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Ehrlich und wahr

Berlin mag keine Leere, genau wie ich, genau wie Auckland. Jung und oft vom Wege abgekommen, werden die Städte müde. Genau wie ich.
Ich laufe wie über Spaltholz. Ich bin siebzehn Jahre alt und ein Brett aus Holz; ein laufender Palmenbaum. Immer bin ich näher am Tod als an der Philosophie. Irregeleitet, nur Liebe zu leben und den Tod zu finden.
Weißt du, ich würde es nicht anders haben wollen - das habe ich so gelernt, fast wie es kein anderes Evangelium für mich geben kann.

Ich bin keine Schriftstellerin, das musst du wissen. Ich bin eine Schöpferin, wie du. Ich schöpfe viel Chaos und Bockmist. Unordnung, die ich nie aufräumen kann. Doch mein Bockmist soll erlaubt werden, wie dein Bockmist erlaubt wird. Verstehst du?
Meine Schöpfungen sind meine Wirklichkeit - deine sind deine Wirklichkeit. Das ist meine Wahrheit, die keine von deinen Wirklichkeiten wird. Wirklichkeiten sind sehr verschieden. Besonderes unsere.

Zwei Monaten. Ein Journal der beziehungslose Paragraphen. Lass es aber nie los, lass es sein. Schließlich wird sich alles entwickeln, irgendwie einen Sinn machen. Das ist das Sein des Seins, na? Die Geschichten, die wir formulieren. Ich ließ meine nicht los, aber die Anker sanken mit meiner Erlaubnis.
Dort fand ich meinen Koffer. Er ist noch in Berlin. Manchmal, wenn wir unseren Koffer finden, bedeutet das nicht, dass wir den Ort verlassen müssen.
Es gibt einen Grund.
An dem Ort, wo unsere Koffer noch stehen, müssen wir sie abholen, und vielleicht da bleiben. Es gibt keine Klamotten, keine Zahnbürste. Es gibt Leute in diesen Koffern. Zukünftige Lieblingsrestaurants, Parks voller Palmen zum Beispiel.

Es gibt Rückblenden, die die wahre Zukunft unserer Wirklichkeiten werden.

Gestern wurde ich zwanzig. Die nach-zwanziger Jahren meiner Eltern waren die, der 'körperlichen Liebe'. Hier haben wir einen Erschlaffen, ganz wie einen Konjunktureinbruch.
Ungleich meiner vor-zwanziger Jahre gibt es keine weit gespreizten Schenkel auf meinem Schoss mehr. Keine Arme wickeln sich um meinen Hals. Es gibt keine Busen, in die ich meine Nase eingraben könnte. Keinen Oberkörper zum Umarmen. Nur zwei mittelgroße Boxen aus Asche.

Ich bin müde, siehst du? Ich sage, schlaf es aus, 'sprech' es aus. Diese Gespräche sind ungesund; in Erinnerung an einen Geliebten. So, da wären wir, wer auch immer du bist. Hallo.


Ich habe nichts Eloquentes zu sagen. Ich weiß sogar nicht, was eloquent sein soll. Meine Vokabeln weiten sich nicht über Leid, oder ja 'sogar', hinaus.
Ich bin eine Zeile. Eine zerrissene Zeile, gespalten, geknackt wie Pfeffer, körnig wie Salz, aufgelöst wie Zucker.
*

So romantisch es auch scheint, bin ich keine Nomadin. Meine Mutter und ich zogen immer weiter, von Ort zu Ort. Vielleicht wanderte ich herum, die Städte zogen vorüber, aber ich hatte immer ein Haus und ein Hof. Ich wollte nicht weg laufen. Ehrlich gesagt, wovon sollte ich weglaufen? Schule? Freunde? Meiner Mama? Vielleicht wurde ich von jemandem angezogen, jemandem, den ich noch nicht kannte.

Sie war nicht in Paris, in München, in Auckland, oder Halle, wo ich geboren wurde. Sie war irgendwo, und dieses irgendwo rief etwas, sang eine Melodie, ähnlich der eines Schlaflieds. Eine Erinnerung. Sie war das Buch in der Bücherei, das niemand finden konnte. Das Buch, das sich verlaufen hatte, das immer dem Leser, mir, Qual verursachen würde. Meine Mama sagte, dass ich nachts mein Bett verließ und aus der Tür lief. Der Arzt sagte, es sei Schlafwandeln, ein schlimmer Fall des Schlafwandelns. Mama nannte es Sehnsucht.

Ich glaube, meine Mama wollte weg. Ich weiß nicht wohin, aber einfach weg. Sie ging nach Deutschland sobald sie achtzehn Jahre alt wurde. Sie war eine verlirrte Seele, aber niemand konnte es sehen. Also, verstehen. Sie war eine gute Schülerin, deren Phantasie sich nicht nur auf diese Welt beschränkte. Sie hieß Mia. Mia Abano. Ich schreibe ‚war‘ und ‚hieß‘, da sie vor vier Jahren starb. Wegen einer Überdosis.
Die Biografie ihres Lebens war nicht kurz, sondern kompakt und überfüllt. Alles wurde gepresst, dass es ‚Blutungen‘ verursachte. Eine Appendizitis. Eine Hämorrhagie, ganz wie China, ganz wie eine rote Rose. Wir bemerkten die Blutung nicht. Wir merkten die Überfüllung nicht, und wunderten uns warum die Krankheiten kamen. Ganz wie China, ganz wie eine rote Rose, wird der Stamm geschnitten, ganz wie eine Beschneidung, es gibt kein Blut. Eines Tages merken wir den toten Puls, nicht ‚plötzlich’. Es war kein ‚plötzlich‘. Es war ein Urteil.

Ich wurde nicht mit Spanisch erzogen. Also, nur ein kleines bisschen. Deutsch ist meine Muttersprache. Die Sprache, die ich lernte, als ich im Uterus war. Mir gefällt die deutsche Sprache. Vielleicht ist sie keine romantische Sprache, wie Spanisch oder Französisch, aber sie ist wahr und ehrlich. Wenn ein Wort sauer gesprochen wird, wird es sauer sein. Wenn man mit Liebe gegrüßt wird, gibt es fast eine Orgie, egal ob es nur zwei Leute sind. Ich lernte andere Sprache in der Grundschule und auf dem Gymnasium. Englisch, Latein, und Französisch. Aber keine von ihnen war wie Deutsch. Ich fand Englisch unklar, Französisch blumig. Latein war zwar fein, aber Deutsch blieb wahr.
Ohne Deutsch fühle ich nichts und in Neuseeland zu wohnen ist ab und zu schwer. Zugleich bin ich noch nicht so sicher, ob ich in Deutschland wohnen will. Es ist verwirrend, oder? Manchmal will ich auf einer Insel leben. Wie ein Teil einer Insel, irgendwo zwischen Wasser und Land. Oder auf einem Boot.
Gedanken. Gefühle, wie immer man sie nennen will, sind unklar und mehrdeutig. Wenn eine Sprache genau so ist, werden sie keinen Sinn ergeben. Und ich habe Angst davor. Deutsch kann schwer sein, aber die Sätze, die Grammatik, sind wie einen Knoten mit der Zunge zu binden, und dann wieder zu entbinden. Man lernt es zu umgehen und kann dann die komischsten, manchmal und oft unverständlichsten Gedanken und Gefühle, ein bisschen, verständlicher machen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.12.2012

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