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Engel auf Keksentzug

»Ich will nicht erwachsen werden!«, jammerte Lucy und wandte den Blick von ihrem Gegenüber ab. Dieser lächelte bloß und betrachtete verliebt ihr schmales Gesicht und den wütenden Ausdruck darin.

»Warum lachst du denn?«, fragte sie und schaute ihm neckend in die Augen. Er liebte es, wenn sie wütend auf ihn war, aber ihm dennoch nicht lange genug böse sein zu können, dass sich die Situation zu einem echten Streit entwickeln konnte.

»Lucy«, begann er sanft und nahm ihre zarte Hand. »Du bist doch längst erwachsen.«

»Haha, Ivan«, meinte sie enttäuscht und biss sich auf die Unterlippe. Wie sollte sie es am besten ausdrücken?

»Du weißt doch, wie ich das meine?!«

Ivan starrte sie an und hatte nicht die geringste Ahnung, worauf sie hinaus wollte. Fragend betrachtete er ihre ineinander liegenden Hände.

»Ach Ivan, genau das meine ich ja«, begann sie und schaute ihn mitfühlend an. »Wir haben uns auseinander gelebt-«

Ivan öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, doch in diesem Moment hielt er inne, weil ihm bewusst wurde, dass sie Recht hatte.

»Klar, wir hatten eine schöne Zeit, aber jetzt arbeiten wir wieder und sehen uns nicht mal jeden Tag.«

»Das können wir doch ändern«, dachte Ivan, aber sagte es nicht. Aus irgend einem Grund konnte er nichts sagen, etwas in ihm hielt ihn davon ab. Abgesehen von dem Gefühl, dass sich langsam in ihm ausbreitete, als ihm klar wurde, dass sie mit ihm Schluss machen wollte, fühlte er nichts. Außer Leere.

»Ich bin mir nicht sicher, aber-«, begann sie wieder, doch als sie einen kurzen Blick zu Ivan warf, hielt sie inne. Ein seltsamer Ausdruck war auf sein Gesicht getreten und spiegelte nicht nur blanke Verzweiflung, sondern auch Schmerz und Angst.

»Ivan«, seufzte sie und strich mit ihrem Daumen über seine warme Hand. »Hörst du noch zu?«

Ohne sie anzuschauen, nickte er nur. Sie atmete schwer aus und sank ein wenig auf ihrem Stuhl zusammen. Was sie vor hatte würde nicht nur ihm, sondern auch ihr das Herz brechen.

»Ivan, bitte sieh mich an.«

Ihre Stimme klang so zuckersüß in Ivans Ohren und er spürte den Schmerz und die Verwundbarkeit in ihr. Als er dann seinen Blick in ihr Gesicht richtete spürte er seit langen wieder das Kribbeln in seinem Bauch, dass er auch bei ihrer ersten Begegnung gespürt hatte. Unerwartet verbreitete sich dieses Gefühl in seinem ganzen Körper und er musste unwillkürlich lächeln. Lucy, dieses zarte, schmächtige Wesen, mit dem hellen, unberechenbarem Haar, dass sie immer offen trug, hatte noch immer das Glitzern in den Augen, das Ivan von Anfang an geliebt hatte. Doch in den letzten Monaten war es immer und immer kleiner geworden. Ihre Blicke trafen sich und Lucy spürte dasselbe Kribbeln, dass auch Ivan spürte. Und als sie sein zartes Lächeln sah, konnte sie nicht anderes, als auch zu grinsen.

»Ich wollte dir nur was Wichtiges sagen, bevor du fährst.«

»Dann sag es.«

Seine sonst so ruhige Art hatte sich in Luft aufgelöst und bescherte Lucy ein unbehagliches Gefühl. Denn selbst wenn sie gestritten hatten, war Ivan immer ruhig und liebevoll geblieben, doch nun schien er verändert. Ein wenig verwirrt wandte Lucy den Blick ab und platzte einfach damit raus:

»Ich muss für eine Weile weg.«

Stille.

»Weg?«, fragte Ivan nach einem unglaublich langen Augenblick.

»Ja«, begann sie und strich sich eine lästige Strähne aus dem Gesicht.

»Wohin?«

»Ich weiß nicht. All das erfüllt mich nicht mehr«, beichtete Lucy und machte eine umfassende Handbewegung die alles mit einschloss.

»Erfülle ich dich nicht mehr?«, lag es Ivan auf der Zunge, doch er wollte sie zuerst einmal ausreden lassen. Und wie gewohnt plapperte Lucy auch weiter unbeschwert drauflos:

»Ich kann nicht für immer hier bleiben und dieses Leben weiter leben. Du weißt, dass ich das nicht kann.«

Das stimmte allerdings. Lucy war ein Paradiesvogel, immer auf der Suche nach Neuigkeiten und Abenteuern. Und das Leben hier war nichts für sie. Aber Lucy war von vornerein unergründlich für Ivan gewesen. Manchmal wollte sie bodenständig sein, manchmal einfach weglaufen und manchmal einfach gar nichts.

»Das meinte ich auch eben«, begann sie wieder und drückte seine Hand, damit er sie wieder anschaute. »Ich möchte nicht erwachsen werden und spießig in einem Haus wohnen, jeden Morgen zum selben Arbeitsplatz fahren und jeden Tag dieselben langweiligen Dinge tun.«

Das konnte Ivan nachvollziehen. Alles gute Argumente. Schweigend hörte er ihr zu und dachte an sein langweiliges, erwachsenes Leben.

»Ivan, wenn ich gehe, willst du mich begleiten?«, fragte Lucy und lehnte sich ihm ein wenig entgegen.

Ivans Augen weiteten sich ein wenig und das schöne Blau seiner Augen nahm eine seltene Tiefe an. Sprachlos starrte er sie an und dachte an gar nichts. Er war so ein Trottel! Noch vor wenigen Augenblicken war ihm das Herz in die Hose gerutscht, weil er gedacht hat, dass sie ihn verlassen möchte. Er schluckte schwer, als sie mit ihrer freien Hand sein Kinn sanft nach oben führte.

»Mund zu, die Milchzähne werden sauer!«, flüsterte sie und wartete gebannt auf seine Antwort. Sie hasste sich dafür, dass sie ihn so selbstsüchtig dazu bewegen wollte, mit ihr fort zu gehen und seinen Traum hinter sich zu lassen. Er liebte sein Leben, seinen Beruf, seine kleine Wohnung über dem alten Hauswirtschaftsraum des alten Grafensitzes, der vor einigen Jahren zu einem Mehrfamilienhaus mit geräumigen Zimmern und gemütlichem Ambiente im Landhausstil umgebaut worden war.

»Gott, Ivan, jetzt sag doch endlich was!«, bat Lucy und lehnte sich noch weiter zu dem Mann, den sie so sehr liebte, dass es weh tat, ihn in einem solchen Zustand zu sehen.

»Und ich dachte, du wolltest mit mir Schluss machen«, entfuhr es Ivan, während er erleichtert ausatmete. »Ich? Mit dir?«, verwundert schüttelte Lucy den Kopf und ihr welliges Haar flatterte aufgeregt um ihr hübsches Gesicht.

»Wieso sollte ich?«

»Du hast es doch eben selbst gesagt«, begann Ivan.

»Du hasst dieses spießige Leben und-«

»Das ging doch nicht gegen dich. Das weißt du doch!«, lächelte sie.

Erleichtert nahm er nun auch ihre andere Hand.

»Naja zumindest solltest du das wissen«, fügte sie nun mit einem Hauch von Verärgerung hinzu.

»Lucy, ich verkörpere doch alles, was du hasst«, kicherte er. »Kannst du mich und meine Ängste denn nicht verstehen?«

»Doch klar!«, trällerte sie nun wieder erleichtert.

»Du weißt doch, was all unsere Freunde gesagt haben, als wir zusammen gekommen sind?! Sie meinten, dass wir nicht mal zwei Wochen zusammenbleiben würden, weil wir einfach zu verschieden wären.«

»Und da hatten sie vollkommen Recht!«, lachte Ivan und küsste ihr auf die zart rosa geschminkten Lippen.

 

»So kitschig«, dachte ich und verdrehte die Augen. Für gewöhnlich schaute ich weg, wenn die beiden sich küssten, aber heute nicht. Lucy war endlich mit ihrem tiefsten Herzenswunsch herausgeplatzt und hatte Ivan damit um ein Haar einen Herzinfarkt beschert. Doch nun hatten sie sich ausgesprochen und saßen ineinander verschlungen da. Erleichtert atmete ich aus. Endlich waren sie wieder ehrlich zueinander. Das hatte auch lange genug gedauert. Denn ich begleite die beiden schon eine ganze Weile. Und wenn ich ehrlich bin, so ein verrücktes Paar hatte ich noch nie erlebt. Und ich mache meinen Beruf schon ziemlich lange. Meinen Beruf, der eigentlich gar keinen richtigen Namen hatte. Aber meine Frau nannte mich immer neckend Amor. Schrecklich! Dabei bin ich gar kein Amor für die Menschen. Eigentlich bin ich so eine Art von Schutzengel. Ich begleite einen Menschen von Geburt an und lasse ihn los, wenn er glücklich und erfüllt lebt. Aber nie kann ich jemanden ganz los lassen und vergessen. So war es auch mit Ivan. An seinem dreißigstens Geburtstag hatte er die quirlige Lucy kennen gelernt und sich auf den ersten Blick in sie verliebt. Jetzt bestand meine Aufgabe darin, die beiden zusammen zu bringen. Also lenkte ich ihre Wege immer wieder in dieselbe Richtung, bis sie sich einen gemeinsamen Weg ebneten. Bis dahin war mein Job eigentlich noch ganz einfach, denn ich wusste ja, was Ivan wollte und brauchte und um ein Haar hätte ich ihn ziehen lassen müssen und mir einen neuen Schützling suchen müssen. Doch dann kam die große Wirtschaftskrise. Kaum ein Mensch glaubte noch wirklich an uns. Obwohl ich das ganz und gar nachvollziehen kann, da Menschen uns nicht sehen können, war ich dennoch ein wenig beleidigt. Mal ehrlich, ich verbringe mehr Zeit auf der Arbeit, als bei meiner Familie oben im Himmel. Aber dafür leiste ich gute Arbeit und bringe ordentlich viel Gehalt mit nach Hause. Doch seit meine Firma ein Drittel seiner Arbeitskräfte entlassen hat, musste ich noch zwei weitere Menschen außer Ivan übernehmen. Und das überfordert mich total. Aber weil ich ja nicht komplett bescheuert bin und Ivan wie meinen eigenen Sohn liebte, schnappte ich mir Lucy als weiteren Schützling, um noch mehr Zeit mit den Beiden verbringen zu können. Ohne, dass die Zwei wussten, dass ich überhaupt dabei war. Traurig schaute ich mich um. Die Beiden hatten einen schöneren Platz für ihre Versöhnung verdient, als diesen hier. Sie hätten an einem kleinen Tisch irgendwo während eines Sonnenuntergangs am Strand sitzen sollen, aneinander gekuschelt, mit Blick auf den endlosen Ozean, der eine so unendliche Weite hat, wie ihre Liebe. »Blablabla«, viel zu kitschig dachte ich, aber das hätten die beiden verdient. Ich musste ihnen helfen, aber wie? Angeregt von meinen vielen Einfällen wanderte ich gedankenverloren umher, ohne die Zwei je aus den Augen zu lassen. Der kleine Hinterhof, indem sie auf der Fensterbank eines eingeschlagenen Fensters saßen, erinnerte mich an die traurige Szene aus einer Kriegstragödie. Komisch nicht, aber Berlin hatte sich verändert. Was könnte ich tun, damit die beiden dem Alltag für eine kurze Zeit entfliehen konnten, um wieder zu sich zu finden? Lucy wollte Abwechslung, Ivan nur sie und mir war sowieso alles Recht, was den beiden Spaß machte. Ich schnippte mit den Fingern und strahlte, als ich den rettenden Gedanken hatte. Eine Reise. Aber nicht irgendeine. Ich musste ihre Interessen geschickt verknüpfen und darin war ich wie üblich ziemlich gut. Okay, man muss auch dazu sagen, dass dieses Aufgabenfeld mein drittes Studienfach war. Lucy liebte es Auto zu fahren, sie liebte den Wind, der ihr entgegen blies, wenn Ivan das Verdeck seines Wagens hinuntergefahren hatte. Sie genoss jeden Augenblick der Freiheit, die sich auf Autobahnen und dem schnellen Wechsel der Landschaften verspürte. Ivan hingegen liebte die Wildnis, die Straßen abseits der Metropolen, die unbekannten Dörfer, durch die man über die Landstraßen fuhr und die Leute, die einem verwundert nachschauten, als hätten sie gerade ein Alien gesehen. Ob es nur daran lag, dass sie das Auto oder Nummernschild nicht kannten oder gar daran, dass sich überhaupt ein Fremder in ihre abgelegenen kleinen Nester verirrte. Ich warf meinem Pärchen einen kurzen Seitenblick zu. Lucy hatte ihren Kopf auf Ivans Brust gelegt und glücklich die Augen geschlossen, während Ivan seinen Arm schützend um ihre Schultern geschlungen hatte und sie an sich drückte. Auf seinem Gesicht war der üblich verwirrte Ausdruck zu sehen, wenn er erkannte, dass er bereits alles hatte, was er sich je gewünscht hatte und nun ziemlich planlos seinem Herzen und seinem Bauchgefühl folgte. Langsam nährte ich mich ihnen:

»Na, Ivan, du machst schon wieder dieses schreckliche Gesicht. Ich hab dir doch schon so oft gesagt, dass du das lassen sollst!« Keine Antwort, nicht mal eine Reaktion.

»Na gut, haben wir schon wieder unseren sentimentalen Augenblick?«, neckte ich ihn und wollte ihn anstupsen, doch meine Hand glitt durch seinen Arm hindurch.

Traurig darüber, dass ich niemals ein richtiger Teil seines Lebens sein könnte, ließ ich die Schultern hängen und wisperte: »Egal, Ivan, ich bin immer bei dir und pass auf dich auf.«

 

Einige Tage später flitzte Lucy über den Kiesweg und lies sich aufgeregt auf dem Beifahrersitz nieder.

»Auf gehts!«

»Sicher?«¸fragte Ivan und grinste offen.

»Hast du alles?« Lucy nickte unsicher.

Sie war schon zweimal wieder in die Wohnung gelaufen, um noch ein paar vergessene, unverzichtbare Gegenstände zu holen.

»Musst du noch mal auf Toilette?«, fragte er und musste über seine Freundin lachen, die plötzlich besorgt aufsprang.

»Ich bin sofort wieder da!«, trällerte sie, während sie zurück zum Haus ging.

Ivan steckte sich eine Zigarette an und zog inbrünstig daran.

 

»Verdammt, Junge, lass das sein!«, zischte ich und versuchte vergeblich die Zigarette auszupusten. Hast du das schon mal probiert? Es ist zum verzweifeln! Selbst wenn ich kein Schutzengel wäre, könnte ich das vermutlich auch nicht.

»Aah«, meinte Ivan und atmete entspannt aus.

Überstürzt war er auf die Idee gekommen, Lucy zu seinem Lieblingsort zu bringen. Zu Lucys Überraschung lag der nicht in Ivans Heimatort, sondern in Italien. Rapallo. Lucy ließ dich den Namen auf der Zunge zergehen. Rapallo. Sie stellte sich einen romantischen Ort in den sanften Hügeln der Toskana vor, in dem die Menschen die Trauben mit den Füßen entsafteten und abends gemeinsam Spaghetti aßen. Doch Ivan musste ihre Hoffnungen wie üblich mit einem Lächeln im Gesicht zerstören.

»Rapallo liegt am Meer, Schatz«, sagte er und strich ihr liebevoll übers Gesicht, als sie wieder im Auto neben ihm saß.

»Am Meer?!«, Lucys Lippen umspielte ein kindisches Lächeln.

»Noch besser. Dann können wir ja sicher mal den Sonnenaufgang sehen?!«

»Den Sonnenaufgang?«, wollte Ivan wissen und erinnerte sich an seinen ersten Sonnenaufgang, den er mit seinem Vater beim Angeln auf dem schönsten See gesehen hatte.

»Warum nicht den Sonnenuntergang?«

»Hab ich schon gesehen«, antwortete sie und machte sich einen Pferdeschwanz.

»Ja, aber da ist doch gar kein Unterschied«, seufzte Ivan und schaltete den Motor an.

»Klar! Es ist doch wohl ein Unterschied, ob ein neuer Tag anbricht oder endet! Außerdem sind die Farben ganz anders, denke ich zumindest.«

»Abends orange und morgens rosa?«, kicherte Ivan und schaute in den Rückspiegel. Dort entdeckte er seine Eltern und seine große Schwester, die hochschwanger war und seit fast acht Wochen ununterbrochen am Essen war. Lucy bemerkte, dass Ivan seine geliebte Familie beobachtete und nahm seine Hand.

»Ivan, wir sind ja bald wieder da.«

»Ich weiß«, seufzte er.

»Aber sie stehen da wie früher, wenn ich abgehauen bin. Sie hatten immer besorgte Gesichter und waren sich nicht sicher, ob sie mich je wieder sehen würden. Aber jetzt, sieh sie dir an. Sie sind glücklich.«

»Weil du es auch bist«, flüsterte Lucy und lehnte sich an ihn.

Seine Augen trafen die seiner Mutter, die freudig und mit Tränen in den Augen winkte. Sein Vater stand in der Mitte zwischen seiner Mutter und seiner Schwester und hatte seine Arme um die Schultern der beiden gelegt und winkte dennoch irgendwie. Er sah stolz aus und war sich sicher, dass sein Sohn wieder gesund zurückkommen würde.

»Hoffentlich sind wir wieder hier, wenn Paula das Baby bekommt«, meinte Lucy und dachte an Ivans Schwester, die verzweifelt auf der Suche nach einem Jungen- und einem Mädchennamen war. Sie bekam zwar nur ein Baby, aber sie hatte sich entschieden dagegen gelehnt, das Geschlecht des Babys zu Erfahren. Sie wollte überrascht werden, hoffte aber im Stillen, dass es ein Junge wurde. Ein kleiner David, nach seinem Vater. Ihr Mann war immer auf Reisen. Als Ingenieur sogar oft im Ausland und wenn er heim kam, war er meist der Ehemann, den Ivan sich für seine Schwester wünschte. Denn obwohl Paula so sprunghaft war, wurde ihre Exzentrik geduldet und keineswegs unterdrückt. Sie war Künstlerin und verdiente damit unglaublich gut. Ivan und Lucy drehten sich noch einmal um und winkten zum Abschied.

Dann trat Ivan aufs Gas und raste beinahe aus seinem Heimatort, um es sich nicht in letzter Minute anders zu überlegen und doch hier bleiben. Lucy wusste, warum er so schnell fuhr und verstand ihn. Erfreut durch den Fahrtwind hielt sie die Hand aus dem Fenster und lehnte sich ein wenig zum Fenster. Verträumt beobachtete sie die Landschaft, stützte ihr Kinn auf die herunter gekurbelte Scheibe und spürte die kleinen Strähnen, die ihrem Zopf entkommen waren und nun wie verrückt über ihr Gesicht strichen und sie überall kitzelten. Stress, nur noch Stress. Die ganze Welt hat Stress! Und seit den großen Entlassungen habe auch ich nur noch Stress. Und Lucy und Ivan machen es mir damit nicht gerade leichter, wenn sie einfach so mir nichts dir nichts beschließen Urlaub zu machen. Seufzend kramte ich mein Handy aus meiner Tasche und meldete die neusten Vorkommnisse in der Zentrale. Außer der Tatsache, dass ich jetzt leider Urlaub machen musste und Deutschland verließ, musste ich noch einen Ersatz für meinen dritten Schützling finden. Doch zu meinem Glück fand sich ein ambitionierter Neueinsteiger, der sich für einen kleinen Extraverdienst Überstunden erlaubte. Nachdem ich aufgelegt hatte, grinste ich breit und hätte beinahe einen Luftsprung gemacht. Endlich wieder Italien. Gutes Wetter, andere Atmosphäre und andere Mentalitäten. Endlich wieder frei sein. Lucy und Ivan schienen Fortschritte zu sein und ich konnte davon auch ein wenig profitieren. Ich streckte mich in dem Moment auf der Rückbank aus, als Ivan aus der Ausfahrt seines Elternhauses fuhr und mit einem gelassenen Ausdruck aus dem Fenster schaute. Ivan beschleunigte das Tempo und ich klammerte mich ein wenig nervös an seinem Sitz fest.

»Verdammt Ivan, kannst wohl wieder mal nicht schnell genug hier wegkommen, was?« Doch als Ivan auf der Landstraße das Tempo immer noch nicht drosselte und über die Schlaglöcher hinweg raste, griff ich automatisch zu meinem Anschnallgurt und zurrte ihn über meine dicke Wampe. Klick. Puh, er passt noch! Grinsend tätschelte ich meinen Bauch. Wenn meine Schützlinge glücklich waren, war ich es auch. Wenn meine Frau morgens backt und viele Menschen beim Morgenrot an backende Engel denken, muss ich die ganzen Plätzchen essen. Aber das macht nichts, solange an uns gedacht wird.

»Sieh dir das an, Lucy«, flüsterte Ivan und deutete auf die Wiesen vor ihnen.

»Viele Schafe, nicht?!«, bemerkte Lucy, sie gerade wieder die Augen aufgeschlagen hatte und bewunderte die vielen Tiere, die munter verstreut in den saftig grünen Wiesen standen und sich satt fraßen.

»Sie sehen aus wie Wolken, findest du nicht?«

Lucy lachte und stellte aber sofort fest, dass er Recht hatte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht langsam mal eine Pause einlegen sollten«, deutete Ivan an und rieb sich mit der rechten Hand die Augen.

»Ich fahr jetzt schon seit heute Morgen.«

»Ja klar«, stimmte ihm Lucy zu.

»Weißt du, was mir aufgefallen ist?«

»Mmh?«

»Schau mal, da«, dieses Mal deutete sie auf den Horizont.

»Hinter den Schafen!«

»Es wird dunkel.«

»Ja, aber siehst du die Hügel?«

»Wir sind in Bayern, Schatz.«

»Schon?« Ivan grinste und verzog das Gesicht.

»Ich hab ja nicht zwischendurch geschlafen.«

»Tut mir leid«, pflichtete Lucy bei und streckte sich ausgiebig.

»Autofahren macht mich immer müde.«

Ivan konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Ich weiß, deshalb hab ich dich ja auch nicht selbst fahren gelassen.«

»Haha!«, meinte Lucy und versuchte nicht beleidigt zu erscheinen, obwohl sie es eigentlich war.

»Morgen darfst du fahren, mein kleiner Schmollbraten!«

Ivan warf seiner Freundin einen flüchtigen Blick zu. Der Begriff Schmollbraten brachte sie immer zum Lachen und war ein Teil ihrer Lieblingsfernsehwerbung.

»Ich lach jetzt nicht«, stellte Lucy mit einem breiten Grinsen im Gesicht fest.

»Natürlich nicht!«, meinte Ivan und strich ihr mit der freien rechten Hand sanft über die Wange.

»Wollen wir uns ein Zimmer nehmen?«, fragte Lucy nach einer Weile und schaute sich nach der nächsten Raststätte um.

»Ich dachte, du möchtest ein Abenteuer erleben?!«

»Ja, und?«

»Und das besteht für dich aus Autobahn fahren, dabei schlafen und sich nachher ein Zimmer zu nehmen, um noch mehr zu schlafen?«

Lucy wollte gerade widersprechen, doch da fuhr Ivan schon weiter fort: »Nein, Fräulein, wir zelten heute Nacht, machen uns ein Lagerfeuer und essen Marshmallows, schauen in den Sternenhimmel und träumen von unserem Ziel.«

»Von Italien?«

»Nein«, meinte Ivan und verdrehte theatralisch die Augen.

»Von der Freiheit.«

»Ach, Ivan«, lachte ich und schüttelte den Kopf.

 

Wir waren nach stundenlanger Autofahrt bis nach Bamberg vorgedrungen und gönnten uns gerade eine kleine Mahlzeit. Lucy und Ivan saßen ein Stück vom Auto entfernt auf einer Picknickdecke und mampften ihr letztes Lunchpakt, das Ivans Mutter ihnen für die Fahrt zubereitet hatte und nicht nur mich, sondern auch Ivan an seine Kinder- und Jugendtage erinnerte. Ich machte es mir auf dem Autodach bequem und beobachtete verärgert den wolkenverhangenen Himmel. Warum musste es gerade heute wolkig sein? Ivan hatte sich gewünscht, vor Lucy mit seinen Astrologiekenntnissen zu prahlen. Naja, schade drum. Ich bin nicht Gott, ich kann das Wetter nicht verändern. Damit musste Ivan sich abfinden. Aber er schien dennoch glücklich. Gerade futterte er seine Lieblingsnascherei, Trauben, und schmatze dabei so laut, dass selbst ich es hören konnte. Hoffentlich ging es bald weiter, denn es sah nach Regen aus. Doch zu meiner Enttäuschung hörte ich Lucy in diesem Moment fragen, ob sie schon mal das Zelt holen sollte.

»Wenn du es aufbaust«, meinte Ivan und gähnte herzhaft.

Lucy überlegte einen Moment, stemmte danach die Hände in die Hüften und jammerte dann: »Aber es ist schon dunkel!«

»Ach Lucy«, mein Lachen schallte über die Landschaft und überdeckte für einen Moment das Summen der Autobahn, über die ganz in der Nähe noch immer viele Autos davon preschten. »Gib doch einfach zu, dass du keine Zelte aufbauen kannst«, riet ich ihr, aber natürlich konnte sie meinen gut gemeinten Rat gar nicht hören. Ein Seufzer entfuhr Ivans Mund und ich seufzte ebenfalls. Typisch Lucy.

»Dann müssen wir eben hier draußen schlafen«, grinste Ivan schelmisch und packte die restlichen Trauben und die beiden übrig gebliebenen Äpfel wieder ein.

»Aber der Verkehr!«, meinte sie und deutete auf die Autobahn.

»Da bekomm ich nie ein Auge zu!«

»Glaubst du, das Zelt hält den Lärm ab?«, fragte Ivan und zog sich seine braune Lederjacke an. Langsam wurde es frisch. Trotzdem liebte Ivan Hochsommernächte und genoss jede Sekunde und jedes einzelne Glühwürmchen, das er entdeckte und jede einzelne Sternschnuppe, von denen er in seinem gesamten Leben erst zwei gesehen hatte. Lucy atmete laut aus.

»Ich hab keine Lust hier draußen zu schlafen.«

»Und du willst Abenteuerin werden?«

»Wer sagt das?«¸fragte sie und ließ sich wieder neben ihm nieder.

»Ich hab doch bloß gesagt, dass ich mal von Zuhause weg muss.«

»Ich weiß«, sagte Ivan und ließ sie sich an ihn schmiegen.

»Aber ich kenn dich doch.«

»Leider«, zischte sie und legte den Kopf auf seine Schulter.

»Ich glaub manchmal kennst du mich besser, als ich mich selbst.«

»Nur manchmal?«¸ scherzte Ivan und drückte sie an sich.

»Mmh«, murmelte Lucy und wurde ein wenig rot.

 

Sie offenbarte ihm ihre Liebe und er scherzte nur.

»Mensch, Ivan, jetzt sag endlich das richtige!«, flüsterte ich, obwohl Ivan mich von hier aus gar nicht hören konnte. Wenn er mich überhaupt hören könnte.

 

»Geht mir bei dir auch oft so«, wisperte Ivan Lucy nach einer Weile ins Ohr.

»Dafür wollte ich dir danken.«

»Kein Problem«, meinte sie und genoss seinen heißen Atem an ihrer Schläfe.

Sie wollte, dass dieser Moment niemals endete. Doch schon wenige Augenblicke war er vorüber.

»Wir schlafen doch jetzt nicht im Auto?«, fragte Ivan und nickte zu seinem blauen Cabrio hinüber.

»Wir können natürlich auch hier liegen bleiben, aber wenn uns morgen früh jemand den Wagen geklaut hat, lach ich!«¸kicherte sie und schaute ihm in die Augen.

Da war wieder dieses Kribbeln in ihr. Seine Augen. In diesem Moment erinnerte Lucy sich an ihre Großmutter, die immer vom Tor zur Seele in den Augen eines Menschen gesprochen hatte. Lucys Großmutter galt allgemein als nicht ganz dicht, obwohl die kleine Lucy das damals ganz anders sah. Für sie war ihre Oma immer die einzig wahre Bezugsperson gewesen, die sie immer verstand, jeden Spaß mitmachte und irgendwie bis zu ihrem Tod mehr Kind geblieben war als Lucy und ihre Eltern zusammen.

»Das Risiko bin ich bereit einzugehen«, meinte Ivan und schnappte sich die zweite Decke und schlang sie um ihre Körper.

 

Jetzt war der passende Moment für mich, meine beiden Schützlinge für einen Moment zu verlassen. Ein bisschen Privatsphäre muss ich ihnen ja wohl gönnen. Gemächlich wanderte ich den Feldweg entlang, bis ich nach einigen hundert Metern die Autobahn erreichte. Ich quetschte mich zwischen den Sträuchern und Bäumen neben der Fahrbahn hindurch und ließ mich anschließend auf einer Leitplanke nieder. Die Lichter der vorbeihuschenden Autos erinnerten mich an Sternschnuppen und so schloss ich die Augen in Erinnerung an diese. Die Frische der Nacht ließ mich tief durchatmen und erinnerte mich an Ivans ersten Abend mit Lucy. Damals war ich bloß Ivans Schutzengel und hatte Lucy daher noch nicht gekannt und um ehrlich sein, zweifelte ich damals sehr an ihr. Außerdem glaubte ich auch nicht, dass die beiden zusammenpassen würden, aber vielleicht war genau das der Punkt. Ivan musste seine Partner und Freunde selbst finden. In solchen Sachen konnte ich ihm sowieso nicht helfen. Bei ihrem ersten Rendezvous waren die beiden üblicherweise zu Ivans Lieblingsitaliener gegangen und hatten zusammen den berühmten Spaghettiteller gegessen. Ivan trug wie immer seine graublaue Jeans, ein rotes Shirt und seine braune Lederjacke darüber. Die Haare wie üblich leicht zerzaust, aber wenigstens hatte er sich für diesen besonderen Abend mal rasiert. Zum Glück, denn wie ich später erfahren hatte, stand Lucy ganz und gar nicht auf haarige Kerle. Lucy, dieses verrückte Huhn, trug ein wunderschönes Blumenkleid, das ihre schmale Figur und ihre Feenhaftigkeit nur betonte. Die Haare waren zur Abwechslung mal hochgesteckt und sogar geglättet. Und als Ivan sie zum zweiten Date abholen sollte, hatte er sie mit ihrer wilden Mähne gar nicht mehr erkannt, bis sie dann von selbst in sein Cabrio gestiegen war, mürrisch geguckt hatte und enttäuscht war, dass er sie nicht erkannt hatte.

»Das liegt daran, dass du dieses Mal nicht geschminkt bist«, meinte Ivan und grinste.

»Jetzt wirkst du ganz anders.«

»Warum?«, zischte sie wütend und kniff die Augen zusammen.

»Sieht man jetzt etwas meine Falten?«

»Nur ein paar«, sagte Ivan und warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Doch als Lucy verletzt wirkte, nahm er ihre Hand, küsste sie sanft und flüsterte ihr ins Ohr, dass sie so noch schöner wäre. Ivans Atem war damals so süß gewesen, dass Lucy fast schwindelig geworden wäre und dachte noch lange an den Mann mit dem heißen Atem, der sie so leicht um den Finger wickeln konnte. Doch was Lucy damals noch mehr an Ivan interessierte und faszinierte waren seine seltsamen großen Augen. Denn bei jedem seiner Blicke fühlte sie sich komplett durchschaut und nackt. Meist schämte sie sich, weil sie das Gefühl hatte, er kenne all ihre tiefsten Geheimnisse. Doch das Funkeln in seinen Augen hatte eine ganz andere Bedeutung. Und bald schon war Lucy süchtig nach seinem sinnlichen Blick und wollte jeden Moment ihres Lebens in dieses Blau schauen. Am nächsten Morgen wachte ich mit einem Schlag auf, weil ich ein Auto durch mein Bein fahren spürte. »Aua!«, motze ich und rieb mein schmerzendes Bein. Aber der graue Mercedes preschte einfach weiter und ließ mich stöhnend zurück. Ich biss mir vor Schmerz auf die Lippe, um nicht laut los zu schreien. Wieso hatte ich mich auch so nah an die Straße gelegt? Ich wusste ja, dass ich schlafwandelte. Ich Idiot! Vorsichtig zog ich mich von der Straße und ließ mich stöhnend im Dickicht nieder.

»Was für ein guter Start in den Tag«, meinte ich und schloss die Augen, während mein Bein schon heilte. Das war das einzig Gute daran, unsichtbar zu sein, die Wunden heilten schneller und man konnte nicht gespürt oder gesehen werden. Wenn ich also einen totalen Wutanfall hatte, könnte ich meinem Chef einfach alles an den Kopf werfen, was mir gerade so durch den Sinn kam und ihm ordentlich eine pfeffern. Naja, wenn ich nicht das Pech hätte, dass mein Chef der mächtigste Mann des Universums wäre. Das macht sich nicht so gut in seinem Lebenslauf, wenn man dem Erschaffer der Welt eine runterhaut. Zähneknirschend richtete ich mich auf, rieb mir verschlafen die Augen und musterte mein blutverschmiertes Bein, das aber schon wieder ganz normal aussah. So ein Glück. Wenn ich jetzt ein Mensch wäre, wäre ich vermutlich verblutet, während ich auf den Krankenwagen gewartet hätte. Ich zog mich an den Ästen um mich hoch und humpelte in Richtung des Autos, was natürlich nicht gestohlen worden war. Doch die beiden lagen nicht mehr neben dem Auto, sondern ineinander verschlungen auf der Rückbank und hatten entspannte und ruhige Gesichter.

»Kikiriki! Aufwachen!«, brüllte ich. »Wir müssen los!«

Wie immer, keine Reaktion. Ich öffnete die unabgeschlossene Tür und schüttelte enttäuscht den Kopf. »Warum schließt ihr zwei denn nicht ab?«

Grinsend stellte ich mir vor, wie ich jetzt einfach wegfahren würde und die beiden irgendwann aufwachen würden und nicht wüssten, wo sie wären und jemand, den sie nicht sehen konnten, den Wagen fuhr. »Hahaha«, kicherte ich und stellte mir ihre dumm dreinblickenden Gesichter vor. Behutsam klappte ich den Sitz nach vorne und kniete mich vor ihre Gesichter. Ivans Kopf ruhte auf Lucys zartem Hinterkopf und schien sie fast zu erdrücken. Aber ihr war nichts dergleichen anzumerken. Grinsend pustete ich ihnen ins Gesicht und huschte schnell aus dem Auto, ließ den Sitz zurückspringen und knallte die Tür zu. Mit einem Schlag öffnete Lucy die Augen. Sie hatte einen leichten Schlaf, während Ivan einfach weiterschnarchte.

»Ivan«, flüsterte Lucy.

»Hast du das gehört?«

Schnarchen.

»Ivan!«, sagte sie jetzt laut und schubste ihn von sich.

»Bist du wach?«

Noch lauteres Schnarchen.

»Ivan«, schrie sie fast und setzte sich auf.

»Was denn?«, murmelte er schlaftrunken.

»Da war was!«

»Ach Quatsch«, murmelte er und hatte die Augen noch immer fest geschlossen und atmete noch immer ruhig und gleichmäßig.

»Hörst du mir überhaupt zu?«

»Ja«, sagte er so undeutlich, dass Lucy befürchtete, er wäre schon wieder eingeschlafen, also entschied sie sich, ihn sofort wieder zu wecken. Denn wenn er einmal richtig eingeschlafen war, konnte ihn nichts auf der Welt wecken, bis auf ein Wecker, der auf voller Lautstärke, der direkt neben seinem Ohr losging. Nachdem Ivan mürrisch aufgestanden war, die beiden zusammen gefrühstückt hatten und ihre verstreuten Sachen zusammengesucht hatten, machten sie sich wieder auf den Weg. Der Himmel war strahlend blau und schien an einigen Stellen betupft mit kleinen weißen Wolken, die schnell über den Horizont hinweg zogen. Während die Autos neben Lucy und Ivan unbekümmert weiterfuhren, als sie wieder auf die Autobahn auffuhren, kam Ivan sie schon wieder ein bisschen verloren vor. Die Welt nahm einfach ihren Lauf, bemerkte gar nicht, dass sich ein Pärchen für einen Moment aus dem Kreis des Lebens schlich und gleichzeitig halb Deutschland durchstreifte.

»Wie lange wollen wir heute fahren?«, fragte Lucy und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Hinter ihnen fuhr eine rote Ente, von der Lucy schon seit langer Zeit träumte.

»Lucy!«, rief Ivan. »Guck nach vorne.«

Lucys Augen zuckten zurück auf die Straße, doch dort war nichts Ungewöhnliches oder Gefährliches zu sehen.

»Warum jagst du mir denn so einen Schrecken ein?«, fuhr Lucy ihn an.

»Weil ich nicht auf einer Autobahn sterben möchte!«, entgegnete er.

»Wirst du schon nicht. Ich fahre doch.«

»Pff«, machte Ivan und verkniff sich ein Grinsen. Beleidigt starrte Lucy auf die Straße.

 

»Mensch, Ivan, du kennst sie doch«, sagte ich und erinnerte mich an Lucys Eigenarten. So war sie sehr schnell eingeschnappt, wenn jemand einen Blondinenwitz erzählte oder Frauen verachtend sprach. Aber Ivan kannte sie schon einige Wochen und wusste, wie sie auf seine dummen Scherze reagierte und wie man sich dafür entschuldigen sollte.

»Ich will nicht streiten.«

»Tun wir doch auch nicht.«

Er zuckte die Achseln.

»Sich anschweigen ist aber auch keine Lösung.«

»Da hast du Recht«, ihre Stimme war noch immer eisig und Ivan fürchtete um den Ausgang des Tripps. »Du kannst sehr gut fahren«, sagte Ivan, um ihr nach Plan B -dem Einschmeicheln- gut zu zureden.

»Lass gut sein, Ivan.«

»Nein, ehrlich. Ich kenne niemanden, der so gut fährt, wie du.«

»Wie gesagt-«

»Lucy«, seufzte Ivan.

»Nee«, meinte sie und kniff die Augen zusammen.

»Lass mich jetzt!«

»Lucy, du bist gerade nicht abgefahren!«

»Was?«

»Wir hätten die Ausfahrt nehmen müssen, wir wollen doch nach Italien.«

»Verdammt.«

»Das macht nichts, dann nehmen wir eben die nächste Ausfahrt.«

»Ach, ne«, stöhnte sie.

»Stell dir vor, darauf wäre ich auch gekommen.«

»Dann halt Plan C«, dachte Ivan und drehte sich zu seiner Freundin.

»Lucy, hat dir schon mal jemand gesagt, wie hübsch du bist?«

»Ach, Ivan, du bist genau so durchschaubar, wie-«

»Wie was?«, fragte er und grinste.

Dieses Grinsen, das Lucy immer erwidern musste. Mit einem Lachen in sich hinein beobachtete Ivan mit mir wie sich Lucys Mundwinkel langsam nach oben zogen.

»Ein Fenster.«

»Ich bin so durchschaubar, wie ein Fenster?«, fragte Ivan lachend.

»Wie ein sauber Geputztes!«

»Oho!«

Lucy atmete langsam aus, das Lachen immer noch ins Gesicht geschrieben und das Funkeln in den Augen. Das war alles, was Ivan für sein Glück brauchte. Am Nachmittag erreichten wir erschöpft Stuttgart und hielten in einem Parkhaus, weil Lucy uns drängte, einen Spaziergang durch die Innenstadt der Großstadt zwischen Wald und Reben zu unternehmen. Ich gönnte Lucy und Ivan noch ein bisschen Freiraum und ließ sie Hand in Hand durch die schmalen Gassen schlendern, während ich mich einer Konditorei hingab. Die Sonne war hinter den alten Häusern verborgen und dennoch schlenderten viele Sommergenießer und Eisschlecker durch die Kühle unter den Bäumen und spähten in die Schaufenster, in der Hoffnung das große Schnäppchen zu finden. Meine Lieblingskonditorei, das Café Königsbau, das ich schon über hundert Mal besucht hatte, war wie immer recht voll und nicht nur jedes Kind reckte die Nase, um die schönsten und leckersten Kreationen zu erspähen, sondern auch ihre Eltern oder alle anderen Erwachsenen. Mit einem Lächeln im Gesicht atmete ich die süßen Düfte ein, betrachtete die glücklich mampfenden und schmatzenden Leute, die sich rege unterhielten und eine unheimlich gemütliche Atmosphäre in die gute Stube zauberten. An der linken Ecke der Verkaufstheke entdeckte ich ein altes Ehepaar, dass sich eine Packung Schokoladenherzen gönnte und einem kleinen Mädchen half, an eine Schachtel mit Zuckerstangen zu gelangen. Vorsichtig, um niemanden zu berühren, schlich ich an den Menschen der Warteschlange vorbei und schnappte mir eine Packung Trüffel-Pralinen, setzte mich in eine Ecke hinter dem Tresen und riss die Packung auf. Benommen schloss ich die Augen und atmete diesen mir heißgeliebten Duft ein. Ohne, dass ich darüber nachdachte, war meine Hand in die Packung gerutscht und hatte sich eine Praline geschnappt. Als würde meine Hand nie etwas anderes tun, führte meine Hand die Leckerei schnell in meinen geöffneten Mund und verbreitete den unglaublichen Geschmack so schnell, dass es mir fast schon wieder leid tat überhaupt hierhergekommen zu sein. Meine Frau würde sofort merken, dass ich mich wieder gehen gelassen hatte. Dann stand sie immer mit schräg gelegtem Kopf vor mir, stemmte ihre Hände in die Hüften und zippte ihrem rechten Fuß auf und ab. Im ersten Moment konnte ich ihren Ärger nicht verstehen, weil ich diesen gesamten momentanen Stress in der Gesellschaft wegen der Gesundheit und der Fitness überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Heut zu Tage wollte man dünn, gesund und grün sein. So ein Quatsch! Vor nicht mal dreihundert Jahren war das noch ganz anders. Und da habe ich meine Frau kennengelernt. Das ich nicht lache, damals war sie genauso rund wie ich. Aber wenn ich sie so ansah, mit ihrem hübschen Gesicht, das missmutig dreinblickte, dem fast erloschenen Funken in den Augen, den auch Ivan bei seiner Lucy vermisste, musste ich meiner geliebten Frau zustimmen. Gesundheit ist wichtig und ich hatte auch stark abgenommen, seit sie mich auf eine Gemüsediät gesetzt hatte und mir jeglichen Süßkram verbot.

Jetzt stellst du dir sicher einen pummeligen, rotgesichtigen und alten Engel vor, aber um ehrlich zu sein, bin ich das gar nicht. Ich bin noch relativ jung. Naja, nach unserer Zeitrechnung. Und dick bin ich auch nicht. Ich habe nur einen ziemlich großen Bauch. Und den verdanke ich leider meiner Lieblingskonditorei, in deren Stadt ich Lucy heimlich gelenkt habe. Die Packung war schon fast leer, als ich sie wieder verschloss und für meine Kinder einsteckte. Glücklich wischte ich mir den Mund ab und erhob mich wieder. Nachdem ich einen fünfhundert Euro Schein aus meiner Tasche gezaubert hatte, klemmte ich den Schein unter die Kasse und fragte mich, wer ihn dieses Mal finden würde. Doch obwohl ich dieser Angewohnheit schon eine lange Zeit nachging, war die Nachricht noch nie an die Öffentlichkeit gelangt. Die meisten Finder behielten den Schein für sich und regelten damit ihr schmales Verkäufereinkommen, gönnten sich einen schönen Shoppingtag oder einen Urlaubstag mit der Familie.

Es gab nur einen ehrlichen Finder, der ihn immer wieder aufgab und im Fundamt abgab. Als ich diesen ehrlichen Finder, der gleichzeitig ein Verkäufer war, dieses Mal erblickte, war er gerade dabei, einem pubertierenden Jungen ein Schokoherz zu verkaufen, auf dem stand: Biss in die Herzen. Ich verdrehte grinsend die Augen. Als der ehrliche Finder das Geld entgegennahm, um es in die Kasse zu legen, erhaschte er einen weiteren Blick auf den lilafarbenden Schein.

»Was zum-?«, begann er verblüfft und lehnte sich über die Kasse.

»Was denn?«, wollte der Junge wissen.

»Nichts, nichts. Vielen Dank für Deinen Einkauf.«

»Tschö.«

»Schönen Tag noch«, murmelte er gedankenverloren und ließ die Kasse wieder zuschnappen. »Das kann doch wohl nicht wahr sein!«

»Behalt du ihn endlich!«, hauchte ich ihm ins Ohr, doch er schüttelte nur in Gedanken den Kopf.

»Dieses Mal bring ich dich wo anders hin«, sagte der Mann zu dem Schein und zog ihn heimlich unter seine Schürze. Unter dieser ließ er ihn in seiner Hosentasche verschwinden.

»Ausgezeichnet, ehrlicher Finder«, ich war stolz auf ihn. Ich war ihm so nahe, dass ich zum ersten Mal einen Blick auf sein Namensschild werfen konnte. G. Benjamin

»G. Benjamin?«, fragte ich und runzelte die Stirn. »Du bist und bleibst mir ein Rätsel.«

»Dieses Mal gebe ich dich an irgendeine Organisation, die wirklich etwas verändert.«

»Nein!«, meinte ich.

»Behalt du ihn. Nächstes Mal darfst du ihn gerne wieder weggeben!«

Doch er konnte mich nicht hören. »Hoffentlich kommt der Mysteriöse noch oft, dann freuen sich alle!«

»Das versprech ich dir, alter Freund.«

Auf halben Weg zurück zum Auto begegnete ich einer Gruppe ausländischer Touristen, die von einer jungen braunhaarigen Frau mit roter Capy und dazu passendem T-Shirt geleitet wurde, die munter auf Englisch Daten und Namen von irgendwelchen nennenswerten Persönlichkeiten herunter ratterte. Am hinteren Ende entdeckte ich plötzlich meine beiden Schützlinge, die sich schelmisch selbst zu der Gruppe hinzugefügt hatten und immer wieder verstohlen zu der Leiterin schauten, um zu gucken, ob aufgefallen war, dass sie nicht zu der Gruppe gehörten. Doch dem schien nicht so. Zwei Stunden später war die Führung beendet, Lucy und Ivan hatten etwas gegessen und sich entschieden, die Nacht durch zu fahren. Entschlossen stellte Ivan den Sitz um, stellte den Rückspiegel und die Seitenspiegel nach seinen Bedürfnissen ein und warf einen Blick in sein Portemonnaie, das erheblich leerer geworden war. Wenigstens sparten sie an den Flugkosten, kam es Ivan in den Sinn.

»Es ist eigentlich schade, dass wir im Dunkeln durch Baden-Württemberg fahren«, meinte Lucy und schnallte sich an.

»Dann sehen wir ja gar nicht die Berge.«

»Wir fahren auch noch durch die Alpen«, sagte Ivan und dachte an die schwindelerregenden Höhen.

»Ja, ich weiß«, zischte sie und kniff die Augen zusammen. Inzwischen dämmerte es und die meisten Autos hatten ihre Scheinwerfer eingeschaltet.

»Aber?«

»Ich mag die Alpen nicht so, das weißt du doch.«

»Ja, aber warum nicht?«

»Keine Ahnung, vielleicht wegen der Höhe oder der Weite. Ich komme mir in den Bergen immer so klein vor.«

Ivan lachte, während er auf die Autobahn auffuhr.

»Dass du dir klein vorkommst, kann ich verstehen.«

»Tut mir leid, dass ich keine zwei Meter groß bin!«, meinte Lucy und atmete laut aus.

»Wo fahren wir eigentlich genau lang?«

»Wir fahren noch bis Konstanz«, sagte Ivan und schätzte die Strecke grob ab.

»Ab dann gerade runter, bis zur Küste.«

Beide dachten über die bereits zurückgelegte Strecke nach und freuten sich auf das, was vor ihnen lag. Die Wärme, das Meer, den Spaß und das Abenteuer.

 

Zwei Tage später erreichten wir Italiens Küste, parkten das Auto direkt auf dem Seitenstreifen einer Küstenstraße, ließen alles stehen und liegen und rannten zum Strand hinunter.

»Spürst du das, Ivan?«, rief Lucy während des Laufens. Ivan warf ihr einen flüchtigen Blick zu, sah ihr blondes Haar um ihre Schultern wehen und das zarte Kleid, das um ihre Beine flatterte.

»Nein, was denn?«

Obwohl Ivan tausend Sachen spürte, wusste er nicht, was genau sie meinte. Seine Beine trugen ihn unbeschwert den Hang zum Strand hinunter, während er gierig die salzige Meeresluft einsog, die Hitze der Spätmittagsonne spürte und die sanfte Frische des Windes spürte, die sein Laufen verursachte.

»Ivan!«, rief Lucy und hechtete ungeschickt hinter ihm her, wobei sie ins Stolpern geriet. Ivan verlangsamter seinen Schritt und drehte sich zu ihr um. Sicher fiel sie ihm in die ausgestreckten Arme, drückte sich an seine Brust und brachte ihn zu Fall. Lachend warf sie sich auf ihn und küsste ihm zärtlich auf den Mund. »Ich bin zu erst am Wasser«, meinte sie, sprang auf und raste wieder los.

»Wovon träumst du eigentlich?«, fragte Ivan und nahm die Herausforderung an.

 

Ich betrachtete die Beiden, wie sie mich um Längen schlugen und das Wasser erreichten. Beide waren glücklich und genossen ihren Urlaub in vollen Zügen. Das war es, was die beiden lange schon gebraucht hatten. Ich stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete stolz mein Werk. Die Zwei mieteten ein kleines Hotelzimmer direkt am Meer und erschafften damit eine Tradition, die sie immer wiederholen wollten.

»Vielleicht für die Hochzeitsreise«, murmelte Ivan unsicher, als sie am Abend Arm in Arm am Strand lagen. »Hochzeitsreise?«, fragte Lucy und schaute ihn überrascht an.

»Du-du willst mich heiraten?«

Ivan betrachtete sie einen langen Augenblick, schaute in die vertrauten Augen, lächelte aus seiner Seele und nickte. Quietschend sprang Lucy auf und hüpfte auf und ab.

»Ja!«

»Du willst meine Frau werden!?«

»Ja«, wiederholte Lucy und ließ sich in seine Arme fallen.

 

Du kannst dir sicher vorstellen, wie stolz ich in diesem Augenblick war. Tränen liefen mir über beide Wangen und ich wusste, dass dies der Anfang der Ewigkeit war. Doch wenn ich heute an meine Schützlinge denke, muss ich immer wieder schlucken. Es ist mir in all der Zeit noch nie passiert, dass einer meiner Schützlinge vor seinem eigentlichen Todesdatum gestorben ist. Das hört sich zwar seltsam an, aber immer wenn ein Mensch geboren wird, wird in unserer Zentrale ein natürliches Todesdatum festgehalten.

Vor genau acht Jahren, drei Monaten und sechs Tagen ist es aber zum ersten Mal unter meiner Obhut passiert, dass jemand vor seinem festgehaltenen Todestag verstarb. So stehe ich heute in dem kleinen Hotelzimmer, das Ivan und Lucy damals gemietet hatten und finde nur noch eine meiner beiden Turteltauben vor. Niedergeschlagen sitzt Lucy auf dem Bett und hält ein Foto von sich und Ivan in den Händen. Weinen kann sie nicht mehr, lachen auch nicht. Sie fühlt sich weder lebendig, noch tot. Als sie an diesem Donnerstagmorgen die Nachricht erreicht hatte, dass Ivan bei einem Autounfall umgekommen war, war ihr der Boden unter den Füßen weggerissen worden. Stundenlang hatte sie geweint und getrauert. Doch niemals hatte sie wirklich Abschied nehmen wollen. Sie hatte wieder durch das Hotelzimmer gewütet, als sie den roten Badeanzug getragen hatte, den Ivan ihr in ihrem ersten Urlaub gekauft hatte, weil er sie so schön darin fand. Ivan, er fehlt ihr überall. Ich werfe noch einen kurzen Blick auf meinen Schützling. Enttäuscht stelle ich fest, dass ich total versagt habe. Ivan ist umgekommen, Lucy traumatisiert und mein dritter Schützling noch immer nicht wirklich erwachsen.

Ich habe in den letzten Jahren so viele Pralinen gegessen, dass ich gar nicht mehr wieder zu erkennen war und meine Frau hatte mich verlassen, als die Abmahnung wegen meines beruflichen Versagens eingetroffen war. Laut seufze ich und wünsche mir nichts mehr, als Ivan neben seiner Seelenpartnerin zu sehen, dass sie einander angrinsten und gemeinsam rumalberten. Mit polternden Schritten durchquere ich den Raum und lasse mich neben Lucy auf dem Bett nieder. In diesem Moment habe ich das tiefe Bedürfnis sie in den Arm zu nehmen und zu Ivan zu bringen, den ich weiß Gott besser hätte beschützen sollen. Doch Lucy spürt meine Anwesenheit nicht, aber das wundert mich gar nicht. Sie kann sich nicht mehr unter Menschen aufhalten, außer mit Ivans Familie, die mit der Zeit zu ihrer eigenen geworden war. Eine Familie, die ihre Trauer akzeptiert und sie jedes Jahr aufs Neue nach Italien fahren lässt, wo sie immer auf dasselbe Hotelzimmer besteht und sich anschließend für einige Tage dort verschanzt. Wie auch heute. Ihr Gesicht ist eingefallen, die Augen glanzlos, das Haar matt und die gesamte Erscheinung eine ganz andere, als sie einmal war. Anfangs war ich bei Lucys Verhalten verzweifelt und hatte dann erkannt, dass ich sie einfach machen lassen musste. Sie sollte selber erkennen, wann etwas vergeblich und unwiderruflich ist.

Impressum

Texte: Schnief
Bildmaterialien: Stephie und Vinzenz
Tag der Veröffentlichung: 16.01.2014

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