Ein Weihnachtsmärchen
Es war ein Tag wie jeder andere. Und doch wieder nicht.
Schnee lag wie eine dicke, weiche Daunendecke auf den Wiesen und Feldern. Eine Decke, die nicht wärmte, sondern eine eisige Kälte ausstrahlte. Durch die mit Eisblumen überzogenen Fensterscheiben betrachtet, mochte die Welt hier draußen einen friedlichen Anblick bieten. Die Ruhe, die sanfte Anmut der Landschaft, deren Ecken und Kanten durch den weichen Schnee gemildert wurden. Wenn man von Wärme umgeben war, nahm man die Kälte nicht wahr, die hier draußen herrschte. Weder den eisigen Hauch des Windes noch die beißende Kälte, die mit jedem Atemzug in die Lungen strömte, schmerzhaft, wie kleine Nadelstiche.
Es war ein Wintertag wie so viele andere. Und doch wieder nicht. Es war der heilige Abend. Weihnachten. Eigentlich ein Grund, froh zu sein, dankbar für alles, was einem das Leben geschenkt hatte. Und doch nahmen die meisten Menschen gar nicht wahr, was sie alles besaßen. Sie wollten immer noch mehr haben. Und noch mehr. Und selbst, als es kaum mehr etwas gab, das man ihnen schenken konnte, da sie eigentlich schon alles besaßen, was sie jemals hatten haben wollen, waren sie noch immer unzufrieden.
Der Wichtel seufzte leise, als er durch die filigranen Muster der Eisblumen hindurch in die Stube des Menschenhauses blickte.
Er hatte es nie verstehen können. Diese albere Angewohnheit, einen Baum in der Mitte seiner Blüte zu töten, nur um ihn für ein paar Tage in die Stube zu stellen und mit glitzerndem Krimskrams zu behängen. Sahen sie nicht, wie die Pflanze litt, während sie starb? Wie diese schönen, grünen Nadeln immer mehr ihre natürliche Farbe verloren, ehe sie braun wurden, welk, und tot zu Boden fielen? Wenige Tage nach der Feier würden tausende von diesen armen, sterbenden Kreaturen auf friedhofsähnlichen Halden gesammelt werden, ehe sie ihrem Ende in Form eines riesigen Verbrennungsofens entgegensahen.
Und dann dieses alberne Gesinge, dass ihm in den Ohren schmerzte. Jeder zweite Ton war falsch, und doch schien es sie nicht zu stören, denn mit Begeisterung fiel schließlich die ganze Familie in das schreckliche Gelärme mit ein.
Und selbst die Begeisterung war falsch, das konnte er spüren, in ihren Augen lesen. Die der Kinder hingen gierig an den Geschenken, so als könnten sie sich nur mit größter Mühe davon abhalten, sich auf das glänzende, bunte Papier zu stürzen und es in Fetzen zu reißen, um endlich herauszufinden, was sich darunter verbarg. Sie würden ein, zwei Tage mit großer Begeisterung mit den neuen Spielsachen spielen, ehe sich die Hälfte davon in irgendeiner staubigen Ecke wiederfinden würde, vergessen und verstoßen.
Der Wichtel seufzte leise und kratzte sich unter der dicken, knallroten Wollmütze am Kopf, zauste sich durch das drahtige, schwarze Wichtelhaar. Früher war alles so viel einfacher gewesen, dachte er sich. Da hatten sich die Kinder noch über ein paar Socken oder eine Handvoll Süßigkeiten gefreut. Jetzt musste es immer das Neueste vom neusten Spielzeug sein. Je teurer, desto besser. Und die Socken hatten früher wenigstens Verwendung gefunden. Und wenn sie auch nur einem verlorenen Mäuslein ein Zuhause geboten hatten, so waren sie doch stets genutzt worden.
Dieses neumodische Spielzeug hingegen war zu nichts nütze. Die Kinder lernten nichts dabei, und schon nach kurzer Zeit wurden sie seiner überdrüssig, da meist nur ein und dasselbe Spiel wiederholt werden konnte, und das wurde ihnen dann auf Dauer langweilig. Welch ein Segen diese Langeweile war, erkannten sie nicht. Kinder auf der anderen Hälfte der Erde wären froh, einen Tag in Ruhe und Frieden verbringen zu können. Ohne zu hungern, ohne auf der Suche zu sein – auf der Suche nach Essen, Schutz und Geborgenheit, etwas, das niemals selbstverständlich war. Etwas, das in anderen Teilen der Welt tagein, tagaus erkämpft werden musste.
Ja, die Kinder wussten es vielleicht nicht besser. Anders die Erwachsenen. Sie lebten schon lange genug, um die Welt zu kennen, und doch sahen sie meist nicht einmal, was direkt vor ihrer Nase war. Immer wieder huschten die Augen der Erwachsenen in Richtung der Tür. Der Wichtel wusste genau, was ihnen durch den Kopf ging. Es war immer dasselbe. Die Kinder waren auf die Geschenke fixiert, die Erwachsenen wollten nach Hause. Nach Hause, vor ihre Computer oder vor den Fernseher. Sie wussten nicht, was sie an ihren Familien hatten. Sie hatten es nicht verdient, eine Familie zu haben.
Bekümmert schüttelte der Wichtel den Kopf und wandte sich ab. Er war es leid. Jahr für Jahr machte er sich an diesem einen, besonderen Tag auf den Weg, sah durch unzählige Fensterscheiben in unzählige Stuben hinein. Stets auf der Suche nach etwas, das nicht mehr zu existieren schien. Etwas, das er wohl nie finden würde. Und doch brachte er es nicht übers Herz, sich geschlagen zu geben, die Suche für vergebens zu erklären.
Schon seit Jahren war kein Wunder mehr geschehen. Nicht hier, nicht in diesem Teil der Welt. Und das hatte einen Grund.
Die Menschen erzählten sich schon Weihnachtsgeschichten, so lange die Tradition des Weihnachtsfestes bestand. Geschichten von Wundern, die in der heiligen Nacht geschahen. Und auch wenn schon seit vielen Jahren kein solches Wunder mehr geschehen war, war der Glaube daran, die Hoffnung darauf, noch immer in ihren Herzen lebendig. Und so lange die Hoffnung in auch nur einem einzigen Menschenherz lebte, würde der Wichtel auf der Suche sein. Auf der Suche nach dem Menschen, der es verdiente, ein Wunder zu erleben.
Der Wichtel war der Ansicht, dass er hier im Norden so oder so nicht fündig werden würde. Die Menschen hier hatten alles und schätzten nichts. Wahrscheinlich würde einer seiner Kollegen dieses Jahr wieder die Ehre einheimsen, den richtigen Menschen gefunden zu haben. Einer der Kollegen, die im Süden arbeiteten. So wie jedes Jahr.
Als das helle Weiß des Himmels einem trüben Grau wich, wandte der Wichtel sich seufzend ab, um in das nächste Fenster zu spähen. In die nächste Stube hinein. Mit leisen Schritten, die keine Spuren im knietiefen Schnee hinterließen, stapfte er die leere Straße entlang. Sein roter Mantel bauschte sich im eisigen Wind. Der Wichtel fröstelte. Insgeheim sehnte er sich nach einer Tasse heißen Kaffees, die zu Hause auf ihn wartete. Als er mit müden, grünen Augen durch die Scheiben blickte, erwartete er nicht, überrascht zu werden. Auf seine alten Tage glaubte er, schon alles gesehen zu haben.
***
Die Stube, in die er blickte, war bei weitem nicht so festlich geschmückt wie die anderen. Der Baum stand ein wenig krumm in seinem Ständer, und war ungeschickt mit ein paar Kugeln behangen, die so gar nicht zueinander passen wollten. Es brannte kein Licht. Aus der Dachkammer glaubte der Wichtel das leise Tippen einer Tastatur zu hören, aber ansonsten war es in diesem Haus beinahe gespenstisch still.
Gerade wollte er sich abwenden, als plötzlich ein kleines Gesicht hinter dem Fenster erschien.
Der Wichtel blickte in klare, blaue Kinderaugen. Und die Kinderaugen blickten zurück. So, als würden sie ihn sehen. Doch das war unmöglich. Menschen konnten keine Wichtel sehen. Schon lange nicht mehr. Aber der Junge schien ihn zu sehen, denn er kletterte wagemutig auf das Fensterbrett hinauf und drückte dann die kleine Nase an der Fensterscheibe platt. Niemals hatte der Wichtel einen ernsteren Ausdruck auf einem so jungen Gesicht erblickt.
„Ich bin Alexander. Wer bist du?“, fragte der kleine Junge mit den blonden Haaren und blickte neugierig durch das Glas nach draußen – neugierig, aber auch mit solch drängender Spannung, dass dem Wichtel für kurze Zeit der Atem stockte.
Der Wichtel holte einmal tief Luft und versuchte, seine Überraschung zu verbergen. Er wollte das Kind nicht erschrecken.
„Ich bin ein Wichtel“, meinte er nach einer kleinen Weile, und der Junge nickte zufrieden, so, als habe sich seine Vermutung bestätigt.
„Arbeitest du für den Weihnachtsmann?“, fragte er dann mit großen, leuchtenden Augen. Der Wichtel nickte, ein wenig überrascht. Die wenigsten Kinder glaubten heutzutage noch an den Weihnachtsmann.
„Dann hat der Weihnachtsmann also meinen Brief bekommen!“, seufzte Alexander erleichtert und sackte ein wenig in sich zusammen. Mittlerweile hatte sein Atem eine leichte Dunstschicht auf der Fensterscheibe hinterlassen, und fast ein wenig ungeduldig fuhr der Junge mit dem Ärmel seines Hemdes über das beschlagene Glas, um wieder hinaussehen zu können.
Dem Wichtel war nichts von einem Brief des Jungen bekannt. Aber es war auch gut möglich, dass seine Mutter ihn gar nicht erst abgeschickt hatte, da die Erwachsenen nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubten. Und zudem gab es so viele Alexander, dass es gut sein konnte, dass der Brief das Büro des Weihnachtsmannes erreicht hatte. Die meisten Wünsche konnten allerdings problemlos den Eltern der Kinder überlassen werden. Für den neumodischen Krimskrams war sich der Weihnachtsmann zu schade, und wie gesagt, es war lange her, dass ein Mensch aus diesem Teil der Welt sich ein Wunder verdient hatte.
„Was hast du dir denn in deinem Brief gewünscht, Alexander?“, fragte der Wichtel vorsichtig. Innerlich wappnete er sich für die Enttäuschung, die er zweifellos erleben würde. Der Junge war ein Menschenkind wie jedes andere auch, auch wenn er ihn seltsamerweise sehen konnte. Doch das musste nichts zu bedeuten haben.
Wahrscheinlich hatte er sich die neueste Ritterburg gewünscht, oder gar, wie es immer häufiger vorkam, eines dieser neuartigen elektronischen Geräte, die Hänndies genannt wurden und deren Sinn und Zweck der Wichtel nie so ganz verstanden hatte.
Die Stimme des Jungen wurde so leise, dass der Wichtel Mühe hatte, ihn zu verstehen. So, als hätte Alexander Angst, ihn auszusprechen? Der Wichtel kniff verwundert die Augenbrauen zusammen und lauschte aufmerksam.
***
Er hatte mit allem gerechnet. Er wusste, wie die Kinder waren. Im Grunde waren sie alle gleich. Egoistisch und verblendet. Warum ihn der Weihnachtsmann so strafte, indem er ihn jedes Jahr nach dem einen Kind Ausschau halten ließ, das ein Wunder verdiente, war ihm immer ein Rätsel gewesen. Kein Kind verdiente ein Wunder. Dessen war er sich immer so sicher gewesen. Manchmal war es ein Fluch, in die Herzen der Menschen sehen zu können.
Doch dieser Junge war anders.
„Kannst du machen, dass Mama wieder lacht?“, fragte Alexander leise.
Der Wichtel blinzelte überrascht. Solch einen Wunsch hatte er noch nie vernommen.
„Warum lacht sie denn nicht, deine Mama?“, fragte er nach einer kleinen Weile vorsichtig.
„Naja...“, begann der Junge zögerlich, „weißt du, letztes Jahr an Weihnachten hat sie meinen kleinen Bruder verloren. Er sollte noch nicht auf die Welt kommen, aber irgendwie wollte er wohl mit uns feiern...jedenfalls ist dann der große Wagen mit dem Blinklicht gekommen und hat sie mitgenommen, aber meinen Bruder haben sie nicht zurückgebracht, und Mama war lange weg. Und als sie wieder gekommen ist, war sie traurig. Sie lacht nicht mehr. Sie ist nur noch traurig. Und heute ist doch Weihnachten. Da soll sie nicht traurig sein. Ich hab ja schon alles versucht: ich hab mein Zimmer aufgeräumt, ich hab Frühstück gemacht, ich hab Kaffee gekocht, ich hab den Weihnachtsbaum geschmückt...aber sie ist immer nur traurig. Und Papa - Papa ist schon den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer und arbeitet. Bitte, mach, dass Mama wieder lacht!“
„Alex, was machst du denn da am Fenster?“, ertönte da eine Stimme aus der Richtung des Baumes. Sie klang müde, diese Stimme. Müde und ausdruckslos. Als sei ihr im Grund genommen alles egal. Als habe das Leben seinen Sinn verloren.
„Ich spreche mit einem Wichtel, Mama!“, erklärte der Junge ernst und wandte sich vom Fenster ab. Ein heller Punkt blieb auf seiner Nasenspitze zurück, dort, wo er sie gegen die kalte Scheibe gedrückt hatte.
„Mit einem Wichtel“, wiederholte seine Mutter ein wenig perplex. Ihre Schritte näherten sich.
„Ja, mit einem Wichtel. Weißt du, so ein großer Zwerg mit einer roten Mütze. Der Weihnachtsmann hat ihn geschickt. Er hat meinen Brief gelesen!“
„Ich sehe aber niemanden, Alex.“
„Aber er ist da, siehst du...“
Doch als der Junge sich umwandte, war der Wichtel schon wieder verschwunden. In großer Eile war er jetzt, denn er wusste, dass er ihn gefunden hatte. Den Jungen, der das Wunder verdiente.
(c) by Schneeflocke
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2011
Alle Rechte vorbehalten