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Weißer Nebel



Ich stehe im Licht. Wie eine weiße Wolke umgibt es mich, nebelartig umwallen mich die Wolkenschwaden. Durch den Dunst werden die Geräusche um mich herum abgedämpft, und doch höre ich manches noch so deutlich. Das leise Tropfen des Blutes, als es auf den Boden tropft. Ich spüre, wie es warm meinen Handrücken hinabrinnt, wie es sich an meinem Mittelfinger zu einem weiteren Tropfen sammelt, der sich schließlich zitternd löst und zu Boden fällt. Das dunkle Rot hebt sich so deutlich vom Grau des Pflasters ab. Mein Blut? Wenn ich es doch nur wüsste!
Ich habe etwas vergessen, etwas sehr Wichtiges. Es ist dort, am Rande meines Bewusstseins, verbirgt sich meinem Blick, und so sehr ich auch versuche, mich zu erinnern, so rinnt mir die entfernte Ahnung doch durch die Finger wie Sand. Eine seltsame Verzweiflung, deren Ursprung ich ebenfalls nicht zu fassen vermag, durchdringt jede Faser meines Körpers. Mein Herz klopft so schnell, dass ich zu fühlen glaube, wie das Blut durch meine Adern rauscht, dass ich das dumpfe Klopfen des Pulses in meiner Halsschlagader spüren kann. Schweiß steht mir in Perlen auf der Stirn, rinnt mir in die Augen.
Und dann höre ich es. Schritte. Schritte im Nebel. Ganz nah sind sie schon. Und sie kommen immer näher.
Ich wende mich um. Und dann renne ich.
Ich renne.
Ich renne, wie ich noch nie zuvor gerannt bin. Harten Schlägen gleich klatschen die Sohlen meiner durchweichten Turnschuhe auf den Asphalt. Sie müssen mich hören. Ich bin zu laut, viel zu laut. Ich habe bereits verloren, ehe meine Flucht richtig begonnen hat. Denn irgendwie spüre ich, dass die Zeit des Wartens nun vorbei ist. Ich weiß nicht, vor wem ich fliehe. Ich weiß nur, dass dies kein Ort für mich ist, und dass ich gut daran tue, hier nicht entdeckt zu werden. Habe ich etwas gesehen, das ich nicht sehen sollte? Habe ich etwas getan, das ich nicht hätte tun dürfen? Die Ungewissheit legt sich wie eine schwere Last auf meine Schultern.
Und dann spüre ich einen kurzen, stechenden Schmerz, als sich mein Fuß an einer Unebenheit im Asphalt verfängt.
Ich schwanke, ganz langsam kippt die Welt um mich herum, verliert ihren Schwerpunkt, und doch habe ich kaum Zeit, zu reagieren. Einen Moment trudele ich haltlos, versuche, das Gleichgewicht zu behalten, kämpfe einen Kampf, der bereits verloren ist, kaum dass er begonnen hat. Dann stürze ich.
Irgendwie habe ich es gewusst. Ich habe gewusst, dass ich ihnen nicht entkommen würde.
Ich habe es immer gewusst. Eine Flucht war von Anfang an sinnlos.
Die Schritte...sie sind jetzt so nahe. Gleich, gleich werden sie mich erreicht haben...


Mit einem Schrei schrecke ich aus dem Schlaf. Es ist immer das Gleiche. Jede Nacht verfolgt mich der Traum. Der Traum. Dieser verdammte Traum.
Und er erscheint mir so wirklich. So verdammt real, dass ich die Schürfwunden nach wie vor auf meinen Handflächen zu spüren glaube, auch wenn ich natürlich wieder einmal nicht einen Kratzer davongetragen habe. Mein Herz rast noch immer. Doch die Schritte sind verschwunden.

Ich bin alleine hier. Mein lauter, keuchender Atem ist das einzige Geräusch im Zimmer, er hallt von den leeren Wänden wieder und lässt die Wohnung noch lebloser erscheinen, als sie es ohnehin ist. Ich habe mich schon immer fehl am Platz gefühlt. Liegt es an der Wohnung, an der Stadt, an mir? Manchmal bin ich fast überzeugt davon, dass ich ein Fremdkörper bin in diesem Leben. Dass ich einfach nicht hierher gehöre. Vielleicht ist das der Grund, warum ich mich mit toten Dingen umgebe, nicht mit lebenden. Weil ich mich selbst so leblos fühle, dass mir die bloße Gegenwart von lebenden Wesen wie eine Strafe erscheint. Der Beweis dafür, dass ich mein Exil selbst gewählt habe. Dass ich diese Existenz hier selbst gewählt habe, dass ich ein anderes Leben leben könnte, wenn ich nur wollte.

Die Welt schläft noch immer, es ist mitten in der Nacht. Doch ich weiß, dass es keinen Sinn mehr hat, noch einmal die Augen zu schließen. Ich werde keinen Schlaf mehr finden. Seltsamerweise fühle ich mich zu dieser Zeit immer am Wohlsten. Die Nacht ist friedlich. Nichts zeugt von Leben. Die Welt ist ein anderer Ort in der Dunkelheit. Die Einsamkeit scheint unter einem schwarzen Himmel nicht so schwer zu wiegen.

Müde reibe ich mir den Schweiß von der Stirn, beschließe, dass ich genausogut eine Dusche nehmen kann. Und dann bleibe ich doch noch eine ganze Weile liegen, versuche, meine Muskeln davon zu überzeugen, sich zu bewegen. Für ein paar endlose Momente fühle ich mich so unendlich schwer wie ein Felsbrocken, für alle Zeiten an dieses Bett gefesselt wie Prometheus an seinen Felsen.
Und die Sinnlosigkeit des Ganzen ist der Adler, der nach meiner Leber pickt.
Warum soll ich aufstehen?
Warum soll ich mir die Mühe machen, mich dem Tag zu stellen, diese ganze sinnlose Aneinanderreihung von Aufgaben bewältigen, nur, um am Abend wieder erschöpft ins Bett zu sinken und den ganzen Zyklus von Neuem zu beginnen?
Ich fühle mich gefangen in dem Rad des Schicksals, das sich unaufhaltsam immer weiter dreht, eine Endlosschleife. Und das Einzige, das einen Tag vom anderen unterscheidet, ist, dass die Falten auf meiner Stirn immer tiefer werden. Zumindest erscheint es mir so.

Weißer Dampf umfließt mich in Schwaden, als das heiße, wohltuende Wasser den letzten Schweißtropfen von meinem Körper wäscht. Es ist mit den Jahren zu einem Ritual geworden. Ich versuche, die letzten Spuren meines Traumes von mir abzuwaschen und weiß doch, dass mir das nicht gelingen wird. Die dunklen Ringe unter meinen Augen kann ich nicht abwaschen.

4:00 am

zeigt das Display der Mikrowelle, als ich schließlich die Küche betrete. Kaffee. Kaffee ist mein Lebenselixir. Die kleine Küchenuhr über der Tür tickt in ihrem steten, beruhigenden Rhythmus, das einzige Geräusch in dem beinahe sterilen, kleinen Raum. Ich bin alleine mit dem heißen Kaffee und dem Ticken der Uhr.
Mit kleinen Schlucken trinke ich die braune, heiße Flüssigkeit und verziehe dabei ein wenig das Gesicht. Ich werde mich wohl nie an den bitteren Geschmack gewöhnen, aber ich brauche das Gebräu einfach, um halbwegs funktionstüchtig zu sein. Und trotzdem bleibt dieses seltsame Gefühl zurück. Dieses Gefühl, dass ich noch immer träume. Wach fühle ich mich nicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie es sich anfühlt, wirklich und wahrhaftig wach zu sein. Ausgeruht. Ausgeschlafen. Vielleicht ist es besser, dass ich es vergessen habe. Vielleicht würde ich es zu sehr vermissen, könnte ich mich erinnern.

Aus den Tiefen meiner Erinnerung steigt das Echo eines Lachens auf. Ich weiß nicht mehr, wem es gehört. Es ist so lange her, seit ich das letzte Mal eine menschliche Stimme vernommen habe, aber dieses Lachen verfolgt mich nun schon so lange. Vielleicht liegt es daran, dass es ein glückliches Lachen ist. Das Lachen eines Mädchens. Eine verschwommene Erinnerung an ein kleines, herzförmiges Gesicht, braune, glänzende Locken, blaue Augen, und ebenjenes Lachen. Das ist alles, das mir geblieben ist von meiner Vergangenheit. Vielleicht suche ich deswegen so verzweifelt nach einem Sinn in meinem Leben. Denn wer bin ich schon, wenn ich mich an nichts erinnern kann? Wie kann ich eine Zukunft haben, wenn ich nicht weiß, woher ich komme? Wenn ich nicht weiß, wie ich an diesen Ort gekommen bin, woher soll ich wissen, wohin ich gehen soll?
Ich klammere mich daran fest, an diese verschwommene Erinnerung an ein Mädchen, dessen Name mir entfallen ist. Für einen Moment schließe ich die Augen, versuche, ihr Gesicht noch ein wenig länger vor meinem inneren Auge festzuhalten. So bin ich wenigstens nicht vollkommen alleine hier. Auch diese Erinnerung wird mit der Zeit verblassen, so wie alles andere auch.
Alles, das einen Anfang hat, hat auch ein Ende. Alles ist vergänglich.
Ich wünschte, es wäre so einfach. Ich wünschte, es wäre auch für mich so einfach.

Nachdenklich mustere ich durch die bodentiefen Glasfenster des Wohnzimmers die steinerne Engelsgestalt, die auf dem rechten Eckpfeiler des Balkons zu Hause ist. Manchmal...manchmal habe ich das Gefühl, dass er mich beobachtet, dieser Engel. Manchmal glaube ich, aus den Augenwinkeln zu sehen, wie er mir zublinzelt. Manchmal glaube ich zu sehen, wie sich die steinernen Lippen zu einem kleinen Lächeln verziehen. Aber das ist unmöglich. Oder nicht?

Ich trete heraus auf dem Balkon, in die Kälte des frühen Morgens. Mein Atem entweicht mir in nebelhaften Schwaden, weiße Schleier, die vom Licht des vollen Mondes angestrahlt werden. So bleich. Die Welt ist so dunkel und so bleich. Mehrere Stockwerke unter mir rauschen die ersten Autos über den schwarz glänzenden, regennassen Asphalt. Trotz der frühen Stunde beginnt das Leben unter mir. Hier oben hingegen...hier oben ist noch alles still. Still. Tot. Versteinert, wie der weiße Engel neben mir, der stumm Wache zu halten scheint. Wache über das Leben. Auch über meines?
Und auf einmal glaube ich zu wissen, dass der Engel hier eine zentrale Rolle spielt. Dass er weiß, was mir zugestoßen ist.
„Wer bist du?“, flüstere ich. „Was bist du? Und wer bin ich?“, frage ich ihn, und ich höre die stumme Anklage in meiner Stimme. Die Verzweiflung, die ich normalerweise selbst vor mir so gut verberge. Doch auf einmal fühle ich mich so unendlich erschöpft. So alt. Uralt. Älter als Stein.
„Warum bin ich hier?“
„Warum?“, antwortet die weiße Gestalt. Ich glaube, zu sehen, wie sie mich beinahe neugierig mustert. Nur für einem Moment glaube ich so etwas wie Interesse in den kalten, blauen Augen blitzen zu sehen, doch dann ist das Gesicht wieder so reglos wie zuvor. Emotionslos.
Und dann verschwindet der Nebel, der mich zuvor geblendet hatte, als sei er niemals da gewesen. Der weiße Nebel meiner Erinnerung lichtet sich. Und dann ich sehe sie. Direkt vor mir liegt sie, ich brauche nur meine Hand nach ihr auszustrecken. Ihre braunen, glänzenden Haare, ausgebreitet wie ein dunkler Fächer auf dem grauen Asphalt. Sie ist so stumm, so schrecklich reglos. Sie liegt in einer schwarzen Lache. Eine Lache, die sich langsam ausbreitet, in meine Richtung fließt.
Das Blut tropft von meinen Händen. Nicht mein Blut. Ihres. Ich habe versagt.
„Nein!“ Der Schrei scheint von der Stille des frühen Morgens verschluckt zu werden, von dieser Stille, die mir auf einmal so brüllend laut erscheint.
Und auf einmal kann ich mich wieder erinnern. Die Bilder ziehen wieder vor meinem inneren Auge vorbei, überwältigen mich, werfen mich zu Boden. Wie ein Wurm krümme ich mich auf dem kalten Steinpflaster des Balkons, als der Schmerz mich zu überwältigen droht.
Ich weiß es wieder. Alles weiß ich wieder.


Wie ich sie das erste Mal sah, wie ich sie durch das Fenster ihres Schlafzimmers beobachtete. Das kleine, zerbrechliche Menschenmädchen, das mir anvertraut worden war.
Doch sie war anders gewesen als alle anderen zuvor. Ich hatte es schon an jenem ersten Abend gespürt. Gewissheit erlangte ich, als ich sie das erste Mal rettete.

Es war eine dunkle Nacht gewesen, und sie war auf dem Rückweg von einer Party. Ich hatte von draußen durch die Fenster gespäht, sie nicht aus dem Auge gelassen, und als sie sich jetzt auf den Weg gemacht hatte, hatte ich mich an ihre Fersen geheftet. Es war unklug, alleine zu gehen. Es war nicht das erste Mal, dass ich mir wünschte, mit ihr sprechen zu können, ihr begreiflich zu machen, dass sie ein unnötiges Risiko einging. Ich war ihr Schutzengel, aber ich konnte nicht immer und überall zur Stelle sein, und ich konnte nicht alles verhindern, was ihr zustoßen konnte. Ich konnte sie nicht immer und vor jedem beschützen. Doch dieses Mädchen schien kein Bewusstsein für Gefahr zu besitzen.
Obwohl ich zugeben musste, dass sie schon lange kein kleines Mädchen mehr war.
Und deswegen war sie in Gefahr. Sie war schön, und sie wirkte zerbrechlich. Das ideale Opfer. Warum nur hatte sie sich an jenem Abend alleine auf den Weg machen müssen? Ich werde es nie erfahren. Doch bis heute weiß ich nicht, ob ich diese Entscheidung verfluchen soll, oder ob ich ihr dankbar dafür sein soll.
Vielleicht war es auch schlichtweg Schicksal. Vielleicht sollte alles so geschehen, wie es nun einmal geschehen ist.

Ich hatte sie gespürt, ehe ich sie gesehen hatte. Die drei betrunkenen Halbstarken, deren Aura so viel dunkler gewesen war, als ich es für möglich gehalten hätte. Blutrot. Blutrot hatte das Licht sie umspielt, und der ätzende, beißende Geruch der Gier hatte mir in den Lungen gestochen. Und da hatte ich gewusst, dass sie mich brauchen würde.
Da war diese unendliche Angst in mir gewesen. In mir, einem Wesen, das nicht fühlen sollte. Nicht fühlen durfte. Ich wusste um die Gefahren, um die Verlockungen der Emotionen. Und doch war ich hilflos. So hilflos.
Ich hatte nicht mehr klar denken können. Ich hatte ihre Furcht gespürt, ihr Entsetzen, hatte gesehen, wie sich ihre Augen erschrocken geweitet hatte, hatte gehört, wie ihr Herz angefangen hatte, in ihrem Brustkorb zu rasen. So zerbrechlich. Sie war so zerbrechlich. So klein und verloren, als sie vor diesen Männern zurückwich.
Ich verstand es nicht. Ich verstand nicht, wie diese Menschen ihr Leid zufügen konnten. Verstand nicht, wie sie auch nur in Erwägung ziehen konnten, sie zu verletzen. Nur, weil sie die eigene Gier nicht im Griff hatten. Nur, weil sich diese Menschen im Rudel stärker fühlten, und weil sie sich gegenseitig aufstachelten. Ich hörte die Worte, die sie ihr zuflüsterten, und die Wut in mir verwandelte sich in weißglühende Lohe. Und als der erste es wagte, die Hand gegen sie zu erheben, setzte etwas in mir aus.
Ich wütete. Ich wütete, wie ich noch nie zuvor gewütet hatte, ging weit über das hinaus, was eigentlich mein Auftrag gewesen wäre. Ich stellte sicher, dass diese drei Menschenmänner niemals wieder Hand gegen einen Unschuldigen erheben konnten. Sie wussten nicht, wie ihnen geschah, als ich über sie hereinbrach wie der Rächer der Gerechten, der ich war, doch mit einer Wut, der der eines Dämons Konkurrenz gemacht hätte. Brutal brach ich in ihre Erinnerungen ein, löste ein paar, fügte ein paar neue hinzu. Niemals war ich so hart vorgegangen, niemals war ich so skrupellos gewesen wie an jenem Abend, so gnadenlos. Als ich mit ihnen fertig war, konnten sie sich kaum an ihre Namen erinnern, geschweige denn, wie sie in diese Gasse gekommen waren. Wie geprügelte Hunde schlichen sie mit eingezogenen Schwänzen davon. Ich zweifelte daran, dass sie in absehbarer Zeit in der Lage sein würden, sich fortzupflanzen.

Doch das war es nicht, was zu meinem Verhängnis wurde. All dies hier konnte ich notfalls noch rechtfertigen. Den wirklichen Fehler beging ich erst, als ich mit Emma alleine in der Gasse war. Alles begann mit diesem einen, letzten Blick.
Als ich mein Werk beendet hatte, wandte ich mich ein letztes Mal zu ihr um. Und ihre blauen, dunklen Augen...diese Augen, die mich verfolgten, seit ich sie das erste Mal erblickt hatte...diese Augen sahen genau in die meinen. Sie waren so unendlich tief, diese Augen, beinahe fürchtete ich, in ihnen zu ertrinken. Und sie sah mich an.
Sie sah mich, und ich las die Dankbarkeit in ihrem Blick, ihre Erleichterung. Sie durfte mich nicht sehen, es war unmöglich, und doch war es geschehen.
Sie sah mich an, und trotz der Tränenspuren auf ihren Wangen und dem zerzausten Haar war sie doch wunderschön.
„Danke“, flüsterte sie.
Ich nickte nur, brachte kein Wort heraus. Niemals hatte ich mir träumen lassen, dass so etwas möglich sein konnte. Und als sie schwankte, da handelte ich instinktiv. Ich eilte an ihre Seite und fing sie auf. Und sie lehnte ihren Kopf an meine Brust und seufzte.

Sie war so warm und so weich in meinen Armen, ihr Duft so vertraut, ihr Herzschlag der Takt, zu dem sich das Leben um mich herum bewegte. Die Welt schien still zu stehen in diesem Augenblick, und ich wollte sie nie wieder loslassen. Ich hätte meine Seele dafür gegeben, wenn ich sie nur den Rest der Ewigkeit so in meinen Armen halten konnte. Und da wusste ich, dass ich nicht länger verleugnen konnte, was sie mir bedeutete. Und dass ich es nicht übers Herz bringen würde, sie vergessen zu lassen. Sie vergessen zu lassen und zu verschwinden, wie ich es eigentlich hätte tun sollen.
Ich brachte es nicht über mich. Ich konnte sie nicht alleine lassen. Nicht, wenn sie sich so vertrauensvoll an mich schmiegte. Nicht, wenn alles in mir danach schrie, bei ihr zu bleiben. Nur für einen Moment. Nur für einen kurzen Moment. Doch nach diesem Moment war es bereits zu spät, und ich war verloren. Wir waren beide verloren.
Manchmal fragte ich mich, ob es besser gewesen wäre, ich hätte sie damals gehen lassen. Wenn ich mich umgedreht hätte und nie wieder zurückgekehrt wäre. Aber dann hätten wir all diese glücklichen, gemeinsamen Jahre niemals erlebt. Und irgendwie wusste ich, dass sie, genau wie ich, dafür jeden Preis gezahlt hätte. Denn wir waren glücklich gewesen. In der kurzen Zeit, die wir miteinander gehabt hatten, in dieser Zeit waren wir so unglaublich glücklich gewesen.

In jener Nacht blieb ich bei ihr. Ließ zu, dass sie sich an mich kuschelte und in meinen Armen in einen unruhigen Schlaf fiel. Ließ zu, was ihre Nähe in mir auslöste. Fühlte das allererste Mal in den unzähligen Ewigkeiten meiner Existenz so etwas wie Zuneigung. Wie Geborgenheit. Denn auch wenn ich es war, der sie hielt, war mir doch, als sei sie es, von der alle Wärme der Welt ausging. Und das erste Mal fühlte ich mich nicht mehr allein, nicht mehr verloren in einem endlosen Kreislauf aus Schützen und Behüten und Rückkehr an einen Ort, der mir auf einmal so unglaublich leer und kalt und trist und öde erschien.
Es war so ungewohnt, etwas anderes als jenen erhabenen Frieden zu fühlen, den ich mit meinem Zuhause verband. Es war so verwirrend, es war so schrecklich direkt. Es war so erfrischend neu und wunderbar...warm. Ich war ihr so nah. Es war beängstigend, aber es war auch berauschend.

Anfangs war alles gut gewesen. Wir hatten einander gehabt. Doch dann war sie krank geworden. Auch Wesen des Himmels sind machtlos gegen Seine Wege, denn sie sind unergründlich. Und irgendwann hatte ich begriffen, dass unsere Zeit ablief. Dass jeder Tag, der verging, sie ihrem Tod näher brachte. Dass sie sich mit jedem Tag weiter von mir entfernte.

Ich hatte versucht, sie zu behalten. Hatte im Himmel und in der Hölle nach einem Weg gesucht, sie am Leben zu halten. Ich hatte geglaubt, eine Lösung gefunden zu haben.
Ich konnte es vor mir sehen, als sei es gestern gewesen. Ihr kleines Gesicht, so bleich, so leblos. So kalt, als sich die Finger der Hölle in ihr Herz gruben und zu retten versuchten, was nicht mehr zu retten war.
Und da hatte ich begriffen, dass ich eine Grenze überschritten hatte. Dass sie nicht wieder kommen würde als die Emma, die ich kannte. Dass sie sich veränderte. Dass das Leben aus ihr wich, und nur ihr Körper derselbe bleiben würde. Ihre Seele starb, so wie es von Anfang an bestimmt gewesen war. Und ich hatte ihren Körper vernichten müssen, ehe er noch mehr Schaden anrichten konnte. Es war alles meine Schuld gewesen. Meine Schuld, weil ich den Lauf der Welt hatte ändern wollen, obwohl ich es hätte besser wissen müssen.


„Es tut mir so leid, Emma. Es tut mir so leid.“ Auch mein gebrochenes Flüstern wird von der Stille geschluckt.
Und dann ist er wieder da, der steinerne Bote.
„Verstehst du jetzt?“, fragt er. „Begreifst du?“
Ich nicke.
„Tu es“, fordere ich ihn auf, mit einer Stimme, die so leise und tief ist, dass sie bereits an das Grab erinnert, das mich erwartet. Mit einem Ruck reiße ich mir das Hemd auseinander, entblöße meine nackte Brust, biete mich ihm an. „Nimm mich mit dir. Ich habe es verdient.“
„Nein“, murmelt die weiße Gestalt. „Deine Strafe ist eine andere. Du wirst sie so lange ertragen, bis du begriffen hast. Bis du den Sinn des menschlichen Todes wahrhaftig verstanden hast. So lange wirst du hier bleiben und ein menschliches Leben leben. Ein menschliches Leben, das niemals endet.“
Und dann ist er wieder da, der weiße Nebel...
Und da begreife ich. Ich begreife, warum mir der Traum so bekannt erscheint, warum ich Nacht für Nacht dasselbe träume. Ich begreife, woher das Blut an meiner Hand stammt. Und da verstehe ich endlich, dass dies meine Strafe ist. Die Endlosschleife. Das, das ich mir einst so für sie ersehnte, ist zu meinem Fluch geworden.
„Nein!“, flüstere ich entsetzt. „Nein, bitte nicht! Bitte, lass mich sterben...“
„Du brauchst immer so lange, bis du es begreifst“ , meint der Engel, und beinahe glaube ich, ein leises Lächeln über seine Gesichtszüge huschen zu sehen, ehe sie wieder zu weißem Stein werden. „Jede Nacht brauchst du so lange. Und doch glaube ich manchmal, dass du so kurz davor bist...aber Er überschätzt dich wohl. Er hat schon immer zu viel Hoffnung in Seine Schöpfung gesetzt. Lebe wohl, Samael. Bis zum nächsten Mal.“
Und mit diesen Worten lässt er mich zurück. Im Nebel. Im weißen Nebel.

Ich stehe im Licht. Wie eine weiße Wolke umgibt es mich, nebelartig umwallen mich die Wolkenschwaden. Durch den Dunst werden die Geräusche um mich herum abgedämpft, und doch höre ich manches noch so deutlich. Das leise Tropfen des Blutes, als es auf den Boden tropft. Ich spüre, wie es warm meinen Handrücken hinabrinnt, wie es sich an meinem Mittelfinger zu einem weiteren Tropfen sammelt, der sich schließlich zitternd löst und zu Boden fällt. Das dunkle Rot hebt sich so deutlich vom Grau des Pflasters ab. Mein Blut? Wenn ich es doch nur wüsste!
Ich habe etwas vergessen, etwas sehr Wichtiges. Es ist dort, am Rande meines Bewusstseins, verbirgt sich meinem Blick, und so sehr ich auch versuche, mich zu erinnern, so rinnt mir die entfernte Ahnung doch durch die Finger wie Sand. Eine seltsame Verzweiflung, deren Ursprung ich ebenfalls nicht zu fassen vermag, durchdringt jede Faser meines Körpers. Mein Herz klopft so schnell, dass ich zu fühlen glaube, wie das Blut durch meine Adern rauscht, dass ich das dumpfe Klopfen des Pulses in meiner Halsschlagader spüren kann. Schweiß steht mir in Perlen auf der Stirn, rinnt mir in die Augen.
Und dann höre ich es. Schritte. Schritte im Nebel. Ganz nah sind sie schon. Und sie kommen immer näher.
Ich wende mich um. Und dann renne ich.
Ich renne.
Ich renne, wie ich noch nie zuvor gerannt bin. Harten Schlägen gleich klatschen die Sohlen meiner durchweichten Turnschuhe auf den Asphalt. Sie müssen mich hören. Ich bin zu laut, viel zu laut. Ich habe bereits verloren, ehe meine Flucht richtig begonnen hat. Denn irgendwie spüre ich, dass die Zeit des Wartens nun vorbei ist. Ich weiß nicht, vor wem ich fliehe. Ich weiß nur, dass dies kein Ort für mich ist, und dass ich gut daran tue, hier nicht entdeckt zu werden. Habe ich etwas gesehen, das ich nicht sehen sollte? Habe ich etwas getan, das ich nicht hätte tun dürfen? Die Ungewissheit legt sich wie eine schwere Last auf meine Schultern.
Und dann spüre ich einen kurzen, stechenden Schmerz, als sich mein Fuß an einer Unebenheit im Asphalt verfängt.
Ich schwanke, ganz langsam kippt die Welt um mich herum, verliert ihren Schwerpunkt, und doch habe ich kaum Zeit, zu reagieren. Einen Moment trudele ich haltlos, versuche, das Gleichgewicht zu behalten, kämpfe einen Kampf, der bereits verloren ist, kaum dass er begonnen hat. Dann stürze ich.
Irgendwie habe ich es gewusst. Ich habe gewusst, dass ich ihnen nicht entkommen würde.
Ich habe es immer gewusst. Eine Flucht war von Anfang an sinnlos.
Die Schritte...sie sind jetzt so nahe. Gleich, gleich werden sie mich erreicht haben...


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Texte: (c) 2011 by Schneeflocke
Tag der Veröffentlichung: 27.10.2011

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