?«, fragte Eva nach einiger Zeit. Sie waren schweigend an einer Straße in Richtung Süden gewandert. Evas Haar war verschwitz und klebte ihr in der Stirn, ihre Bluse hatte sie aufgeknöpft und entblößte darunter ein durchgeschwitztes Top. Julian sah auch nicht besser aus. Sein grünes T-Shirt war von dunkeln Schweißflecken übersät und seine dunklen Haare standen in alle Richtungen ab. Er fühlte sich müde und ein bisschen schwindelig.
»Ich glaub du brauchst eine Pause«, seufzte Eva und ließ sich ungeduldig auf den Straßenrand nieder. In all den Stunden, in denen sie an dieser Straße entlanggewandert waren, war nur ein einziges Auto an ihnen vorbeigekommen.
»Musst du nicht zurück und den Bus wegfahren?», fragte Julian und ließ sich neben sie fallen.
»Nein«, lachte sie. »Ich muss nur hinfahren, zurück nie.«
Julian schnappte nach Luft. Sein Arm schmerzte und als er ihn betrachtete, stellte er fest, dass er sich in eine Distel gelegt hatte. Aber das war ihm für den Moment egal. Seine schmerzenden Beine hatte er von sich gestreckt und richtete nun den Blick in den hellblauen Himmel.
»Das kann ich dir auch nur empfehlen, Julian«, meinte Eva und stupste ihn sanft an.
»Was?«, fragte er.
»Na, nur hin und nicht zurückzufahren.«
Eva betrachtete ihn mit großen Augen.
»Es ist doch egal, was in der Vergangenheit passiert. Was zählt ist dein Vermächtnis und was du daraus machst.« »Du meinst Kinder?«
»Ich meine alle deine Taten«, sagte sie und musterte ihn erneut. Julian bekam davon jedoch nichts mit. Er war fix und fertig und konnte sich kaum mehr konzentrieren. Die Müdigkeit überkam ihn plötzlich und ehe er sich versah, war er eingeschlafen. Mitten in der Pampa. Irgendwo an einer Landstraße in Spanien. Mit einer wildfremden Frau, die meinte, ihn zu kennen.
»Julian«, Eva schüttelte die Schulter des schlafenden Mannes und schaute sich währenddessen um. »Wach auf.« Verschlafen drehte dieser sich um. Müde rieb er sich die Augen und betrachtete die Frau, die aussah wie ein Engel. »Siehst du das?«, fragte sie und deutete auf ein Kaninchen, das keine zehn Meter von ihnen entfernt, am anderen Ende der Straße saß. »Es ist mutig, so nah heran zu kommen.«
Das Kaninchen futterte Unkraut am Straßenrand, während es die beiden Menschen nicht aus den Augen ließ.
»Was denkt es wohl gerade?«, fragte sich Eva und musterte das putzige Tier.
»Deshalb hast du mich geweckt?«, wollte Julian wissen und wandte den Blick von dem Tier auf Eva. Diese starrte ihn wütend an.
»Du erfreust dich nicht einmal an den kleinen Dingen im Leben! Julian, du solltest dich wirklich schämen. Du bist hier und guckst dir alles an, aber sehen tust du nichts davon«, sie machte eine ausholende Geste mit der Hand. »Wie kannst du nur glücklich sein, wenn du all das Schöne um dich verpasst. Ach ja, du bist ja gar nicht glücklich.«
Sie verzog den Mund zu einer geraden Linie: »Wenn ich mich nicht irre bist du nach Spanien gekommen, um dein Leben zu beenden.«
Julian betrachtete sie kalt und schluckte schwer: »Woher weißt du das?«
»Ich hab dir doch gesagt, dass wir uns schon lange kennen.«
Wütend erhob Julian sich. Sein Rücken schmerze, er hatte Sonnenbrand. Ihm war schwindelig und er brauchte einen Augenblick, um das Gleichgewicht wieder zu finden.
»Was meinst du? Wir kennen uns nicht!«
»Du bist nicht in dieses wunderschöne Land gekommen, um mit den anderen Fahrgästen zu palavern und die ungezähmte Wildnis hier draußen zu bewundern. Nein, du bist so selbstsüchtig und denkst an Suizid.«
Sprachlos starrte Julian Eva an. Schlimm genug, dass sie ihm hart und direkt ins Gesicht sagte, was sie dachte, aber am schlimmsten war, dass sie überhaupt darüber Bescheid wusste. Julian schulterte seinen Rucksack, obwohl sein Rücken tierisch brannte und rannte los. Er hatte kaum noch Kraft in den Beinen, aber er schlug sich tapfer und tat, was er sich früher nie getraut hatte, er rannte fort. Fort von Zuhause, fort von seinem Leben und fort von Eva, die über ihn Bescheid wusste, ohne ihn zu kennen. Irgendwann drehte Julian sich um, weil er das Gefühl hatte, dass ihn jemand beobachtete, doch die Straße hinter ihm war leer. Eva folgte ihm nicht. Und auch sonst war er mutterseelen allein. Durstig und erschöpft ließ er sich nieder und trank seine Wasserflasche leer. Was machte er eigentlich? Verzweifelt überlegte Julian, was er tun konnte, doch ihm fiel nichts ein. Er wollte einfach schlafen, er war so furchtbar müde. Für einen kurzen Augenblick fragte er sich, ob er es jetzt tun sollte. Ob er sein Leben hier und heute beenden sollte. Aber er konnte es nicht. Und als im nächsten Moment ein Lastwagen am Horizont erschein, war Julian mehr als erleichtert. Er stellte sich mitten auf die Fahrbahn und streckte den Daumen in die Höhe und natürlich hielt der Wagen an. Mit Händen und Füßen versuchte Julian dem Fahrer verstehen zu geben, was er wollte: nämlich ein Stück mitfahren, am besten in die nächste Stadt. Auch wenn Julian sich nicht sicher war, ob der Fahrer ihn verstanden hatte, durfte er mitfahren und bekam auch einen ordentlichen Schluck Kaffee aus einer Thermoskanne gereicht. Benebelt von dem Kaffee, der Übermüdung und Anstrengung fielen Julian bald wieder die Augen zu.
»Hola«, der Fahrer wedelte Julian mit einer Landkarte Luft zu. »¿Estas bien?«
Julian riss mit einem Ruck die Augen auf und befürchtete, Eva würde ihn schon wieder wegen einem Wildkaninchen aus dem Schlaf reißen und ihn mit Geschichten über ihn selbst verschrecken. Ohne zu wissen, was der Fahrer gefragt hatte, nickte Julian heftig und schaute sich um. Er saß noch immer in der Führerkabine, doch der Lastwagen stand nun in einer dunklen Halle. Der Fahrer wedelte Julian mit den Armen zu, zum Zeichen, dass er aussteigen sollte. Zum Dank verbeugte Julian sich leicht, weil er nicht wusste, was er sonst zum Dank machen sollte. Lachend schloss der Fahrer hinter Julian die Tür und setzte seinen Weg fort. Hier war es schön kühl und erinnerte Julian an eine dunkle sichere Höhle. Dennoch wollte er sich erst umschauen, um zu wissen, wo er war. Doch er stellte fest, dass er sich keineswegs in einer Stadt befand, sondern bloß in einer riesigen leeren Halle, die mitten in der Wüste stand. Unbeholfen trat er aus dem Schatten der Halle durch das geöffnete Tor in den Sonnenschein des gerade hereinbrechenden Morgens. Vor der Halle hörte Julian das leise Summen von Wildbienen und das Rascheln von einem Tier im Dickicht der verdorrten Pflanzen.
»So sieht man sich wieder«, kicherte Eva.
Erschrocken fuhr Julian herum und erblickte sie direkt hinter ihm. Sie hatte im Schatten der Halle auf ihn gewartet. »Wieso hab ich dich nicht gesehen?«, fragte Julian und hielt sich die Hand vor die geblendeten Augen. Für einen Moment schien es, als würde ein Licht von Eva ausgehen. Aber Julian verwarf diesen Gedanken sofort wieder und betrachtete sie neugierig.
»Ich war immer schon da, Julian. Und du kannst mich sehen, wenn ich es will«, ihr Blick wurde traurig. »Das hab ich dir doch schon ein paarmal erklärt.«
Verwundert starrte er sie an. Sie nahm seine Hand und zog ihn in die Halle, damit er endlich etwas sehen konnte. Nach einigen Augenblicken hatten sich Julians Augen an die Dunkelheit gewöhnt.
»Du wirst nie von mir erfahren wer ich bin, denn darüber darf ich nicht sprechen, aber ich kann dir einen Tipp geben.« Ihr sonst so fröhliches Wesen hatte sich ein wenig gewandelt. »Ich habe eine Beurlaubung bekommen, weil mein Chef meinte, mit dir würde es eh bald zu Ende gehen und ich solle mir doch schon mal einen neuen Schützling suchen.«
Wieder nur Starren aus Julians Augen.
»Ich wollte aber nicht, verdammt noch mal. Du bist mein Schützling, seit deiner Geburt. Ich habe alles mit dir gemacht. Die ersten Schritte, deine ersten Worte, dein erster Milchzahn, sogar deinen Traum einmal ein Baumhaus auf einem Affenbrotbaum zu haben. Wir haben alles geteilt, bis du irgendwann den Glauben an mich und an alles Gute verloren hast. Wir haben uns immer weiter voneinander entfernt und schau, wo wir gelandet sind. Hier wird es enden! Heute und jetzt! Aber wie es endet, liegt in deiner Hand, mein Lieber.«
Ohne darüber nachzudenken, was für einen Unsinn er sagte, platze Julian heraus: »Du bist mein Schutzengel!« Eva strahlte über das ganze Gesicht.
»Die Perle in der Wüste«, seufzte Julian. »Davon habe ich immer geträumt.«
»Du hast von diesem Gefühl geträumt, Julian. Sorglosigkeit, Unbeschwertheit, tiefes Glück. All das wirst du finden. Und zwar hier.«
Diesmal machte sie keine ausholende Geste über die Landschaft, sondern deutete auf Julians Brust.
»Du brauchst mich. Und ich bleibe bei dir, wenn du es möchtest. Aber Julian, du musst es wollen.«
Ein lauter Knall. Erschrocken riss Julian die Augen auf. Er sah nur weiß und kniff die Augen sofort wieder zusammen.
»Wo bin ich?«, flüsterte er.
»Im Krankenhaus«, sagte eine fremde Stimme.
»Sie sind von einer Brücke gesprungen, aber sie haben überlebt.«
Mit einem tauben Gefühl im Magen wandte sich Julian ab und fragte sich, ob es Schutzengel gibt.
Dies ist ein Beitrag zum Spendenbuch Anthologie von der Autorengemeinschaft MyStorys, welches unter dem Titel "Heimat - grenzenlos" beim Karina Verlag als Print- Book erschien.
ISBN 978-3-903056-9
Die Spende geht an "Gesicht Zeigen!"
Texte: Schnief und Stephie
Bildmaterialien: Schnief
Tag der Veröffentlichung: 01.05.2015
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