Du kannst deine Augen schließen, wenn du etwas nicht sehen willst,
aber du kannst nicht dein Herz schließen, wenn du etwas nicht fühlen willst.
(Anonym)
Prolog
Er war die Konstante, die sich durch mein ganzes Leben zog. Auch wenn die Männer meiner Mutter stetig wechselten, auch wenn ich mich auf niemanden sonst verlassen konnte – er war immer da.
Er war es, der mitten in der Nacht aufstand, als ich damals diesen schrecklichen Husten hatte. Ich weiß noch genau, wie er an meiner Bettkante saß und meine Hand hielt und mich besorgt betrachtete, während ich keuchend nach Luft rang. Er war es, der schließlich die Nachbarin aus dem Bett klingelte und um etwas Hustensaft bat, denn Medikamente suchte man in unserem Haushalt vergebens. Er war es, der mir die bittere Flüssigkeit geduldig einflößte und mich dann sorgsam in meine Bettdecke hüllte, und der dann, als das Zittern einfach nicht nachlassen wollte, zu mir unter die Decke kroch, mich fest an sich zog und versuchte, mich mit seinem Körper zu wärmen.
Er war immer da gewesen, und auch, wenn wir nie viel gehabt hatten, hatten wir doch immer einander.
Anfangs dachte ich mir nichts dabei.
Er war mein Bruder, mein Beschützer, mein bester Freund. Und doch war er schon immer mehr als das.
Ich weiß noch immer nicht, was daran falsch sein soll. Wir haben uns das nicht ausgesucht, haben nicht bewusst entschieden, mehr füreinander zu sein, als wir eigentlich durften.
Wie kann es falsch sein, einem anderen Menschen nahe zu sein, füreinander zu sorgen, sich umeinander zu kümmern, gemeinsam zu bestehen, wo ich mich alleine schon lange verloren hätte? Wie kann es falsch sein, zu lieben?
Wie kann es uns, in einem freien Land wie Deutschland, verboten sein, einander zu lieben?
1. Einer dieser Tage
Es war einer dieser Tage, an denen alles schief geht, was nur schief gehen kann.
Zuerst hatte mein Wecker nicht geklingelt, oder ich hatte ihn im Halbschlaf ausgeschaltet und war dann wieder eingeschlafen. Für gewöhnlich tat ich das nicht, aber ich war einfach so verdammt müde gewesen, als mich dieser unerträgliche, hohe Piepton aus dem Schlaf gerissen hatte. Die eine Hälfte der Nacht hatte ich mit Flo gelernt, hatte ihn immer wieder für seinen Geschichtetest abgefragt, und danach hatte ich mich unruhig im Bett gewälzt, hatte einfach nicht aufhören können zu denken. Und während ich immer müder und müder geworden war, waren die ungebetenen Gedanken immer wieder zurückgekehrt, hatten sich wie ein Schwarm Hornissen in meinem Kopf eingenistet, hatten mich nicht zu Ruhe kommen lassen.
Früher hätte ich gewusst, was ich in solch einem Fall tun konnte. Früher wäre ich mit meinem Teddy im Arm zum anderen Ende des Flurs geschlichen. Früher war alles so viel einfacher gewesen...
Ich konnte mich noch erinnern, dass die Kirchturmuhr zwei Uhr morgens geschlagen hatte, als mir dann schließlich doch noch die Augen zugefallen waren.
Natürlich war es Flo, dem mein Fehlen am Frühstückstisch auffiel. Wer sollte es auch sonst bemerken? Im Grunde hatte es immer nur uns beide gegeben. So war es gewesen, so lange ich mich zurückerinnern konnte.
Er weckte mich nicht, wie es vielleicht meine Mutter getan hätte – damals, als sie sich noch darum geschert hatte. Sie hätte wohl ein paar Mal gegen die geschlossene Türe geklopft und ihre Aufgabe damit als erfüllt betrachtet. Wie gesagt, wenn es sie noch interessiert hätte. Wahrscheinlich schlief sie noch immer ihren Rausch vom Vortag aus. Wenn sie überhaupt nach Hause gekommen war. Vielleicht war sie auch wieder bei einem ihrer Freunde geblieben. Es kümmerte mich nicht sonderlich. Schon lange nicht mehr.
Nein, Flo riss mich nicht so brutal aus dem Schlaf, wie es zuvor der Wecker schon einmal getan hatte. Das tat er nie. Er strich mir sanft das zerzauste Haar aus dem Gesicht und flüsterte mir dann ins Ohr, dass es an der Zeit sei, aufzustehen. Sein warmer Atem roch nach Schlaf und nach Flo, und da wusste ich, dass er noch nicht einmal seinen morgendlichen Kaffee getrunken hatte. Er, der ohne seine erste Dosis Koffein normalerweise zu nichts zu gebrauchen war, meist nicht einmal ein einziges Wort über die Lippen brachte, er war durch den kalten, unbeheizten Flur zu meinem Zimmer getappt.
Allein der Gedanke daran verursachte ein fremdes, ungewohntes Gefühl in meiner Magengegend. Nach den merkwürdigen, verworrenen Träumen, die mich den Rest der ohnehin kurzen Nacht immer wieder heimgesucht hatten, hätte ich ein lautes, genervtes Klopfen dieser seltsam zärtlichen Geste beinahe vorgezogen. Beinahe.
Kaum hatte ich mich mühsam aus den wirren Tiefen des Schlafes emporgekämpft, da spürte ich schon, wie sich die Matratze bewegte, als er sich hastig zurückzog. Entschlossen rang ich den leichten Stich des Bedauerns nieder, versuchte, die Wärme zu ignorieren, die seine Hand auf meinem Haar zurückgelassen hatte.
So war es in letzter Zeit immer. Wieder und wieder schien er vor mir zu flüchten. Ich verstand nicht so recht, warum er es plötzlich so sehr mied, mich zu berühren. Früher hatte ich das Gefühl gehabt, dass er es gemocht hatte, mir nahe zu sein. Und immer wieder gab es kleine, kurze Momente wie diesen, in denen es mir so erschien, als suche er fast meine Nähe, nur um dann erneut die Flucht zu ergreifen.
Seufzend fuhr ich mir ein paar Mal über das Gesicht und sprang dann, nach einem entsetzten Blick auf das Display des blauen Digitalweckers, hastig aus dem Bett. Auf dem Weg zum Kleiderschrank stolperte ich über meine Schultasche und schlug mir das Knie am Schreibtisch an. Ein scharfer Schmerzpfeil saußte mein gesamtes Bein entlang und hinterließ ein dumpfes, unangenehmes Pochen hinter meiner Kniescheibe. Mein lautstarkes Fluchen wurde mit einem dunklen Lachen aus der Richtung des Flurs kommentiert. Na wunderbar.
Ich widerstand der Versuchung, mich zu ihm umzudrehen, wollte das belustigte Funkeln in seinen Augen nicht sehen. Ich wusste, dass er in der Türe stand, ich konnte seinen Blick in meinem Rücken spüren.
„Hast du dich verletzt?“
Die Sorge in seiner Stimme versöhnte mich schon fast wieder. Ich konnte ihm einfach nicht lange böse sein. Das hatte ich noch nie gekonnt.
„Es tut mir leid, Ria, ich wollte nicht lachen, ehrlich nicht. Aber du kannst einfach nicht fluchen, das konntest du noch nie, es klingt immer zu lieb und...“ , versuchte er, sich zu erklären.
Niemand außer Flo nannte mich Ria. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wann er damit angefangen hatte. Ich denke, als wir noch sehr klein waren, konnte er meinen Namen nicht richtig aussprechen, oder er war einfach zu faul dazu. Jedenfalls hat er mich schon immer so genannt. Er war für mich Flo, und ich war für ihn Ria. So war es schon immer gewesen. Und ich mochte den Namen. Es klang so einfach, so vertraut.
„Nein, ich habe mich nicht verletzt, und nein, ich bin dir nicht böse, es ist schon gut“, grummelte ich vor mich hin und packte eilig meine Hefte in die Schultasche. „Verdammte Tasche, was muss sie auch immer im Weg liegen“, maulte ich weiter, was mit einem erneuten Lachen kommentiert wurde.
„Du hast sie gestern dort abgelegt“, erinnerte er mich amüsiert.
„Ja, ich weiß“, seufzte ich resigniert und hörte dann, wie sich seine Schritte hastig in Richtung Küche entfernten. Er hatte wohl ebenfalls einen Blick auf die Uhr geworfen.
Zumindest hatte er mir keine Vorhaltungen über die Unordnung gemacht, die wieder einmal in meinem kleinen Reich herrschte, obwohl ihm wahrscheinlich ein weiterer Kommentar auf der Zunge gebrannt hatte. Es war aber auch einfach nicht normal, dass ein Junge in seinem Alter ein derartiges Interesse an penibler Ordnung entwickelte. Selbst seine Heftaufschriebe waren immer so absout akkurat und sauber, dass ich mich jedes Mal fast schämte, wenn er einen Blick in meine Mitschriften aus dem Unterricht warf, um mich vor einem drohenden Test abzufragen oder eine meiner Fragen zu beantworten, wenn ich etwas nicht verstanden hatte.
Nachdem wir bereits schon viel zu spät waren, um noch pünktlich zu ersten Stunde zu kommen, kippte ich mir in meiner Eile dann natürlich auch noch den brühend heißen Kaffee über die Jeans. Flo wartete angespannt mit der Schultasche über der Schulter im Hauseingang, während ich noch einmal zurück in mein Zimmer rannte, um eine neue Hose aus dem Schrank zu suchen und dabei leise vor mich hin jammerte, weil mein Oberschenkel nun regelrecht in Flammen zu stehen schien. Doch es war keine Zeit mehr, sich darum zu kümmern.
„Geh schon ohne mich!“, hatte ich meinem Bruder über die Schulter hinweg zugerufen, obwohl ich wusste, dass er das nicht tun würde. Selbst an einem Tag wie heute bestand er darauf, mich zu begleiten.
Genau wie ich hatte er jenen Morgen nie vergessen, als er mich in Tränen aufgelöst ein paar Straßen weiter gefunden hatte, nachdem meine Mutter beschlossen hatte, dass ich nun alt genug sei, den Weg in den Kindergarten selbst zu finden. Ich war fünf Jahre alt gewesen, Flo sechs. Er war mit seinen beiden damaligen besten Freunden Felix und Thomas gerade auf dem Weg zur Schule gewesen. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass es in Strömen geregnet hatte, und dass ich bis auf die Haut durchnässt gewesen war. Völlig verzweifelt hatte ich mich irgendwann unter dem Vordach eines Haltestellenhäuschens untergestellt, und so hatte Flo mich schließlich gefunden – zitternd in meinen dünnen Mantel gehüllt, zusammengekauert auf dem orangefarbenen Plastiksitz.
Ich weiß noch, wie die Kälte an mir emporgekrochen war, mit ihren eisigen Klauen, wie alleine und verloren ich mich gefühlt hatte, und dass ich befürchtet hatte, niemals wieder den Weg nach Hause zu finden. Flo war mir wie ein Engel erschienen, als er mir so plötzlich gegenüber gestanden hatte, und mich mit überrascht geweiteten, ungläubigen grünen Augen angestarrt hatte. Und alleine sein Anblick hatte gereicht, um mir die Angst zu nehmen. Ich hatte gewusst, dass ich jetzt in Sicherheit war, dass mir nichts mehr geschehen konnte, wenn er bei mir war. Denn Flo war schon so groß, dass er in die erste Klasse gehen durfte. Er würde wissen, was zu tun war. Er fand immer für alles eine Lösung.
Er hatte nichts weiter gesagt, hatte mir nur schweigend seine eigene Jacke um die Schultern gelegt und mich bis zum Kindergarten gebracht. Und seit jenem Tag hatte er mich immer begleitet. Auch als ich in die Schule kam und seiner Hilfe eigentlich nicht länger bedurft hatte, hatten wir dieses Ritual beibehalten. Ich fand es damals nicht seltsam, dass er auf einmal nicht mehr mit seinen Freunden zur Schule ging, sondern mit mir. Und als ich ihn zwei Jahre später einmal darauf angesprochen hatte, hatte er nur gemeint: „Das ist nicht so einfach, Ria. Sie sind...anders. Sie verstehen...irgendwie...nicht.“ Ich hatte nicht so recht gewusst, was er mir damit sagen wollte, aber ich hatte es einfach dabei belassen. Ich war froh gewesen, dass er sich dazu entschieden hatte, mit mir zur Schule zu gehen, und ich hatte verstanden, dass es ihm unangenehm war, darüber zu sprechen. Also hatte ich das Thema Freunde nie wieder angeschnitten.
Ich hatte es immer genossen, so den Tag zu beginnen. Manchmal legten wir den Weg in einvernehmlichem Schweigen zurück, manchmal unterhielten wir uns leise über einen kommenden Test, manchmal fragte er mich ab, oder ich erzählte ihm von einem seltsamen Traum, den ich gehabt hatte. Manchmal blieben wir ein wenig vor dem Gitter des Hühnerkäfiges stehen und beobachteten die Hennen von Frau Bruckner, wie sie unbeirrt nach Regenwürmern scharrten oder nach den Pausenbroten pickten, die ein paar der Nachbarskinder hier jeden Tag verfütterten. Ich beneidete diese Kinder damals so sehr. Ich hatte nie ein Pausenbrot dabei. Wer hätte es mir machen sollen?
Wir erzählten uns erfundene Geschichten über die verschiedenen Häuser, an denen wir auf unserem Weg zur Schule vorbeikamen, überlegten uns, wer wohl in ihnen wohnte. Ich war der Überzeugung, der Mann aus dem alten Bauernhaus direkt an der Straße sei einmal ein Löwe gewesen, der von einem bösen Zauberer in einen Menschen verwandelt worden war. Er hatte so große Zähne, und die Erklärung erschien mir so unglaublich logisch. Flo lächelte nur über diesen Gedanken, doch von jenem Tag an achtete er immer darauf, sich mit seinem Körper stets zwischen mich und das Bauernhaus zu schieben, wenn wir daran vorbeikamen. So, als wolle er mich schützen. Ich fühlte mich gleich sehr viel sicherer. Und ich wusste, dass mir der Löwenmensch nichts anhaben konnte, wenn Flo bei mir war. Mein großer Bruder war so viel stärker als ich, sicher konnte er auch einen Löwen bekämpfen.
Das eine Jahr, als Flo bereits das Gymnasium besuchte und ich alleine zur Grundschule gehen musste, hatte ich ihn schrecklich vermisst. Ich war nun jeden Tag mit den Nachbarskindern Clara und Sabrina zur Schule gegangen. Ich hatte die Vermutung, dass es kein Zufall war, als die beiden an meinem ersten Schultag in der vierten Klasse vor meiner Türe standen, und es stellte sich bald heraus, dass es nicht die Idee der Kinder gewesen war, sondern die ihrer Mütter. Natürlich war ich froh darüber, nicht alleine zur Schule gehen zu müssen. Schon allein wegen des Löwenmannes – obwohl ich natürlich schon alt genug war und wusste, dass das nur eine alberne Kinderfantasie war und der Mann einfach nur ein alter Mann mit großen Zähnen war. Dennoch konnte ich das leichte Unbehagen nicht verhindern, das mich jedes Mal beschlich, wenn ich an dem großen, dunklen Bauernhaus vorbeiging. Clara und Sabrina hätten mich nicht verstanden, wenn ich versucht hätte, es ihnen zu erklären. Also schwieg ich und ertrug den leisen Schauer der Angst und dachte an Flo, der niemals zulassen würde, dass mich der Löwenmann entführte.
Wir sprachen kaum ein Wort, wenn wir morgens zur Schule gingen. Das heißt, die beiden Freundinnen redeten ohne Unterlass, aber eben miteinander und nicht mit mir. Worüber hätte ich mich auch mit ihnen unterhalten sollen? Über die Boyband, die ich nicht kannte? Über die neusten Sommerkleider, die ohnehin zu teuer waren? Oder über den süßen Jungen von nebenan, der mich nicht interessierte? Über die Ferien, die die beiden an irgendwelchen Stränden auf irgendwelchen Südseeinseln verbracht hatten?
Ich war noch nie im Urlaub gewesen. Ich hatte die Sommerferien damit verbracht, mit Flo an den Badesee zu radeln, auf den Rädern, die er in einer Nacht- und Nebelaktion vom Schrottplatz geklaut hatte, während ich Schmiere gestanden hatte. Oder ich hatte mich in einem der Bücher verloren, die ich mir aus der Stadtbücherei ausgeliehen hatte. Und dann waren wir immer wieder zusammen Werbeprospekte austeilen gewesen. Flo hatte seit den Sommerferien einen Job, und ich war so stolz gewesen, dass ich ihm hatte helfen dürfen. Wir hatten unser erstes, gemeinsames Geld verdient.
Und während ich so neben den beiden Mädchen hergetrottet war und fieberhaft nach einem Gesprächsthema gesucht hatte, da hatte ich mich an Flos seltsame Worte erinnert und begriffen, was er mir damals hatte sagen wollen. Die Mädchen verstanden mich nicht, weil sie irgendwie anders waren. Obwohl sie nur ein paar Häuser weiter lebten, schienen sie in einer gänzlich anderen Welt aufgewachsen zu sein.
In jenem Jahr hatte ich mich angestrengt wie noch nie zuvor, damit ich nur ebenfalls die Gymnasialempfehlung erhielt. Und mit Flos Hilfe war es mir dann auch tatsächlich gelungen. Er hatte mir bei meinen Mathematikhausaufgaben geholfen. Er hatte sich geduldig mit mir an den Tisch gesetzt, während seine Freunde draußen auf der Straße spielten. Damals war er mein Held. Er wusste alles, hatte auf alles eine Antwort, und er war immer zur Stelle, wenn ich ihn brauchte.
Natürlich erkannte ich irgendwann, dass irgend etwas an meinem Leben nicht normal war. Andere Kinder in meiner Klasse beschwerten sich über zu frühe Bettgehzeiten, während ich mich jeden Abend auf der Couch vor dem laufenden Fernseher eng an Flo kuschelte und versuchte, die Gedanken an die Monster in den Schränken auszublenden, während das laute Geplapper aus dem Flimmerkasten die Stille der kleinen Wohnung zu übertönen versuchte. Ich erkannte, dass es nicht normal war, dass ich mich mit meinem Bruder so gut verstand, während sich die anderen Mädchen meiner Klasse eigentlich nur über ihre Geschwister ausließen und sich ständig mit ihnen in den Haaren zu liegen schienen.
Natürlich stritt ich mich mit Flo. Ich kämpfte mir ihm um die Fernbedienung, war beleidigt, wenn er nach der Schule noch ein wenig mit seinen Freunden spielen wollte und später als gewohnt nach Hause kam. Er verdrehte genervt die Augen, wenn ich darauf bestand, meinen Teddybären mit in sein Bett zu bringen, obwohl er ihn über Nacht dann oft doch noch in seine Arme schloss. Ich beschwerte mich, weil er mir nicht aus dem Märchenbuch vorlesen wollte und ich mich statt dessen mit einer selbst erfundenen Indianererzählung zufriedengeben musste. Aber im Grunde genommen gefiel es mir dann doch sehr, seiner Stimme zu lauschen, wenn er von Büffeln und Bleichgesichtern und feindlichen Indianerstämmen erzählte und ich mich in der Sicherheit des warmen Bettes an fremde Orte träumen konnte. Wir hatten keine Bücher, nur das alte, abgegriffene Märchenbuch und eine eingestaubte Bibel, die ich niemals auch nur angerührt hatte. Aber wir hatten unsere Fantasie, und Flo war ein wunderbarer Geschichtenerzähler. Und seine Geschichten hatten immer ein gutes Ende, das gefiel mir so an ihnen. Egal, wie spannend oder traurig es zwischendrin wurde, ich konnte mir immer sicher sein, dass alles ein gutes Ende nehmen würde. Und dieses Wissen gab mir eine merkwürdige Sicherheit.
Manchmal erfanden wir auch gemeinsam Geschichten. Er begann, ich spann die Geschichte weiter, und wenn mir nichts mehr einfiel, ließ ich ihn weitererzählen.
Und wenn ich nachts nicht einschlafen konnte oder einen Alptraum hatte, dann war es Flo, zu dem ich ins Bett kroch. Und als sei es die natürlichste Sache der Welt, zog er mich stets in seine Arme, und dort, eingehüllt in seine Wärme und seinen vertrauten Geruch, konnte mir nichts mehr etwas anhaben, und die Geister der Nacht verloren ihren Schrecken.
Ich wusste, dass das nicht normal war, doch ich wusste auch nicht, wie ich ohne ihn überleben sollte. Ich brauchte ihn so sehr, und er war einfach immer da. Er gehörte zu mir, und ich gehörte zu ihm. So war das schon immer gewesen. Also hatte ich immer versucht, es einfach hinzunehmen, wie es war, mir keine Gedanken darüber zu machen.
Wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, hatten wir nicht nur den ersten, sondern auch gleich den zweiten Bus verpasst. Ungeduldig stand ich nun neben Flo an der Bushaltestelle und wartete.
Kalte Regentropfen fielen mir von der Kapuze meines dünnen Jeansmantels auf die Wangen, rannen wie eisige Tränen mein Gesicht hinab. Die Lichter der vorbeizischenden Autos spiegelten sich in den tiefen Pfützen auf der Fahrbahn, rote und weiße Punkte in der Dunkelheit des frühen Morgens. Ein Windstoß fuhr durch den Stoff, drang durch sämtliche Kleidungsstücke hindurch und ließ mich frösteln. Flos Kopf fuhr zu mir herum.
„Du brauchst eine neue Jacke“, stellte er leise fest.
„Es geht schon“, winkte ich ab. Ich wollte nicht, dass er sich auch noch darüber Gedanken machte, wir hatten auch so schon genug Sorgen. Er erwiderte nichts darauf, doch ich sah den entschlossenen Ausdruck in seinen Augen, den ich nur zu gut kannte. Er würde jetzt nicht mit mir darüber diskutieren, doch das Thema war damit noch lange nicht vom Tisch.
Ich seufzte leise. Manchmal wurde mir seine übertriebene Fürsorge dann doch ein wenig zu viel. Hielt er mich für ein Kleinkind? Manchmal hatte es den Anschein – manchmal hingegen wiederum nicht. Dann, wenn wir abends gemeinsam am Küchentisch saßen und uns von unserem Tag erzählten...oder wenn er mit mir über eines der Bücher diskutierte, die wir gerade im Deutschunterricht lasen...oder wenn er mir in die Augen sah und ich ohne ein weiteres Wort verstand, was er mir sagen wollte.
Inzwischen war Flo dazu übergegangen, nervös mit der Schuhspitze auf den Gehsteig zu tippen. Als ob der Bus dadurch früher kommen würde. Doch auch mein Herz klopfte inzwischen aufgeregt, und ich ertappte mich dabei, wie ich immer und immer wieder einen Blick auf meine billige Plastikdigitaluhr warf. Verdammt, dieses Mal würden wir wirklich mehr als nur ein paar Minuten zu spät kommen. Ich hoffte, dass wir dadurch keine Aufmerksamkeit erregen würden. Das Letzte, das wir jetzt noch gebrauchen konnte, war ein besorgter Lehrer, der Mutter zu einem Gespräch heranzitieren wollte.
Natürlich kam der Bus fünf Minuten später als es auf dem Fahrplan stand. Und wie sollte es auch anders sein, schienen sämtliche Ampeln der Stadt heute auf Rot zu stehen. Und Flo, den sonst nichts aus der Ruhe brachte, Flo stand leise fluchend neben mir im Bus zwischen einer schimpfenden, genervten Mutter und drei plärrenden Kindern und blickte unentwegt auf seine rote Armbanduhr.
Ich konnte das kleine Lächeln nicht verbergen, das mir bei diesem Anblick kurz über die Lippen huschte. Ich erinnerte mich noch, wie sehr er sich über das neue Armband gefreut hatte. Ich hatte all meine Ersparnisse zusammengekratzt und es ihm zu Weihnachten geschenkt, da sein altes Lederarmband so abgewetzt gewesen war, dass ich befürchtet hatte, er könne die Uhr jederzeit verlieren. Und ich wusste, wie viel sie ihm bedeutete. Sie war das einzige Geschenk, dass er jemals von Mutter erhalten hatte. Und dass das kleine, rote Auto, das an Stelle eines Sekundenzeigers über das Ziffernblatt huschte, ein klein wenig kindlich wirkte, schien ihn nicht weiter zu stören. Ich fand es einfach nur süß.
Er hatte einen wichtigen Test gleich in der ersten Stunde, das wusste ich, schließlich hatte ich ihn gestern Abend noch bis weit in die Nacht hinein abgefragt. Es war nicht das erste Mal gewesen, und doch hatte sich irgend etwas zwischen uns verändert. Ich hatte es gespürt – diese seltsame Spannung, die in der Luft gelegen hatte. Sie hatte mich an diesen Wind erinnert, der stets einem gewaltigen Unwetter vorausgeht. Und Flo hatte es ebenfalls gespürt. Er hatte mich mit diesen unglaublich dunklen, grünen Augen angesehen und dabei verwirrt die Augenbrauen zusammengezogen, und dann war er unmerklich ein Stück von mir weggerückt. Es hatte mich geschmerzt, dass auf einmal diese seltsame Mauer zwischen uns stand. Diese seltsame Mauer, die drohte, sich immer mehr zwischen uns zu drängen. Ich verstand es nicht, und es schmerzte, immer und immer wieder beobachten zu müssen, wie er vor mir zurückwich.
„Es tut mir leid“, murmelte ich entschuldigend, als wir nebeneinander die breiten Steintreppen des alten Backsteingebäudes hinaufrannten. Es war meine Schuld, dass wir den Bus verpasst hatten. Hätte er sich nicht um mich gesorgt, wäre er rechtzeitig in der Schule gewesen.
„Ist schon in Ordnung, mir fällt was ein.“ Er klang nicht sehr überzeugt, und das Lächeln, das er auf seine Lippen zwang, erreichte seine Augen nicht.
Das schlechte Gewissen packte mich mit unvermittelter Wucht. Er konnte seine Sorge vor mir nicht verbergen, ich kannte ihn zu gut. Ich wusste, wie wichtig ihm der Erfolg in der Schule war. Er hatte sich geschworen, dass er Mutters Schicksal nicht teilen würde, dass er einen ordentlichen Abschluss brauchte, um nicht für den Rest seines Lebens jeden einzelnen Cent dreimal umdrehen zu müssen. Wir wussten beide, was Entbehrung bedeutet, wir wussten beide, dass Geld allein zwar nicht glücklich macht, aber dass man es auch verdammt dringend benötigt, um Rechnungen zu bezahlen, um nicht in Dunkelheit und Kälte leben zu müssen, und vor allem, um nicht Abend für Abend hungrig ins Bett gehen zu müssen.
„Flo“, setzte ich noch einmal leise an, aber er schüttelte nur unwillig den Kopf.
„Mach dir keine Sorgen, Krümel, ich hab doch gesagt, mir fällt was ein“, meinte er. Und
ehe er im dunklen Gang des ersten Stockes verschwand schenkte er mir ein kurzes Grinsen, das seine Augen erreichte. Ich sah dem verwuschelten, rabenschwarzen Schopf hinterher, und da war es wieder: dieses Gefühl der Nähe, für das ich keine Worte fand.
„Anna-Maria Heinzmann, schön, dass Sie uns auch noch mit Ihrer Anwesenheit beehren!“ Herr Holzmann, der Physiklehrer, warf mir hinter den Halbmonden seiner Brillengläser einen entnervten Blick zu, als ich es wagte, in seinen bereits begonnenen Unterricht hinein zu platzen. Er hasste es, in seinen staubtrockenen Vorträgen von lästigen Schülern unterbrochen zu werden. In seinen Augen waren wir wohl nur so etwas wie ein Teil des Mobiliars, sein Publikum, das in angemessener Ehrfurcht vor seinem enormen Wissen zu erstarren hatte.
„Es tut mir leid, ich habe verschlafen“, nuschelte ich. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken, als ich nun mit leicht durchnässtem Haar und noch immer ein wenig außer Atem vor aller Augen zu meinem Platz schlich. Ich hasste es, wenn mich alle so anstarrten.
Flo und ich fielen ohnehin schon auf an dieser Schule, die hauptsächlich von Anwaltssöhnen und Arztsprösslingen besucht wurde. Es war kaum zu übersehen, dass die älteren Schüler fast ausnahmlos in den schmucken Karossen von Mami und Papi angekutscht kamen, und so war der Schulparkplatz meist überfüllt von silbernen Audis und schwarzen Daimlern. Die meisten meiner Klassenkameraden sahen Shopping als spaßigen Zeitvertreib an, und selten fand man ein paar Schüler, die nicht nach dem neusten Trend ausstaffiert waren.
Ich konnte die Blicke spüren, die mich von oben bis unten musterten, ich konnte hören, wie sie hinter vorgehaltenen Händen diskutierten, ob mein Pullover jetzt von Aldi oder Tschibo war.
Als hätten sie nichts Besseres zu tun gehabt.
Ich hatte gelernt, die Musterungen mit stoischer Gelassenheit über mich ergehen zu lassen. Was blieb mir auch anderes übrig? Ich hatte weit größere Sorgen als die nervenden Tuscheleien der Lästerschwestern in der letzten Reihe. Zum Beispiel die Frage, ob Mutter die Stromrechnung diesen Monat rechtzeitig begleichen würde, oder ob wir sie wieder aus unseren zunehmend schwindenden Reserven würden zahlen müssen. Dann wäre da noch der tropfende Wasserhahn im Bad, der die Wasserrechnung unnötig in die Höhe treiben würde. Flo hatte versprochen, sich darum zu kümmern, aber er hatte im Moment wirklich so verdammt viel um die Ohren. Und ich war einfach hoffnungslos unbegabt, was jegliche Handwerksarbeiten betraf. Wahrscheinlich hätte ich mir eher den Schraubenschlüssel durch die Hand gejagt als irgendwie zur Lösung des Problems beizutragen.
Nur ungern erinnerte ich mich an den Zwischenfall im Badezimmer, als ich versucht hatte, eine kaputte Glühbirne zu wechseln. Zunächst hatte ich mir die Finger an dem heißen Glaskörper verbrannt, da mir natürlich nicht in den Sinn gekommen war, die Birne abkühlen zu lassen, ehe ich versuchte, sie aus der Fassung zu schrauben...und dann war zu allem Unglück auch noch der altersschwache Hocker unter mir zusammengebrochen. Ich war mit ein paar geprellten Rippen davongekommen, doch der Abend hatte in der Notaufnahme des Krankenhauses geendet, mit einem zutiefst besorgten Flo an meiner Seite, der mir mit einem schrecklich ernsten, aufgewühlten Ausdruck in den grünen Augen geschworen hatte, dass er niemals wieder zulassen würde, dass ich versuchte, irgend etwas im Haushalt zu reparieren. Das fiele von nun an in seinen Aufgabenbereich.
Und so ist es bis zum heutigen Tag geblieben.
„Hallo, Anna“, begrüßte mich die zweite freundliche Stimme an diesem Morgen. Meine Sitznachbarin räumte hastig ihr Mäppchen und ihren Schreibblock ein wenig zur Seite, um mir Platz zu machen.
„Hi, Laura“, flüsterte ich zurück und mühte mich, möglichst leise meine Schulsachen aus der Tasche zu angeln.
„Was war denn los?“, erkundigte Laura sich besorgt. „Du bist doch sonst nie zu spät.“
„Hab meinen Wecker nicht gehört“, nuschelte ich und wandte mich dann demonstrativ nach vorne. Ich konnte ihr nicht erklären, dass ich bis weit in die Nacht hinein mit Flo gelernt hatte. Sie hätte es nicht verstanden.
Ich spürte ihren fragenden Blick auf meinem Hinterkopf und wusste, dass sie sich mit dieser Antwort nicht zufrieden geben würde. Ich würde mir irgendetwas einfallen lassen, so, wie ich es immer tat. Vielleicht sollte ich ihr von einem neuen Buch erzählen, das mich so sehr gefesselt hatte, dass ich es nicht aus der Hand hatte legen können? Oder von einem süßen Jungen aus der Parallelklasse, der mir nicht aus dem Kopf gegangen war?
Manchmal wünschte ich mir so sehr, ich könnte ihr die Wahrheit sagen. Doch wie hätte ich das tun können? Sie hätte Fragen gestellt. Warum nicht meine Eltern mit Flo lernten, warum uns meine Mutter nicht mit dem Auto in die Schule gefahren hatte, wenn wir verschlafen hatten.
Und ich durfte nicht riskieren, dass Fragen gestellt wurden. Ich hatte solche Angst davor, dass das Jungendamt auf uns aufmerksam wurde. Ich wusste nicht, was geschehen würde, wenn eines Tages herauskommen sollte, wie oft Mutter nicht zu Hause war. Sie war trotz allem meine Mutter. Und ich hätte nicht gewusst, wie ich eine Trennung von Flo ertragen sollte.
„Fräulein Heinzmann, was meinen Sie dazu?“, riss mich die Stimme des Mathematiklehrers irgendwann aus meinen Gedanken. Irgendwie war der Vormittag an mir vorbeigezogen, ohne dass ich wirklich viel vom Unterricht mitbekommen hatte. Ich war schlichtweg übermüdet. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie das Bild vor meinen Augen verschwamm, wenn ich versuchte, mich auf die vollgeschriebene Tafel zu konzentrieren. Und doch konnte ich anscheinend nicht aufhören, zu denken. Immer wieder verlief ich mich im endlosen Labyrinth aus Erinnerungen, Sorgen und alltäglichen Überlegungen, schlichtweg nicht in der Lage, mich auf irgend etwas richtig zu konzentrieren. Deswegen zuckte ich nun erschrocken zusammen. Ich hatte nicht einmal wirklich registriert, dass die Mathematikstunde bereits angefangen hatte.
„Was?“
Wortlos hielt mir Herr Pfleiderer die weiße Kreide entgegen. War das ein amüsiertes Funkeln, das ich in seinen Augen erkannte? Eigentlich war der noch recht junge Mann keiner dieser Lehrer, die den Beruf wohl nur gewählt haben, um ihre sadistische Ader auszuleben und nichtsahnende Schüler zu quälen. Normalerweise war er recht freundlich, und für gewöhnlich ließ er mich auch in Ruhe, weil er wusste, dass er bei mir ohnehin nicht mit Antworten rechnen konnte, die in irgendeiner Form den Unterricht bereicherten. Warum er sich nun ausgerechnet diesen Tag auswählte, um mich zu demütigen, war mir schleierhaft. Bislang hatte ich ihn eigentlich immer ganz gerne gemocht.
Ich schluckte krampfhaft. Ich wusste, was diese stumme Geste bedeutete. Ich war die Auserwählte, die heute an der Tafel vorrechnen durfte. Na wunderbar, das hatte mir gerade noch gefehlt.
Mathematik war neben Physik und Chemie schon immer mein schwächstes Fach gewesen. Wie Pfleidere auf die Idee kam, ich hätte auch nur die geringste Ahnung, was ich mit diesen seltsamen Zahlenreihen anfangen könnten, die mich in ihrem gestochen scharfen Weiß regelrecht zu verhöhnen schienen, das wusste ich nicht. Langsam schlich ich mich durch die Reihen nach vorne, während sich mein Magen schmerzhaft verkrampfte. Es war ein Gefühl, als ging ich meiner eigenen Hinrichtung entgegen. Schweigend nahm ich die Kreide entgegen und nahm den Platz vor der Tafel ein.
Die Blicke meiner Mitschüler schienen sich regelrecht in meine Schulterblätter zu bohren. Es war auf einmal so seltsam still geworden. Ich war mir sicher, dass man eine Stecknadel würde fallen hören. Warteten sie darauf, dass ich mich vor aller Augen blamierte, oder fühlten sie mit mir? Ich war mir fast sicher, das ein oder andere ermunternde Wort gehört zu haben, als ich an den einzelnen Tischen vorbeigegangen war. Aber die anderen Stimmen waren auch da gewesen. Die tuschelnden, lästernden Stimmen, die mich überall hin zu verfolgen schienen.
Mir war so seltsam heiß, und schon spürte ich, wie mir die ersten Schweißtropfen auf die Stirn traten. Noch immer stand die Gleichung jungfräulich und unberührt an der Tafel. Ich wusste einfach nicht, was ich jetzt tun sollte. Die Zahlen hüpften vor mir auf und ab, und wie ich es auch drehte und wendete, ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was ich mit dieser verdammten Gleichung anfangen sollte.
Die beiden Mathe-Asse aus der ersten Reihe, Jan und Tobias, hatten wohl Mitleid mit mir, denn sie versuchten ernsthaft bemüht, mir hinter vorgehaltenen Händen Lösungsvorschläge zuzuraunen, mit denen ich leider ebensowenig anfangen konnte wie mit den Hieroglyphen und Zahlenkombinationen an der Tafel vor mir. Doch mir entgingen auch nicht die ratlosen Blicke, die sich die beiden Musterschüler gegenseitig zuwarfen. Die peinliche Stille senkte sich noch schwerer als zuvor über den Raum, während ich zunehmend verzweifelt die grüne Tafel anstarrte und mich weit, weit fort von hier wünschte.
Irgendwann, als sich das Schweigen wie eine unerträgliche Last auf meine Schultern lag und mir die Luft zum Atmen raubte, gab ich mich schließlich geschlagen.
„Ich kann das nicht“, flüsterte ich tonlos und drückte dem ebenfalls ein wenig ratlos wirkenden Pfleiderer die Kreide in die Hand zurück. „Wahrscheinlich bin ich tatsächlich ein hoffnungsloser Fall. Aber das wissen Sie ja schon lange.“
Dann stapfte ich mit gesenktem Kopf zu meinem Platz in der hintersten Reihe zurück und vergrub meinen Kopf zwischen meinen verschränkten Armen. Nichts mehr sehen, nichts mehr denken, nichts mehr fühlen.
„Nun, wer von euch kann diese Aufgabe lösen?“, hörte ich Pfleiderers Stimme wie aus weiter Ferne durch den Vorhang meiner Haare dringen. Stille.
„Jan, Tobi?“
Stille.
„Oh“, entfuhr es da dem Lehrer. „Natürlich, diese Gleichung können sie noch nicht lösen. Das haben wir noch nicht behandelt...“
Das erste Mal in meinem Leben hegte ich Mordgedanken.
„Na, Kleines, schlechter Tag?“, begrüßte mich eine warme, bekannte Stimme, kaum dass ich den Klassenraum verlassen hatte. Ich hatte absichtlich viel Zeit damit zugebracht, meine Sachen in meiner Schultasche zu verstauen. Nach dieser Blamage wollte ich keinem meiner Klassenkameraden mehr in die Augen sehen. Das Blut brannte noch immer heiß in meinen Wangen.
Da stand er, an die gegenüberliegende Wand des schmalen Flurs gelehnt, die Schultasche lässig über die Schulter geschlungen, die Haare ein wenig zerzaust und durcheinander. Er hatte Sport gehabt, und ich glaubte, noch ein paar Wassertropfen in den schwarzen Haarspitzen glänzen zu sehen. Wie er es immer wieder schaffte, so rasch zu duschen und sich umzuziehen und trotzdem hier auf mich zu warten, wenn meine letzte Stunde zu Ende ging, war mir schleierhaft. Doch ich war so unendlich froh darüber. Wenn er bei mir war, fielen mir die Blicke nicht so auf, und das Getuschel wurde zu einem leisen Hintergrundrauschen, das mich nicht länger berührte.
„Du hast ja keine Ahnung!“, stöhnte ich leise und ließ das erste Mal an diesem langen Tag meine Maske fallen. Es tat gut, nicht länger fröhlich sein zu müssen. Meine Mundwinkel schmerzten bereits, so oft hatte ich sie angestrengt nach oben ziehen müssen, ohne es auch nur ein einziges Mal auch so gemeint zu haben.
„So schlimm also“, meinte Flo mitfühlend. Sein grünen Augen blickten suchend in die meinen, als ich nichts darauf erwiderte. Ich wollte nicht darüber sprechen, ich wollte nur vergessen. Und Flo verstand. So, wie er mich fast immer verstand. Wortlos verschränkte er seine Finger mit den meinen. Nur kurz, nur, bis wir das Ende des leeren Schulflurs erreicht hatten. Dann ging er wieder auf Abstand. Doch ich spürte die Wärme seiner Hand noch lange an meinen Fingern.
Es waren kleine Gesten wie diese, die einen Tag wie den heutigen für mich erträglich machten.
2. Zuhause
Ich lauschte dem vertrauten Geräusch, mit dem sich der Schlüssel im Schloss drehte – wie üblich musste Flo mit der Hüfte ein wenig nachhelfen, da die Haustüre klemmte. Wieder einmal. In dieser verdammten Wohnung gab es mehr Dinge, die der Reparatur bedurften, als ich an zwei Händen hätte abzählen können. Aber es war unser Zuhause. Das einzige, das wir jemals gekannt hatten.
Wie jeden Tag fragte ich mich, was uns wohl heute hinter dieser Türe erwarten würde. Mutter war immer wieder für eine Überraschung gut. Vielleicht saß sie gerade mit ihrem neuesten Freund am Esstisch, umgeben von diesem unglaublichen Chaos, das sie stets hinterließ, wenn sie wieder einmal versuchte, etwas Essbares zustande zu bringen. Einmal war uns auch ein aufgebrachter Köter entgegengesprungen. Es war eines dieser wirklich großen Viecher gewesen, mit schwarzem, zotteligem Fell und blutunterlaufenen, bösartigen Augen. Ich konnte mich noch sehr gut daran erinnern, wie er die riesigen Zähne gefletscht und dann nach Flos Arm geschnappt hatte. Flo hatte gerade noch rechtzeitig einen Satz nach hinten gemacht und die Türe hastig wieder zugeworfen. Ich konnte mich noch gut an die Standpauke erinnern, die er kassiert hatte, weil Fiffi sich deswegen die Schnauze an der Tür gestoßen hatte. Später hatten wir dann erfahren, dass die Töle auf den Namen „Karlchen“ hörte und zu einem von Mutters Freunden gehörte – ich glaube, er hieß Bernd oder so ähnlich. Da er vorübergehend vom Gerichtsvollzieher auf die Straße gesetzt worden war, hatte er seinen Hund geschnappt und war kurzerhand bei uns eingezogen.
Ich war so erleichtert gewesen, als Mutter ein paar Tage später festgestellt hatte, dass sie gegen Hundehaare – und vielleicht auch gegen Bernds wahnsinnig penetrantes Männerparfüm – allergisch reagierte und der große, breitschultrige Typ mit den ungezählten Karohemden kurz darauf für immer aus unserem Leben verschwunden war. Ich hatte ihn nicht vermisst. Er hatte so viel gefuttert, dass wir den Rest des Monats von Salzkartoffeln und Kartoffelsuppe hatten leben müssen, während Mutter wieder jeden Abend durch die Clubs der Stadt gezogen war, um den nächsten zukünftigen Exfreund zu suchen. Natürlich wurde sie fündig. Bislang war sie immer fündig geworden.
Diesmal erwartete uns jedoch keine unangenehme Überraschung hinter der verschlossenen Türe. Statt dessen emfing uns Stille und Dunkelheit. Niemand zu Hause, oder Mutter schlief noch immer ihren Rausch aus. Ich seufzte erleichtert auf. Ruhe und Frieden waren genau das, was ich jetzt brauchte.
Wortlos hängte ich unsere regendurchnässten Jacken an die Garderobe, während Flo den Stapel Post durchging, den ich unten aus dem Briefkasten genommen hatte. Die Handgriffe waren so geübt, so vertraut.
„Schon wieder“, murmelte Flo resigniert und wedelte mit einem weißen Briefumschlag durch die Luft. Ich wusste nur zu gut, was das zu bedeuten hatte. Eine Rechnung. Wieder einmal. Ich wollte gar nicht wissen, was es diesmal war. Eine gelbe Quietscheente, ein neues paar Markenschuhe, eine teure Lederjacke, ein schickes Abendkleid. Es war immer das Gleiche.
„Leg sie ihr aufs Bett, dann sieht sie sie vielleicht, wenn sie heute abend wieder völlig fertig nach Hause kommt“, schlug ich vor, doch selbst mir entging mein spöttischer, resignierter Unterton nicht.
Flo schnaubte nur. „Na sicher. Hoffentlich hat sie wenigstens die Wasserrechnung endlich bezahlt...“
Ich seufzte. Natürlich hatte sie das nicht, die Befürchtung hatten wir beide. Und spätestens nach der zweiten Mahnung mussten wir handeln. Ich konnte mich zu gut daran erinnern, wie es gewesen war, als uns das Wasser abgestellt worden war. Nur dank der freundlichen Frau Schuster von nebenan waren wir halbwegs zurecht gekommen.
„Gehst du heute wieder ins Café?“
„Nein, heute bin ich hier und stehe dir ganz zur Verfügung.“ Flo deutete eine halbherzige Verbeugung an, und fast gegen meinen Willen schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht.
„Schön. Dann kannst du gleich mal mit dem Kochen anfangen. Ich bin am Verhungern...“, zog ich ihn auf und deutete mit einem breiten Grinsen in Richtung der Küche.
„Sklaventreiberin“, maulte er, doch ich sah das schelmische Blitzen in seinen Augen. „Na, mal sehen, was ich so zusammenkratzen kann.“
Nur wenig später saß ich mit dem Kochbuch im Schoß auf der Arbeitsplatte und baumelte mit den Füßen in der Luft, während Flo die schwindende Ansammlung von Lebensmitteln in der Vorratskammer begutachtete. Natürlich brauchte er die Anweisungen aus dem alten, zerfledderten Buch schon lange nicht mehr, aber es war zu einem Ritual geworden. Ein Ritual, das ich sehr mochte. Und Flo auch, wie es schien, zumindest hatte er sich noch nie darüber beschwert.
Mit einem leichten, ein wenig traurigen Lächeln auf den Lippen erinnerte ich mich, wie das damals alles angefangen hatte. Das mit dem Kochen.
***
Es war Freitagabend, und Mutter hatte sich schon seit Tagen nicht mehr blicken lassen. Das kam häufiger vor, heute zumindest, aber damals war es das erste Mal gewesen, dass sie wirklich mehrere Tage hintereinander fort gewesen war. Mit einem hastigen Kuss und einem genuschelten „Ich bin dann mal bei Rainer“ hatte sie sich vor gut fünf Tagen verabschiedet. Wie gesagt, für gewöhnlich blieb sie damals nicht länger als ein oder zwei Tage fort. Und für gewöhnlich fand sich immer die ein oder andere Dose Fertigravioli oder Nudeleintopf in der Vorratskammer. Flo hatte schon sehr früh gelernt, mit dem Dosenöffner umzugehen, und irgendwann hatten wir auch herausgefunden, wie das mit dem Herd und den Kochtöpfen funktioniert. Bislang waren wir immer ganz gut alleine zurecht gekommen. Doch diesmal war sie schon so lange fort, und es waren keine Dosen mehr da. Gestern Abend hatten wir uns die letzten TUC-Cracker geteilt. Es hatte nicht gereicht, den Hunger gänzlich zu stillen.
Mein Magen knurrte jetzt laut und vernehmlich, während ich den Kopf in Flos Schoss bettete und versuchte, vor dem laufenden Fernseher ein wenig zu dösen. Hunger war einfacher zu ertragen, wenn man schlief, das hatte ich rasch herausgefunden.
„Ich hab überall gesucht“, murmelte Flo ratlos und fuhr mir sanft durch das zerzauste Haar. Ich mochte diese zarten, beruhigenden Berührungen, ich mochte es, wenn er mir so nahe war. Seine Wärme und sein Geruch hüllten mich ein, gaben mir ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
Doch ich war ebenso ratlos wie er, und der Hunger nagte an uns beiden. Ganz deutlich hörte ich nun auch seinen Magen, er gab ein vehementes, protestierendes Stöhnen von sich, so als wolle er dem meinen beipflichten.
„Es ist einfach nichts zu Essen hier. Verdammt, ich wäre schon froh, wenn ich einen dieser schrecklichen Fischsuppen gefunden hätte! Brrr!“ Flo schüttelte sich vor gespieltem Ekel, und ich lachte kurz auf. Wie es ihm nur immer gelang, mich selbst in einer solchen Situation aufzumuntern, war mir ein Rätsel.
„Ja, die war wirklich widerlich!“, stimmte ich ihm dann zu. Nur zu gut erinnerte ich mich an den schleimigen, fischigen Geschmack, der mir regelrecht im Gaumen geklebt hatte. Doch selbst den ekligen Fischeintopf hätte ich jetzt gegessen. Weil ich einfach so verdammten Hunger hatte.
„Was machen wir nur?“ Fast schon ein wenig verzweifelt blickte ich zu ihm auf. Ich fühlte mich auf einmal so alleine und verlassen. Wo war Mutter nur? Sie konnte uns doch nicht einfach hier zurücklassen?Hatte sie uns vergessen?Waren wir nun für immer und ewig alleine? Vielleicht war war es ja wie bei Hänsel und Gretel. Die waren auch von ihren Eltern verlassen worden, weil sie nicht genug zu essen gehabt hatten.
„Was machen wir, wenn sie uns verlassen hat, Flo?“, flüsterte ich ängstlich. „Was machen wir, wenn sie nie wieder zurückkommt? Ich habe solchen Hunger...“
„Hey...“ Seine Stimme war so weich, so sanft. So ruhig. „Sie hat uns nicht verlassen. Sie kommt zurück, du wirst schon sehen, Krümel. Sie ist bisher immer zurückgekommen, oder?“
Ich nickte, immer noch ein wenig zweifelnd.
„Ich habe Hunger“, seufzte ich leise und kuschelte mich noch ein wenig enger an ihn heran. Seine Arme schlossen sich um mich. Stark und sicher.
„Mir wird schon was einfallen“, versuchte er, mich zu beruhigen. Er sah auf einmal so schrecklich ernst aus. Schrecklich ernst und schrecklich entschlossen. Und ich glaubte ihm.
In jener Nacht lagen wir lange wach und konnten nicht einschlafen. Eng aneinander gekuschelt lagen wir in Flos schmalem Kinderbett. Ich hatte es längst aufgegeben, in meinem Zimmer zu bleiben, wenn wir alleine waren. In Flos Nähe waren die Schatten nicht so dunkel, der Wind pfiff nicht mehr so laut ums Haus, und die Monster blieben dort, wo sie hingehörten: in den Schränken und dunklen Ecken.
Normalerweise schlief ich wie ein Murmeltier, so lange ich bei ihm sein konnte. Doch heute fanden wir beide keine Ruhe. Mein leerer Magen zog sich immer wieder krampfhaft zusammen, und ich war mir sicher, dass es ihm ähnlich ging, denn ich hörte ihn immer wieder leise seufzen und stöhnen.
„Es tut mir so leid, Ria“, flüsterte er irgendwann gegen Morgen erschöpft.
„Es ist nicht deine Schuld“, widersprach ich ihm schwach.
Er erwiderte nichts darauf, zog mich nur ein wenig fester an sich, so als suche er in meiner Nähe denselben Trost, den ich stets bei ihm fand. Irgendwann fielen mir dann doch noch die Augen zu.
Am nächsten Morgen war die andere Hälfte des Bettes leer. Die Decke war sorgsam um mich herum festgesteckt, und einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, einfach noch einmal die Augen zu schließen. Doch das nagende Hungergefühl war noch schlimmer als am Abend zuvor. Und so quälte ich mich dann tatsächlich aus dem Bett – obwohl es noch früh am Morgen war, so früh, dass die ersten Strahlen der Morgensonne gerade so zum rechten Rand des Fensters ins Zimmer hineinlugten.
Und dann hallte ein schepperndes Klirren durch die morgendliche Stille, und ich wusste wieder, was mich aus dem Schlaf gerissen hatte.
„Flo?“ Meine Stimme klang so seltsam klein und hohl im leeren Zimmer meines Bruders. Tausend mögliche Szenarien schossen mir durch den Kopf, eines schlimmer als das andere.
Die neugierige Nachbarin aus der Wohnung über uns, die immer ein wenig langsamer als gewöhnlich an unserer Tür vorüber ging, hatte sich so auf das Lauschen konzentriert, dass sie mit dem Postboten zusammengestoßen war, der daraufhin seine Lieferung hatte fallen lassen. Es waren sechs Kristallgläser, die Mutter in einer ihrer Shoppinglaunen bestellt hatte und die wir trotzdem würden bezahlen müssen. Oder es war Mutter, die wieder einmal angetrunken nach Hause gekommen war. Sie war über den gläsernen Couchtisch gestolper, der daraufhin natürlich in tausend tödliche Scherben zerbrochen war. Sie lag nun schwer verletzt inmitten der Glassplitter und würde verbluten, wenn ich ihr nicht sofort zu Hilfe kam. Oder eine Horde Einbrecher, die den Fernseher hatten stehlen wollen und dabei von Flo auf frischer Tat ertappt worden waren, hatten meinen Bruder als Geisel genommen und würden ihn nun langsam zu Tode foltern, wenn er ihnen nicht gestand, wo wir die nicht vorhandene Million versteckt hatten.
Und dieser Gedanke war es, der mich trotz meiner Angst dann in Bewegung setzte. Allein die Vorstellung – Flo, verängstigt, verletzt und in Gefahr...mit einem Satz war ich aus dem Bett gesprungen und zur Tür gerannt. Es war mir auf einmal gleich, was die Einbrecher mit mir anstellen würden, und dass ich im Grunde keine Chance gegen sie haben würde. Ich war mir auf einmal sicher, dass mein Bruder mich brauchte, und ich hätte alles getan, alles geopfert, um ihn zu retten.
Niemals zuvor hatte ich den langen, kalten Flur so schnell durchquert. Es fiel mir nicht auf, dass die Heizung wieder einmal nicht angestellt worden war, wohl, um Öl zu sparen, und ich bemerkte auch nicht, dass ich haltlos zitterte vor Angst und vor Kälte. Ich hatte ein Ziel, und alles andere verblasste, wurde nebensächlich und unwichtig.
Das Bild, das sich meinen Augen bot, als ich die Küche betrat, war ein gänzlich anderes als erwartet. In einem hatte ich jedoch recht behalten: da waren Scherben. Nicht die Scherben des Couchtisches. Es waren hellblau bemalte Keramikscherben. Die Farbe kam mir so seltsam vertraut vor, auch wenn ich sie keinem unserer Geschirrteile zuordnen konnte.
Und dann sah ich sie. Die blitzenden, blinkenden Münzen und die vereinzelten Geldscheine zwischen den Scherben. Und da verstand ich endlich.
„Flo, das kannst du nicht machen!“, flüsterte ich entsetzt.
Wie viele Jahre hatte er nun gewissenhaft jeden einzelnen Cent, den er nur irgendwie hatte erübrigen können, zurückgelegt und in das babyblaue Keramiksparschwein gesteckt? Immer wieder hatte er Frau Bruckners Einkaufstasche das Treppenhaus hinaufgeschleppt oder bei Frau Tillmann den Rasen gemäht, und das wenige Geld, das sie ihm daraufhin zugesteckt hatten, war immer in das Schwein gewandert, das auf dem obersten Küchenschrank gestanden hatte, sicher versteckt vor den suchenden Augen von Mutter, die eine wahre Spürnase für versteckte Münzen entwickelt hatte. Doch von dem losen Brett in der Wandverkleidung auf dem rechten Wandschrank hatte sie nichts gewusst.
Flo war beim Klang meiner Stimme erschrocken zusammengefahren. Jetzt wandte er sich langsam zu mir um. Seine Augen blickten noch immer so ernst, und unter ihnen lagen dunkle Ringe der Erschöpfung. Es tat so weh, ihn so müde zu sehen, so resigniert, so niedergeschlagen. Es passte nicht zu Flo, der doch sonst immer so gut gelaunt und fröhlich war, der mich immer zum Lachen brachte, wenn es mir nicht gut ging. Er sah auf einmal so schrecklich alt aus und so schrecklich erwachsen.
„Doch, das kann ich“, erwiderte er schließlich ruhig. „Es ist mein Geld. Wir haben beide Hunger. Wer weiß, wann Sie sich dazu bequemt, nach Hause zu kommen. Und morgen ist Sonntag, da hat kein Supermarkt offen. Wir müssen heute einkaufen gehen, wenn wir nicht das ganze Wochenende hungern wollen.“
Ich wusste, dass er recht hatte. Ich wusste es, und trotzdem tat es weh, ihn so in den Scherben knien zu sehen. Ich wusste, dass er davon geträumt hatte, den Mopedführerschein zu machen. Irgendwann, wenn er alt genug dafür war. Schon seit Jahren schwärmte er mir vor, wie toll das doch wäre, und wo wir überall hin fahren könnten.
„Es tut mir so leid“, flüsterte ich, als ich das Schweigen nicht länger ertragen konnte.
„Das muss es nicht, Ria, wirklich nicht“, sagte er leise. „Es war nur eine dumme, kindische Idee. Essen ist wichtiger. Du bist wichtiger.“
Doch seine Träume waren weder dumm noch kindisch, das wussten wir beide. Und in diesem Moment begriff ich, dass er das Sparschwein nicht seinetwegen zerstört hatte. Wäre es nur um ihn gegangen, er hätte wohl auch ein paar Tage gehungert, da war ich mir auf einmal sicher. Den ganzen, gestrigen Tag hatte er mich immer wieder so sorgenvoll angesehen, wenn er geglaubt hatte, ich bemerkte es nicht. All das ergab auf einmal einen Sinn.
Du bist wichtiger.Niemals hatte das jemand zu mir gesagt. Auf einmal war meine Kehle so schrecklich eng, dass mir das Schlucken schwer fiel. Flo sah mich noch immer so unverwandt an, und da war dieses warme, weiche Gefühl in meiner Brust.
Wortlos fiel ich ihm um den Hals. Er fing mich gerade noch auf, was sicherlich nicht einfach war, da er ja immer noch halb auf dem Boden kniete.
„Uff!“, protestierte er stöhnend, doch ich hörte das Lächeln in seiner Stimme, spürte die Kraft, mit der sich seine Arme um mich schlossen.
„Ist schon gut, Kleine“, flüsterte er schließlich in mein langes, vom Schlaf zerzaustes Haar. „Zieh dich an, und dann gehen wir einkaufen.“
Und das taten wir dann auch. Flo fand einen alten Rucksack in der hintersten Ecke der Abstellkammer, und dann machten wir uns zu Fuß auf den Weg zum nächsten Supermarkt.
Es war ein ganz schönes Stück zu laufen. Aber Flo wollte nicht mit der Straßenbahn fahren. Das hätte Geld gekostet.
„Und wir wissen nicht, wie lange das hier reichen muss“, hatte er düster gemeint und auf den prall gefüllten Geldbeutel gedeutet, der nun um seinen Hals hing.
Ich kam mir so erwachsen vor, als wir Hand in Hand die Hauptverkehrsstraße entlang zum Supermarkt gingen. Natürlich war ich eigentlich zu alt, um an der Hand genommen zu werden. Aber Flo machte sich Sorgen wegen der Straße, und das warme Gefühl seiner Hand, die die meine umfasste, war zu schön, als dass ich etwas dagegen eingewendet hätte. Ich fühlte mich so sicher an seiner Hand. Als würde ich zu ihm gehören. Als würde er damit sagen wollen: `Das ist meine Ria, und ich passe auf sie auf. Wehe euch Schurken und bösen Menschen, wagt es nicht, ihr ein Leid zuzufügen.` So oder so ähnlich zumindest.
Ich war schon einkaufen gewesen. Wenn Mutter wieder einmal die Milch vergessen hatte, oder das Mehl, oder die Eier – was öfter vorkam – dann war ich auf dem Rückweg von der Schule manchmal noch in den Supermarkt gegangen. Meistens machte das allerdings Flo. Weil er älter war, und weil er nicht wollte, dass ich die schwere Einkaufstasche alleine nach Hause tragen musste.
Heute jedoch waren wir ganz alleine hier, entschieden selbst, was wir kaufen wollten. Oder besser gesagt, Flo entschied.
Lange Zeit wanderte er von Regal zu Regal, und ich glaubte, regelrecht sehen zu können, wie es in seinem Hirn ratterte. Er rechnete. Ich war schon immer eine Niete in den naturwissenschaftlichen Fächern gewesen, und besonders Mathematik war für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Flo hingegen rechnete gut. Außerordentlich gut.
Am Ende waren wir nicht beladen mit großen Pommes-Frites-Vorratspackungen oder Stapeln von Tiefkühlpizzen, wie ich mir insgeheim erhofft hatte. Nein, in dem alten Rucksack sammelten sich Kartoffeln, Eier, Spaghetti, Reis, Milch, Dosentomaten und Pilzkonserven.
„Wir haben noch nie so etwas gekauft“, wagte ich schließlich einzuwenden. „Und Mutter auch nicht.“ Skeptisch beäugte ich die gelb-braunen, faustgroßen Knollen und fragte mich, wie ich so etwas essen sollte. Meine bisherigen Erfahrungen mit Lebensmitteln beschränkten sich auf Fertigpizza und Konserven.
Flo vergrub die Schneidezähne in der Unterlippe. Das tat er immer, wenn er nervös war.
„Wenn wir etwas anderes kaufen, reicht das Geld nicht lange. Hiervon werden wir länger satt. Ich weiß nicht, wie lange Mutter noch fort ist. Und ich weiß nicht...ich will nicht...scheiße, hast du eine bessere Idee?“
Mit großen Augen sah ich zu ihm auf. Er hatte das böse Wort gesagt! Flo war normalerweise immer so ruhig, so gelassen. Er fand immer eine Lösung für jedes Problem. Noch nie hatte ich ihn so unsicher erlebt. Auf einmal sah er so jung aus. So jung und so verloren. Seine Angst machte mir Angst. Er war doch mein großer Bruder! Wenn er nicht mehr weiter wusste, auf wen konnte ich mich dann noch verlassen?
„Nein, hab ich nicht“, flüsterte ich und sah zu Boden. Wenn Flo nicht mehr weiter wusste, waren wir verloren.
Eine ganze Weile standen wir uns so in dem engen Gang des Supermarktes gegenüber und schwiegen. Schließlich hörte ich ihn seufzen, und dann vernahm ich das leise Rascheln seiner Kleidung, als er vor mir in die Hocke ging, um mir in die Augen sehen zu können.
„Ist schon gut, Ria. Es tut mir leid. Das hier ist auch neu für mich. Aber wir werden das irgendwie hinbekommen, hörst du? So schwer kann das mit dem Kochen nicht sein. Wir werden nicht verhungern, das verspreche ich dir. Ich pass auf dich auf.“
„Versprochen?“
„Versprochen!“
Mit einem halbherzigen, ein wenig zittrigen Lächeln reichte er mir seine Hand, und ich legte meine Hand in die seine. Warm schlossen sich seine Finger um die meinen. Warm und sicher und fest. Zaghaft erwiderte ich das Lächeln, und mir wurde ein wenig leichter ums Herz. Wir würden das irgendwie hinbekommen.
Und spätestens an der Kasse musste ich ihm insgeheim recht geben. Niemals zuvor hatte ich für so wenig Geld so viele Lebensmittel eingekauft.
Als wir nach Hause kamen, war Mutter immer noch nicht zurückgekehrt. Eigentlich war es nicht anders zu erwarten gewesen, aber ich war dennoch bitter enttäuscht. Ich konnte nicht verstehen, warum sie uns einfach alleine gelassen hatte. Hatte sie uns nicht mehr lieb? Waren wir so schreckliche Kinder, dass sie es nicht mehr mit uns aushielt? Wieder und wieder stellte ich mir die Frage, was ich nur falsch gemacht haben könnte. Hatte ich vergessen, die Spülmaschine auszuräumen? Das wäre ihr doch sicherlich nicht aufgefallen, so wie ihr viele Dinge einfach nicht auffielen. Es konnte auch nicht an einer schlechten Note gelegen haben, ich schrieb nie schlechte Noten. Nicht, dass sie mich einmal danach gefragt hätte. Aber ich musste ihr schließlich immer meine Arbeiten zeigen, damit sie sie unterschrieb, ansonsten bekam ich Ärger mit Frau Strobel. Die wollte immer, dass Mutter ihren Namen unter meine Arbeiten setzte. Manchmal fragte ich mich, ob sie es von mir verlangt hätte, wenn sie gewusst hätte, für welch ein Problem mich diese Anordnung manchmal stellte. Denn zumeist hatte ich nur wenige Tage Zeit, und es war nicht so einfach, meine Mutter zu einer Unterschrift zu bewegen, wenn sie wieder einmal mit Kopfschmerzen im Bett lag oder erst gar nicht aufstand. Oder einfach nicht nach Hause kam, so wie gerade eben.
„Ria?“
„Hm?“ Überrascht sah ich zu Flo auf, der mich erwartungsvoll anblickte. „Oh, tschuldigung“, murmelte ich und zog rasch die Türe hinter mir ins Schloss. Das geschah mir immer wieder. Ich schweifte mit meinen Gedanken ab und vergaß alles um mich herum. Einmal hatte ich gehört, wie eine meiner Lehrerinnen zu Flo gemeint hatte, dass ich ein wenig verträumt sei. Ich hatte den Ausdruck passend gefunden. Denn es war wie träumen. Nur dass es eben am Tag geschah und dass ich nicht schlafen musste, um mich im Wirrwar meiner eigenen Gedankenwelt zu verlieren..
„Ist schon gut. Komm jetzt!“ Fast ein wenig ungeduldig deutete er in Richtung der Küche. Und ich verstand ihn so gut. Auch mein Magen zog sich inzwischen krampfartig zusammen, und meine Beine waren ungewöhnlich schwach und zittrig. In meinem jetzigen Zustand hätte ich beinahe alles gegessen. Selbst die gelb-braunen Kartoffelknollen.
Als ich die schmale Küche betrat, wühlte sich Flo bereits durch die Schränke. Putzlappen, Küchenrolle und Backpapier landeten in einem unordentlichen Haufen hinter ihm auf dem Fließenboden. „Es muss doch hier irgendwo sein...ich hab es doch erst gesehen...ich war mir so sicher...“, murmelte er dabei vor sich hin.
„Was suchst du denn?“, fragte ich vorsichtig.
„Das Kochbuch!“, kam es fast schon ein wenig verzweifelt zurück. „Da war eines! Ich bin mir so sicher, dass da irgendwo ein altes Kochbuch war!“
„Mutter hat niemals ein Kochbuch benutzt!“ Allein der Gedanke erschien mir absurd. Mutter, die es schon beinahe als Zumutung empfand, eine Pizza in den Backofen schieben zu müssen. Ich war mir sicher, dass sie noch nie in ihrem Leben so etwas wie ein Kochbuch auch nur angerührt hatte.
„Nein, das hat sie nicht, aber es war trotzdem eines im Schrank. Von Oma...“
Oma...ich schluckte. Ja, Oma hatte ein Kochbuch gehabt. Oma hatte oft gekocht. Oma hatte mir gezeigt, wie man Puddingpulver in heiße Milch einrührt, als ich noch sehr klein gewesen war. Bei Oma war es immer so schön warm gewesen. Oma hatte mir manchmal vorgelesen und hatte mich in den Schlaf gesungen. Bei Oma hatte ich mich so sicher gefühlt wie bei Flo...
„Da ist es ja!“, rief Flo erleichtert aus und zog ein zerfleddertes Buch aus der hintersten Ecke des großen Küchenschrankes hervor. Ein siegreiches Grinsen lag auf seinem Gesicht, und beinahe gegen meinen Willen musste ich ebenfalls lächeln. Er sah so jung aus, wenn er grinste. Seine Augen sprühten hoffnungsvolle, schelmische Funken, und seine gute Laune war ansteckend. Wir hatten Lebensmittel und sogar ein Kochbuch. Irgendwie musste es uns da gelingen, etwas Essbares zustande zu bringen. Flo konnte alles bewerkstelligen. Da war ich mir auch einmal wieder sicher.
Doch dann stand er auf und drückte mir das Buch in die Hand. Ich sah fragend zu ihm auf, wusste nicht so recht, was ich nun damit anfangen sollte.
„Du liest vor, ich koche“, bestimmte Flo.
Ein wenig unsicher musterte ich das schwere, in Leder gebundene Buch. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo auf diesen unendlich vielen Seiten ich das Rezept finden sollte, das er benötigte. Doch ich wollte helfen. Ich wollte ihm so sehr helfen. Zu oft musste er sich alleine um zu viele Dinge kümmern. Und ich war so froh, dass er mich diesmal helfen lies. Das kam viel zu selten vor. Also nickte ich nur.
Wenig später saß ich auf der Arbeitsplatte, so, wie ich es bei Oma auch immer getan hatte, baumelte mit den Füßen in der Luft und blätterte vorsichtig durch die vergilbten, hauchdünnen Seiten des alten Buches. Flo hatte in der Zwischenzeit die Konserven und das Netz Kartoffeln und die Milch und die Eier fein säuberlich auf den Regalen der Vorratskammer angeordnet. Durch die halboffene Türe konnte ich nur seinen gebeugten Rücken erkennen.
„Ich denke, Rührei wird wohl am Schnellsten gehen...“, wagte ich vorsichtig einen Vorschlag.
„Hm.“
„Hier...hier steht, man soll Eier in die Pfanne schlagen und sie verrühren. Das klingt einfach...“
„Hm.“
Es stellte sich heraus, dass es dann doch nicht so einfach war. Leider wussten wir damals beide nicht, wie schnell Eier anbrennen können. Oder dass man sie für gewöhnlich mit Salz würzt. Aber ich brachte es nicht übers Herz, etwas zu bemängeln, als Flo schließlich die seltsam braune Masse auf zwei Teller aufteilte. Ich war viel zu hungrig, um mich daran zu stören, dass das Essen gerade erst vom Herd genommen worden war, und auch die Tatsache, dass ich mir augenblicklich den Mund verbrannte und dass das Ei einen seltsamen, bitteren Nachgeschmack hinterließ, tat meinem Appetit keinen Abbruch. Hastig stopfte ich mir eine halbe Scheibe Brot in den Mund und sah dann überrascht auf. Grüne Augen musterteten mich aufmerksam. Flo sah mich mit großen, erwartungsvollen Augen an, und ich brachte es nicht übers Herz, ihn zu kritisieren. Er hatte sein Bestes gegeben, und das Ei war essbar. Das war alles, das zählte. Das, und die Tatsache, dass der hoffnungslose, verzweifelte Blick das erste Mal seit langer Zeit aus seinen Augen verschwunden war.
„Schmeckt gut“, versicherte ich ihm mit vollen Backen.
Flo seufzte erleichtert und lächelte. Alleine für dieses Lächeln hätte ich alles getan. Dann griff auch er zur Gabel und fiel wie ein hungriger Wolf über seine Portion her.
An den folgenden Tagen arbeiteten wir uns Schritt für Schritt durch das Kochbuch. Ich saß auf der Arbeitsplatte und baumelte mit den Beinen in der Luft, während ich aus dem aufgeschlagenen Buch vorlas, das ich auf meinen Oberschenkeln balancierte. Und Flo kochte.
Es waren friedliche, ruhige Momente, die wir gemeinsam in der Küche verbrachten. Niemals hatte ich mich so geborgen gefühlt. Das sanfte Klappern des Holzlöffels, der gegen den Topfboden schlug, und das rhythmische Klacken des Messers auf dem Schneidebrett, das waren die einzigen Geräusche, die unsere stille Zweisamkeit durchbrachen. Es war eine angenehme Stille. Eine Stille, die keiner Worte bedurfte.
Natürlich unterhielten wir uns. Manchmal las ich vor, obwohl Flo der Anweisungen des alten Buches immer weniger bedurfte. Oder ich erzählte von meinem Tag, wie es mir in der Schule ergangen war, und Flo erzählte, was er erlebt hatte. Doch manchmal schwiegen wir einfach und genossen die Stille, die so gar nicht zu dieser Wohnung passen wollte. Ich war es einfach nicht gewohnt. Normalerweise hatte ich mich stets gefürchtet, wenn Mutter nicht zu Hause war und es zu ruhig war. Doch ich fürchtete mich nun nicht mehr. Ich wusste jetzt, dass ich nicht alleine war. Flo war bei mir. Und ich hatte erkannt, dass wir gemeinsam alles fertig bringen konnten. Sogar kochen.
Fast eine Woche ging so vorüber, und ich ertappte mich dabei, dass ich mir wünschte, es könnte ewig so bleiben. Doch natürlich kam sie wieder zurück. So, wie sie es irgenwann immer tat.
Wir saßen gerade am Küchentisch und machten unsere Hausaufgaben, als plötzlich ohne weitere Vorankündigung die Haustüre aufflog.
„Hallo, meine beiden Kleinen, wie geht es euch?“, flötete Mutters fröhliche Stimme durch den Flur.
Neben mir stieß Flo zischend die Luft aus. Ich sah, wie sich sein Kiefer anspannte, als er die Zähne zusammmenbiss und sich anscheinend mühsam eine Erwiderung verbiss. Auch in mir brodelte ein bislang unbekanntes Gefühl, wie glühende, flüssige Lava, die sich einen Weg ins Freie sucht.
Jetzt kümmerte es sie, wie es uns ging? Jetzt, nachdem sie uns über eine Woche alleine gelassen hatte, ohne auch nur ein einziges Mal anzurufen?
Und dann öffnete sich auch die Küchentüre, und da stand Mutter, zwei Einkaufstüten von H&M in den Händen haltend, und lies ihren Blick durch die sorgsam aufgeräumte Küche gleiten.
„Ihr habt gekocht?“, fragte sie freudig überrascht, als sie den halbvollen Topf Spaghetti auf dem Herd stehen sah, der eigentlich für morgen mittag gedacht gewesen war. „Ich wusste gar nicht, dass ich Nudeln gekauft hatte. Seit wann kannst du kochen, Flo?“
„Du hast keine Nudeln gekauft“, knurrte Flo und sprang auf. „Wir waren einkaufen. Es war nichts mehr zu essen da, und Maria konnte nicht einschlafen, weil ihr Magen so laut geknurrt hat. Und nein, bis vor einer Woche konnte ich tatsächlich nicht kochen!“
Mit diesen Worten schob er sich an Mutter vorbei. Kurz darauf hörte ich am anderen Ende des Flurs seine Zimmertüre knallen.
Mutter schüttelte ungläubig den Kopf. Ihre blonden Locken flogen durch die Luft, verteilten ein mir unbekanntes, süßliches Parfum im Raum.
„Was hat er denn nur? Freut er sich denn nicht, dass ich wieder zu Hause bin?“ Ihre Stimme, die anfangs ein wenig unsicher geklungen hatte, gewann langsam an Festigkeit. „Undankbarer Bengel, das war er schon immer. Keinen Respekt hat er vor seiner Mutter! Keinen Respekt!“
Es brannte mir auf der Zunge, Flo zu verteidigen. Es kam mir wie Verrat vor, hierzu zu schweigen. Selten hatte ich mich so sehr zusammenreißen müssen, doch ich hielt meinen Mund. Ich wusste genau, dass es zu nichts führen würde, wenn ich ihr widersprach. Mit meiner Mutter konnte man nicht diskutieren. Sie hatte immer recht. So einfach war das. Und mir war der leicht säuerliche Alkoholgeruch nicht entgangen, den sie ausströmte. Das Parfum überdeckte ihn nicht gänzlich, und ich war zu sehr daran gewöhnt, als dass ich ihn nicht zu deuten gewusst hätte.
„Wo warst du denn so lange?“, wagte ich schließlich eine Frage. Und bereute es schon einen Augenblick später.
„Oh, du wirst es nicht glauben, Schätzchen“, seufzte sie verzückt. Dann stellte sie die Plastiktragetaschen neben dem Tisch ab und ließ sich auf dem Stuhl nieder, auf dem zuvor Flo gesessen hatte. „Rainer ist ein so netter Mann – und so großzügig! Jeden Abend hat er mich ausgeführt. Jeden Abend! Wir haben lange Spaziergänge gemacht, und er hat mich seiner Familie vorgestellt – habe ich dir schon erzählt, dass er einen kleinen Sohn hat? Ein fabelhafter Junge, wirklich, er kommt noch dieses Jahr in die Schule, aber er kann schon ein paar Buchstaben lesen!“
Ich verkniff es mir, sie darauf hinzuweisen, dass Flo mir das Lesen beigebracht hatte, noch bevor ich in die Schule gekommen war.
„Und dann waren wir shoppen!“, schwärmte meine Mutter weiter, und ihr Blick verlor sich sehnsüchtig in der Ferne. „Rainer ist tatsächlich ein Mann, mit dem man stundenlang einkaufen gehen kann. Ich hab drei wunderschöne Kleider gekauft, und er hat gemeint, ich sei seine Prinzessin! Was kann sich eine Frau mehr wünschen, hm? Ach, Engelchen, es war einfach toll! Und was habt ihr so gemacht?“
***
„Wie war dein Test eigentlich?“
„Hm?“ Überrascht blinzelte ich in das Sonnenlicht, das durch das offene Küchenfenster hereindrang und sich auf Flos dunklen Haaren brach. Das rhythmische Geräusch des Messers auf dem Schneidebrett drang zu mir durch, und ich sah, wie sich seine rechte Schulter im Takt des Messers hob und senkte. Wieder einmal hatte ich mich in der Vergangenheit verloren...
„Habt ihr heute nicht einen Physiktest zurückbekommen?“
„Ach so...na ja, Physik eben.“
„Ich kann es mir mal ansehen, wenn du möchtest. Vielleicht kann ich dir helfen...“
„Okay...“, murmelte ich leise. Einerseits rührte es mich, wenn er sich um meine Noten sorgte, mir geduldig wieder und wieder zu erklären versuchte, was ich in der Schule nicht verstanden hatte. Andererseits fühlte ich mich jedes Mal so unfähig, so dumm. Ich wollte nicht immer die Schwächere von uns beiden sein.
„Und wie lief Geschichte?“, versuchte ich darum, von mir abzulenken. Flo grinste kurz, da war ich mir sicher, auch wenn ich sein Gesicht von hier aus nicht sehen konnte. Er hatte mich durchschaut, doch er lies es dabei bewenden. Vorerst. Bis zum nächsten schlechten Physiktest. Wenn ich Glück hatte.
„Ganz gut.“
„Hast du Ärger bekommen? Wegen der Verspätung?“
Flo seufzte. „Diesmal nicht...aber ich glaube nicht, dass ich mir das in nächster Zeit noch einmal leisten kann...und du?“
„Holzmann war ein wenig verärgert. Aber das geht schon in Ordnung, denke ich. Da gibt es andere, die wesentlich öfter zu spät kommen. Ich hab keinen Eintrag bekommen.“
„Hm.“
Es zischte leise, als Flo die Zwiebeln in das heiße Fett gleiten ließ. Er legte den Deckel auf die Pfanne und rührte dann in dem Topf, in dem die Kartoffeln langsam vor sich hin köchelten, während er einen nachdenklichen Blick in Richtung der Vorratskammer warf.
„Wir müssen dringend einkaufen, Ria. Das waren jetzt die letzten Kartoffeln.“ Er klang besorgt. Ich kannte diesen Tonfall nur zu gut. Viel zu oft machte er sich Gedanken, viel zu oft trug er zu viel Verantwortung. Manchmal glaubte ich, regelrecht beobachten zu können, wie sich seine Schultern unter dem Gewicht beugten, das auf ihnen lastete.
„Hmm. Ist aber nicht mehr viel da.“ Ich hatte den kleinen Buttertopf aus der hintersten Reihe im obersten Regal gezogen und inspizierte nun mit gerunzelter Stirn seinen Inhalt. Unsere Notversorgung. Unser Erspartes. Viel war nicht übrig geblieben. Das Leben war einfach so verdammt teuer.
„Ein paar Tage bekomme ich uns noch satt.“ Flos Augen huschten abschätzend über die wenigen Lebensmittel, die durch die offene Tür der Speisekammer zu sehen waren. „Und morgen abend habe ich die letzte Schicht im Café, das wird dann für die nächste Woche reichen.“
„Wenn Mutter die Rechnungen bezahlt“, gab ich zu bedenken.
„Hmm, ja“, brummte er düster.
Auf einmal kam mir ein Gedanke. Er spukte mir schon seit geraumer Weile im Kopf herum, aber bisher hatte ich nicht gewagt, es offen anszusprechen. Flos Meinung hierzu war so gut wie in Stein gemeiselt. Unumstößlich. Ich verstand es nicht. Wir waren ein Team. Warum ließ er sich in dieser Sache nicht von mir helfen? Es war doch nur vernünftig. Wir brauchten das Geld. Und er war nicht der einzige, der dafür arbeiten gehen konnte.
„Könntet ihr denn noch eine Aushilfe gebrauchen?“
Grüne Augen bohrten sich fragend in die meinen.
„Ich möchte arbeiten, Flo, wirklich. Und ich bin mir sicher, dass ich das mit ein wenig Übung hinbekomme. Ich werde schon nicht alle Tassen gleich fallen lassen.“
„Darum geht es nicht“, murmelte Flo dunkel. „Das ist ein hartes Pflaster. Der Umgangston ist rau...es ist nicht so einfach, wie du dir das vielleicht vorstellst.“
„Du kannst mich nicht mein ganzes Leben lang vor der großen, bösen Welt da draußen beschützen“, sagte ich sanft. „Ich weiß den Versuch wirklich zu schätzen, aber ich bin schon ein großes Mädchen. Und wir können das Geld wirklich gebrauchen...was kann es denn schaden, wenn ich es einfach versuche? Nur für einen Monat? Und dann sehen wir weiter? Vielleicht bin ich ja ganz gut...“
„Nein.“ Mit einer ruckartigen Bewegung drehte er sich zu mir um, und die grünen Augen waren auf einmal hart wie Stein. Undurchdringlich. Kalt. „Nein, du gehst nicht ins Café!“
„Flo, ich...“
„Nein!“ Ich fuhr erschrocken zusammen. Niemals zuvor war er so laut geworden. Niemals zuvor hatte ich mich vor ihm gefürchtet. Was war nur los mit ihm? Ich verstand die Welt nicht mehr. Sein Blick fiel auf meine bebenden Hände, die ich in meinem Schoß verschränkt hatte, um ihr Zittern vor ihm zu verbergen. Es war, als würde ein Sturm in seinen Augen toben. Ein Sturm, der an Kraft verlor, als er mich ansah.
„Es tut mir leid“, flüsterte er tonlos. „Ich wollte...ich wollte dich nicht anschreien, Ria, das musst du mir glauben. Ich kann einfach...ich kann nicht...ich...“
Vorsichtig hob er die Hand. Ganz zart strich er über meine ineinander verschränkten Finger. Seine Haut war so warm. Seine Wärme schien auf mich überzugehen. Doch da war noch etwas anderes...ein seltsames Flattern in meinem Magen...und ich wünschte mir auf einmal, er würde nie wieder aufhören, mich so zu berühren.
Abrupt riss er seine Hand zurück. Fast so, als habe er sich verbrannt.
„Es tut mir leid!“ Seine Stimme klang seltsam gepresst, beinahe erstickt. Ohne eine weitere Erklärung stürzte er aus der Küche. Sprachlos starrte ich ihm hinterher.
3. Kaffee, Bier und Dunkelheit
Florian
Der vertraute Lärm ungezählter Stimmen umgab mich, kaum dass ich die Türe geöffnet hatte. Ein Schwall warmer, stickiger Luft hieß mich willkommen. Es war wie das schwarz-weiße Rauschen eines Fernsehers ohne Empfang, mit dem Unterschied, dass es sich um Geräusche handelte und nicht um Bilder. Doch ich nahm es kaum mehr war, genausowenig, wie ich den schalen Geruch des abgestandenen Bieres im Ablauf oder den leicht säuerlichen Geruch nach altem Kaffee mehr wahrnahm, den die Kaffeemaschine ausströmte. All das hier war eines, all das hier gehörte zum Café, ebenso wie die burgunderfarbene Schürze, die ich mir nun umband, während ich aus dem kleinen Ankleideraum heraustrat, der an die Theke grenzte.
„Hey, Florian, na, wie geht`s, Alter?“, begrüßte mich Jens, der sich gerade an einem Handtuch die Hände abrieb. Ich arbeitete gern mit ihm zusammen. Der große Blondschopf wirkte mit seinen breiten Schultern beinahe wie ein Wikinger aus vergangenen Zeiten, und auch die tiefe Bassstimme passte dazu. Neben ihm kam ich mir immer geradezu schmächtig vor, auch wenn ich eigentlich nicht gerade klein war. Mit ein paar Schritten kam mein Kollege jetzt hinter der Bar hervor und gab mir einen ordentlichen Schlag auf die Schulter. Ich hatte nie verstanden, warum man sich nicht einfach die Hand reichen konnte, doch Jens schien der Ansicht zu sein, dass ein Klaps auf die Schulter so viel männlicher wirkte.
Ich mochte es nicht, berührt zu werden. Ich hatte es noch nie gemocht. Vielleicht hing es damit zusammen, dass ich es einfach nicht gewohnt war. Vielleicht lag es daran, dass ich gerne einen gewissen Abstand zu anderen Menschen hielt. Manchmal fühlte ich mich, als betrachtete ich alles durch eine dünne Glaswand hindurch, die mich von allem anderen abschirmte. Es war sicherer hinter dieser Wand. Wenn ich niemandem nahe kam, war ich sicherer. Ich war es gewohnt, alleine zu sein. Es war besser so.
Ria war die einzige Ausnahme von dieser selbst auferlegten Lebensphilosophie. Ria war immer die Ausnahme. Hätte ich Ria nicht gehabt – ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre. Sie gehörte zu meinem Leben wie die Luft zum Atmen.
Andere Menschen waren jedoch eine andere Sache. Irgendwie misstraute ich den meisten. Vielleicht lag es ja daran, dass ich schon so oft enttäuscht worden war. Vielleicht lag es daran, dass ich mich nur dunkel an die frühsten Jahre meiner Kindheit erinnerte. Dunkel und mit einem gewissen Grausen. Irgendetwas war da geschehen. Ich konnte es nicht benennen, konnte es nicht wirklich greifen, es war wie ein Schatten, der sich immer wieder meinem Griff entzog, schleierhaft vor meinen Augen waberte. Aber ich spürte, dass mein Unwillen gegen Berührungen jeder Art aus dieser Zeit stammte. Mehr wusste ich nicht. Mehr wollte ich nicht wissen.
Dennoch war es manchmal besser, über gewisse Grenzüberschreitungen hinweg zu sehen. Es war einfacher. Und ich mochte Flo. Eigentlich. Also zwang ich mich jetzt zu einem müden Lächeln.
„Ganz gut, und selbst?“, antwortete ich, weil ich wusste, dass diese Worte von mir erwartet wurden. Er hätte es nicht verstanden, wenn ich ihm erklärt hätte, wie es wirklich in mir aussah. Niemand verstand das. Es war so oder so zu gefährlich, auch nur daran zu denken. Besser, ich versuchte, die Rolle zu spielen, die von mir erwartet wurde.
Es war nicht immer einfach, arbeiten zu gehen, für die Schule zu lernen und gleichzeitig den Haushalt zu führen – obwohl mir Ria da eine große Hilfe war. Es blieb schlichtweg zu wenig Zeit für die Dinge, mit denen sich andere Jungen meines Alters normalerweise ihre Freizeit vertrieben. Hinzu kam noch, dass ich nicht gerade sehr gesprächig war. Das hing zum einen damit zusammen, dass ich oft einfach nicht wusste, worüber ich hätte sprechen sollen – welcher Junge meines Alters teilte schon die Sorgen, mit denen ich mich Tag für Tag herumschlagen musste – zum anderen schlichtweg daran, dass ich wohl einfach nicht zu der Sorte Mensch gehörte, die sich selbst gerne reden hörte. Ich zog es für gewöhnlich vor, zu schweigen, wenn ich nichts zu sagen hatte. Und obwohl Jens das ganz anders sah, verstanden wir uns trotzdem sehr gut. Er wusste, wann er notfalls seinen Mund zu halten hatte.
Im Augenblick war ich jedoch ganz froh darüber, wenn er mich ein wenig ablenken konnte. Meine Gedanken waren in letzter Zeit in eine zunehmend gefährlichere Richtung abgedriftet. Es war besser, wenn ich nicht mit ihnen alleine war, so lange es sich vermeiden ließ.
Im Allgemeinen war Jens einer jener Menschen, die Äußerlichkeiten und Nebensächlichkeiten nicht bemerken. Ihm fehlte etwas, das meine Großmutter das „Auge fürs Detail“ genannt hätte – die Fähigkeit, Veränderungen in seinem Umfeld zu bemerken. Das betraf jedoch hauptsächlich Äußerlichkeiten wie Kleidung, Haarschnitt und das ein oder andere verrückte Möbelstück. Was Stimmungen und Gesichtsausdrücke betraf, war er hingegen erstaunlich aufmerksam. Bislang hatte er immer bemerkt, wenn mich etwas bedrückte. Ich wusste genau, dass er mir ansah, dass es mir nicht „ganz gut“ ging. Er sah mir an, das irgend etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Da war er wieder, dieser forschende, nachdenkliche Blick, mit dem er mich in letzter Zeit zunehmend häufiger bedachte. Seine Augenbrauen hoben sich fragend, doch ich schüttelte nur knapp den Kopf.
Lass es sein, Kumpel.
Einen Moment lang musterte er mich misstrauisch, doch dann entschied er wohl, dass es der Mühe nicht wert war, weiter nachzubohren.
Er zuckte die Achseln, und das so bekannte, gutmütige Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus. Und dann ging er zur Tagesordnung über, als sei nichts gewesen.
„Oh, soweit ganz gut“, beantwortete er dann meine Frage. „Bisher hat sich Chefchen noch nicht blicken lassen, da geht es mir immer gut.“
„Jens!“, zischte ich leise und sah mich ein wenig nervös in dem noch immer recht leeren Gastraum um.
„Keine Sorge, er ist nicht hier“, meinte mein Kollege leichthin.
Ich verstand es einfach nicht. Ich verstand nicht, wie er so unbekümmert daherreden konnte. Denn Herr Kowalenko war wirklich kein Mann, der Spaß verstand. Bereits an meinem ersten Arbeitstag hier war mir die seltsam angespannte Atmosphäre aufgefallen, sobald der Chef den Raum betreten hatte. Und spätestens seit jenem Vorfall vor einem halben Jahr wusste ich, dass er zu Recht gefürchtet wurde.
Doch dann erinnerte ich mich daran, dass Jens sich hier nur ein wenig Taschengeld dazuverdiente. Er konnte jederzeit kündigen. Von meinem Einkommen hingegen hing mein Überleben sowie das von Ria ab. Mutter war immer seltener zu Hause, und noch seltener ließ sie uns etwas Geld da. Zumeist konnten wir von Glück sagen, wenn sie die Miete und all die anderen Kosten abdeckte, die die Wohnung so mit sich brachte. Alles andere blieb uns selbst überlassen.
Wortlos nahm Jens jetzt das schwarze Plastiktablett vom Tresen und wies mit dem Zeigefinger auf den Zapfhahn. Ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln, mein erstes ehrliches Lächeln an diesem Tag, und er nickte nur. Er wusste, dass ich nicht gerne bediente.
Um die Nachmittagszeit war es hier immer recht ruhig. Der richtige Ansturm würde erst später kommen. Ich war dankbar für die wenigen Stunden Ruhe. Hier hinter dem Tresen gefiel es mir immer am Besten. Kundenkontakt konnte so anstrengend sein. Und Jens war zweifellos besser darin, mit Menschen umzugehen.
Eine ganze Weile arbeiteten wir stumm nebeneinander her. Mit Jens konnte man einfach und schweigend arbeiten. Wir verstanden uns, ohne viele Worte wechseln zu müssen. Er war wohl das, was einem Freund am nächsten kam. Dem einzigen Freund, den ich hatte. Er wusste, wann er mich in Ruhe lassen sollte. Er konnte warten, bis ich bereit war, selbst ein Gespräch zu beginnen. Auch wenn das selten jemals der Fall war. Ich sprach nicht gerne über mich. Ich sprach generell nicht gerne. Punkt.
Es hätte ein wirklich angenehmer Arbeitstag werden können. Hätte.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Meine Welt hatte sich auf den engen Raum zwischen Zapfhahn und Theke reduziert. Die Geräusche des sich füllenden Cafés, das Zischen der Kaffeemaschine, die dudelnde Countrymusik aus der Anlage, all das nahm ich nur noch am Rande wahr. Ich füllte Tablett um Tablett, hakte Jens` handgeschriebene Zettelchen ab und dachte an nichts mehr. Ich liebte diesen Zustand absoluter Fokussierung, wenn mich nichts mehr berührte und mein Hirn endlich abschalten konnte. Nichts mehr denken, nichts mehr fühlen.
All das änderte sich, als ich den verfilzten dunklen Lockenkopf entdeckte, der eben durch die offene Tür hereinkam. Kovalenko. Na Klasse.
Als hätte er die seltsame gespannte Atmosphäre gespürt, die sich auf einmal über den Raum gelegt hatte, wandte sich Jens zu mir um. Unsere Blicke trafen sich für einen kurzen Moment. Er verdrehte die Augen himmelwärts, und ich grinste humorlos zurück. Na, wenigstens würde ich nicht alleine leiden.
Ich zuckte erschrocken zusammen, als dicht neben mir eine Faust auf den Tresen knallte.
„Ein Glas Bier, Kleiner, aber zackig!“
Manchmal fragte ich mich, ob Kovalenko überhaupt in der Lage war, wie ein normaler Mensch zu sprechen.
Ich beeilte mich, seiner Aufforderung nachzukommen, zapfte das Bier mit Präzision und in genau der richtigen Geschwindigkeit, um eine hübsche Krone zu zaubern. Er war immerhin der Chef. Nicht, dass ihn meine Bemühungen sonderlich beeindruckt hätten. Statt dessen starrte er mich äußerst ungeduldig an und riss mir dann das Glas schon beinahe brutal aus der Hand.
„Herrgott, ich hab Durst, Junge! Spar dir diesen Mist für die Kunden!“, grollte er. Ich nickte nur und wandte mich dann hastig wieder meinen Bestellungen zu. Bei Kovalenko war es am Besten, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Innerlich schrieb ich den Tag schon ab. Schlimmer als ein gereizter Chef war nur ein betrunkener Chef. Und so, wie er das Bier jetzt hinabstürzte, befürchtete ich, dass es heute nicht lange dauern würde, bis er wieder so richtig in Stimmung war.
Seit ich hier arbeitete, hatte ich viel über Alkoholkonsum gelernt. Ich hatte gelernt, dass Menschen auf die unterschiedlichste Art und Weise auf das Zellgift reagierten. Manche verloren jede Hemmung, manche kicherten leise in sich hinein, manche wurden stumm und in sich gekehrt und fast ein wenig melancholisch. Und manche wurden wütend und gereizt und manchmal sogar gewalttätig. Das waren immer die Schlimmsten. Kovalenko war eindeutig von der letzteren Sorte.
Tatsächlich war ihm das Bier wohl nicht hochprozentig genug. Denn schon nach dem zweiten Glas machte er sich an der untersten Getränkeschublade zu schaffen – aus den Augenwinkeln sah ich, wie er sich ein Weinglas voll Malteser füllte. Oh, bitte, nicht schon jetzt! Ich hatte noch die halbe Schicht vor mir!
„Mach dir nichts daraus, Junge!“ Edwin, einer unserer Stammgäste, hatte sich eben an die Theke gesetzt und gesehen, wie ich das Gesicht verzogen hatte, ehe ich mich wieder im Griff hatte. Jetzt warf er mir einen mitleidigen Blick zu. „Er hat wohl wieder einen seiner Tage. Du machst deinen Job gut, lass dir bloß nichts anderes einreden!“
Edwin war ein stadtbekannter Maler. Seine grauschwarz melierten Haare standen stets in alle Richtungen ab, und ich hatte ihn noch nie ohne zumindest ein paar Farbkleckser auf der Kleidung gesehen. Normalerweise war Edwin ein netter Kerl, und ich war ihm dankbar dafür, dass er immer wieder versuchte, ein gutes Wort für mich einzulegen oder zumindest die verbalen Schläge abzumildern, die immer auf mich herniederprasselten, wenn Kovalenko wieder einmal einen über den Durst getrunken hatte. Aber der angealterte Maler schien keinerlei Gefühl für den persönlichen Raum eines Menschen zu besitzen. Ich mochte es nicht, wenn er mir die Hand tätschelte oder meinte, mir über den Arm streichen zu müssen. Als er jetzt die Hand hob, zuckte ich unwillkürlich einen Schritt zurück und wäre dabei fast mit Kovalenko zusammengestoßen, der sich hinter mir am Spirituosenfach zu schaffen machte. „Veflucht, Junge, kannst du nicht aufpassen?“, fauchte er mich an. „Wofür bezahl ich dich eigentlich? Da draußen sind zwei Tische noch nicht bedient worden, und du stehst dir hier hinter dem Tresen die Beine in den Bauch!“
Ich setzte schon zu einer Erwiderung an, als mich ein rascher Blick in das bereits zornrote Gesicht des Mannes eines Besseren belehrte. Es war müßig, ihm zu sagen, dass Jens gerade in den Keller gegangen war, um ein neues Bierfass an die Leitung anzuschließen. Müßig, ihn darauf hinzuweisen, dass ich gerade dabei gewesen war, die Kohlenstoffkapsel der Zapfanlage auszuwechseln, da das Bier inzwischen nicht mehr aus dem Hahn sprudelte, sondern nur noch langsam floss. Es hatte keinen Sinn, ihm zu erklären, dass zwei Mann für eine Abendschicht am Freitag einfach zu wenig waren, dass man mindestens zu dritt sein musste, um dem abendlichen Ansturm gewachsen zu sein. Aber ich wusste auch, dass eine dritte Bedienung Lohn gekostet hätte. Lohn, der von seinem Gewinn abgehen würde.
Ich kannte diese Art Mensch zur Genüge. Manchmal erschreckte mich die Ähnlichkeit zwischen meiner Mutter und meinem Chef, und ich fragte mich, ob ich vielleicht irgend etwas in einem vorherigen Leben falsch gemacht hatte, dass ich immer wieder an die gleichen Charaktere geriet. Vielleicht zog ich sie auch einfach an.
Aus Erfahrung wusste ich jedoch, dass man mit diesem Menschenschlag nicht diskutieren konnte. Und leider waren beide in einer Machtposition, die es mir unmöglich machte, mich in irgend einer Weise zu verteidigen. Es war besser, man hielt den Mund und tat genau das, was von einem verlangt wurde. Und so schnappte ich mir ohne ein weiteres Wort ein Tablett, einen Block und einen Stift und ging auf Tisch sieben zu, der noch nicht bedient worden war. Ich wusste genau, dass ich später wohl erneut Ärger bekommen würde, weil der Zapfhahn nicht so funktionierte, wie er sollte.
Es war ein langer Abend. Ein sehr langer Abend. Kovalenko lehnte lallend an der Theke und beschimpfte Jens und mich, gelegentlich auch den ein oder anderen Kunden. Außerdem schmiss er Runde um Runde für die Stammgäste, lachte lautstark über seine eigenen Witze und war generell äußerst...präsent. Auch wenn ich den Mann nicht ausstehen konnte, schämte ich mich doch für ihn. Wie konnte man sich nur so gehen lassen? Hatte er nicht das geringste Schamgefühl? Doch schon bald war mir das egal. Als er nämlich begann, zunehmend aufdringlicher zu werden.
Ich mochte es nicht, wenn man mir ungefragt nahe kam. Ich mochte es schon nicht, wenn Edwin das tat, und den konnte ich noch einigermaßen leiden. Bei Kovalenko war das allerdings eine andere Sache. Als er anfing, an meiner Kleidung herumzumäkeln, brodelte es bereits in mir. Es war meine Angelegenheit, wie ich hier erschien. Ich trug ein schlichtes, schwarzes Shirt ohne Aufdruck. Meiner Meinung nach war das ordentlich genug für ein Café mittlerer Preisklasse. Und es genügte schon, dass ich in der Schule immer wieder auf meine makelbehaftete Kleidung hingewiesen wurde. Ich trug keine Marken. Ein schrecklicher Faux-pas in einer Schule, die vor allem von Angehörigen der unteren Oberschicht besucht wurde. Es war einfach genug. Es war ein langer Tag gewesen, ich war müde, wollte nur noch nach Hause gehen, mich zu Ria auf die Couch setzen und die Welt außerhalb unserer kleinen Schicksalsgemeinschaft vergessen.
Aus diesem Grund reagierte ich vielleicht ein wenig harscher als nötig.
„Ich denke, an meiner Kleidung gibt es nichts auszusetzen“, erwiederte ich auf Kovalenkos Herumgenörgel, sehr kühl und sehr bestimmt. Und vergaß dabei für einen kurzen Moment, dass ich es nicht mit einem rational denkenden Menschen, sondern mit einem alkoholisierten Machtfanatiker zu tun hatte.
„Junge“, schnauzte er mich an, „ was du da Kleidung nennst, is `n Sack mit Ärmeln. Ich mach hier keine Armenspeisung, das hier nennt sisch Café. Das nächschte Mal will isch `n ordentliches Shirt sehn. Verstehste?“
Ich schluckte eine Erwiderung herunter, weil ich wusste, dass ich mich auf gefährlich dünnem Eis befand. Ich durfte diesen Job nicht riskieren! Und so versuchte ich, einen möglichst demütigen Gesichtsausdruck aufzusetzen und nickte.
Anscheinend war ich nicht überzeugend genug. Denn Kovalenkos Augen verengten sich zu eisblauen Schlitzen, und dann trat er drohend einen Schritt auf mich zu. Ich war recht groß für mein Alter, aber der Mann war ein wahrer Riese, und auch der beachtliche Bierbauch tat dem keinen Abbruch. Wie er so über mir aufragte und auf mich herabblitzte...Ich zuckte unwillkürlich zurück und stieß mit dem unteren Rücken schmerzhaft gegen die harte Metallkante der Kaffeemaschine. Jahrelanger Übung hatte ich es zu verdanken, dass mir meine Gesichtsmuskeln gehorchten und ich nicht die Miene verzog, doch der Schmerz jagte dennoch in einer harten Welle durch meinen Unterkörper.
„Werd bloß nisch fresch, Bürschen!“, zischte Kovalenko dicht an meinem Ohr, und sein Atem wehte mir heiß ins Gesicht. Der Geruch nach Zwiebeln und Bier hüllte mich ein und ließ mich würgen. Ich konnte spüren, wie meine Glaswand Risse bekam, wie mein Schutzwall Stück für Stück in sich zusammenbrach. Doch ich riss mich zusammen. Diese Befriedigung würde ich ihm nicht gönnen. Später, in der sicheren Dunkelheit meines eigenen Zimmers, konnte ich zusammenbrechen. Jetzt nicht. Jetzt musste ich stark sein.
Irgendwann ließ er von mir ab. Für einen kurzen Moment wandte ich das Gesicht ab, sah auf die schwarze Wand hinter der Kaffeemaschine und versuchte, mich zu sammeln. Ein rascher Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich nur noch eine halbe Stunde durchstehen musste. Eine halbe Stunde. Das war zu schaffen.
Und ich schaffte es tatsächlich. Ich konnte regelrecht spüren, wie mein Gesicht zu einer steinernen Maske gerann, während ich die Arbeiten hinter der Theke mit geradezu roboterähnlicher Sorgsamkeit erledigte. Ich fühlte mich völlig leer. Vielleicht war es die Erschöpfung, vielleicht hatte ich einfach genug. Ich wusste nur, dass ich niemals zuvor so taub gewesen war. Ich empfand nichts. Absolut nichts.
Als ich mir den Lohn aus der Kasse nahm, musste ich mich regelrecht dazu überwinden, die Scheine in meinen Geldbeutel zu stecken. Dieses Geld, das wir so dringend benötigten, schien mir auf einmal merkwürdig...beschmutzt. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob es mich nicht zu viel gekostet hatte. Ob es wirklich ein fairer Lohn für das war, das ich heute ertragen hatte. Doch der Moment war nur flüchtig, denn die Vernunft war stärker. Ich wusste, dass wir einkaufen mussten. Und es ging nicht nur um mich. Ich konnte nicht zulassen, dass Ria hungerte. Sie würde mir keinen Vorwurf machen, auch das wusste ich. Sie hatte sich nicht ein einziges Mal beschwert, wenn wir wieder eine Woche lang von Reis oder Kartoffeln leben mussten, da es zu mehr nicht gereicht hatte. Doch ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie Hunger litt. Und so schluckte ich meinen Stolz herunter und nahm das Geld.
Als ich aus dem Nebenraum heraustrat und mich mit einem Nicken von Jens verabschiedete, fühlte ich mich immer noch so merkwürdig leer. Jens warf mir einen scharfen Blick zu und hob fragend eine Augenbraue. Auch er sah erschöpft aus. Ich beachtete ihn nicht weiter. Ich hatte nur noch einen Wunsch: endlich nach Hause zu kommen.
***
Die Wohnungstüre rastete mit einem dumpfen Klicken hinter mir ein. Ich war beinahe erstaunt, dass es mir noch gelungen war, sie zuzudrücken. Das verdammte Ding verzog sich mit jedem Tag mehr, und ich brachte kaum noch die Kraft auf, aufrecht zu stehen. Einen Moment lang lehnte ich meinen Hinterkopf erschöpft an das harte, kalte Holz. Jeder weitere Schritt erschien mir auf einmal unendlich schwer, eine Zumutung. Meine Glieder schienen aus Blei zu bestehen, und in meinem unteren Rücken pochte es noch immer. Ich wollte genau hier bleiben, mich nie wieder von der Stelle rühren. Ich stellte mir vor, wie ich an der Türe herabrutschen würde, um hier einzuschlafen, auf dem Fußabstreifer, neben dem Schuhregal. Die Vorstellung war verlockender, als ich es mir selbst eingestehen wollte.
„Flo?“, riss mich irgendwann eine leise Stimme aus diesen Gedanken.
Ria. Irgendwie hätte ich es wissen müssen. Sie wartete immer auf mich. Selbst wenn ich Spätschicht hatte, ging sie nie schlafen, wenn ich noch nicht zu Hause war. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass sie sich alleine in der leeren, zu stillen Wohnung fürchtete, oder ob sie es meinetwegen tat, weil sie wusste, wie ich es mochte, noch einmal mit ihr zu sprechen, neben ihr auf der Couch zu sitzen und einfach abschalten zu können. Ich vermutete, dass es eher Letzteres war.
„Flo?“, kam es erneut aus der Richtung der Küche, und dann erschien ihr Gesicht in der Türöffnung. Ein zögerndes Lächeln spielte um ihre Lippen. Eine seltsame Wärme breitete sich in mir aus, als ich sie ansah, wie sie mit übereinandergeschlagenen Beinen am Türrahmen lehnte. Das rehfarbene Haar fiel ihr in weichen Wellen bis fast auf die Hüften hinab, und die blauen Augen waren so weit und offen. So tief. So fühlte es sich an, nach Hause zu kommen. Mit einem Mal fand ich die Kraft, mich von der Türe abzustoßen.
Ich war selbst erstaunt, aber ich brachte tatsächlich ein schwaches „Hey...“ über die Lippen.
Rias Augen verengten sich misstrauisch, das konnte ich selbst im schwachen Licht der Küchenlampe erkennen, die sie von hinten umstrahlte wie ein Heiligenschein.
„Warum stehst du da im Dunkeln?“, fragte sie mich leise.
Ich zuckte die Achseln. Es war mir einfach als ein zu großer Aufwand erschienen, den Lichtschalter zu betätigen. Herrgott, vor einem Augenblick hatte ich noch mit dem Gedanken gespielt, hier im Flur zu übernachten. Es war mir egal gewesen. Und vielleicht war es auch besser, wenn sie mich jetzt nicht so deutlich sah. Ich drohte, die Kontrolle über meine Gesichtsmuskeln zu verlieren, und ich wollte alleine sein, wenn meine Mauern endgültig brachen. Sie brauchte das nicht mit anzusehen. Sie hätte sich nur Vorwürfe gemacht, und das wollte ich nicht. Es war nicht ihre Schuld.
„Ich geh jetzt ins Bett“, murmelte ich und wollte mich an ihr vorbeischieben. Erstaunlich, welche Kräfte ich noch mobilisieren konnte. Ich blickte bewusst zu Boden, wollte die Enttäuschung in ihren Augen nicht sehen.
Fast glaubte ich schon, damit durchgekommen zu sein. Doch dann legte sich eine warme Hand vorsichtig auf meine Schulter. Es war kein starker Griff. Ich hätte sie problemlos abschütteln können. Aber irgendwie brachte ich das nicht fertig.
„Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist, Flo?“
Nein. Nichts ist in Ordnung.
Ihre Stimme war so...warm, so sanft. Sie klang so besorgt. Ich brachte kein Wort heraus. Als sich ihre schmale, kühle Hand in die meine schob, stieg ein seltsames, wimmerndes Stöhnen in mir auf, das ich nur mit Mühe herunterschlucken konnte. Ich fühlte, wie die Risse in der Mauer zu klaffenden Wunden wurden, und es war nur noch eine Frage von Augenblicken. Ich musste alleine sein. Jetzt. Sofort. Mit beinahe übermenschlicher Anstrengung riss ich mich von ihr los und floh.
Ich machte mir nicht die Mühe, mich auszuziehen. Die zwei Schritte bis zum Bett gelangen mir nur durch äußerste Willenskraft. Das erste Mal war ich beinahe dankbar für das winzige Zimmer, das wohl ursprünglich einmal als Abstellkammer gedacht gewesen war und aus diesem Grund gerade genug Platz für mein Bett und einen kleinen Tisch bot, den ich mehr als Ablagefläche denn als Schreibtisch nutzte. Erschöpft ließ ich mich fallen.
Die Dunkelheit hüllte mich ein, fraß sich durch mich hindurch bis in den tiefsten Kern meines Wesens. Niemals hatte ich mich so alleine gefühlt. So verloren. Die Stille dröhnte laut in meinen Ohren, und mein Herz raste regelrecht. Die Kälte kroch durch die Fensterritzen, klamme Finger tasteten sich an mir entlang, wanden sich schlangengleich um mich herum. Fröstelnd zog ich die Bettdecke über mich, doch es half nichts. Mir war kalt. So kalt.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Es gab keine Zeit in der Leere des Raumes. Ewigkeiten vergingen, und die Kälte fraß sich immer tiefer in mich hinein, füllte mich vollständig aus. Es gab nur mich und die Kälte, und die Dunkelheit.
Irgendwann hörte ich durch das pochende Dröhnen der nächtlichen Stille das leise Flüstern, mit dem die Zimmertüre über den Teppichboden strich. Ich wusste nicht, was ich empfinden sollte – Wut oder Scham, Erleichterung oder Dankbarkeit – und erkannte, dass ich zu solch anstrengenden Gemütsregungen einfach nicht mehr in der Lage war.
„Flo?“, drang ihre Stimme durch die Dunkelheit.
„Bitte“, flüsterte ich schwach. „Bitte, geh!“ Sie sollte mich nicht so sehen. Sie am allerwenigsten. Denn ich wusste genau, dass sie sich schuldig fühlen würde. Und dass das Thema „Arbeit als Aushilfe im Café“ dann wieder auf den Tisch kommen würde. Ich konnte es einfach nicht zulassen, dass sie in diesem Schuppen landete. Wenn ich meinen Stolz verkaufte, war das eine Sache. Bei ihr war es etwas völlig anderes. Und sie war ein Mädchen. Ich wusste, wie Kovalenko manchmal die Mädchen ansah, die im Café arbeiteten. Ich konnte es nicht zulassen. Ich hätte noch sehr viel mehr in Kauf genommen als einen Tag wie den heutigen, nur um ihr das zu ersparen.
„Nein.“ Sie klang sehr beunruhig, aber auch sehr entschlossen. Verzweifelt schloss ich die Augen und drehte den Kopf in Richtung Wand.
„Bitte!“ Da war keine Kraft mehr in mir. Ich hatte mich auf meinem schmalen Bett zusammengerollt, die Arme um die Knie geschlungen. Etwas in mir war gerissen, und ich versuchte verzweifelt, die Teile meines Selbst zusammenzuhalten, aber irgendwie driftete alles auseinander. Da war dieses Beben in mir, dieses Zittern, das ich nicht mehr unterdrücken konnte. Und es wurde immer stärker. Ebenso wie die Dunkelheit vor meinen Augen. Sie schien irgendwie dunkler zu werden. Schwärzer als schwarz. Eisige Kälte. Ich wollte nicht, dass sie mich so sah.
Natürlich ging sie nicht.
Nach einer langen Weile des Schweigens spürte ich, wie sich die Matratze ein wenig senkte, als sie sich neben mich setzte. Ich mühte mich, gleichmäßig zu atmen, auch wenn meine Lungen regelrecht nach Luft schrieen. Ich wusste, wenn ich dem Drang nachgab, würde ich hyperventilieren. Ich durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Ich musste stark sein...
Ich weiß nicht, vielleicht wäre es mir sogar gelungen. Vielleicht. Doch dann spürte ich eine Hand auf meinem Haar. Ihre Hand. Ganz zart strich sie mir über den Kopf. Und irgendetwas an dieser schlichten, liebevollen Geste brach mich.
Ich schluchzte. Es war nur ein leiser Laut, und ich schlug hastig die Hände vor den Mund, um ihn zu ersticken. Doch sie hatte es gehört. Die Matratze gab noch ein wenig mehr nach, und dann spürte ich ihren warmen Körper an meinem Rücken. Sanfte Arme umfingen mich, hielten mich. Sie war so warm und so weich. Wie lange war es her, seit ich sie so nahe an mich herangelassen hatte? Viel zu lange. Erst jetzt erkannte ich, wie sehr sie mir gefehlt hatte. Wie sehr ich ihre Nähe vermisst hatte. Vielleicht war das mein Fehler gewesen. Dass ich nicht eingesehen hatte, wie sehr ich sie brauchte. Dass ich es nicht hatte einsehen wollen.
„Schsch. Es ist schon gut. Ist ja gut. Ich bin hier, Flo. Du bist nicht allein.“ Ein leises Murmeln, kaum lauter als ein Atemzug. Und doch hörte ich die Wärme in ihrer Stimme. Diese Zärtlichkeit, die ich nur mit Ria verband. Meine Mauern waren gefallen, und mein Innerstes lag bloß. Noch nie hatte ich mich so verletzlich gefühlt. So verwundbar. Und ihre Worte drangen tiefer, als ich es jemals hatte zulassen wollen. Sie war so sehr ein Teil von mir. Ich konnte mich nicht von ihr fernhalten. Es brachte mich um.
Die Matratze bebte unter uns. Nach einer geraumen Weile begriff ich, dass ich derjenige war, der so zitterte.
„Was ist los, Flo?“
„Ich...ich weiß es selbst nicht so recht. Ich bin einfach...erschöpft...“, flüsterte ich heiser.
Es war mehr als bloße Erschöpfung. Ich fühlte mich so verdammt...leer. Ich war am Ende meiner Kräfte. Die letzten Tage hatten an mir gezehrt. Verdammt, die letzten Jahre hatten an mir gezehrt.
„Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr, Ria!“ Noch nie hatte meine Stimme so kläglich geklungen. So schwach. Ich erschrak vor mir selbst. Ich sollte ihr das nicht aufbürden. Ich war der Ältere von uns beiden. Der Erwachsene. Und doch konnte ich nicht anders. Und die Worte waren heraus, ehe ich es verhindern konnte.
„Halt mich einfach. Geh nicht fort!“
„Niemals.“ Es war ein Versprechen. Und ich glaubte ihr. Mutter hatte uns wieder und wieder im Stich gelassen, doch wir waren immer füreinander da gewesen. Ich wusste, dass Ria zu mir halten würde. Komme was wolle. So war es schon immer gewesen.
Das erste Mal in meinem Leben ließ ich mich vollständig fallen. Ich ließ zu, das die Tränen lautlos über meine Wangen liefen und im weichen Stoff des Kopfkissens versickerten. Ich hätte sie so oder so nicht zurückhalten können. Es war, als sei ein Damm in mir gebrochen.
Ich glaube, Ria wusste es. Ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Es war dunkel, und ich mühte mich, ruhig weiterzuatmen, auch wenn es mir unglaublich schwer fiel. Doch ich glaube, irgendwie wusste sie es trotzdem. Denn sie zog mich noch ein wenig fester an sich, während ihre freie Hand sanft durch meine Haare strich. Und ganz allmählich strömte die Verzweiflung aus mir heraus. Als die Tränen versiegten, war ich ruhig. Immer noch erschöpft, aber irgendwie gelöster. Befreiter. Friedlicher. Ich war zu Hause angekommen.
Wir sprachen kein Wort mehr in jener Nacht. Irgendwann schlief ich ein, ihre Wärme und ihr weicher Körper mein Anker, der mich in der Wirklichkeit hielt.
4. Erkenntnisse
Florian
Mir war so warm. Das war das erste, das ich wahrnahm. Diese unglaubliche Wärme, die mich umgab. Dann spürte ich das ungewohnte Gewicht auf meinem Brustkorb. Vorsichtig öffnete ich die Augen, blinzelte gegen die ersten Sonnenstrahlen an, die mich aufgeweckt hatten. Und fuhr überrascht zusammen, als ich den braunen Haarschopf sah, der sich an meine Schulter schmiegte.
Stück für Stück kehrten da die Erinnerungen an den gestrigen Abend zurück. Das Café. Kovalenko. Die Dunkelheit, die sich in mir ausgebreitet hatte. Ria. Wie sie mich in den Arm genommen hatte. Meine Tränen und ihre Wärme. Diese unglaubliche Nähe, so vertraut, und doch war es so lange her, seit ich sie das letzte Mal wirklich an mich herangelassen hatte.
Wir hatten schon viel gemeinsam durchgestanden, doch in letzter Zeit hatte ich das Gefühl gehabt, dass wir immer weiter auseinander gedriftet waren. Ich hatte versucht, ein wenig Abstand zu halten. Ich hatte wirklich alles getan, was ich konnte, um diese seltsame Nähe zu verdrängen, die zwischen uns entstanden war. Eine Nähe, die nicht normal und einfach nur verflucht gefährlich war, bedachte man die Lage, in der wir uns befanden. Ich war schon immer der Erwachsene von uns beiden gewesen, hatte es sein müssen. Und als solcher war es auch meine Aufgabe, sie zu schützen. Selbst wenn sie des Schutzes vor mir bedurfte.
Ich wusste, dass ich ihr niemals Leid zufügen würde. Eher hätte ich mir selbst ein Bein abgehackt. Und doch war ich eine Gefahr für sie.
Ich hatte die Blicke meiner Mitschüler bemerkt. Mir war nicht entgangen, dass über uns getuschelt wurde. Und schon seit längerer Zeit behielt ich all dies genauestens im Auge. Weil ich wusste, dass ich es nicht ertragen hätte, von ihr getrennt zu werden, und weil ich alles getan hätte, um das zu verhindern.
Anfangs waren es nur schräge Blicke gewesen. Schräge Blicke und flappsige Bemerkungen, weil keiner meiner Klassenkameraden verstanden hatte, warum ich lieber mit meiner Schwester nach Hause ging und ihre Gesellschaft der der gleichaltrigen Jungen vorzog. Später wurde dann getuschelt, weil ich kein Interesse an Mädchen verlauten ließ, und weil ich generell zu still und in mich selbst gekehrt war und eher für mich blieb. All das hatte ich noch als relativ harmlose Sticheleien abtun können. Nichts, was uns ernsthaft in Gefahr hätte bringen können.
Doch dann hatte Daniel uns gesehen, damals, an jenem Tag, der irgendwie alles verändert hatte.
Und trotzdem...selbst wenn ich gewusst hätte, dass er im falschen Moment um die Ecke biegen würde und uns sehen würde...ich hätte jederzeit wieder genauso gehandelt. Weil Ria immer wichtiger war als alles andere, und weil sie mich damals gebraucht hatte.
***
Es war einer jener Tage, an denen man sich wünscht, am Morgen nicht aufgestanden zu sein. Weil alles so viel einfacher gewesen wäre, hätte man den Tag im Bett verbracht. An jenem Tag wünschte ich mir so sehr, wir wären beide zu Hause geblieben. Ich hätte ihr das so gerne erspart.
Normalerweise wartete ich nach Schulschluss vor Rias Klassenzimmer, um mit ihr nach Hause zu gehen. Ich stahl mich des Öfteren ein wenig früher aus dem Unterricht, nur, um rechtzeitig dort zu sein. Rias Augen fingen jedes Mal an, ein wenig heller zu leuchten, wenn sie aus der Tür heraustrat und mich sah, und jedes Mal durchströmte mich dabei eine seltsame Wärme. Für diese strahlenden Augen hätte ich viel riskiert. Es geschah nicht oft, dass ich sie so sah. Die Probleme des Alltags zehrten auch an ihr, und je älter wir wurden, desto seltener wurde ihr Lächeln. Ich tat, was ich konnte, griff zuweilen tief in meinen Fundus flappsiger Bemerkungen und versuchte, jeder misslichen Lage noch etwas Gutes abzugewinnen. Doch es gelang mir nicht immer.
Heute wartete ich vergeblich. Die Schüler strömten an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Für gewöhnlich war Ria immer eine der ersten, die aus dem Zimmer eilten. Ich war mir nie so ganz sicher gewesen, ob das an mir lag oder nur an der Tatsache, dass sie so schnell wie möglich von diesem Ort hier fliehen wollte. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem.
An diesem Tag jedoch wartete ich. Ich wartete und spürte, wie sich etwas in mir versteifte. Irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte. Mein Herz begann, ein wenig schneller zu schlagen, jedes Pochen ein schmerzhafter Stich in meiner Brust. Und dann entdeckte ich Lauras blonden Schopf, der sich einen Weg durch die Masse der fliehenden Schüler bahnte und sah, dass sie mich mit diesen stechend blauen Augen fixierte. Ich schluckte, kämpfte gegen das Gefühl der Panik an, das mich zu verschlingen drohte.
„Wo ist sie?“, rief ich ihr über den Lärm der trampelnden Füße hinweg zu, kaum dass sie in Hörweite war. Ich mochte das Mädchen, das so etwas wie Rias einzige Freundin war. Auch wenn wir bislang nicht viele Worte miteinander gewechselt hatten, wusste ich doch, wie froh Ria war, in den Unterrichtsstunden nicht ganz alleine zu sein. Natürlich war es keine wirkliche, tiefergehende Freundschaft. Dafür waren sowohl Ria als auch ich viel zu vorsichtig, und vielleicht auch einfach nicht mutig genug. Es gab nur einen Menschen, vor dem ich wagte, mich zu öffnen, vor dem ich wagte, ich selbst zu sein, und ich vermutete, dass es Ria ähnlich ging. Auch wenn ich mir so sehr wünschte, dass es anders sei. In dieser Hinsicht waren wir uns wohl ebenfalls viel zu ähnlich.
Doch all meine Sympathien dem Mädchen gegenüber waren vergessen, als sie nahe genug heran war, dass ich ihren Gesichtsausdruck erkennen konnte. Die Welt um mich herum war vergessen. Etwas war geschehen...
„Wo ist sie?“ Einige Schüler wandten mir erstaunt den Kopf zu, und erst da bemerkte ich, dass sich mein Hals ein wenig rau anfühlte. Hatte ich das zierliche Mädchen tatsächlich angebrüllt?
Laura nickte wortlos in Richtung des mittlerweile wohl leeren Klassenzimmers.
Niemals hatte ich mich so schnell bewegt. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich ins Zimmer gelangte, ich weiß nur noch, dass ich sehr viel früher dort war als Rias Freundin.
Ich sah sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich erkannte es an ihrer leicht gebeugten Haltung, daran, wie sie die Arme um ihren Körper geschlungen hatte, beinahe so, als versuchte sie, sich zusammenzuhalten, als befürchte sie, bei dem geringsten Luftstoß in alle Windrichtungen verweht zu werden. Sie sah so zerbrechlich aus, so klein und so verloren, wie sie dort in dem leeren Klassenzimmer auf dem grauen Plastikstuhl saß und blicklos zur Tafel starrte. Der Anblick fuhr mir wie ein Messer in die Brust.
„Es tut mir so leid, Florian, ich war heute beim Zahnarzt, deswegen bin ich erst später zur Schule gekommen. Ich hab sie nach der Pause so gefunden, und seither hat sie kein Wort gesprochen...“
Laura hatte mich also doch eingeholt, und jetzt eilte sie neben mir her und versuchte, sich für etwas zu entschuldigen, an dem sie offensichtlich keine Schuld trug. Ich war es so leid, dass sich immer die falschen Menschen verantwortlich fühlten.
Ich fand die richtigen Worte nicht, Laura zu beruhigen. Ich wusste nur, dass ich zu Ria musste, und dass sie mich brauchte.
„Bitte, geh“, war alles, was ich herausbrachte. Ich musste jetzt mit Ria alleine sein.
Das Mädchen verschwand ohne ein Wort des Protestes und zog sogar die Türe hinter sich zu. Später dankte ich ihr innerlich dafür. In diesem Moment jedoch nahm ich es nur am Rande wahr.
„Ria“, murmelte ich leise und näherte mich ihr vorsichtig, wie einem scheuen Tier, das bei einer hastigen Bewegung drohte, zu entfliehen. „Ria, ich bin hier. Alles ist gut. Was ist geschehen?“
Ich glaubte, die Welle der Erleichterung förmlich sehen zu können, die daraufhin durch sie hindurchging. Sie seufzte leise, und dann hob sie den Kopf und sah mich an.
„Nichts“, flüsterte sie. Ihre Stimme klang so rau. Als habe sie geweint.
Niemals werde ich den Blick in ihren meerblauen Augen vergessen. Diesen leeren, toten Blick, der mich noch Jahre später in meinen Träumen verfolgt hatte.
Mir wich sämtliches Blut aus dem Gesicht, ich spürte regelrecht, wie sich die Panik in mir ausbreitete. Mit einem Satz war ich an ihrer Seite, setzte mich auf den Stuhl neben ihr, legte vorsichtig den Arm um sie und zog sie an mich. Sie war so warm, so warm und so weich. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schnürte sich mir die Kehle zu, als sie ihre Arme um mich legte und sich so vertrauensvoll an mich schmiegte. Mit einem zufriedenen Laut barg sie ihr Gesicht an meiner Brust.
Für gewöhnlich tat ich das nicht. Für gewöhnlich nahm ich sie nicht in der Öffentlichkeit in den Arm. Es erregte einfach zu viel Aufmerksamkeit, es war nicht normal, wenn sich Geschwister auf diese Art umarmten. Jedenfalls wurde das von den meisten Menschen so gesehen.
Und ich wusste, dass wir auch so schon genug Aufmerksamkeit auf uns zogen. Wir lebten sehr zurückgezogen, hatten nur wenige Freunde und verbrachten viel Zeit miteinander. Zudem waren unsere Kleider oft ein wenig schäbig und abgetragen. Wir konnten es uns einfach nicht leisten, aufzufallen. Denn ich war mir so gut wie sicher, dass das Jugendamt die Erziehungsmethoden meiner Mutter nicht gutheißen würde, ebenso wie die Tatsache, dass wir uns so gut wie selbst versorgten und oftmals für längere Zeitspannen alleine lebten.
Ich konnte Ria nicht riskieren. Denn ich wusste genau, dass man uns trennen würde, wenn Mutter das Sorgerecht entzogen würde. Und ich wusste nicht, ob Ria das Leben in einem Heim überstehen würde. Ich wollte es nicht herausfinden müssen. Und wenn ich wirklich ehrlich zu mir selbst war, dann wusste ich auch nicht, ob ich eine Trennung von Ria überstehen würde.
Für gewöhnlich hielt ich also in der Öffentlichkeit einen gewissen körperlichen Abstand von ihr. Doch das war mir in diesem Moment vollkommen egal. Sie brauchte mich jetzt, das war alles, das zählte. Ich hatte sie noch nie im Stich gelassen. Und als ich sie so hielt und mir schwor, herauszufinden, wer dafür verantwortlich war, dass sie so verstört war, da durchflutete mich ein mir völlig unbekannter Zorn. Wer auch immer dafür verantwortlich war, würde zahlen.
Eine lange Weile saßen wir so schweigend nebeneinander, ihr Kopf ruhte an meiner Brust, und ich glaubte beinahe, ihren Herzschlag zu spüren. Es war, als seien wir die beiden einzigen Menschen auf der Welt. Es gab nur sie und mich.
Vorsichtig strich ich eine Strähne ihres seidigen Haares hinter ihre Schulter zurück. Sie war vollkommen reglos, wie erstarrt. So, als sei sie in Gedanken an einem völlig anderen Ort.
„Schsch“, murmelte ich in ihr Haar. „Ist schon gut, Ria. Du bist hier bei mir. Ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht. Das weißt du.“
„Hmm.“
„Was ist passiert?“, wagte ich irgendwann zu fragen, hatte Angst, das friedliche Schweigen zu brechen und wusste doch, dass wir nicht ewig so verharren konnten. Und ich musste wissen, ob sie in irgendeiner Weise verletzt war. Die Ungewissheit brachte mich um, fraß mir ein Loch in mein heftig schlagendes Herz. Das erste Mal in meinem Leben fühlte ich mich so unglaublich schwach. Denn ich begriff, dass es nicht eines körperlichen Angriffes bedurfte, um mich zu verletzen. Nein, ich war sehr viel verwundbarer. Alles, was Ria verletzte, verletzte mich. Es war beängstigend. Beängstigend, und zugleich so natürlich, dass ich mich fragte, warum es mir nicht schon viel früher aufgefallen war.
„Es ist nichts...“ murmelte sie an meiner Brust, und ich schnaubte ungläubig.
„Nein, es war ganz bestimmt nicht Nichts, Ria!“, entgegnete ich wütend, und verfluchte mich augenblicklich, als sie erschrocken zusammenfuhr.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken...“
Sie nickte nur und drückte sich noch ein wenig fester an mich. Ich zog sie noch näher an mich heran. Am Liebsten hätte ich sie für des Rest meines Lebens so hier bei mir behalten. Hier, in meinen Armen. Wo ihr nichts geschehen konnte. Jedenfalls wollte ich daran glauben.
Ich war kein Idiot. Ich wusste, wie es im Leben zuging. Ich wusste, dass ich sie nicht vor allem Bösen auf der Welt schützen konnte. Dafür passierte einfach zu viel Scheiße. Aber ich wusste, dass ich alles dafür tun würde, um zu verhindern, dass ihr etwas zustieß. Niemals war ich mir da sicherer gewesen als in diesem endlosen Moment. Ich war kein gewalttätiger Mensch, jedenfalls hatte ich mich nie so gesehen. Doch in diesem Moment war ich bereit, alles zu tun, nur, damit ihr so etwas nie wieder zustoßen würde. In diesem Moment wünschte ich mir, ich hätte einen Schuldigen vor mir, den ich ordentlich verprügeln konnte. Ich hätte auf ihn eingedroschen, bis Blut geflossen wäre. Dessen war ich mir sicher. Wer es wagte, einem so unschuldigen, zarten Wesen wie meiner Schwester Leid zuzufügen, der hatte es nicht anders verdient.
Und da begriff ich, dass ich alles für sie getan hätte. Um sie zu beschützen, würde ich töten. Es war ein erschreckender Gedanke. Niemals war mir bewusst gewesen, wie viel sie mir bedeutete. Im Grunde hatte ich es wohl schon immer gewusst. Aber es zu ahnen und es zu erleben waren zwei völlig verschiedene Dinge...
Sie vergrub ihre Nase noch tiefer in meinem Pullover, und wieder schwiegen wir für eine lange Weile. Ich wusste, dass sie Zeit brauchen würde.
„Sie haben...sie haben mich ausgelacht“, durchbrach ihre dünne Stimme irgendwann die Stille des leeren Klassenzimmers. „Ich hab mich inzwischen daran gewöhnt...dass sie dumme Sprüche über meine Kleider machen, oder über meine Frisur lachen. Ich hab mich dran gewöhnt, dass niemand in der Pause mit mir sprechen will, wenn Laura nicht da ist, deswegen such ich mir dann immer eine ruhige Ecke und les ein Buch oder so. Aber heute...heute war ich beim Kaffeeautomaten. Und Leonie und Jana sind mit mir runtergekommen. Weißt du, ich fand das schon von Anfang an irgendwie seltsam, dass sie mitgekommen sind. Aber ich wollte nichts sagen. Ich habe gedacht...ich habe gehofft...vielleicht will ja doch mal jemand mit mir...einfach mitgehen. Einfach nur so. Ich hab mir wirklich nichts gedacht...und dann...und dann war da auf einmal...Tom...aus der Parallelklasse. Und die Mädchen haben irgendwie so richtig böse gegrinst. Da war niemand außer uns im Raum...und dann hat er...die Tür zugemacht. Und hat mich langsam in die Ecke gedrängt. Und dann hat er...nach mir gegrabscht. Und ich bin zurückgezuckt. Und dann hat er...er hat mich angefasst. Es hat...es hat nicht so richtig wehgetan. Aber die Mädchen...die haben zugesehen...und so gemein gegrinst...und dann hat er gesagt...dann hat er gesagt, dass er verstehen kann, warum sich niemand für mich interessiert. Weil ja sowieso nichts an mir dran ist...“ Ihre Stimme brach. Der kleine, zarte Körper, der sich schutzsuchend an mich lehnte, zitterte.
Niemals hatte ich einen Zorn wie diesen verspürt. Da war dieser unbändige Drang, diesen Tom aufzuspüren, jetzt, sofort. Ihm die Hände um den Hals zu legen und fest zuzudrücken. So lange, bis er sich nicht mehr bewegte. Was hatte ihn dazu getrieben? Womit hatte Ria das verdient? Ich kannte keinen Menschen, der so warmherzig, so gütig war wie meine Schwester. Sie hätte keiner Fliege etwas zu Leide tun können. Und doch hatte sie in ihrem kurzen Leben schon so viel ertragen.
Ich wusste, ich konnte gegen die Ungerechtigkeit des Lebens nicht ankommen. Aber diesen Jungen konnte ich büßen lassen. Und ich wollte es. Ich wollte es so sehr. Für einen Moment glaubte ich gar, dass sich die Ränder meines Blickfeldes rot verfärbt hatten. Ich sah buchstäblich rot. Jeder Muskel in meinem Körper versteifte sich, als ich mich mühte, reglos auf meinem Platz zu verharren.
Denn natürlich wusste ich, dass ich nichts dergleichen tun konnte. Ich durfte diesen Jungen nicht zu Brei schlagen, weil ich damit nicht nur mich, sondern auch Ria in Gefahr gebracht hätte. Alles, wofür wir Jahre lang gekämpft hatten, wäre sonst in Gefahr gewesen. Und ich würde nicht riskieren, sie zu verlieren.
„Bitte, sei nicht auf mich böse! Ich...ich kann nicht...ich...bitte, sei mir nicht böse!“ Sie sprach so leise, so zaghaft. Hatte ich sie so sehr erschreckt? War mir mein Zorn so deutlich anzumerken? Wie konnte sie nur denken...
„Ich bin doch nicht auf dich böse! Herrgott, Ria, wer immer es war, der dir wehgetan hat, ich würde ihm am Liebsten sämtliche Knochen brechen! Aber warum sollte ich denn auf dich böse sein?“, fragte ich ungläubig.
„Weil ich dir nur Schwierigkeiten mache!“, brach es aus ihr heraus, und ihre Hände ballten sich hinter meinem Rücken zu Fäusten. „ Ich mache doch alles noch viel schwerer, als es für dich so oder so schon ist! Meinetwegen musst du dir jeden Tag Sorgen darüber machen, ob das Geld für das Essen reichen wird, meinetwegen musst du dir immer wieder neue Ausreden überlegen, warum Mutter nicht zum Elternabend kommt, wie du die Unterschrift unter dem Zeugnis fälschen sollst, dass es niemandem auffällt...“
„Nichts davon ist deine Schuld!“, unterbrach ich sie heftig. „Und glaub mir, ich bin so unendlich froh, dass ich nicht alleine bin! Wir haben einander, Ria, ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun sollte!“
Sämtliche Anspannung schien aus ihrem Körper herauszufließen, als sie endlich verstand, dass ich hier war, dass ich gerne hier war, und dass ihr nichts geschehen würde. Woher kamen nur diese verdammten Zweifel? War ich in der Vergangenheit nicht deutlich genug gewesen? Wusste sie nicht, dass sie sich auf mich verlassen konnte? Immer?
„Danke!“, flüsterte sie irgendwann in den dicken Wollstoff meines Pullovers. „Danke, dass du immer da bist, wenn ich dich brauche, danke...für alles! Ich hab dich so lieb, Flo...“
„Ich hab dich auch lieb, Krümel“, murmelte ich leise in ihr Haar. Irgendetwas in meinem Inneren stand in Flammen. „Ich hab dich so lieb, dass es mir Angst macht...“
*
Als wir uns eine Ewigkeit später auf den Weg nach Hause machten, hatte ich meinen Arm um ihre schmalen Schultern gelegt. Ich schien einfach außerstande, mich von ihr fernzuhalten, und sie drängte sich geradezu an mich heran. Ihre Hand krallte sich beinahe schmerzhaft in meine Taille. Selbst wenn ich gewusst hätte, was geschehen würde, ich hätte es nicht übers Herz gebracht, mich ihr zu entziehen.
Als wir durch die Brandschutztüre am Ende des langen Flures gingen, rannte er gerade zurück ins Gebäude. Wahrscheinlich hatte er seinen Schirm vergessen, Daniel war in der ganzen Schule bekannt für seine Vergesslichkeit. Und für seine Abneigung mir gegenüber. Warum er mich nicht ausstehen konnte, hatte ich nie verstanden. Ich hatte ihm nie einen Grund dazu gegeben, zumindest war ich mir keiner Schuld bewusst. Vielleicht hatte er einfach nicht verstanden, warum ich ihn und seine Clique nicht bewunderte oder zumindest zu ihnen aufschaute. Er war es gewöhnt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Und ich versuchte, so unauffällig wie möglich in meiner Ecke zu bleiben. Vielleicht mochte er mich einfach deswegen nicht, weil er mich nicht verstand. Auf jeden Fall hatte ich den Hass in seinen Augen bemerkt, wenn er mich ansah.
Auch jetzt stand der überdeutlich in den braunen Augen geschrieben. Vom anderen Ende des Foyes beobachtete er uns wie ein Wolf, der seine Beute belauert. Ich konnte regelrecht sehen, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten.
Ria hatte den Kopf an meine Schulter gelehnt, deswegen sah sie ihn nicht. Ich war so froh, dass ich ihr wenigstens das ersparen konnte. Ich ließ mir nichts anmerken und ging gemessenen Schritte auf den Haupteingang zu, während ich innerlich verzweifelt aufstöhnte. Natürlich, das hatte mir gerade noch gefehlt. Das perfekte Ende eines beschissenen Schultages.
Ich wusste, dass ich hierfür würde zahlen müssen. Es war mir egal, so lange es nicht Ria war. Solange sie nichts davon mitbekam, würde ich das schon irgendwie durchstehen.
Seit jenem Tag war auf einmal alles anders. Ich hatte begriffen, dass ich sie nie wieder loslassen würde, wenn ich sie noch einmal so in den Arm nahm. Und dass ich alles, wirklich alles, tun würde, um sie zu schützen. Auch, wenn das bedeutete, sie zu verlieren.
***
Von da an war ich auf der Hut gewesen. Und ich hatte mich von ihr ferngehalten, so gut es eben ging. Auch wenn es mich sehr viel gekostet hatte. Es war besser so. Ich hatte die Grenze verloren. Vielleicht hatte es nie eine zwischen uns gegeben. Sie war mir zu wichtig, sie bedeutete mir zu viel, und noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so sehr gefürchtet wie diese unerklärlichen Gefühle, die sie in mir hervorrief.
Und weil mir der einzige Halt gefehlt hatte, den ich je gehabt hatte, war ich...schwach gewesen. Verletzlich. Nicht im Stande, dem alltäglichen Wahnsinn zu begegnen. Ich hatte es schon seit einer Weile gespürt, dass irgendetwas mit mir nicht ganz in Ordnung war. Ich hatte mich so schlapp gefühl, so kraftlos. Und irgendwie hatten sich meine Gedanken auf zunehmend dunkleren Pfaden verirrt.
Und dann war es gestern einfach zu viel gewesen. Niemals hatte ich mich selbst so verloren. Ich wusste nicht, was gewesen wäre, wenn Ria nicht da gewesen wäre. Ob mich die Dunkelheit völlig verschluckt hätte. Ob mich die Kälte völlig vereinnahmt hätte. All die Jahre, und immer wieder war sie der einzige Grund, aus dem ich mich aufrecht hielt. Nur ihretwegen machte alles irgendwie Sinn. Nur ihretwegen konnte ich mich jeden Morgen dazu aufraffen, aufzustehen und einem neuen Tag gegenüberzutreten.
Manchmal kam es mir so vor, als sei ich in einer endlosen Aneinanderreihung von Tagen gefangen, die doch immer derselbe waren. Aufstehen, zur Schule gehen, einkaufen, arbeiten, Hausaufgaben machen, Wäsche waschen, kochen, ins Bett gehen. Und jeden Tag die Sorge, ob das Geld noch für das Essen am nächsten Tag reichen würde, ob wir die Miete würden zahlen können, oder ob – Gott bewahre – wieder einer dieser Landstreicher bei uns einziehen würde, die Mutter regelrecht anzuziehen schien. Und all das war nur ihretwegen irgendwie erträglich.
Ria.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dalag und im warmen Licht der aufgehenden Sonne einfach nur ihr schlafendes Gesicht betrachtete. Eine unglaubliche Welle der Zärtlichkeit wogte in mir auf, wusch alle anderen Empfindungen fort. Sie sah so unglaublich verletzlich aus, wenn sie schlief. Und so friedlich. Ein kleines Lächeln spielte um ihre Lippen. Es war schon lange her, dass ich sie so entspannt gesehen hatte.
War das hier Liebe? War das der Name dieses unglaublich starken Gefühls, dass da in mir wuchs? Und wenn ja, was für eine Liebe war es? Die Liebe eines Bruders zu seiner Schwester, oder die Liebe eines Jungen zu einem Mädchen? Ich vermochte es nicht zu sagen, und das war es, was so an mir fraß. Ich konnte keine Grenze mehr ziehen. Ich war nicht mehr in der Lage, in irgendeiner Weise zu urteilen. Ich kannte keine Worte mehr, die beschrieben, was ich für sie empfand. Es gab keine Worte hierfür. All das ging so tief, berührte mich in einer Weise, die ich nicht mehr beschreiben konnte. Sie war alles. Sie war meine ganze Welt. Ohne sie war ich verloren. Ohne sie verlor ich mich selbst in einer Welt, die ich schon lange nicht mehr verstand.
Wie konnte ich ihr jemals wieder in die Augen sehen und gleichzeitig wissen, dass ich sie verriet? Denn sie vertraute mir. Wir waren immer ehrlich zueinander gewesen. Doch in letzter Zeit hatte ich Geheimnisse vor ihr. In letzter Zeit hatte ich mich immer mehr zurückgezogen. Natürlich sorgte ich mich um sie, und versuchte, ihr so gut wie möglich zur Seite zu stehen. Aber wir hatten nicht mehr alle unsere Sorgen geteilt, so wie wir es früher immer getan hatten.
Ich hatte eine Mauer zwischen uns errichtet, um sie zu schützen, aber auch, um mich selbst zu schützen. Und gestern war diese Mauer in sich zusammengebrochen. Und jetzt wusste ich nicht mehr, wie ich den ersten Stein wieder aufrichten sollte, wusste nicht mehr, wie ich jemals wieder Abstand von ihr halten sollte, wenn sie es doch war, die mich aufrecht hielt. Wenn es doch ihre Wärme war, die mich am Leben hielt.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dalag und sie einfach nur betrachtete und diese Gedanken in einer endlosen Schleife in meinem Kopf kreisten. Aber irgendwann gähnte sie, reckte sich und fuhr dann erschrocken zusammen. Ich bedauerte die friedliche Stille, die jetzt unwiederbringlich dahin sein würde, und war zugleich froh, nicht mehr mit mir selbst alleine zu sein.
„Flo?“
Dunkelblaue Augen sahen fragend zu mir auf. Ich beobachtete, wie sich der Nebel des Schlafes allmählich lichtete und die Erinnerung zurückkam. Das friedliche Lächeln verschwand und machte tiefer Sorge Platz. Ich mochte diesen Blick nicht, die Art, wie sie die Augenbrauen zusammenzog, wie die Schatten zurückkehrten, die schon viel zu lange unter ihren Augen lagen. Es war, als sei ein kalter Hauch durch das warme, sonnendurchflutete Zimmer gestreift. Warum konnten wir nicht noch ein paar Momente verträumter Stille haben? Die leichten, warmen Augenblicke waren immer zu kurz.
„Was ist gestern passiert?“
Mit einem Seufzen akzeptierte ich, dass der neue Morgen unwiederbringlich da war, und damit die Zeit, ihre Fragen zu beantworten. Ich schuldete ihr das. Auch wenn ich selbst keine Ahnung hatte, was eigentlich geschehen war...
„Ich...Ria, ich verstehe es selbst nicht! Ich habe irgendwie...ich habe mich verloren. Ich war...so erschöpft. Ich wusste nicht mehr weiter“, versuchte ich zu erklären, was nicht zu erklären war.
„Nein, ich meine, was ist im Café passiert?“ Die hübschen Augen verengten sich zu blauen Schlitzen.
Verdammt!
„Woher...“
„Scheiße, Flo, ich bin doch nicht blind!“, unterbrach sie mich ungeduldig. „Ich weiß, dass du nicht gerne dort hin gehst. Ich weiß, dass du mich um jeden Preis von dort fernhalten willst. Ich sehe dich, wenn du nach Hause kommst. Und ich weiß, dass...verdammt, das war doch mit ein Grund, warum ich dich immer so gedrängt habe, mich arbeiten gehen zu lassen! Ich wollte nicht, dass du diese Last alleine trägst. Und allein der Gedanke, dass du dort leidest...meinetwegen...weißt du, wie mich das mitnimmt?“
Mit großen, ernsten Augen sah sie zu mir auf. Und der wilde Strudel von Gefühlen, die ich in ihnen las, riss mich beinahe mit sich fort. Mühsam kämpfte ich um Beherrschung. Nein, das konnte nicht sein. Ich war immer nur ihr Bruder gewesen. Nicht mehr. Niemals mehr. Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein! Wenn ich mich ins Verderben ritt, war das eine Sache. Sie hingegen...nein, das konnte ich nicht zulassen!
„Es ist nicht deine Schuld, Ria! Nichts hiervon ist deine Schuld!“
„Aber deine doch auch nicht! Ich möchte nicht, dass du weiter da hin gehst.“
„Wir brauchen das Geld!“
„Es gibt genug andere Jobs. Ich werde einen suchen, und du auch. Wir finden schon etwas. Aber ich ertrage es nicht, dich noch einmal so zu sehen! Verdammt, Flo!“
Tränen standen in ihren Augen.
Und das war der Punkt, an dem auch der letzte Stein zu Staub zerbröselte. Ich konnte es nicht ertragen, sie so zu sehen. Ich hatte es noch nie mit ansehen können, wenn sie weinte.
Mit einer einzigen Bewegung hatte ich sie an mich gezogen und die Arme fest um sie gelegt. Ihr Kopf passte noch immer perfekt in die Kuhle an meiner Schulter. Sie gehörte schlichtweg hierher. In meine Arme. Sie gehörte zu mir.
Niemals zuvor hatte ich mir so sehr gewünscht, wieder Kind sein zu können. Damals war es mir noch nicht falsch erschienen, ihre Nähe in mich aufzusaugen wie ein trockener Schwamm kühles Quellwasser. Damals war es völlig normal gewesen. Und damals hatte ich die Welt akzeptiert, wie sie war, ohne Fragen zu stellen. Und ich hatte nicht gewusst, dass der überwiegende Teil der deutschen Gesellschaft nicht gutheißen würde, wie vertraut wir miteinander umgingen.
Ich verstand nicht, was falsch daran sein sollte. Es hatte sich nie falsch angefühlt, Ria bei mir zu haben. Und doch wusste ich, dass ich mich auf gefährlichem Grund befand. Wir taumelten am Abrund, alle beide. Und wenn ich nicht rechtzeitig einschritt, wusste ich nicht, wie ich verhindern sollte, dass wir gemeinsam fielen.
Ich spürte, wie sie mühsam schluckte und ihr Gesicht noch tiefer in meinem Shirt vergrub. Keinen Laut gab sie von sich. Sie wusste genau, wie sehr es mich schmerzte, sie so zu sehen. Deswegen mühte sie sich so, sich nichts anmerken zu lassen. Und doch war mir, als könnte ich ihren Schmerz spüren, wie er durch ihre Haut auch in meinen Körper überging.
Sie weinte meinetwegen. Allein der Gedanke daran brach mir fast das Herz. Denn es sagte mir so viel über sie. Über uns.
Eine lange Weile lagen wir so schweigend im Licht des neuen Morgens, das immer mehr an Kraft gewann. Es war so hell, dieses Licht. So erbarmungslos. Es zeichnete die tiefen Schatten unter Rias Augen nach, als sie irgendwann den Kopf hob, sich die letzten Tränenspuren von den Wangen wischte und mich aufmerksam betrachtete.
„Du warst fort.“
Da war kein Vorwurf in ihrer Stimme. Nur ein wenig...Traurigkeit. Aber alleine die Tatsache, dass sie es bemerkt hatte, sagte mir so viel über sie. Über uns.
„Ja“, gestand ich.
„Warum?“
„Ich kann es dir nicht erklären, Ria. Es war nötig. Ich...ich konnte einfach nicht...“, würgte ich hervor, fand nicht die richtigen Worte. Verstehen flackerte in ihren Augen, und da wusste ich, dass sie begriffen hatte, was ich nicht über die Lippen gebracht hatte. Sie schluckte, richtete sich auf und rückte von mir ab. Mir war auf einmal so kalt ohne ihre Nähe. Der leere Raum zwischen uns klaffte wie eine offene Wunde.
„Bin ich dir eine große Last?“, stellte sie mir dieselbe Frage wie vor drei Jahren, und genau wie vor drei Jahren gab es auch heute nur eine einzige Antwort auf diese Frage.
„Eine Last?“ Ich sah sie mit großen Augen an. „Herrgott, Ria...wie kannst du das nur denken? Natürlich nicht! Ich...brauche dich. Ich brauche dich mindestens genauso sehr wie du mich! Ich wüsste nicht...wenn du nicht gewesen wärst, ich wüsste nicht, wie ich all die Jahre überlebt hätte!“
„Ich hatte solche Angst...ich hatte Angst, dass ich dich irgendwie...verloren hätte. Dass du...dass du mich nicht mehr...lieb hast.“
Unsere Blicke trafen sich über den Abgrund des schmalen Bettes hinweg, verfingen sich ineinander und ließen einander nicht mehr los.
„Ich werde dich immer lieb haben, Ria. Egal, was geschieht. Immer. Ich schwöre es.“
„Ich dich auch“, flüsterte sie. „Ich dich auch Flo. Immer!“
Eine Ewigkeit saßen wir uns reglos gegenüber und sahen uns an. Und obwohl wir kein Wort wechselten, war die Stille doch so wundervoll vertraut.
„Was ist passiert?“, fragte sie irgendwann.
Ich blickte fragend zu ihr hinüber.
„Warum hast du deine Meinung geändert?“
„Ich habe erkannt, dass ich ohne dich...dass ich ohne dich nur ein halber Mensch bin“, gestand ich uns beiden die Wahrheit ein. „Ich...ich war ohne dich so alleine...so verloren...so möchte ich mich nie wieder fühlen.“
„Ich mich auch nicht“, murmelte sie leise.
Und da begriff ich das erste Mal, dass die letzten Monate nicht nur für mich schwierig gewesen waren. Ich hatte nicht einmal daran gedacht, dass diese Mauer, die ich zwischen uns errichtet hatte, für sie wohl ebenfalls spürbar gewesen war. Das erste Mal begann ich zu verstehen, dass ich nicht der einzige war, der unter diesem Abstand gelitten hatte. Dass sie mich vielleicht ebensosehr brauchte wie ich sie. Nicht nur als Beschützer, sondern auch als Freund.
Ich hatte immer gedacht, ich sei ihr großer Bruder. Ihr großer Bruder, der für sie sorgte, der sie tröstete, wenn es ihr schlecht ging, der für sie da war, wenn sie ihn brauchte. Niemals war mir der Gedanke gekommen, dass ich der einzige Mensch war, der ihr nahe stand. Dass sie mich nicht nur brauchte. Dass sie ohne mich genauso alleine war wie ich ohne sie. Und das machte unsere ganze Situation so viel komplizierter.
„Es tut mir so leid...“
„Du bist wieder hier“, seufzte sie, so, als wäre das Entschuldigung genug. Mit einer einzigen Bewegung überquerte sie den leeren Raum zwischen uns, kuschelte sich an mich, als sei nichts gewesen. Ich schluckte schwer. Meine Arme legten sich wie von selbst wieder um sie. Wir gehörten zusammen. Niemals hatte ich das deutlicher gespürt als in diesem Moment.
„Ja, ich bin wieder hier“, murmelte ich leise in ihr Haar.
Jetzt, im Licht des frühen Morgens, erschien mir alles so klar. Es war alles so einfach. Wir waren schon immer ein Team gewesen. Anders war das Leben nicht zu meistern. Und es war ein Fehler gewesen, sich dagegen auflehnen zu wollen. Ich konnte nichts daran ändern, dass wir zusammen gehörten. Ich musste nur diesen Teil unter Verschluss halten, der sich mehr wünschte. Der Ria an sich drücken wollte, nicht nur, um Trost zu geben oder um Trost zu finden. Der sie als etwas anderes sah als seine Schwester oder auch seine beste Freundin.
Ich hatte bereits so viel. War es nicht gierig, noch mehr zu wollen?
5. Ein Augenblick in Ewigkeit
Anna-Maria
Ein seltsames Gefühl der Wärme durchströmte mich, als ich den verwuschelten, dunklen Schopf betrachtete, der halb unter der dicken Winterdecke vergraben lag. Ein Arm hing auf der anderen Seite des Bettes herab. Er sah so süß aus, wenn er schlief. So jung. Auch wenn ich im Moment nur einen Teil seines Gesichtes sah, war es mir zugewandt, und ein leichtes Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Ich musste unwillkürlich ebenfalls lächeln.
Es war ein friedlicher Moment, ein ruhiger Moment. Gott weiß, ich hatte sie zu schätzen gelernt. Es gab nicht viele, hatte nie sonderlich viele gegeben, solange ich mich zurückerinnern konnte. Irgendein Schatten hatte uns bislang immer eingeholt.
Und in letzter Zeit...in letzter Zeit ertappte ich mich immer wieder dabei, dass ich wartete. Ich wartete, dass etwas geschehen würde. Es war zu ruhig geworden. Ich war es nicht gewohnt, glücklich zu sein. Ich misstraute dem Frieden. Er konnte nicht von Dauer sein.
Und je länger das Unheil auf sich warten ließ, desto ängstlicher wurde ich. Ich gewöhnte mich zu sehr hieran. Ich gewöhnte mich an das, was zu unserer täglichen Routine geworden war. Und je mehr ich mich daran gewöhnte, desto mehr würde es schmerzen, all das zu verlieren.
Dass ich ihn verlieren würde, wusste ich. Wenn ich mir einer Sache sicher war, dann dieser.
Doch vorerst erlaubte ich mir, glücklich zu sein. Ich war schon immer gut darin gewesen, in der Gegenwart zu leben. Es war so viel einfacher, wenn man gewisse Dinge einfach von sich schieben konnte. Ohne diese Fähigkeit wäre ich wohl schon vor langer Zeit verzweifelt. Sie hatte mich gerettet, wenn alles auswegslos erschien. Und Flo natürlich. Flo...
Flo war wieder da.
Erst, als er zu mir zurückgekommen war, hatte ich gemerkt, wie sehr er mir in Wahrheit gefehlt hatte. Wie alleine ich ohne ihn tatsächlich gewesen war.
Natürlich war unser Leben nicht perfekt. Da waren die Lästerschwestern in der Schule, und die Stifte und Radiergummis, die auf unergründliche Art und Weise aus meiner Schultasche verschwanden, wenn ich diese auch nur für einen Augenblick aus den Augen ließ.
Da waren noch immer die unbezahlten Rechnungen, die sich auf dem Telefontisch türmten. Da war unsere schwindende Reserve, und die Tatsache, dass ich Flo immer noch nicht davon hatte überzeugen können, endlich den Job in diesem vermaledeiten Café an den Nagel zu hängen. Flo war der sturste Mensch, den ich kannte. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog er das auch durch. Koste es, was es wolle.
Natürlich hatte ich immer wieder auf ihn eingeredet, versucht, ihm begreiflich zu machen, dass er nicht alleine war, dass er auch anderweitig Arbeit finden würde. Doch Flo war der Meinung, dass Kovalenko schon dafür sorgen würde, dass er nicht noch einmal in einem Café unterkommen würde. Vielleicht hatte er damit sogar recht. Das Gastronomiegewerbe war in einer Kleinstadt ebenfalls recht klein. Die Cafés konnte man an einer Hand abzählen, und weiß Gott nicht jedes davon suchte nach einer Aushilfe. Und die meisten Wirte kannten sich wohl irgendwie untereinander, nahm ich an. Aber es musste doch eine andere Lösung geben! Gott, wie es mir immer wehtat, ihn gehen zu sehen, mit diesem versteinerten Gesichtsausdruck. Und wenn er wieder nach Hause kam, war es, als sei etwas in ihm gestorben. Jedes Mal tat ich mein bestes, ihn wieder zu mir zurückzuholen. Doch ich wusste, dass es nicht genug war, ich spürte, wie es ihn Stück für Stück zerstörte.
Doch ansonsten war mein Leben im Moment nahezu märchenhaft schön.
Natürlich waren da immer noch gewisse Grenzen, die früher nicht da gewesen waren. In der Öffentlichkeit hielt er nach wie vor einen großen Sicherheitsabstand zu mir. Und selbst wenn wir alleine waren, näherte er sich mir nur sehr selten. Die Unbeschwertheit, mit der wir als Kinder miteinander umgegangen waren, würde wohl niemals wieder zwischen uns sein. Jetzt hatte es irgendwie eine größere Bedeutung, wenn er meine Hand nahm, oder wenn er einfach nur den Arm um mich legte. Er tat es nach wie vor – um mich zu trösten, um mir zu zeigen, dass er hier war. Aber es geschah nur noch in Ausnahmefällen, und immer nur in der Sicherheit unseres Zuhauses, und auch da nur, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Vorhänge zugezogen waren und niemand uns sehen konnte. Damit hatte ich mich abgefunden. Wir waren keine Kinder mehr. Schon lange nicht mehr.
Und doch war er mir irgendwie wieder näher gekommen. Diese Mauer, die monatelang zwischen uns gestanden hatte, die gab es nicht mehr. Und wenn er mich aus diesen tiefgrünen Augen nachdenklich ansah, spürte ich, dass er wünschte, es wäre anders. Dass er ebenso wie ich wünschte, das Leben wäre nicht so verdammt kompliziert, und wir könnten selbst die Regeln bestimmen.
„Ria?“ Flo setzte sich im Bett auf und rieb sich verschlafen die Augen. „Ria, was tust du hier? Ist etwas geschehen?“
Seit dem Abend, als er vor meinen Augen zusammengebrochen war, war ich nicht mehr in seinem Zimmer gewesen. Es war einfach zu seltsam, zu vertraut, und ich fürchtete, ihn wieder hinter seine Mauer zurückzutreiben, wenn ich die Grenzen überschritt, die er so sorgsam gesetzt hatte.
Fragend sah er zu mir auf, beobachtete mit gegen des helle Licht zusammengekniffenen Augen, wie ich dort unsicher auf seiner Türschwelle stand und auf meinen Zehenspitzen auf und abwippte. Ich hatte es nicht gewagt, von der Türe fortzutreten. Auf einmal kam ich mir wie ein Eindringling vor. Dies hier war sein Reich. Früher hatte ich mich hier so zu Hause gefühlt. Früher war dies ebenso mein Zimmer gewesen wie der Raum am anderen Ende des Flures. Früher, als wir noch nichts dabei gefunden hatte, gemeinsam in einem Bett zu schlafen. Früher, als ich noch nicht diese seltsame, flatternde Wärme in meinem Bauch gespürt hatte, wenn ich ihn nur angesehen hatte. So viel hatte sich verändert. Und doch war so vieles gleich geblieben.
„Nein, nichts“, versicherte ich ihm hastig. „Es ist nur...das Wetter ist so schön. Und es könnte der letzte schöne Tag sein, bevor der Winter kommt. Und da hab ich mir gedacht...vielleicht könnten wir...einfach nur ein bisschen raus gehen? Mir fällt hier so langsam die Decke auf den Kopf...“
Ich unterbrach mich, als ich seine skeptische Miene sah.
„Ist schon in Ordnung. Es war nur so eine Idee. Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe...“
„Nein, das ist eine gute Idee“, kam es da leise von ihm. „Ich denke, wir können beide ein wenig Sonne vertragen...“ Nachdenklich sah er mich an. „Woran hast du denn gedacht?“
„Ich weiß nicht? Der Waldsee? Wir könnten uns ans Ufer setzten...bei dem kleinen Steg...?“
Flo nickte zögernd. Auf einmal war da ein seltsamer Ausdruck in seinen Augen. Er erinnerte sich. Das war mit ein Grund, weswegen ich mich für den Waldsee entschieden hatte. Ich verband Erinnerungen damit. Und es war vielleicht der einzige Ort, an den ich ausschließlich gute Erinnerungen hatte.
Es war lange her, seit wir das letzte Mal am Waldsee gewesen waren.
Wir nahmen nicht die Bahn oder den Bus – das wäre zu teuer gewesen, denn momentan herrschte in der Haushaltskasse wieder einmal gähnende Leere. Wir fuhren auch nicht mit dem Rad – bei mir musste dringend der Reifen geflickt werden, und auch Flos befand sich in einem erbarmungswürdigen Zustand. Schuld daran waren sowohl fehlende Ersatzteile als auch die mangelnde Zeit für Reparaturen.
Wir gingen zu Fuß.
Es war ein langer Weg, aber das störte mich nicht. Das Wetter war unerwartet schön, und ich genoss die Gelegenheit, endlich wieder einmal frische Luft zu schnuppern.
Bald hatten wir den Stadtrand erreicht und folgten dem geschotterten Pfad durch den Wald, den außer ein paar einsamen Spaziergängern und Joggern selten jemand nutzte.
Die Sonne erreichte ihren Zenit zu dieser Jahreszeit bereits schon nicht mehr, und das Licht war von jenem herbstlichen Goldton, den ich schon immer so sehr geliebt hatte. Alles war so viel wärmer in diesem Licht, die Farben so viel intensiver und strahlender. Tief sog ich die Waldluft in meine Lungen und sah aus den Augenwinkeln, dass Flo es mir gleichtat.
Es roch nach Moos und Holz, nach Regen und nach Pilzen. Über uns raschelte der Wind durch das verbliebene Blattwerk. Es war so still hier. So still und so friedlich.
„Ich hab den Wald vermisst“, murmelte ich mehr zu mir selbst, und versuchte, alles um mich herum aufzusaugen, es mir einzuprägen. Es fühlte sich so an, als sei ich für kurze Zeit aus einem Käfig entkommen. Ich fühlte mich auf einmal so unglaublich frei.
„Ich auch“, stimmte Flo mir leise zu.
Wir sahen uns an, und er sah auf einmal so entspannt aus. Die Last, die sonst auf seinen Schultern lag, schien ein wenig leichter geworden zu sein, denn mir fiel auf, dass er ein wenig aufrechter ging. Und seine Augen funkelten. Nur ein wenig, aber es war mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte. Ich wusste, dass er gerne hier draußen war. Dass er ein Mensch war, der einfach ab und zu den freien Himmel über sich sehen musste. So wie ich.
Es gab keine Eile hier, keine Hektik, keinen Stress. Einvernehmlich gingen wir nebeneinander her, und das Laub raschelte bei jedem unserer Schritte. Irgendwo in der Ferne krächzte eine Krähe und erzählte von dicken Kornähren und fetten Regenwürmern. Eine kleine Maus huschte vor uns über den Weg und verschwand im Unterholz.
Es waren keine Worte nötig. Ich war einfach nur froh, diese Momente mit jemandem teilen zu können. Worte hätten nur die friedliche Stille zerstört. Flo schien das zu verstehen, denn er versuchte nicht einmal, ein Gespräch anzufangen. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, wie wir wohl auf einen außenstehenden Betrachter wirken mochten. Zwei Gestalten in ein wenig abgetragenen Winterjacken, die dicht nebeneinander gingen und kein Wort miteinander wechselten. Da war ein Abstand zwischen uns, ja. Aber irgendwie hatte ich doch das Gefühl, dass wir uns nahe waren. Auf eine Art, die Augen nicht sehen konnten. Ich spürte, dass er da war. Er war hier, bei mir, in diesem Moment. Ich wusste es, so wie ich wusste, dass seine rechte Hand nicht in seiner Tasche steckte, trotz der bereits kalten Herbstluft. Ich wusste es, so wie ich wusste, dass er mir hin und wieder verstohlen einen Blick zuwarf. In Gedanken war er genau hier, bei mir. In Gedanken war er mir näher als jeder andere Mensch jemals zuvor. Und ich fragte mich, ob man das sehen konnte. Dieses Verständnis, dieses unsichtbare Band, das zwischen uns war. Es war so...deutlich zu spüren, dass ich mir kaum vorstellen konnte, dass man es nicht sehen konnte.
Die Sonne stand bereits recht tief, als wir schließlich am Waldbad ankamen. Das war der Nachteil am Herbst; es wurde immer zu früh dunkel. Allerdings war es vielleicht auch gut so, denn so hatten wir den See für uns alleine. Zu dieser Jahreszeit kam kaum mehr jemand hierher. Das Wasser war bereits zu kalt, um darin zu schwimmen, und der Kiosk hatte schon seit Anfang September geschlossen.
Auch wenn ein paar Jahre vergangen waren, seit wir das letzte Mal hier gewesen waren, fanden wir ihn doch ohne Schwierigkeiten wieder. Unseren Platz.
Am hintersten Endes des Sees gab es eine kleine Ausbuchtung, die vom Waldbad nur sehr schwer eingesehen werden konnte. Jedenfalls war das im Sommer immer so gewesen, als die Büsche noch voller Blätter gewesen waren. Jetzt war es schon einfacher, durch die Lücken im Unterholz zu sehen, doch das spielte so oder so keine Rolle. Wir waren alleine hier. Alleine mit dem sanften Plätschern der Wellen, die sich am Uferrand brachen, und dem Zwitschern der Vögel über uns, und dem leisen Rascheln des kleinen Getiers im Unterholz.
„Weißt du noch, wie du mir hier das Schwimmen beigebracht hast?“, fragte ich und kniff die Augen gegen das Sonnenlicht zusammen, als ich mich zu ihm umwandte. Wir hatten uns ins Gras gelegt, und ich hatte mir den Pullover ausgezogen und ihn unter meinem Kopf zu einem Kissen zusammengeballt. Die Sonnenstrahlen wärmten mich mehr, als ich es für möglich gehalten hätte.
„Wie könnte ich das vergessen!“ Flo gluckste leise vor sich hin, und ich verzog gespielt beleidigt das Gesicht.
„Hey! So schlecht war ich auch wieder nicht!“
„Oh, nein, du warst noch viel schlimmer als schlecht! Es war eine Katastrophe!“, zog er mich auf. Ich wäre gern böse auf ihn gewesen, oder ich wollte zumindest so tun. Doch dann sah ich zu ihm auf...und die Worte blieben mir in der Kehle stecken. Da war dieses Funkeln in seinen Augen, dieses fröhliche Glitzern, das ich so lange vermisst hatte. Unwillkürlich musste ich schlucken.
Ich wandte den Blick ab und sah hinaus auf die silberne Oberfläche des Sees...und erinnerte mich.
Es war einer jener warmen Sommertage gewesen. Einer jener Tage, an denen schon das erste Morgenlicht von der kommenden Hitze des Tages kündigt. Einer jener Tage, an denen der Himmel von einem unglaublich dunklen, strahlenden Blau ist. Es war einer jener Tage, an denen man tatsächlich glauben konnte, dass alles gut werden würde. Das die Welt in Ordnung war, oder dass sie zumindest in Ordnung kommen würde.
Ich weiß nicht, wie alt ich gewesen war. Sechs oder sieben, schätze ich, denn ich ging bereits in die Schule.
Es war noch früh am Morgen gewesen. Die meisten Badegäste kamen erst am frühen Nachmittag, und so hatten wir unseren Platz hier am Morgen meist für uns. Es war unsere Zuflucht. Wenn es zu Hause wieder einmal zu laut wurde, weil Rainer da war, oder wenn die Wohnung einfach zu leer war, wenn uns die engen vier Wände zu ersticken drohten, dann kamen wir hierher. Es war einfach, alles zu vergessen. Es war so einfach, einfach nur hier zu sein, umgeben von den leisen Geräuschen des Lebens im Unterholz und dem friedlichen Plätschern der Wellen. Ich mochte die Stille und die Endlosigkeit des Himmels über mir.
Flo kam natürlich nicht nur wegen der Stille her. Erst viel später wurde mir klar, dass er oft mit mir vor Rainers Launen floh. Dass er vor der Arbeit floh, die sich zuhause anhäufte. Dass er vielleicht einfach auch nur ein paar Augenblicke brauchte, in denen er einfach nur Kind sein durfte. Augenblicke, in denen die Verantwortung nicht so schwer wie sonst auf seinen Schultern lastete.
An jenem Sommertag also waren wir wieder einmal sehr früh aus dem Haus geschlichen, an Mutters Zimmertür vorbei, durch die wieder einmal Rainers dröhnendes Schnarchen gedrungen war. Sie hatten am Abend zuvor lange gefeiert, und so war es gut möglich, dass sie gar nicht bemerken würden, dass wir fortgewesen waren. Auf die Frage hin, was wir machen würden, falls es doch auffiel, falls Mutter wider Erwarten doch vor dem Mittagessen aufstehen würde, auf diese Frage hin hatte Flo nur mit den Schultern gezuckt. Ihm würde schon etwas einfallen, hatte er dann nur gemeint. Ihm fiel immer etwas ein. Ich vertraute ihm.
Wir waren auf unseren Rädern bis zum Waldrand gefahren und das letzte Stück waren wir mehr gerannt als gelaufen. Flo hatte mich an der Hand gepackt und hatte mich hinter sich her gezogen. Er war nicht wie die großen Brüder der anderen Mädchen in der Schule. Er ließ mich nicht stehen, er rannte mir nicht davon. Er gab immer darauf acht, dass er mich nicht aus den Augen verlor.
„Du bist so klein, Krümel“, hatte er einmal gesagt, als ich ihn darauf angesprochen hatte. „Wer weiß, vielleicht verwechselt dich sonst einmal irgendjemand mit einem Gartenzwerg und steckt dich einfach in seine Tasche und nimmt dich mit. Und du musst dann für immer und ewig verzaubert in seinem Garten stehen. Das würde ich mir nie verzeihen.“
Ich hatte beleidigt erwidert, dass ich ja wohl ein wenig hübscher sei als ein Gartenzwerg, und da hatte er nur gelacht und war mir über das Haar gefahren.
„Sicher, Krümel. Sicher. Vielleicht hält er dich dann für eine Gartenprinzessin.“
„Es gibt keine Gartenprinzessinnen.“
„Aber natürlich gibt es die. Wie könnte dich sonst einer mit einer verwechseln?“
Und er hatte das so ernst gesagt, dass ich mir danach nie wieder sicher war, ob es nicht doch Gartenprinzesinnen gab. Selbst heute noch bleibe ich vor jedem Garten stehen, in dem ich Gartenzwerge sehe, und suche nach der Prinzessin. Und von jenem Tag an habe ich stets darauf geachtet, niemals so weit von ihm fortzugehen, dass Flo mich aus den Augen verlor.
Ja, Flo war schon immer gut darin gewesen, Geschichten zu erfinden. Und er hatte sie oft erzählt, wenn wir hier nebeneinander am See gelegen hatten und auf die silberne Wasseroberfläche gestarrt hatten, und unser Leben in der engen Dreizimmerwohnung auf einmal so unendlich fern erschien. Hier hatte er von Kelpies und versunkenen Städten erzählt, von Wassermännern und Seejungfrauen und von dem Wasserpferd mit den gefährlichen Fangarmen, und den Schlachten, die geschlagen wurden, um junge Menschenfrauen aus den Fängen der Seemonster zu befreien. Hier waren wir auf die Suche nach der goldenen Stadt gegangen, und hier hatte er mich gerettet, an diesem blauen Sommertag, an dem alle Sorgen so fern erschienen, märchenhafter als die Märchen, die hier lebendiger waren als alles andere.
„Tief unten im See“, hatte er begonnen, und seine Stimme hatten diesen eigenartigen, verträumten Ton angenommen, „tief unten im See, dort, wo das Schlingpflanzendickicht so undurchdringlich ist, dass nicht ein einziger Lichtstrahl hindurchdring, dort wohnt das Wasserpferd. Die Seemenschen fürchteten es. Die Seemenschen fürchteten den Ort, der so voller Dunkelheit war, dass dort nicht einmal die Laternenfische wohnen mochten. Sie fürchteten ihn, und sie erzählten sich Geschichten über das Ungeheuer, das dort haust. Niemand hatte es jemals gesehen. Aber an und an verirrte sich einer im Dickicht, und bislang war noch niemals jemand zurückgekehrt, der dort hineingegangen ist. Doch eines Tages spielte die Seeprinzessin mit ihrer goldenen Prinzessinnenkrone, hinter dem Palast ihres Vaters, und da kam einer der Schluckfische vorbei. Schluckfische sind eigentlich recht dumme Tiere, musst du wissen. Sie schlucken alles und jedes, und wenn sie feststellen, dass sie es nicht essen können, spucken sie es irgendwann wieder aus. Und dieser Schluckfisch, der schluckte die Krone der Prinzessin.
Die Prinzessin war natürlich sehr traurig darüber. Sie liebte ihre goldene Krone sehr. Sie war ein Geschenk ihres Vaters gewesen, und die Prinzessin vermisste ihren Vater. Der hatte sich nämlich während eines Kampfes mit den Seemenschen vom Nachbarsee im Schlingpflanzendickicht verfangen und war niemals wieder zurückgekehrt.“
Kaum hatte der Schluckfisch die Krone verschluckt, stieg die Prinzessin auf ihr goldenes Seepferd und ritt ihm hinterher, so schnell sie nur konnte. Irgendwo in der Ferne hörte sie ihren Bruder schreien, sie möge auf ihn warten, doch die Prinzessin sah nur noch den Schluckfisch, der in der Ferne verschwand, und alles andere war ihr egal.“
Verträumt hatte ich den Kopf an seine Schulter gelehnt und die Augen geschlossen und mich von seinen Worten davontragenlassen. Und das Wissen, dass die Geschichte gut ausgehen würde, so wie es bei Flos Märchen immer war, dieses Wissen machte selbst den schlimmen Kampf mit dem Wasserpferd erträglich, und die Verzweiflung der Prinzessin, als sie sich hoffnungslos im Schlingpflanzendickicht verirrte. Natürlich fand sie den Weg zurück. Und gemeinsam mit ihrem Bruder gelang es ihr dann auch, den Vater zu befreien, der all die Jahre in der Gefangenschaft des Wasserpferdes zugebracht hatte. Nur die Krone der Prinzessin, die blieb verschollen. Doch die brauchte sie ja jetzt nicht mehr, sie hatte ja ihren Vater wieder.
Als Flo mit seiner Geschichte fertig war, streckte ich mich ein wenig verschlafen, und da erst bemerkte ich, wie heiß mir geworden war. Die Sonne brannte inzwischen trotz der recht frühen Tageszeit unbarmherzig auf uns herab.
„Du bist ganz rot im Gesicht, Krümel“, meinte Flo besorgt. „Vielleicht sollten wir zurück nach Hause gehen.“
Doch ich wollte noch nicht zurück. Ich wollte nicht zurück in die enge, stickige Wohnung, zu einer verkaterten Mutter und einem schlecht gelaunten Rainer, zu Fertigessen aus der Dose und dem tristen Grau des Teppichbodens.
„Können wir nicht noch ein wenig bleiben?“, bat ich und sah ihn mit großen, bittenden Augen an. Ich wusste, dass er diesem Blick nicht wiederstehen konnte. Ich bekam oft meinen Willen, wenn ich ihn so ansah. Er war meine beste Waffe.
„Sicher“, seufzte Flo. „Ein wenig können wir noch bleiben. Aber vielleicht sollten wir ins Wasser gehen. Um uns abzukühlen. Sonst holst du dir noch einen Sonnenstich.“
Wir waren lange im Wasser geblieben an diesem Tag. Immer wieder hatte ich verstohlen Ausschau gehalten nach dem goldenen Palast der Prinzessin, die jetzt sicher glücklich war, ihren Vater wieder gefunden zu haben, auch wenn sie ihre Krone noch immer vermisste. Natürlich fand ich ihn nicht, den Palast. Dafür fand ich etwas anderes.
„Sieh mal, Flo!“ Vor Aufregung konnte ich kaum noch an mich halten. „Sieh mal, ich glaube, ich hab sie gefunden! Dort, siehst du?“
„Was denn? Was denn gefunden? Und geh nicht so weit hinaus, du kannst nicht schwimmen, Krümel! Bleib in der Nähe des Ufers!“, schallte die Stimme meines Bruders zu mir herüber. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich schon so weit gegangen war. Aber in diesem Moment war mir das egal. Meine Entdeckung war wichtiger als alles andere.
„Die Krone der Prinzessin! Dort ist sie, dort unten!“
„Das ist doch Quatsch, Krümel, das kann nicht sein, ich hab mir das doch nur ausgedacht! Es gibt keine Prinzessin!“, fiel er mir scharf und beinahe wütend ins Wort, und ich zuckte zusammen. So sprach er normalerweise nicht mit mir – so streng und laut und böse.
„Aber sieh doch nur, da ist sie, wirklich, glaub mir doch!“, protestierte ich gekränkt, und um es ihm zu beweisen, hüpfte ich immer weiter auf das goldene Glitzern zu...bis da plötzlich kein Grund mehr unter meinen Füßen war. Mein letzter Schritt ging ins Leere.
„KRÜMEL!“
Flos verzweifelter Schrei war das letzte, das ich hörte, und dann schlug das Wasser über meinem Kopf zusammen.
Panisch trat ich mit meinen Füßen, und es gelang mir sogar, für einen Augenblick wieder an die Oberfläche zu kommen. Ich schnappte keuchend nach Luft, doch dann sank ich wieder, und ich spürte, wie meine Beine immer schwerer wurden. Es war so dunkel hier unter Wasser. So dunkel und so kalt, und meine Kräfte ließen nach. Irgendwann schluckte ich Wasser. Und dann sank ich, und die Dunkelheit kroch durch mich hindurch. Das Brennen in meiner Lunge ließ nach, und auf einmal kam es mir fast so vor, als schwebte ich.
Und als ich eben glaubte, dass ich mich jetzt wohl ebenso wie die Prinzessin im Schlingpflanzendickicht verirrt hatte, da waren auf einmal zwei starke Arme, die mich umfassten, mich nach oben zogen. Und das Wasser wurde wieder heller.
Und dann war da Luft, die mich umgab, kein Wasser mehr. Doch die Luft war kalt, und ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie man atmete. Etwas war im Weg, ein Kloß in meinem Hals, und ich würgte und kämpfte...und hustete...und keuchte...und atmete. Süße, süße Luft, ich atmete! Es brannte in meiner Lunge, es brannte wie Feuer, aber ich atmete.
Und dann, als die Welt wieder klarer wurde, sah ich in zwei grüne Augen, die über mir schwebten.
Da war keine Wut in seinem Blick, als er mir in die Augen sah. Nur so etwas wie Angst...und unendliche Erleichterung.
„Oh, Krümel, was machst du nur. Tu das nie wieder, hörst du? Nie wieder! Tu mir das nie wieder an...“
„Es tut mir leid“, flüsterte ich an seiner Schulter. Es tat mir leid, dass er sich solche Sorgen gemacht hatte. Ich wollte doch nicht untergehen. Ich hatte doch nur die Krone holen wollen. Die Krone aus seiner Geschichte. Ich hatte doch nicht gewusst, dass ich mich so weit vom Ufer entfernt hatte.
Ich zitterte noch immer, und er hüllte mich sorgsam in sein Shirt und drückte mich fest an sich, als wolle er mich nie wieder loslassen. Auch er zitterte ein wenig. Vielleicht war ihm kalt. Aber natürlich war ihm kalt. Er hatte ja jetzt kein Shirt mehr an. Und er war nass, genauso nass wie ich, denn er war mir hinterhergesprungen.
Eine ganze Weile saßen wir so da und ließen uns von der Sonne wieder aufwärmen. Ich fühlte mich sicher, hier bei ihm, und ich wusste, dass er niemals zugelassen hätte, dass ich untergegangen wäre. Solange er da war, würde alles immer gut ausgehen. Er war mein Flo, und seine Märchen gingen immer gut aus.
Jedenfalls hatte ich das damals noch glauben können.
„Woran denkst du?“, drang Flos Stimme durch meine Erinnerungen.
„An die Geschichte von der Prinzessin, die ihre Krone verloren hatte...und daran, wie du mich an diesem Tag aus dem Wasser gezogen hast.“
„Das...“, seufzte er. „Ja, das war vielleicht ein Tag.“
„Und danach hast du mir das Schwimmen beigebracht.“
„Was hätte ich auch sonst tun sollen? Deine Fantasie ist einfach zu lebhaft, Ria. Und ich wollte das Risiko nicht eingehen, dass du mir noch einmal untergehst.“
„Du hättest auch einfach damit aufhören können, mir Geschichten zu erzählen. Dann hätte ich vielleicht keinen Grund mehr gehabt, nach irgendwelchen Dingen unter Wasser zu suchen“, neckte ich ihn. Die Wahrheit kannte er wohl ebenso gut wie ich. Er wusste, dass seine Geschichten mich das ein oder andere Mal gerettet hatten. Dass sie mein Rettungsanker gewesen waren. Die Möglichkeit, auch nur für kurze Zeit in eine andere Welt zu flüchten. Ich hätte sie um nichts in der Welt missen mögen.
„Nein, hätte ich nicht“, meinte Flo leise und unglaublich ernst. „Ich habe sie mindestens ebensosehr gebraucht wie du. In meinen Geschichten...war ich nicht so machtlos, weißt du. Ich konnte...ich konnte etwas bewirken. Ich war nicht hilflos. Ich hatte Macht in meinen Geschichten.“
Nachdenklich blickte ich zu ihm auf. Das Grün seiner Augen war so viel intensiver im Schein der Oktobersonne. Wie Flaschenglas. Wie ein Smaragd. Er sah in die Ferne, über den Waldsee hinweg. Und doch war er hier. Auch wenn er so abwesend wirkte, wusste ich doch, dass er in Gedanken genau hier war. Und ich fragte mich, wann genau es gewesen war, wann er aufgehört hatte, Geschichten zu erzählen. Ich hatte so eine Ahnung, dass es sehr wichtig war, aber ich konnte mich nicht mehr erinnern. Warum hatte er aufgehört?
Und während mir diese Gedanken noch durch den Kopf gingen, wusste ich, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, zu fragen. Dass wir jetzt nicht noch mehr Dunkelheit gebrauchen konnten – denn irgendwie wusste ich, dass das Ende der Märchen etwas mit Dunkelheit zu tun hatte. Und dass ich es vielleicht nicht wissen wollte. Im Moment wollte ich die Sonne genießen, vielleicht das letzte Mal vor dem Winter. Und ich wollte mich an glücklichere Momente erinnern.
„Und du hast mir das Schwimmen beigebracht“, setzte ich deswegen an. Schon spürte ich, wie ein kleines Lächeln auf meinen Lippen tanzte.
„Ja...“, seufzte er, doch ich hörte die leise Belustigung in seiner Stimme. „Ich wusste ja nicht, welch eine Aufgabe ich mir da gestellt hatte. Zum Glück...sonst hätte ich wohl nie damit angefangen.“
„Und dabei riskiert, dass ich niemals schwimmen lerne? Das glaube ich dir nicht!“
Belustigt sah ich zu ihm auf, als er schnaubte.
„All die grauen Haare, die mir deinetwegen gewachsen sind. Ich denke, ich werde niemals Lehrer werden, und daran hast du alleine Schuld!“
„Vielleicht lag es an deinen mangelhaften Lehrfähigkeiten und nicht an meinen Qualitäten als Schüler?“, stichelte ich.
„Weißt du, wie lange du gebraucht hast, um einfach nur zu lernen, wie man sich treiben lässt? Ständig hast du herumgezappelt, weil du wieder irgendetwas unter Wasser zu sehen glaubtest!“
„Das war aber allein deine Schuld! Du hast mir die ganzen Märchen erzählt, die hier im Waldsee gespielt haben! Natürlich wollte ich wissen, was davon stimmt! Natürlich wollte ich sehen, ob ich das ein oder andere Wesen erkennen konnte! Und du hast so lustig ausgesehen, wenn du frustriert mit den Händen durch dein Haar gefahren bist! Du hattest damals recht lange Haare, und wenn sie dir so in nassen Strähnen auf den Schultern gelegen haben...dann hattest du manchmal ein wenig Ähnlichkeit mit den Seemenschen, von denen du immer erzählt hast. Und wenn du die Backen aufgeblasen hast, hast du ein wenig ausgesehen wie der Schluckfisch...“
Vorsichtshalber wich ich ein wenig zurück bei meinen letzten Worten, und das war eine gute Idee. Flo fuhr zu mir herum, die Augen drohend aufgerissen.
„Was hast du da gesagt?“, knurrte er, und ich war mir nur zur Hälfte sicher, dass er nur spielte. Und doch konnte ich nicht anders. Ich lachte und rappelte mich hastig auf, als er auf die Füße sprang.
„Du...hast...ein wenig...ausgesehen...wie der Schluckfisch...“, japste ich.
Natürlich war er schneller als ich. Er war immer schneller gewesen als ich. Ich entkam ihm ein paar Schritte weit, und dann hatte er mich eingeholt. Seine Arme schlossen sich um mich, so sicher und unausweichlich, als hätte ich mich tatsächlich im Gewirr der Schlingpflanzen verfangen.
Er war erbarmungslos. Er kannte alle meine Schwachstellen, und er kitzelte mich gründlich durch, während ich mich vor Lachen wand, bis ich irgendwann erschöpft um Erbarmen flehte. Augenblicklich ließ er mich los. Keuchend ließ ich mich zu Boden sinken, und er setzte sich neben mich.
Und da hörte ich es.
Er lachte. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal so gelacht hatte. Und sein Lachen war ansteckend.
Und so saßen wir nebeneinander in der warmen Herbstsonne und lachten, auch wenn die Muskeln in meinem Unterleib fast schon schmerzten. Es war ein zeitloser Moment, einer, der mir für immer in Erinnerung bleiben würde.
Doch auf einmal hörte Flo auf zu lachen. Auf einmal sah er mich so seltsam ernst an. Da war ein untergründiger Schmerz in seinen Augen, eine Traurigkeit, die mich tief erschütterte.
„Was ist?“, fragte ich vorsichtig.
„Nichts“, murmelte er. „Ich wünschte nur...ich wünschte nur...ich wünschte, wir könnten diesen Moment hier für immer festhalten.“
„Wir können es versuchen.“
Ich sah, wie er krampfhaft schluckte. Seine moosgrünen Augen bohrten sich in meine. Sie waren auf einmal so offen, diese Augen. So offen, und so verletzlich. Und ich glaubte, das Grün ein klein wenig schwimmen zu sehen. Er traf mich ins Herz, dieser Blick. Er traf mich mitten ins Herz, und ich konnte mich nicht erinnern, dass jemals etwas so sehr geschmerzt hatte wie diese Traurigkeit in seinen Augen. Eine Traurigkeit, die nichts und doch alles mit diesem Moment zu tun hatte. Weil er ebenso wie ich wusste, dass nichts von Dauer ist. Weil er irgendwie auch wusste, dass es enden würde. Nicht heute, nicht hier. Aber so etwas wie eine Zukunft würde es nicht geben. Wir hatte niemals die Chance auf eine Zukunft gehabt.
Und ich versuchte es. Ich versuchte, diesen Moment in mein Gedächtnis zu brennen. Die Wärme der Sonne, die bis in mein Innerstes zu dringen schien. Das Rauschen des Windes in den Blättern über uns. Das weiche Gras, das meine nackten Zehen kitzelte. Die Wärme, die von Flo ausging und sich wie eine schützende Decke über mich breitete.
Und es gelang mir tatsächlich. Noch Jahre später sollte ich mich an diesen Augenblick erinnern. Weil es der letzte wirklich glückliche Moment war, bevor sich alles änderte.
6. Patrick
Anna-Maria
Der Tag war regelrecht dahingeflogen. Ich war überrascht gewesen, dass bereits die Sonne unterging, als wir den Waldrand erreicht hatten. Nach und nach erwachten die Straßenlaternen jetzt zu flackerndem Leben, tauchten die Welt in ihr gelb-orangenes Licht. Alles sah so unwirklich aus im künstlichen Schein dieser Lampen. Die Schatten waren schwammig und irgendwie unscharf, und die Welt wurde so seltsam fremd. Es gab nur die Dunkelheit und die Schatten und das Beinahe-Licht der Lampen. Unwillkürlich schreckte ich vor den dunkleren Ecken zurück, malte mir aus, wer sich wohl alles in den Schatten verbarg, uns beobachtete, lauerte, wartete. Natürlich wusste ich, dass es Unsinn war. Doch die Furcht war da, und sie ließ sich nicht abschütteln. Irgendetwas war falsch an dieser Nacht.
Vielleicht war es eine Vorahnung. Doch wie hätte ich wissen können, was geschehen würde? Wie hätte ich ahnen können, wie der heutige Tag enden würde?
Unwillkürlich rückte ich noch ein wenig näher an Flo heran. Er sah mich so merkwürdig von der Seite an. Und dann umschloss seine Hand auf einmal die meine. Warm und fest und so vertraut.
„Was...?“, murmelte ich überrascht. Wir waren noch immer draußen. In der Öffentlichkeit. Wir konnten gesehen werden.
Er atmete tief ein, und ein kaum merklicher Schauder ging durch ihn hindurch.
„Ich weiß nicht. Irgendwie...“ Er zuckte die Achseln. Immer wieder warf er einen Blick über die Schulter, und er hatte seine Schritte merklich beschleunigt. Ich kam ihm kaum noch hinterher.
Er spürte es auch. Es war wie ein bitterer Geschmack auf meiner Zunge. Metallisch.
Aufkommendes Unheil. Düstere Wolken am Horizont. Und trotz alledem erfasst mich für einen Moment eine unglaubliche Ruhe. Ich fühlte mich so sicher, wenn er mich so an der Hand nahm. So beschützt. Da war diese Nähe, diese Nähe, die ich nicht in Worte fassen konnte.
Wie seltsam, dass es nicht regnete. Dass kein Lüftchen wehte. Dass kein Donner grollte. Dass es so ruhig blieb, wenn doch in meinem Inneren ein Sturm tobte.
Das Licht war das erste, das mir auffiel. Da trat Licht unter der Wohnungstüre durch, und das gedämpfte Geräusch miteinander sprechender Stimmen drang bis auf den Flur hinaus. Mutter war zu Hause, und sie war nicht alleine.
Ich hatte nicht damit gerechnet, sie heute noch anzutreffen, war sie doch vor ein paar Tagen wieder einmal verschwunden. Ein gelber Klebezettel am Kühlschrank mit einer kurzen Nachricht, dass sie für ein paar Tage bei einem Freund sein würde, von dem wir weder Namen noch Adresse noch Telefonnummer hatten.
Das übliche eben. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass sie nicht mehr für uns war als eine Mitbewohnerin. Eine selten anwesende Mitbewohnerin. Und im Grunde war es einfacher, wenn sie nicht da war. Wir kamen inzwischen recht gut alleine zurecht. Solange sie die Rechnungen beglich, die wir nicht bezahlen konnten. Solange das Jugendamt keinen Wind davon bekam.
Flo runzelte ebenfalls die Stirn. Dann ließ er meine Hand fallen, als habe er sich verbrannt. Ich fühlte einen leisen Stich des Bedauerns, doch dann konzentrierte ich mich auf das, was uns nun bevor stand. Männerbesuche bedeuteten selten etwas Gutes. Ohne zu zögern ließ ich Flo den Vortritt, der soeben seinen Schlüssel aus seiner Hosentasche hervorgekramt hatte. Ich sah, wie sich seine Schultern ein wenig hoben, wie er tief einatmete, wie sich sämtliche Muskeln seines Körpers anzuspannen schienen. In Momenten wie diesen fiel mir immer wieder auf, wie groß er geworden war. Wie erwachsen. Er überragte mich um gut einen Kopf, und seine Schultern waren so breit, dass ich regelrecht hinter ihm verschwinden konnte, wenn er sich vor mich schob. Wie er es im Moment auch tat. Wer immer uns erwartete, er versuchte, mich zu schützen. Wie er es schon immer getan hatte.
„Wo wart ihr denn nur?“, empfing uns Mutters Stimme, kaum dass wir über die Schwelle getreten waren. Sie klang ungewöhnlich bestimmt. So, als hätte sie beschlossen, auf einmal die Autoritätsperson zu spielen, die sie niemals gewesen war.
Für einen kurzen Moment packte mich das schlechte Gewissen. Wir hatten ihr tatsächlich nicht Bescheid gegeben. Aber sie hatte sich doch auch noch nie dafür interessiert, wie und wo wir unsere Tage zubrachten! Ein seltsamer Zorn stieg in mir auf. Wie konnte sie sich nur so aufspielen? Autorität und Respekt mussten verdient werden! Und Mutter hatte niemals irgendetwas getan, um sich unseren Respekt zu verdienen. Herrgott, eigentlich hätte sie sich, wenn es nach mir ging, nicht einmal wirklich den Namen Mutter verdient. Sie war uns nie eine Mutter gewesen.
Flo warf mir einen ungläubigen Blick über die Schulter zu, und ich schüttelte ratlos den Kopf. Seit wann interessierte sie sich für uns? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann sie uns das letzte Mal eine solche Frage gestellt hatte. Ob sie es überhaupt schon einmal getan hatte.
Ich lugte hinter Flo hervor, und gerade, als ich spürte, wie er tief einatmete und zu einer Antwort ansetzte, da trat hinter Mutter ein Mann durch die Küchentüre. Ein Mann, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ein Mann mit schwarzem, beinahe militärisch kurz geschorenem Haar und einem rotkarierten Holzfällerhemd. Er war sehr groß, sehr breitschultrig und sehr kräftig, und er hatte irgendetwas an sich, das mich leise schaudern ließ. Unter der harmlosen, beinahe freundlichen Fassade war etwas, das mir Unbehagen bereitete. Vielleicht waren es seine Augen. Diese grauen, kalten Augen, mit denen er uns nun aufmerksam musterte. Mir wurde kalt, als mich sein Blick streifte. Eiskalt.
„Lass nur, Regina“, meinte der Fremde. „Mit Freundlichkeit kommst du bei denen nicht weit. Glaub mir, ich kenne das. In diesem Alter sind sie immer rebellisch und schwer zu kontrollieren, vor allem die Jungen. Da brauchst du eine feste Hand.“
Ungläubig starrte ich meine Mutter an. Ich fühlte mich so verraten. Wie konnte sie das nur zulassen? Wie er über unsere Köpfe hinweg mit meiner Mutter sprach, als ob wir nicht da wären. Als ob wir kleine Kinder wären, die keine Manieren hätten.
„Dürfte ich erfahren, wer Sie sind und was Sie hier in unserer Wohnung tun?“, erkundigte Flo sich kühl. Trotz der höflichen Worte hörte ich den harten Unterton heraus. Es gefiel ihm nicht, was er da sah und hörte. Genausowenig, wie es mir gefiel. So lange ich mich zurückerinnern konnte, hatte es nie einen Mann in Mutters Leben gegeben, der uns Vorschriften gemacht hatte. Die meisten hatten unsere Anwesenheit einfach ignoriert, und die wenigen, die versucht hatten, ein wenig freundlich zu sein, hatten es dann doch unserer Mutter überlassen, sich um uns zu kümmern – soweit man bei Mutter eben von kümmern sprechen konnte. Das hier, das hier war neu.
„Komm mir nicht so, Bürschchen!“, fauchte der Mann jetzt aufgebracht. „Ich bin Patrick. Wenn du deiner Mutter ab und zu zuhören würdest, dann wüsstest du, das wir schon seit einer Weile zusammen sind. Das hier ist jetzt auch meine Wohnung. Ab jetzt werden hier neue Saiten aufgezogen. Von nun an herrscht Ordnung in diesem Haushalt! Und wage es nicht noch einmal, in solch einem Ton mit einem Erwachsenen zu sprechen! Deine Mutter hatte recht, du legst wirklich mangelnden Respekt an den Tag!“
Hatte ich geglaubt, Flo wäre bereits angespannt gewesen, dann wurde ich jetzt eines Besseren belehrt. Er schien vor meinen Augen zu Stein zu erstarren. Seine Hände ballten sich an seinen Seiten zu Fäusten. Doch er riss sich zusammen. Er widersprach nicht. Ich bezweifelte auch, dass er nur ein einziges Wort über die Lippen gebracht hätte. Er war sprachlos. So wie ich auch.
Patrick trat einen drohenden Schritt auf uns zu, und Flo trat einen Schritt zurück und schob sich wieder vor mich.
„Und jetzt beantworte gefälltigst die Frage deiner Mutter! Wo wart ihr?“, herrschte er Flo an. „Wo seid ihr den ganzen Tag gewesen? Wisst ihr, wie sich eure Mutter um euch gesorgt hat?“
„Wir waren im Wald, spazieren“, brachte Flo irgendwann heraus. Er klang so anders. Er klang auf einmal so viel jünger, und das machte mir Angst. Aber ich war auch so erleichtert, dass er den See nicht erwähnt hatte. Das war unser Platz. Es wäre mir wie ein Sakrileg erschienen, ihn einfach so preiszugeben. Der Friede, den wir dort fanden, wäre dadurch irgendwie schal geworden. Weniger wertvoll.
„So, so. Und ihr habt es nicht für nötig gehalten, hier ein wenig Ordnung zu schaffen, bevor ihr gefahren seid?“ Mit leicht angewidertem Blick deutete Patrick auf die dicken Staubflusen, die sich in den Ecken sammlten, und auf die leeren Weinflaschen, die sich neben dem Mülleimer in der Küche stapelten. Mutters Weinflaschen.
Zorn stieg in mir auf. Ich dachte daran, wie Flo gestern abend den Müll heruntergebracht hatte, nachdem er völlig erschöpft von seiner Schicht im Café zurückgekommen war. Ich dachte daran, wie er den tröpfelnden Wasserhahn repariert hatte, obwohl er eigentlich seine Hausaufgaben hätte machen müssen. Ich dachte daran, wie er bis spät in die Nacht hinein noch auf die Matheklausur gelernt hatte, weil die Noten, die er jetzt bekam, bereits zu seinem Abschluss dazuzählen würden. Ich dachte an die dunklen Schatten unter seinen Augen. Schatten, die vor allem deswegen dort waren, weil er soviele Aufgaben übernehmen musste, die eigentlich nicht die seinen waren. Weil sie irgendwann erledigt werden mussten. Weil niemand da war, der uns in irgendeiner Weise half.
Und jetzt kam dieser fremde Mann daher, der nichts von uns wusste, und meinte, über uns urteilen zu können. Über Flo urteilen zu können.
Der Zorn verwandelte sich in sengenheiße Wut. Eine Wut, die ich niemals empfunden hätte, wäre es alleine um mich gegangen. Aber dass dieser Fremde es wagte, Flo so anzufahren, das zerrte an meinem Gerechtigkeitsempfinden. Und diese Wut war es, die mich hinter dem schützenden Rücken meines Bruders hervortrieb. Diese Wut war es, die einen Mut in mir weckte, den ich nicht für möglich gehalten hätte.
„Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?“, zischte ich. Meine Stimme bebte. „Sie haben keine Ahnung, wie es bei uns so zugeht! Sie haben keine Ahnung, wie viel Flo für uns tut. Verdammt, irgendjemand in diesem Haus muss doch dafür sorgen, dass wir zu essen haben! Und ich helfe ihm, wo ich nur kann, aber wir schaffen eben nicht alles, selbst zu zweit.“
Dann wandte ich mich an meine Mutter.
„Schick ihn bitte fort.“
Ich hätte es wissen müssen. Spätestens, als ich das leise Lächeln sah, das um Patricks Mundwinkel spielte. Er wirkte so siegessicher. Wie ein kleines Kind, das lächelnd mit ansieht, wie die gefangene Fliege im Netz der Spinne verzweifelt mit den Flügeln schlägt und sich dabei noch mehr in den klebrigen Fäden verfängt.
Später fragte ich mich, ob ich wirklich von ihr erwartet hatte, dass sie unsere Bedürfnisse über ihre eigenen setzte. Ich hätte es wissen müssen. Aber verdammt, sie war meine Mutter! Und das hier war wirklich das erste Mal, dass ich etwas von ihr verlangte. Wir hatten so viel zurückgesteckt, hatten so viel einfach hingenommen. Konnte sie nicht einmal an uns denken? Konnte sie nicht einmal die Mutter sein, die sie niemals gewesen war?
Natürlich war es zuviel verlangt. Menschen ändern sich nicht.
„Wie kannst du so etwas von mir verlangen?“ Verletzt und beinahe anklagend sah Mutter mich an. „So lange war ich alleine, und dazu musste ich euch auch noch ohne jede Hilfe aufziehen. Es ist alles andere als einfach, einen Mann zu finden, wenn man schon Kinder hat. Und jetzt habe ich endlich jemanden gefunden, mit dem ich mir vorstellen kann, den Rest meines Lebens zu verbringen. Und du willst, dass ich ihn fortschicke?
Aber du warst ja schon immer selbstsüchtig, Anna-Maria. Immer hast du deinen Bruder vorgeschickt. Damit ist jetzt Schluss. Von nun an wirst du selbst für deine Taten einstehen. Und du wirst akzeptieren, dass Patrick nun der neue Mann in meinem Leben ist. Du wirst lernen, zu gehorchen. Ich war viel zu nachgiebig mit euch, habe euch zu viel durchgehen lassen. Das wird sich nun ändern.
Rainer hat einen Plan aufgestellt. Ihr werdet mir bei der Hausarbeit zur Hand gehen. Jeder bekommt ein festes Aufgabenfeld. Du wirst dich um die Wäsche kümmern, Flo um das Essen. Einkaufen könnt ihr meinetwegen zusammen. Und falls ihr es versäumt, eure Aufgaben zu erfüllen, wird es Konsequenzen geben. Habt ihr mich verstanden?“
Mit offenem Mund starrte ich sie an. Wie betäubt nickte ich irgendwann, weil ich einfach nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen. So hatte sie noch nie zuvor mit mir gesprochen. Fast war ich mir sicher, dass das mehr Worte gewesen waren, als sie je zuvor auf einmal mit mir gewechselt hatte.
„Du auch! Ich habe mit dir gesprochen, Florian! Das gleiche gilt für dich! Und glaub nicht, du kannst dich wieder aus der Affäre ziehen, wie du es sonst so gerne tust!“
Flos Kiefer spannten sich, als er irgendeine Erwiderung hinunterschluckte. Und dann geschah etwas, das mir mehr Angst einjagte als alles andere zuvor. Er wurde irgendwie...weicher, seine Schultern verloren an Spannung, sanken herab. Es war keine entspannte Haltung. Es war eine besiegte. Und dieser Ausdruck in seinen Augen, dieser versteinerte Ausdruck, kehrte wieder zurück. Es schmerzte so sehr, es mit anzusehen. Es schmerzte mehr, als ich es für möglich gehalten hätte.
Verdammt, er war so glücklich gewesen! Er hatte gelacht, dort am See! Er hatte gelacht! Und jetzt war es, als sei dieser Nachmittag niemals geschehen.
Als er langsam nickte, war mir, als würde ein Teil von mir sterben. Warum kämpfte er nicht? Warum ließ er sich all diese Dinge an den Kopf werfen und verteidigte sich nicht einmal?
Ich konnte nicht glauben, was sich da soeben vor meinen offenen Augen abspielte. Ich fühlte mich so hilflos, wie ein Beifahrer, der dabei zusieht, wie das Auto außer Kontrolle gerät und in die Leitplanke schlittert. Alles geschah so langsam, beinahe wie in Zeitlupe, und doch war ich machtlos, konnte nicht verhindern, was geschah. Es musste ein Traum sein. Ich fühlte mich, als sei ich in irgendeine fremde Galaxie hineingestolpert. Alles schien verkehrt herum zu sein. Nichts war geblieben, wie es gewesen war. Alles hatte sich verändert. Und doch hatte ich nur einen kurzen Blick auf mein neues Leben erhalten. Ich ahnte ja noch nicht einmal, wie weit diese Veränderungen gehen würden. Vielleicht war das auch besser so.
„Ich sollte mich jetzt um das Essen kümmern“, meinte Flo irgendwann leise. „Es ist schon spät.“
Und wie durch ein Wunder schien sich die angespannte Atmosphäre durch diese Worte zu beruhigen.
„Vielleicht solltest du das“, nickte Patrick ein wenig besänftigt. Oh, ich sah es, das Blitzen in seinen Augen. Er glaubte, dass er gesiegt hatte. Aber vielleicht hatte er das auch. Mein Magen zog sich beinahe schmerzhaft zusammen. Warum wurde ich das Gefühl nicht los, dass irgendetwas schrecklich schief lief? Warum wurde ich das Gefühl nicht los, dass dies hier erst der Anfang war?
***
Eine vertraute, warme Hand schloss sich fest um die meine. Ich glaubte, aus den Augenwinkeln einen berechnenden, kühlen grauen Blick zu sehen, der uns genau beobachtete. Dann zerrte Flo mich hastig aus dem Flur und in die Küche. Leise zog er die Tür hinter sich ins Schloss, und dann lehnte er sich mit dem Rücken dagegen, schloss die Augen und atmete tief aus. Sämtliche Kraft schien aus ihm herauszufließen.
Doch als er die Augen wieder öffnete, war das Grün lebendig und warm. Und ich sah Zorn unter dieser Maske der Gleichgültigkeit blitzen. Es beruhigte mich. Er hatte sich nicht wieder hinter seiner Mauer verkrochen. Und was immer da draußen geschehen war, jetzt hatte ich ihn wieder, meinen Flo. Die Erleichterung war so heftig, dass sie beinahe schmerzte.
Eine ganze Weile sah er mich einfach nur an, und dann fuhr er sich heftig durch die ohnehin bereits zerzausten Haare.
„Scheiße, Ria!“, fluchte er leise.
„Was?“
Verständnislos sah ich ihn an. Warum um Himmels Willen richtete sich sein Zorn denn gegen mich? Ich hatte mich da draußen für ihn eingesetzt!
„Verdammt, was hast du dir nur dabei gedacht? Weißt du, wie knapp das gerade war? Tu das nicht noch einmal! Dieser Mann ist gefährlich!“
„Ja, ich weiß, ich mag ihn auch nicht. Er war mir von Anfang an unsympathisch. Aber er ist doch nur einer von Mutters Freunden. Nach ein paar Tagen wird er wieder verschwunden sein.“
„Sei dir da nicht zu sicher! Irgendetwas sagt mir, dass das hier etwas anderes ist“, murmelte er düster. „Und solange er hier ist...verstehst du nicht? Wir können ihn nicht rausschmeißen, und wenn Mutter nichts unternimmt...dann hat er hier freie Hand! Hast du gemerkt, wie sehr sie zu ihm aufgeblickt hat? Wie erleichtert sie gewirkt hat? Sie ist froh, nicht mehr alleine zu sein. Sie will jemanden, der sie an der Hand nimmt und ihr Leben für sie ordnet. Und sie wird ihn machen lassen. Sie wird zusehen und ihn machen lassen. Weil es so einfacher ist. Weil Mutter schon immer den einfachsten Weg gewählt hat. Verstehst du nicht, was das bedeutet?“
Und in diesem Moment wurde mir mit Schrecken etwas klar. Diesem Mann gegenüber waren wir machtlos. Flo war noch nicht volljährig, und Mutter hatte das Sorgerecht. Sie bestimmte über unser Leben. Sie bestimmte, wer bei uns lebte und wer nicht. Und mit ihrer Zustimmung konnte dieser Mann da tatsächlich mit uns machen, was er wollte. +
Mir wurde übel.
Flos Augen wurden weich.
„Ist schon gut, Krümel. Ich wollte dich nicht so anfahren. Es tut mir leid. Und ich weiß es zu schätzen, dass du mich verteidigt hast. Das war irgendwie...süß. Danke.“
„Gern geschehen“, murmelte ich. Ich konnte ihm nicht lange böse sein, wenn er mich ansah. Vielleicht hatte ich doch etwas bewirkt, wenn er schon wieder lächeln konnte. Unwillkürlich verzogen sich meine Lippen ebenfalls zu einem kleinen Lächeln.
Durch die dünne Wand drangen leise, streitende Stimmen und Gewehrschüsse zu uns in die Küche, und da wusste ich, dass Mutter den Fernseher angeschaltet hatte. Wahrscheinlich würden sie und Patrick den Abend auf der Couch zubringen, mit der Weinflasche und einer Tüte Chips. Und dem Essen, das Flo ihnen bringen würde. Wenigstens etwas war ein wenig vertraut. Flo in der Küche war etwas vollkommen Vertrautes. Nicht alles hatte sich verändert. Dachte ich zumindest.
Eine Weile lang waren wir tatsächlich alleine in der Küche. Flo öffnete die Tür zur Vorratskammer, begutachtete mit gerunzelter Stirn, was sich dort auf den Regalen finden ließ. Viel war es nicht. Wir waren wieder einmal sehr knapp bei Kasse, was auch daran lag, dass Mutter sich wieder einmal für längere Zeit nicht hatte blicken lassen und ein Teil des Haushaltsgeldes so für die Telefonrechnung draufgegangen war. Aber irgendwie schien doch ein wenig mehr als erwartet in der Vorratskammer zu sein...irgendetwas war anders, aber ich kam einfach nicht darauf, was sich verändert hatte.
„Haben wir zwei Dosen Bohnen gekauft?“, fragte Flo ein wenig nachdenklich.
„Nein.“
„Ja, das habe ich auch gedacht. Aber wie sind die dann hierher gekommen?“
„Mutter?“ Es kam vor, dass sie etwas einkaufte. Es war selten, aber es kam vor.
„Ja, oder dieser Patrick. Das Bier ist nämlich auch neu. Mutter trinkt kein Bier.“
„Vielleicht...vielleicht ist es ja nicht nur schlecht, dass er jetzt hier ist“, wagte ich vorsichtig anzumerken.
Essen war etwas Gutes. Vielleicht würden wir in Zukunft nicht mehr jeden Cent zweimal umdrehen müssen. Vielleicht würde es in Zukunft nicht mehr alleine unsere Aufgabe sein, die Vorratskammer zu füllen. Vielleicht war es dann irgendwann auch nicht mehr nötig, dass Flo arbeiten ging, vielleicht konnte er endlich diesen Job in diesem schrecklichen Café an den Nagel hängen. Hoffnung stieg in mir auf, zögernde, süße Hoffnung.
„Abwarten“, meinte Flo dunkel. „Und selbst wenn es so wäre - was ist es dir wert, Ria? Welchen Preis bist du bereit, für dein Essen zu zahlen? Denn glaub mir...es wird einen Preis geben.“
Und während ich das Gemüse und die Zwiebeln schnitt und mir mit dem Pulloverärmel die Tränen aus den Augen wischte, fragte ich mich, was Flo wohl genau damit gemeint haben mochte. Und ob ich es wirklich wissen wollte.
Wir blieben alleine in der Küche an diesem Abend. Nachdem Flo das Essen ins Wohnzimmer getragen hatte, kam er zurück zu mir, und wir setzten uns gemeinsam an den Küchentisch und aßen. Fast war es wieder, als sei nichts gewesen. Ein paar ruhige Augenblicke, die mir die Welt bedeuteten. Wir sprachen kein Wort miteinander. Irgendwie fühlte ich mich doch ein wenig belauscht. Und es waren auch keine Worte nötig. Ich genoss die Stille, die uns umgab, und die vertraute Alltäglichkeit des gemeinsamen Abendessens.
Doch dann schallte Patricks Stimme durch die geschlossene Tür.
„Junge, bring mir bitte ein Bier!“
Das Bitte machte den Satz irgendwie nicht weniger aufdringlich und anmaßend.
Und als Flo ein Bier aus dem Kühlschrank fischte, war da wieder dieser erstarrte Ausdruck in seinen Augen. Und ich erhielt eine erste Ahnung, von welchem Preis Flo gesprochen hatte.
***
Ich lag lange wach an jenem Abend. Ich dachte daran, dass nur ein Zimmer weiter ein mir fremder Mann bei meiner Mutter im Bett lag. Ein Mann, dem es gelungen war, einen Tag zu zerstören, der so schön hätte sein können. Wir waren so glücklich gewesen, dort am See.
Auf einmal fühlte ich mich so ausgeliefert. So alleine. So schutzlos. So hilflos. Ich dachte daran, dass Flo am anderen Ende des Flures schlief. Dass er mich nicht hören würde, wenn ich um Hilfe rief.
Und in der Dunkelheit meines eigenen Zimmers stiegen Bilder einer lange zurückliegenden Nacht in mir auf. Eine Nacht, die ich vergessen hatte. Die ich hatte vergessen wollte. Es waren nur einige wenige Bilder, die mir in Erinnerung geblieben waren. Ich war noch so jung gewesen.
Ich hatte einen schlechten Traum gehabt. Ich konnte mich noch erinnern, wie ich in jener Nacht mit einem schrillen Schrei aus dem Schlaf geschreckt war. Ich hatte nach Mutter gerufen. Selbst damals war es selten gewesen, aber es hatte ab und an tatsächlich Nächte gegeben, in denen sie mich getröstet hatte, wenn ich mich fürchtete. In dieser Nacht jedoch kam sie nicht. Erst sehr viel später begann ich zu verstehen, dass sie auch niemals wieder kommen würde.
Jedenfalls kam sie in dieser Nacht nicht. Auch Vati kam nicht. Vati würde nie wieder kommen. Vati war gegangen. Das war schon so lange her, dass ich mich nicht einmal mehr an sein Gesicht erinnern konnte. Es gab keine Fotos von ihm. Generell gab es wenig Fotos, aber das fiel mir erst auf, als ich schon sehr viel älter war. Es hatte sich ganz einfach nie jemand die Mühe gemacht, bedeutende Augenblicke für immer festzuhalten.
Es war so still in unserer Wohnung. Ich hatte solche Angst. Mutter kam nicht.
Aber Flo kam.
Die Türe öffnete sich einen Spalt breit, und da sah ich seinen zerzausten Haarschopf, der zu mir hineinlugte. Seinen Stofflöwen hielt er fest unter dem Arm geklemmt. Damals ging er nirgendwo ohne Karlchen hin. Ich fand, dass es ein komischer Name für einen Stofflöwen war, aber das hatte ich ihm nicht gesagt. Ich mochte Flo, und ich wollte ihm nicht wehtun.
„Was ist denn, Krümel?“, fragte er besorgt.
„Ich hab geträumt...“
Da kam er mit leisen Schritten zu mir getapst und setzte sich auf meine Bettkante.
„Wovon hast du geträumt?“Seine Stimme klang so ruhig. So ruhig, und so sicher.
„Ich hab Angst. Wo ist Mutter?“, wich ich ihm aus.
„Ich weiß es nicht.“
„Aber sie kommt doch wieder, oder? Sie kommt doch wieder? Sie wird nicht weggehen, oder?“
„Sie wird nicht weggehen. Ich pass auf, dass sie nicht weggeht, versprochen. Du brauchst keine Angst zu haben, Ria.“
Als ich so zu ihm aufsah, wirkte er auf einmal so groß. So groß, und so erwachsen. Ich brauchte keine Angst haben, wenn er da war.
„Wovon hast du geträumt, Krümel?“, fragte er noch einmal.
„Vom schwarzen Mann“, flüsterte ich und schluckte. Ich hatte solche Angst, dass ich ihn damit wieder heraufbeschwören würde, diesen Mann, der mir immer so unheimlich gewesen war.
Der schwarze Mann hatte eine Weile bei uns gewohnt. Er hatte bei Mutter im Zimmer übernachtet. Aber manchmal war er nachts herausgekommen. Er war herausgekommen und hatte die Tür zu meinem Zimmer geöffnet und hatte mich angesehen. Nur angesehen. Er war nie näher gekommen. Aber alleine dieser Blick hatte mich in tiefste Panik versetzt. Es war so ein lauernder Blick gewesen. Und ich war mir nie sicher gewesen, ob er nicht vielleicht auch durch Wände sehen konnte. Ob er mich nicht vielleicht auch noch beobachtete, wenn er wieder zurückgegangen war.
Flo wischte mir die letzten Tränen von den Wangen und strich mir übers Haar.
„Ist schon gut, Kleine“, flüsterte er. „Der schwarze Mann ist fort. Mutter hat ihn fortgeschickt. Und er wird nie wieder zurückkommen. Das verspreche ich dir.“
Als ich wieder ruhig war, erzählte er mir eine Geschichte. Von einem kleinen Mädchen, das einen Stofflöwen hatte, der nachts lebendig wurde und sie beschützte, wenn sie schlief.
Und bevor er in sein Zimmer zurück ging, hatte er mir seinen Löwen dagelassen. Mit Karlchen im Arm war ich dann schließlich eingeschlafen.
Und als ich mich eben fragte, ob Patrick mit dem schwarzen Mann wohl mehr gemeinsam haben mochte, als ich es wahrhaben wollte, in diesem Moment sah ich, wie sich die Türklinke langsam herabsenkte und wie sich die Türe dann beinahe lautlos öffnete.
Einen Augenblick war ich wie gelähmt. Einen Augenblick, in dem selbst mein Herz auszusetzten schien. Doch es war Flo, der durch die Türe trat. Kein Gespenst aus meiner Vergangenheit, kein Patrick. Nur Flo.
„Du hast mich erschreckt!“, brachte ich gerade noch heraus.
„Tut mir leid.“ Es klang ehrlich. Er erinnerte sich. Natürlich erinnerte er sich.
Es war lange her, seit sich Flo das letzte Mal nachts in mein Zimmer geschlichen hatte. Dass er es nun tat, sagte mir sehr viel über unsere Lage. Und dass er die Türe verriegelte, ehe er zu meinem Bett hinübertappte, war etwas, das noch nie vorgekommen war.
„Ria?“, flüsterte er leise in die Dunkelheit hinein.
Ich wusste, was er fragen würde. Es war so offensichtlich. Wortlos schlug ich die Bettdecke zurück.
Er zögerte lange. Auch das sagte mir so viel.
Doch schließlich schien er einen Entschluss gefasst zu haben. Ich spürte, wie sich die Matratze senkte, als er sich neben mich auf das schmale Bett legte. Wir waren größer geworden. Zu zweit war kaum Platz. Ich spürte seine Wärme, wie sich sich ausbreitete, mich umfing. Seine Wärme und sein so vertrauter Geruch. Das erste Mal, seit wir durch die Türe getreten waren, fühlte ich mich wieder sicher in meinem Zuhause.
Eine lange Weile lagen wir so reglos nebeneinander und starrten an die Decke. Im bleichen Schein des Mondes, der durch das Fenster drang, wirkten die Schatten unter seinen Augen so viel dunkler.
„Was sollen wir nur tun, Flo?“, fragte ich irgendwann leise. Meine Stimme klang so dünn, so klein. So zerbrechlich, wie ich mich fühlte.
„Ich weiß es nicht“, seufzte er. „In einem Jahr bin ich achtzehn. Dann kann ich ausziehen, und...mir wird schon noch irgendetwas einfallen. Ich werde dich auf jeden Fall nicht hier alleine lassen. Doch bis dahin...ich weiß nicht, ob wir überhaupt etwas tun können, Krümel.“
Er klang auf einmal so jung. So jung, und so hilflos.
„Ich habe Angst.“
Und da waren sie wieder. Die starken Arme, die mich aus dem Wasser gezogen hatten, vor so vielen Jahren. Wieder zog er mich vom Abgrund fort und in seine Arme. Ich hörte sein Herz, wie es heftig gegen meine Wange pochte. Fühlte eine warme Hand in meinem Haar.
„Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendetwas geschieht, Ria. Das verspreche ich dir.“ Es klang wie ein Schwur. Und ich glaubte ihm. Doch ich fürchtete mich nicht um meinetwillen.
„Ich habe keine Angst um mich, Flo. Ich habe Angst um dich. Ich kann dich nicht verlieren. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun sollte. Ich kann dich nicht verlieren!“
Und er verstand. Er verstand, was ungesagt geblieben war.
Sein Brustkorb hob sich, als er überrascht nach Luft schnappte. Und dann spürte ich, wie er leise zu zittern begann. Seine Arme schlossen sich noch ein wenig fester um mich.
„Oh, Ria!“, hauchte er. Er versprach mir nicht, dass alles gut werden würde. Er versprach mir nicht, auf sich zu achten. Der Märchenerzähler wusste keine Antwort auf meine stumme Frage.
Und irgendwo dort in der Dunkelheit geschah es, dass sich die Grenze verschob. Die Grenze, die Richtig und Falsch voneinander trennte. Die Grenze, die uns voneinander trennte. Dort, mitten in der Nacht, gab es nur uns. Uns, und den Frieden, den wir in der Nähe des anderen fanden. Einen Frieden, der uns in der wirklichen Welt, die uns mit dem Morgen erwarten würde, verwehrt sein würde. In dieser Welt, die sich von einem Augenblick auf den nächsten bis fast zur Unkenntlichkeit verändert hatte, in dieser Welt gab es nur einen, auf den ich mich verlassen konnte. In dieser Welt war Flo mein einziger Halt, er war alles, was mich noch aufrecht hielt. Nein, ich hätte es nicht ertragen, ohne ihn zu sein.
7. Veränderungen
Florian
Ich habe Veränderungen schon immer gehasst. Vielleicht, weil sich bisher immer alles zum Schlechteren verändert hatte. Und Veränderungen waren schon immer mit Verlusten einhergegangen.
Ein Mann in unserer Wohnung, das war ganz eindeutig eine Veränderung. Und dass sich die Dinge ändern würden, das war spätestens seit Mutters Ansprache klar. Diese Ansprache – ein eisiger Schauer rann meinen Rücken hinab, als ich daran zurückdachte. Wie sie auf einmal aufgetreten war. So streng, und so autoritär. Man hatte ihr angemerkt, wie viel Kraft es ihr abverlangt hatte, diese Maske aufzusetzen, aber dass sie es trotzdem getan hatte, sagte mir so viel über diesen Patrick und über die Macht, die er bereits über sie hatte. Sie wollte es ihm recht machen. Ich hatte die Blicke gesehen, die sie ihm immer wieder über die Schulter hinweg zugeworfen hatte – sie hatte Bestätigung gesucht, hatte sich vergewissert, dass es richtig so war, dass er mit ihr zufrieden war. Und als er dann gelächelt hatte, da war es gewesen, als sei etwas in Mutters Augen aufgeblüht, das ich niemals zuvor dort gesehen hatte.
Er hatte sie ganz eindeutig in der Hand. Und er hatte vor, hier so einiges zu ändern.
Er gefiel mir nicht. Der Kerl war mir von Anfang an unsympathisch gewesen. Ich fühlte mich unwohl in seiner Nähe.
Und seine Anwesenheit verkomplizierte alles nur noch mehr. Verdammt, als hätte ich nicht schon genug Sorgen!
Ich hatte wenig Schlaf bekommen in dieser Nacht. Nachdem ich irgendwann in mein Zimmer zurück geschlichen war, hatte ich mich ruhelos hin und her gewälzt. Irgendetwas war geschehen, als sie da so in meinen Armen gelegen hatte. Ich konnte es nicht genau benennen, und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, vielleicht wollte ich es auch schlichtweg nicht benennen. Es war sicherer, es nicht beim Namen zu nennen. Und doch...und doch konnte ich nicht vergessen, wie es sich angefühlt hatte, als sie mir gestanden hatte, dass sie mich nicht verlieren wollte. So einfache Worte, und doch hatten sie irgendwie alles verändert.
Sie war so warm gewesen in meinen Armen. Ein so vertrautes Gewicht auf meiner Brust. Und doch war es anders als früher. Sie war kein Kind mehr. Sie war erwachsen geworden. Eine wunderschöne junge Frau, die mir so nahe war wie kein anderer Mensch jemals zuvor. Es hatte immer nur uns beide gegeben. Und ich wusste auch, dass sich daran für mich niemals etwas ändern würde. Niemals würde mir jemand mehr bedeuten als sie.
Und das war es, was mir solche Angst machte.
Denn ich würde sie verlieren.
Deswegen hatte ich keine Antwort auf ihre stumme Frage gehabt. Ich hatte es gespürt. Sie wollte, dass ich sie beruhigte, so wie ich es immer getan hatte. Dass ich ihr versprach, dass alles gut werden würde. Doch das konnte ich nicht. Es wäre eine Lüge gewesen. Und ich hatte sie nicht anlügen wollen. Wir waren immer ehrlich zueinander gewesen.
Wie auch immer diese Geschichte mit Patrick sich entwickelte, irgendwann würde sie auf eigenen Beinen stehen wollen. Sie würde einen jungen Mann kennenlernen, sich in ihn verlieben, zu ihm ziehen, ihn heiraten. Sie würde fortgehen.
Und ich wünschte es ihr! Ich wünschte es ihr so sehr!
Sie hatte es nicht verdient, für den Rest ihres Lebens an diese Wohnung hier gebunden zu sein, an dieses Leben, das so kompliziert und so schwierig war. Sie hatte schon keine einfache Kindheit gehabt, sie sollte nicht auch noch ihr erwachsenes Leben mit den Problemen zubringen, die wir jetzt Tag für Tag bewältigen mussten. Ich wünschte mir so sehr, dass sie einen Mann fand, der sie von all dem hier befreite, der sie auf Händen trug und ihr jeden Wunsch von den Lippen ablas, der ihr ein schönes Haus bieten konnte, und so viel Geld, dass sie nie wieder würde hungern müssen. Ich wollte, dass sie glücklich wurde.
Es war gut, wenn sie ging. Es war richtig, es war natürlich. Und doch wusste ich, dass es mich umbringen würde, sie gehen zu sehen. Weil ich niemals einem Menschen näher sein würde wie ihr. Weil mich niemand so gut verstand wie sie. Weil ich wusste, dass niemand sie ersetzen konnte. Und das würde sich niemals ändern.
Seufzend fuhr ich mir durch das vom Schlaf zerzauste Haar und brachte dann das nervtötende Piepen des Weckers mit einem gezielten Schlag zum Verstummen. Nicht, dass ich ihn gebraucht hätte, den Wecker. Aber er hatte den ewigen Kreis meiner Gedanken unterbrochen, und dafür war ich ihm dankbar.
Nicht, dass ich dem neuen Tag in irgend einer Weise optimistisch oder freudig entgegen gesehen hätte.
***
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Es war klar gewesen, dass nichts mehr sein würde wie zuvor. Und doch traute ich meinen Augen nicht, als ich in die Küche trat. Mutter war selten vor dem Mittagessen aus den Federn gekrochen. Meist schlief sie bis in den Nachmittag hinein ihren Rausch vom Vortag aus, oder sie lag einfach nur im Bett und gab sich ihrem Selbstmitleid hin. Das hier, das hier war mehr als nur neu und ungewohnt. Es war beängstigend.
Da saßen sie traut nebeneinander am Küchentisch, meine Mutter und ihr neuer Freund. An einem leeren, ungedeckten Küchentisch. Ich hatte keine Ahnung, wie lange sie wohl schon so dort saßen und warteten. Und die beiden Blicke, die mich trafen, waren mehr als finster.
„Hatten wir nicht gestern erst die neuen Arbeitsbereiche besprochen?“, fragte Mutter mit süßlicher Stimme. Mir wurde kalt. Die Stimme klang so unecht wie das falsche Lächeln, das sie mir schenkte.
„Patrick muss früh aufstehen, Liebling, ist es da zu viel verlangt, das Frühstück zu richten?“
Ich warf einen hastigen Blick auf meine Armbanduhr. Verdammt, damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Und es blieben mir genau fünfzehn Minuten, bis wir gehen mussten, wollten wir den Bus zur Schule erwischen.
Hastig suchte ich Marmelade und Butter aus dem Kühlschrank, fand tatsächlich noch einen Rest Toast in der Speisekammer und setzte eine Kanne Kaffee auf.
„Patrick isst jeden Morgen ein Spiegelei“, informierte mich Mutter mit dieser unechten, süßlichen Stimme, die mir Übelkeit verursachte.
Ich presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und nahm eine Pfanne aus der Schublade neben dem Herd. Lange würden unsere Vorräte nicht reichen bei diesem Verbrauch. Für gewöhnlich aßen Ria und ich kein Frühstück. Wieder ein Blick zu Uhr. Noch fünf Minuten.
„Wo ist denn eigentlich deine Schwester?“, fragte Patrick harmlos.
Scheiße, scheiße, scheiße! Ria! Wahrscheinlich hatte sie wieder einmal ihren Wecker überhört! Und über all dem Chaos hier hatte ich völlig vergessen, sie zu wecken.
„Antworte, Junge!“, herrschte er mich auf einmal an, und ich zuckte überrascht zusammen. Ich war es nicht gewohnt, so angefahren zu werden, es weckte unschöne Erinnerungen.
„Vermutlich schläft sie noch. Manchmal hört sie ihren Wecker nicht“, brachte ich schließlich leise heraus. Ich hoffte, man hörte mir meinen Widerwillen nicht allzu deutlich an.
„Ich könnte sie aufwecken“, bot sich Patrick an. Ich hörte, wie hinter meinem Rücken ein Stuhl zurück geschoben wurde.
„NEIN!“
Panik erfasste mich. Ich sah Patrick, wie er sich über meine schlafende Schwester beugte, ein gieriges Glitzern in den Augen. Ria. Sie sah so unschuldig aus, wenn sie schlief. So wunderschön und so wehrlos. Ich hatte ihr versprochen, dass ihr nichts geschehen würde.
Hastig löste ich das fertige Ei mit dem Pfannenwender aus der Pfanne heraus und ließ es auf den Teller rutschen.
„Nein“, fügte ich dann etwas ruhiger hinzu. Niemals hatte es mich so viel Kraft gekostet, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. „Ich mach es schon. Bleib du nur sitzen.“
Doch ich wusste, dass meine Verzweiflung nicht unbemerkt geblieben war. Und ich sah etwas in Patricks Augen blitzen, als ich ihm den Teller reichte. Er war berechnend, dieser Blick. Er hatte meine Schwachstelle gefunden. Und ich wusste, dass ich es bereuen würde, dass ich unfreiwillig so viel von mir preisgegeben hatte. Er würde dieses Wissen gegen mich benutzen.
Ich weiß nicht, warum ich mir da auf einmal so sicher war.
Doch als ich dann in Rias Zimmer trat, da war es mir der Preis auf einmal egal. Sie sah so klein aus, wie sie da unter der dicken Winterdecke lag. So klein, so zerbrechlich, und so unschuldig. Es wäre einfach nicht richtig gewesen, hätte Patrick sie so gesehen.
„Hey, Schlafmütze, aufstehen!“, flüsterte ich, während ich mich auf der Bettkante niederließ. Sie mochte es nicht, einfach so aus dem Schlaf gerissen zu werden. Ria war alles andere als ein Frühaufsteher. Und irgendwie hatte ich es auch nie übers Herz gebracht, Mutters Weckmethode zu übernehmen – ein kräftiger Schlag gegen die Zimmertüre, der selbst einen Toten aufgeschreckt hätte.
Doch wir waren spät dran, und sie regte sich nicht. Vorsichtig langte ich unter die Decke, umfasste ihre Schulter und rüttelte ein wenig an ihr. Sie zuckte merklich zusammen, und ihre Augen flogen auf, musterten mich beinahe panisch.
„Ach, scheiße, Flo!“, keuchte sie. „Hast du mich erschreckt!“
„Es tut mir leid. Aber wir müssen los, Ria! Es ist schon um Sieben!“
Sie fragte nicht, warum ich erst jetzt gekommen war. Sie sah mich nur mit diesem unergründlichen Blick an, der bis tief in meine Seele zu sehen schien. Und dann sprang sie aus dem Bett und begann wortlos, ihre Schulsachen zusammen zu suchen.
Zwei Augenpaare beobachteten jede meiner Bewegungen, als ich zurück in die Küche kam und mir eine Tasse Kaffee eingoss. Ich trank zu schnell und zu gierig und hustete, als ich mir mit dem brühendheißen Getränk den Mund verbrannte.
„Weshalb die Eile?“, fragte Patrick. „Willst du dich nicht zu uns setzen?“
Man hätte beinahe glauben können, er würde sich über meine Gesellschaft freuen. Er klang tatsächlich äußerst freundlich. Aber im Laufe der Jahre hatte ich mir eine gewisse Menschenkenntnis angeeignet. Und irgendwie wirkte alles an Patrick falsch. Meine inneren Alarmglocken schrillten bereits, seit wir gestern die Wohnung betreten hatten. Sie waren nicht verstummt, sondern eher noch lauter geworden. Ich traute dem Mann nicht über den Weg.
„Wir müssen zur Schule“, erklärte ich. Ich hatte begriffen, dass es nichts brachte, seine Fragen zu ignorieren. Es war besser, ihn bei Laune zu halten. Sein Zorn schwelte dicht unter der Oberfläche, und ich hatte nicht vor, ihn erneut herauszufordern.
„Schule!“, schnaubte Patrick verächtlich. „Wie alt bist du, Junge? Siebzehn? In deinem Alter wollte ich nichts mehr von Schule wissen. In deinem Alter bin ich arbeiten gegangen. Arbeit, das ist es, was junge Männer brauchen. Anständige Männerarbeit. Schule ist doch Weiberkram.“
Ich erwiderte nichts darauf. Was hätte ich auch sagen sollen? Er hätte es so oder so nicht verstanden. Er war von der Sorte Männer, die ich noch nie hatte ausstehen können. Er war von der Sorte Männer, die alles besser wusste. Andere Meinungen galten bei ihm nicht.
Und so schluckte ich die Antwort herunter, die mir auf der Zunge lag.
Hastig stürzte ich den Rest meines Kaffees hinunter und ging dann in den Flur, wo Ria bereits auf mich wartete. Sie sah ein wenig zerzaust aus, doch das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Wir durften keine Zeit verlieren.
„Ich mach um 16 Uhr 30 Feierabend und bin um 17 Uhr zu Hause, Junge. Bis dahin sollte besser das Essen auf dem Tisch stehen, oder ich überlege mir noch einmal, ob es nicht besser für dich wäre, ein Weile lang nicht in die Schule zu gehen“, schallte Patricks Stimme aus der Küche. Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Wenn das keine Drohung gewesen war...
Ria sah mich mit großen Augen an, doch ich winkte ab.
„Später“, murmelte ich leise. „Wir müssen los.“
Niemals hatte ich mich in meiner eigenen Wohnung so beobachtet gefühlt. Wenn ich mich nicht einmal hier noch sicher fühlen konnte – wo dann?
Über Nacht war die Welt eine andere geworden.
***
Seite an Seite rannten wir die Straße entlang. Es würde knapp werden. Ich wollte nicht schon wieder zu spät kommen. Eigentlich war ich für meine Pünktlichkeit bekannt. Ich wusste, was von diesem Abschluss abhing. Ich wollte ihn nicht durch so etwas Banales wie Unpünktlichkeit aufs Spiel setzen.
„Scheiße, scheiße, scheiße!“, fluchte ich zum zweiten Mal an diesem Morgen vor mich hin, als das graue Straßenungetüm stöhnend um die Straßenecke verschwand. Wir hatten tatsächlich den Bus verpasst. Und jetzt standen wir hier nebeneinander an der Bushaltestelle, es war kalt, und Ria zitterte, weil wir noch immer keinen neuen Mantel für sie hatten kaufen können, und all das nur, weil...
Schnell schälte ich mich aus meiner eigenen Jacke und legte sie dann vorsichtig um Rias Schultern. Es war nicht richtig, wenn sie fror. Ich konnte es nicht mit ansehen.
„Danke“, murmelte sie. „Aber was ist mir dir?“
„Ich bin ein Junge, Ria, ich friere nicht so schnell. Und es ist so oder so meine Schuld, dass wir den Bus verpasst haben.“
„Das stimmt nicht, Flo, und das weißt du genau!“, widersprach sie mir, und ich war erstaunt über ihre Heftigkeit. Unsere Augen trafen sich für einen Moment, als ich mich zu ihr umwandte, doch sie sahen zu viel, diese Augen. Sie kannten mich zu gut. Hastig wandte ich wieder den Blick ab. Meine Hände ballten sich an meinen Seiten zu Fäusten. Meine Fingernägel gruben sich schmerzhaft in meine Handinnenflächen, doch ich zuckte nicht einmal zusammen. Der Schmerz hielt mich in der Wirklichkeit.
Ich verstand nicht, was mit mir geschah, aber da war auf einmal dieser unbändige Zorn in mir.
„Ist schon gut, Flo, wir nehmen einfach den nächsten. Wenn wir rennen, kommen wir nur ein paar Minuten zu spät. Vielleicht hast du sogar Glück, und Holzmann kommt auch ein bisschen später, und es fällt gar nicht weiter auf.“
Sie redete so ruhig auf mich ein, so gelassen. Und irgendwie ließ das die Flammen in meinem Inneren noch ein wenig höher schlagen. Ich wollte nicht besänftigt werden. Ich wollte meine Wut herausschreien. Es war so verdammt unfair. Es war einfach alles so verdammt unfair!
„Ja, ich weiß. Es ist nur...verdammt! Ich war gut in der Zeit! Alles hätte wunderbar funktioniert, wenn nicht...scheiße!“
„Was ist denn los?“ Ich spürte ihren Blick, konnte regelrecht fühlen, wie sie mich genau musterte. Ich wusste, dass sie sehr aufmerksam war. Ihr würde nicht entgehen, wie angespannt ich war. Sie wusste, dass irgendetwas vorgefallen war.
„Was war da heute morgen in der Küche los?“
„Patrick war los! Ich...ich hatte ja keine Ahnung, dass sich das mit dem Essen machen auch aufs Frühstück bezieht!“
„Du musstest Frühstück machen?“ Sie klang so ungläubig. Ungläubig – und entsetzt. Irgendwie machte das alles noch schlimmer.
Und dann brach es aus mir heraus. Einfach so.
„Ja, verdammt! Und weißt du...es würde mir ja nicht so viel ausmachen, aber es war irgendwie so...erniedrigend! Sie haben mich herumkommandiert, wie ihren ganz persönlichen Haussklaven! Und dann musste ich Rainer sogar noch ein gottverdammtes Spiegelei machen! Und ich hab einfach nicht den Mumm gehabt, zu widersprechen!“
„Oh, Flo!“, hauchte sie.
„Ist schon gut, ich komm schon damit klar. Morgen steh ich einfach ein wenig früher auf...“
Aber irgendwie war es mehr als das Essen, mehr als die Situation in der Küche, die an mir zehrte. Da war etwas Dunkles in mir, eine Kälte, die ich in mir aufsteigen fühlte. Oh, sie war hilfreich, diese Kälte. Sie legte sich wie ein lindernder Schleier über die Wut, die in mir schwelte, über den hilflosen Zorn, den ich empfand. Und doch fürchtete ich sie. Denn irgendwie nahm sie mir nicht nur die Wut. Irgendwie wurde alles so gleichgültig. Irgendwie wurde die Welt so grau.
„Hey, hey. Ist ja gut. Sieh mich an, Flo! Sieh mich an...“ Ria klang auf einmal so besorgt, beinahe schon panisch.
Und dann legten sich ihre kleinen, warmen Hände auf meine Wangen und hoben mein Gesicht mit sanfter Gewalt an, so dass sie mir in die Augen sehen konnte.
Sie waren so warm, diese Augen. So voller Mitgefühl. Und irgendetwas in mir brach, als sie mich so ansah. Verräterische Nässe stieg in meinen Augen auf, und ich schluckte krampfhaft, versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie schwer es mir fiel, die Tränen zurückzuhalten. Es gelang mir. Leidlich. Und allmählich ließ die Wut in mir nach. Allmählich wurde mir wieder ein wenig wärmer.
Ria seufzte erleichtert, so als wüsste sie, dass sie zu mir durchgedrungen war. Vielleicht konnte sie tatsächlich Gedanken lesen. Und dann sah sie mir fest in die Augen. Sie wirkte so entschlossen. So überzeugend.
„Wir stehen das gemeinsam durch, hörst du? Ein Jahr noch, dann bist du frei. Wir haben schon so viel durchgestanden, wir beide. Wir sind ein gutes Team. Du bist nicht alleine. Und zusammen schaffen wir das.“
Sie klang so ernst. So ernst, und so erwachsen. Wann war meine kleine Ria so erwachsen geworden? Seit wann war sie so stark?
Ich wünschte, ich hätte ihr glauben können. Aber sie war immer der Optimist von uns beiden gewesen. Sie hatte schon immer Licht gesehen, wo für mich keine Hoffnung mehr war.
„Du wirst schon sehen!“, versprach sie mir, als sie den Zweifel in meinen Augen las. „Du wirst schon sehen. So schnell macht uns niemand fertig. Auch nicht dieser Patrick.“
Und fast schon gegen meinen Willen musste ich lächeln. Das sah ihr so ähnlich. Das sah ihr so ähnlich, dass sie diesem Mann den Kampf ansagte. Und irgendwie tat es so gut, sie so zu sehen. Auf einmal war sie nicht mehr das kleine, verängstigte Mädchen, das sie in der Nacht gewesen war.
„Nein, wir werden ihn vertreiben“, erklärte ich ihr mit verstellter, tiefer Stimme und hob meine Faust, als wolle ich ihm den Kampf ansagen – und in gewisser Weise tat ich das ja auch. „Warte nur, heute Nacht hol ich mein Batmankostüm aus dem Schrank, und dann werden wir ihn das Fürchten lehren!“
Sie kicherte leise, und auch ich musste bei der Vorstellung grinsen. Es war so schön, dieses Kichern. So hell und so vergnügt. Die Ängste der Nacht waren vergessen in diesem Moment.
„Ich hab dich lieb, Flo“, flüsterte sie, plötzlich wieder sehr ernst. „Ich hab dich so lieb. Es tut so weh, dich so zu sehen. Lass das nicht zu. Lass nicht zu, dass er dich fertig macht!“
Ich wünschte, sie hätte es nicht gesagt. Nicht, weil ich die Worte nicht gerne gehört hätte. Es war, als würden sie mir neues Leben einhauchen, diese Worte. Die Welt hatte wieder einen Sinn, als sie so zu mir aufsah, mit diesen tiefen, blauen Augen, in denen sich der Himmel spiegelte.
Und zugleich...zugleich war es so falsch. So falsch, wie mein Herz auf einmal heftig gegen meinen Brustkorb schlug. So falsch, als ich mir wünschte, sie würde nur ein wenig näher kommen, nur ein klein wenig näher. So falsch, als ich erkannte, dass ich mich gefährlich nahe am Abgrund befand, und das mein Wille allmählich zu Staub zerfiel.
Und dann lehnte ihre Stirn an meiner, und ich konnte wieder atmen.
Das laute Motorengeräusch des herannahenden Busses ließ uns hastig auseinanderfahren.
***
Schweigend saßen wir uns gegenüber, während der Bus durch den morgendlichen Berufsverkehr ruckelte. Ria malte den Weg der Regentropfen auf der Innenseite der Scheibe nach, und ich fragte mich, woran sie wohl dachte. Sie sah so klein aus in meiner Jacke. Ihr Haar wellte sich zu krausen Löckchen, während es langsam in der Heizungsluft trocknete. Hin und wieder warf sie mir einen Blick zu und sah dann rasch wieder fort. Ich sah nicht fort. Die ganze Fahrt über nicht.
Und während ich sie so ansah, sah ich eine andere Ria vor mir. Die kleine Ria, die sie einmal gewesen war. Damals, als ich noch der große Bruder gewesen war, der auf alles eine Antwort wusste. Und die Zeit lief rückwärts, während ich sie nicht aus den Augen ließ.
Wie alt war sie damals gewesen? Zehn? Ja. Es war ihr zehnter Geburtstag gewesen. In vielerlei Hinsicht war sie noch ein Mädchen gewesen. Aber manchmal hatte es auch Augenblicke gegeben, da hatte sie so verdammt erwachsen gewirkt.
„Wohin fahren wir, Flo?“
„Ich hab doch schon gesagt, es ist eine Überraschung!“ Genervt fuhr ich mir durch das stoppelige, kurze Haar. Mutter hatte sich an einem Haarschnitt versucht. Natürlich war es schief gegangen, und sie hatte irgendwann die Lust verloren. Ria hatte mir dann auch noch die andere Seite geschnitten. Mit dem Resultat, dass ich jetzt aussah wie ein Soldat. Irgendwie vermisste ich meine Haare. Ich hatte sie wirklich gemocht. Doch es hatte seine Vorteile. Ich musste mich nicht mehr kämmen.
„Aber ich will es wissen! Ich mag keine Überraschungen“, beharrte Ria. Sie konnte manchmal so verdammt anstrengend sein.
„Diese wirst du mögen. Glaub es mir.“
„Bitte, sag es mir!“ Und dann sah sie mich mit diesen tiefblauen Augen an. Augen von der Farbe eines Sees zur Mittagszeit. Ich ertrank ein wenig in ihnen. Nur ein wenig.
„Es ist deine Geburtstagsüberraschung, Krümel“, brachte ich irgendwann heraus. „Was wäre ich für ein Bruder, wenn ich es dir verraten würde.“
„Ein lieber“, erklärte sie überzeugt.
Ich lächelte, als sie ihren Schmollmund zog. Sie fuhr wirklich alle Geschütze auf. Wenn es um Neugier ging, war Ria unübertroffen. Sie musste immer alles wissen, ob es sie etwas anging oder nicht. Und ich war so verdammt schlecht darin, Geheimnisse zu bewahren. Für gewöhnlich zumindest. Diesmal war ich jedoch fest entschlossen.
„Nein, ein dummer“, erwiderte ich grinsend. „Gib es auf, Kleine. Ich verrate es dir nicht. Keine Chance.“
„Von wem ist es denn überhaupt, das Geschenk. Von dir oder von Mutter?“
„Von uns beiden.“
Wenn sie hätte sehen können, dann hätte mich jetzt bestimmt ein ungläubiger Blick getroffen. Ria verzog ein wenig den Mund, so, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen. Ich wusste, dass es sie geschmerzt hatte, dass wir heute zu zweit die Kerzen angezündet hatten. Dass ich alleine „Happy Birthday“ gesungen hatte. Es war aber auch einfach nicht richtig. Es war nicht richtig, dass sie nicht da war.
Ich glaube, Mutter wusste nicht einmal, dass Ria heute Geburtstag hatte. Aber ich brachte es nicht übers Herz, meiner kleinen Schwester zu erklären, dass ihre eigene Mutter sich nicht einmal mehr an ihren Geburtstag erinnerte.
„Wo ist sie denn dann? Wo ist sie heute nur? Will sie mir nicht gratulieren, wenn sie mir schon ein Geschenk gemacht hat? Ich muss doch danke sagen.“
Sie konnte noch hoffen. Das war es, das ich an Ria so mochte. Und gleichzeitig bedauerte ich sie auch deswegen. Sie konnte noch hoffen. Und sie wurde wieder und wieder enttäuscht.
„Sie kommt bestimmt noch“, vertröstete ich sie, und schickte ein rasches Stoßgebet gen Himmel, Mutter möge mich nicht zum Lügner machen. „Und du kannst auch mir danke sagen. Ich richte es ihr dann aus.“
Wieso nur hatte ich das Gefühl, dass sie mich durchschaute? Dass sie genau wusste, dass ich log?
Doch sie kam nicht mehr dazu, mich mit weiteren Fragen zu löchern, denn in diesem Moment hielt der Bus an.
„Endstation, Krümelchen. Wir müssen hier aussteigen.“
Und ich langte nach ihrer Hand und führte sie vorsichtig nach draußen.
„Kannst du mir nicht endlich die Augenbinde abnehmen?“
„Dann wäre es ja keine Überraschung mehr.“
Seufzend gab sie sich geschlagen, und ich begann, sie den kurzen Weg durch die Fußgängerzone zu führen. Es war Samstagvormittag, und alle Welt schien beschlossen zu haben, ausgerechnet jetzt einkaufen zu gehen. Irgendwann gab ich auf. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, sie durch das Gewühl zu navigieren und dabei zu verhindern, dass sie von den viel größeren Erwachsenen angerempelt wurde. Manchmal fragte ich mich wirklich, ob Kinder so eine Art Unsichtbarkeitsmantel trugen. Für viele Erwachsene existierten wir einfach nicht. Die meisten sahen einfach durch uns hindurch. Lag es daran, dass wir soviel kleiner waren als sie? Lag es an unserer abgetragenen Kleidung?
Ich ging vor Ria in die Hocke, nahm ihre Hände und legte sie auf meine Schultern.
„Komm, Kleine, steig auf. Ich trage dich – ausnahmsweise.“
Das brauchte ich ihr nicht zweimal zu sagen. Mit einem Satz war sie aufgesprungen.
Ihr kleines Kinn ruhte auf meiner Schulter, als ich sie unserem Ziel entgegen trug. Und trotz der Kälte war mir auf einmal sehr warm. Sie war warm. Ein warmes, beruhigendes Gewicht auf meinem Rücken.
„Halt dich gut fest!“, warnte ich sie, als mir auf einmal eine Idee kam. Als ich spürte, wie sich ihre Hände in meine Schultern krallten, rannte ich los.
Zuerst versteifte sie sich erschrocken. Natürlich, sie war so gut wie blind. Was hatte ich mir nur dabei gedacht. Sie fürchtete sich, weil sie nicht sehen konnte. Doch als ich eben langsamer werden wollte, juchzte sie begeistert.
„Ich fliege! Schneller, Flo, schneller! Ich fliege!“
Es war so schön, sie lachen zu hören. Und ich gab wirklich mein Bestes. Selbst, als die kalte Luft in meinen Lungen brannte, als ich glaubte, meine Beine würden sich in Pudding verwandeln, weil es doch recht anstrengend war, mit dem zusätzlichen Gewicht auf meinem Rücken durch die Einkaufspassage zu rennen – selbst dann gab ich nicht auf. Ich rannte und rannte mit dem lachenden Mädchen auf meinem Rücken. Wäre ich nicht so außer Atem gewesen, hätte ich auch gelacht. Zum ersten Mal seit langer Zeit war mir wieder nach Lachen zumute.
Ich sah bunte Sternchen vor den Augen, als ich sie schließlich vorsichtig von meinem Rücken hob. Sie taumelte ein wenig orientierungslos, und ich bekam sie gerade noch zu fassen, ehe wir gemeinsam in die Knie gingen.
„Upps“, keuchte sie, und dann lachte sie wieder. Ich grinste. Mehr brachte ich zwischen den schmerzhaften Atemzügen nicht zustande.
„Darf ich jetzt sehen, Flo?“, fragte sie.
„Ja, jetzt darfst du“, meinte ich, und dann streifte ich ihr die Binde von den Augen.
Einen Augenblick musterte sie das große, gläserne Gebäude vor uns verwirrt. Dann wurden ihre Augen groß.
„Die Bibliothek? Du hast mich zur Bibliothek gebracht? Heißt das, ich darf den ganzen Tag lesen?“
„Nicht nur das“, erklärte ich grinsend und zog dann mit theatralischer Geste das grüne Plastikkärtchen aus meiner Jackentasche, das ich ein paar Tage zuvor hier besorgt hatte.
„Du kannst dir auch Bücher ausleihen. So viele du tragen kannst, Krümel.“
Und da war es. Dieses Strahlen, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, das ihre Augen zum Leuchten brachte. So, als hätte man eine Kerze hinter ihnen angezündet. Ich hätte alles getan, nur um sie so strahlen zu sehen.
„Das ist das schönste Geburtstagsgeschenk. Das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe!“, jubelte sie.
„Komm schon, geh endlich rein!“, lachte ich. „Du hältst es ja kaum noch aus vor Aufregung. Geh!“
„Nur, wenn du mitkommst!“
Und schon hatte sie mich an der Hand gepackt und mich durch die quietschende Drehtüre in den Eingangsbereich gezerrt.
„Dein schönstes Geburtstagsgeschenk? Und was ist mit dem Kuchen, den ich dir letztes Jahr gebacken habe?“, fragte ich gespielt enttäuscht, während ich meine Jacke auszog und sie über den Garderobenständer hing. „War der etwa nicht gut?“
„Naja, mal abgesehen von der schwarzen Kruste...“ Ria grinste. „Ich hab mich darüber gefreut. Aber das hier...“ sie deutete auf die Bücherregale, die sich bis ans Ende des Raumes erstreckten. „Das hier ist, als ob du mir eine ganze Welt geschenkt hättet. Die Welt der Bücher. Dankeschön!“
„Nichts zu danken, Krümel.“
Wir verbrachten einen herrlichen, ruhigen Tag dort in der Stadtbibliothek. Ria rollte sich in ihrem Lieblingssessel zusammen, und ich ließ mich auf das Sofa ihr gegenüber sinken und las ein Indianerbuch. Ja, das war meine Indianerphase gewesen. Interessanterweise war Ria nicht so typisch wie ich es in dieser Hinsicht war. Sie las Science-Fiction-Romane und Comics. Comics über Superhelden mit Superkräften.
So versanken wir in zwei völlig unterschiedlichen Welten. Und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, waren wir uns nahe wie keine zwei anderen Menschen in dem großen Gebäude.
Und irgendwie war ich überhaupt nicht überrascht, als ich mich von Häuptling Sitting Bull verabschiedete und bemerkte, dass Rias Kopf nun in meinem Schoß lag.
„Hey, Krümel“, sagte ich leise. Ich wollte sie nicht erschrecken. Ich wusste selbst, wie es war, wenn man so völlig in ein Buch versunken war.
Sie sah zu mir auf.
„Es wird langsam dunkel. Wir sollten nach Hause gehen.“
Ria nickte nur. Sie bettelte nicht darum, noch ein wenig länger bleiben zu dürfen. Tat sie das, weil sie wusste, wie schwer es mir immer fiel, ihr etwas abzuschlagen?
Gemeinsam sammelten wir die Bücher vom Boden auf, die sie mitnehmen wollte, und ich half ihr dabei, den Rest wieder in die Regale zurückzustellen. Der Stapel, der übrigblieb, war immer noch recht ansehnlich.
„Ich glaube, das sind immer noch zu viele“, seufzte ich. „Es tut mir leid. Ich wollte einen Rucksack mitnehmen, aber ich habe es vergessen.“
„Ist doch nicht so schlimm. Dann nehmen wir eben ein paar mit, und den Rest hole ich ein anderes Mal. Sie rennen mir ja nicht davon.“
Und sie strahlte mich wieder so an. So, als habe ich ihr tatsächlich die Welt zum Geschenk gemacht.
„Wovon hast du eigentlich die Gebühr bezahlt?“, fragte sie mich, als wir mit Büchern beladen auf die noch immer belebte Einkaufspassage hinaustraten. Ich erstarrte überrascht. Mit dieser Frage hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Obwohl es doch eigentlich auf der Hand lag. Schließlich war das der einzige Grund gewesen, aus dem sie bisher noch keinen Büchereiausweis gehabt hatte. Weil wir ihn uns nicht hatten leisten können. Vielleicht hatte ich auch einfach gehofft, sie würde nicht fragen. Weil ich wusste, dass ich sie nicht würde anlügen können. Sie war so gut darin, mich zu durchschauen.
„Und sag jetzt bloß nicht, dass Mutter das gezahlt hat. Das glaub ich dir nämlich nicht.“
Wahrscheinlich hatte sie auch von Anfang an nicht geglaubt, dass Mutter auch nur das geringste bisschen an ihrem Geschenk beteiligt war. Sie war alt genug, und sie wusste, wie Mutter war.
„Nein, ich war es“, murmelte ich. „Ich hab...ich hab immer wieder ein bisschen zur Seite gelegt. Und vielleicht...vielleicht hab ich ab und zu für Paul die Vertretung gemacht.“
Paul war unser Nachbar. Ein alter Mann, der ständig hustete, und der immer recht grimmig dreinschaute, wenn man ihm auf der Straße begegnete. Er trug Zeitungen aus, die Tagespost. Und wenn er krank war, brauchte er eine Vertretung.
„Du hast das vor der Schule gemacht? Du bist in aller Herrgottsfrühe aufgestanden und hast noch vor der Schule Zeitungen ausgetragen?“, fragte Ria entsetzt.
Ich zuckte unbehaglich die Achseln.
„So oft war es ja gar nicht...“
„Oh, Flo!“ Sie blieb stehen und sah mich lange an. Es war einer dieser Blicke, die so verdammt tief gingen. Doch ich hielt ihm stand. Und irgendetwas veränderte sich. Irgendetwas veränderte sich unwiderruflich.
„Ich hab dich lieb“, murmelte sie irgendwann. Die Worte bildeten kleine Wölkchen vor ihrem Mund. Es wurde kalt in der aufziehenden Dämmerung. Aber mir war auf einmal so warm.
„Auch wenn du manchmal ein ganz schön verrückter Kerl bist – ich hab dich so lieb.“
Und ihre Hand schlich sich vorsichtig in die meine, als wir gemeinsam durch die anbrechende Dunkelheit nach Hause gingen.
Und während ich so neben Ria im Bus saß und mich an jenen Tag vor sieben Jahren erinnerte, dachte ich, dass ich mich vielleicht geirrt hatte. Vielleicht waren nicht alle Veränderungen schlecht. Vielleicht waren nicht alle Veränderungen schmerzhaft. Aber alles hatten sie alle gemeinsam: man verlor den Boden unter den Füßen. Man war angreifbar, weil man für einen Moment nicht mehr wusste, wo oben und unten war, weil man für einen Moment die Welt einfach nicht mehr verstand. Weil man sich anpassen musste.
Und eines wusste ich mit Sicherheit: im Moment konnte ich es mir nicht leisten, angreifbar zu sein.
8. Momente
Anna-Maria
Langsam, zögernd, beinahe unsicher bahnten sich die kleinen Tropfen ihren Weg die Scheibe hinunter. Wie Tränen. Wie Tränen auf einer durchscheinenden Wange.
Trotz Flos Jacke war mir auf einmal so kalt, als ich vorsichtig ihre Spuren nachmalte. Verdammt, warum fiel es mir diesmal so schwer? Warum konnte ich nicht vergessen, wie er mich angesehen hatte, dort, auf dem Bussteig?
Ich spürte seinen Blick auf mir ruhen. Ich hatte es immer gespürt, wenn er mich ansah. Warum das so war, wusste ich nicht. Vielleicht, weil ich ihn kannte wie keinen anderen Menschen. Vielleicht, weil mir sein Blick so vertraut war. Vielleicht, weil ich mich merkwürdig beschützt fühlte, wenn er mich so ansah. Und nach den gestrigen und heutigen Ereignissen brauchte ich jedes bisschen Sicherheit.
Es war, als schwebte ich auf einmal im luftleeren Raum. Aber ich war nicht alleine dort. Auch Flo hatte seinen Halt verloren. Wir schwebten gemeinsam. Es war kein angenehmes Gefühl. Es war beängstigend.
Auch ohne diesen unerwarteten Ausbruch an der Bushaltestelle hätte ich gewusst, dass es ihn aus der Bahn warf. Mutter war es nicht gewesen. Vor Mutter hatte er sich nie gefürchtet, er hatte ihr ohne zu zögern die Stirn geboten, früher. Oder er hatte sie einfach ignoriert. Ich hatte ihn immer dafür bewundert. Doch mit diesem Mann war es irgendwie anders.
Ich hatte noch nie erlebt, dass Flo so schnell klein bei gegeben hatte.
Doch wenn es das nur gewesen wäre! Wenn es das doch nur gewesen wäre! Wenn das alles gewesen wäre, weswegen ich mir Sorgen machen musste!
Dieser Blick! Dieser verdammte Blick! Warum konnte ich ihn nicht vergessen?
Weil es eben nicht nur der Blick gewesen war.
Ich atmete tief ein und aus, sah aus dem Fenster, in den Regen hinaus, in das graue Dämmerlicht. Heute war irgendwie alles grau. Das Gewirr der schieferfarbenen Regenschirme, die sich auf den Gehsteigen drängten und wie ein bizarres Blumenfeld im Wind wogten, der nass glänzende Asphalt, der wolkenverhangene Himmel, der sich über allem spannte.
Gestern war auch alles grau gewesen. In meinem Zimmer, in der Dunkelheit.
„Oh, Ria“, hatte er geflüstert, und es hatte so verzweifelt geklungen. Und dann hatte er gezittert. Flo hatte gezittert!
„Hey, ist alles in Ordnung, Kleine?“
Seine Stimme klang ein wenig rau, aber doch so besorgt, dass ich mich vom Fenster abwandte und zu ihm hinübersah. Er sah müde aus. Mehr als müde. Erschöpft.
„Es geht schon. Warum?“
Er streckte seine Hand aus, ganz langsam. Dann griff er nach meiner linken Hand, die sich irgendwie zur Faust geballt hatte. Vorsichtig löste er meine Finger. Ich hatte nicht gemerkt, wie sie sich so ineinander verkrampft hatten. Warme Schauer rannen meinen Rücken hinab. Seine Berührungen waren so sanft. Er hatte mich schon immer mit dieser besonderen Vorsicht behandelt, aber das hier war anders. Das hier war beinahe zärtlich.
Mein Herz schien auf einmal doppelt so schnell zu schlagen, es raste in meiner Brust, schlug beinahe schmerzhaft gegen meinen Brustkorb. Was war das? Verdammt, was war das?
Verwirrt sah ich zu ihm auf, doch seine Augen waren wieder einmal undurchdringlich. Undurchdringlich, und irgendwie...traurig.
Lange Zeit saßen wir uns so gegenüber, meine kleine Hand in seiner großen. Sein Daumen strich immer wieder über meine Handinnenfläche. Nicht ein einziges Mal sah er mich dabei an.
„Das muss doch wehtun“, murmelte er irgendwann.
Meine Fingernägel hatten dunkelblaue Halbmonde in meine Handinnenfläche eingegraben. Und ich hatte es nicht einmal bemerkt.
„Danke“, flüsterte ich.
Er nickte nur.
Als er meine Hand dann wieder losließ, bedauerte ich es. Mir war so kalt. Seine Hand war warm gewesen.
Jetzt tat es weh.
Abwesend rieb ich mir über die schmerzenden Stellen und blickte dann wieder aus dem Fenster.
Den Rest der Fahrt über wechselten wir kein Wort mehr miteinander. Es war keines nötig.
***
Die Bustüren öffneten sich mit einem lauten, hydraulischen Stöhnen. Prasselnder Regen empfing uns auf der anderen Seite. Ich zog mir die Kapuze von Flos Jacke tief in die Augen, und dann rannten wir.
Oder Flo rannte, und ich mühte mich, so gut ich konnte hinter ihm her zu stolpern.
Irgendwie war er befreiend, der Regen. Irgendwie war es befreiend, zu rennen. Etwas lockerte sich in meiner Brust. Ein Knoten, der dort war, seit ich den grauen Stein in Flos Augen gesehen hatte. Aber war es wirklich diese Kälte gewesen, die mich so erschreckt hatte? Der Blick auf dem Bussteig, der wollte mir einfach nicht aus dem Kopf. Und wie er gezittert hatte. In der Nacht.
Schon nach ein paar Schritten trat ich in eine tiefe Pfütze. Ich keuchte erschrocken auf, als eiskaltes Wasser durch den Schuh drang.
„Scheiße!“, fluchte ich. „Blöde Pfütze!“
Jetzt würde ich den ganzen Tag einen nassen Fuß haben! Verdammt, warum musste ich auch immer so schusselig sein. Ständig war ich diejenige, die in Pfützen trat, die über irgendwelche Dinge stolperte, die sich irgendwo den Kopf anschlug.
Im selben Moment spürte ich, wie sich eine warme Hand um die meine schloss, und dann zog er mich hinter sich her.
„Nicht, dass du auch noch hinfällst.“ Ich glaubte beinahe, ihn grinsen zu hören. „Du schaffst es doch, über deine eigenen Füße zu stolpern, in eine drei Zentimeter tiefe Pfütze zu fallen und von Kopf bis Fuß nass zu sein.“
„Das war vor zehn Jahren!“, verteidigte ich mich beleidigt.
Seine einzige Antwort war ein leises, atemloses Lachen. Und trotz meines Missgeschickes musste ich lächeln. Wenn ich es geschafft hatte, ihn zum Lachen zu bringen, dann war das einen nassen Fuß wert. Der Knoten löste sich noch ein wenig mehr.
Natürlich kamen wir trotzdem zu spät zur Schule.
Wir waren beide außer Atem, als wir schließlich durch die breiten Schultore stolperten. Außer Atem und bis auf die Haut durchnässt. Jetzt spielte es auch keine Rolle mehr, dass ich in die Pfütze getreten war. Es gab kaum noch etwas an mir, das nicht nass war.
Flo sah nicht viel besser aus, als ich mich fühlte. Die Haare klebten ihm an der Stirn, hingen ihm bis tief in die Augen, und in der plötzlichen Wärme stiegen tatsächlich feine Dampfschwaden von seine schwarzen Pullover auf.
„Na, das kann ja heiter werden“, seufzte ich, als ich mir das Wasser aus den Haaren wrang. „Da kann ich ja beinahe froh sein, dass ich heute früh keine Zeit mehr hatte, mich zu kämmen. Es hätte so oder so keinen Unterschied gemacht. Schau mich nur an! Wie soll ich so in den Unterricht gehen? Ich werd meine Hefte volltropfen!“
Irgendwie fand ich die Vorstellung auf einmal wahnsinnig komisch. Wie Holzmann mich wohl ansehen würde, wenn ich nass wie eine ertränkte Ratte ins Klassenzimmer treten würde. Eine ertränkte Ratte. Wie passend.
Und ich sah Flo an und lachte. Es war ein seltsames Lachen. Es klang merkwürdig verloren in dem hohen Raum. Merkwürdig verloren, und fast ein wenig zu schrill, fast ein wenig zu laut. Fast ein wenig zu hysterisch.
Flo runzelte die Stirn. Er war so weit weg. Auch wenn er dicht neben mir stand, war es mir, als hätte sich ein tiefer Graben zwischen uns aufgetan, seit wir aus dem Regen getreten waren. Er hatte meine Hand fallen gelassen, als wir durch die Türe gegangen waren. Ich wusste, warum er es getan hatte, wusste, dass es wichtiger war als jemals zuvor, dass wir nicht noch mehr Schwierigkeiten gebrauchen konnten. Aber trotzdem schien sich die Leere in meine offene Hand zu brennen wie Säure. Mir war so kalt.
„Ist alles in Ordnung?“
Nein. Nichts war in Ordnung. Und das wusste er auch. Eine Antwort war überflüssig, er las sie in meinen Augen. Und dann tat er, was Flo in solchen Momenten immer tat. Er erkannte an, was nicht zu ändern war, und wandte sich einfacheren, praktischeren Dingen zu. Problemen, die man lösen konnte.
„Ich glaub aber nicht, dass Holzmann das als Ausrede durchgehen lässt. Das mit den Heften. Er wird dich auf Folie schreiben lassen, oder dir mitteilen, dass du die Heftaufschriebe nachtragen sollst, wenn du wieder trocken bist. Aber wahrscheinlich fällt es ihm nicht mal auf, dass du nass bist. Er wird nur sauer sein, dass du ihn in seiner weltbewegenden Rede unterbrichst.“
„Nein, natürlich wird es sowas nicht gelten lassen“, murmelte ich düster. „Der würde nicht mal eine tödliche Krankheit als Ausrede gelten lassen. Solange ich noch atmen kann...“
Aber irgendwie war mir schon wieder etwas leichter ums Herz. Vertrauter Alltag umfing mich. Hier hatte sich nichts verändert. Hier war alles, wie es immer gewesen war.
„Ja, der große Holzmann.“ Flo schüttelte grinsend den Kopf, und die Tropfen flogen in alle Richtungen davon. Doch er wurde schnell wieder ernst.
„Du wirst dir den Tod holen, wenn du den ganzen Tag in nassen Kleidern im Unterricht sitzt, Ria. Und ich glaube, es wäre das Beste, wenn keiner von uns in nächster Zeit krank wird.“
Ich wusste genau, worauf er anspielte. Wenn einer von uns krank wäre, müsste er zu Hause bleiben. Und zu Hause war nun wirklich nicht der Ort, an dem einer von uns zu lange allein sein sollte. Zu Hause war nicht mehr sicher.
Nachdenklich sah Flo mich an.
„Komm mit!“ Ein erleichtertes Grinsen erhellte sein Gesicht. „Ich hab eine Idee.“
Ich sah ihm skeptisch dabei zu, wie er mit der verbeulten Türe seines Spindes kämpfte.
„Scheiß-Ding!“, fluchte er irgendwann und schlug frustriert gegen das Schloss. Das metallische Klappern hallte laut von den Wänden des menschenleeren Schulflures wieder.
„Hey, so bekommst du es nicht auf. Komm. Lass mich mal.“
Ich nahm ihm den Schlüssel ab und ruckelte vorsichtig an der Türe, während ich den Schlüssel im Schloss hin- und herbewegte. Irgendwann ertönte das charakteristische Klacken, und die grau-braune Metalltüre schwang auf.
„Manchmal braucht man einfach ein bisschen mehr Feingefühl“, zog ich ihn auf. Fast schon gegen meinen Willen hoben sich meine Mundwinkel ein klein wenig.
Flo warf mir einen undeutbaren Blick zu und schüttelte den Kopf.
„Das verletzt mich jetzt, Ria, wirklich. Ich bin getroffen. So viel hab ich schon für dich getan, und wie dankst du es mir? Mit Spott.“
Ich sah ihn ein wenig unsicher an, wusste nicht, ob er das jetzt ernst meinte oder ob er mich nur auf den Arm nahm.
Es gelang ihm tatsächlich, mich einen Augenblick ernst und verletzt anzusehen, dann prustete er los.
„Ha ha“, machte ich nur.
„Wirklich, du bist so gutgläubig, Ria!“, lachte er. „Schon als Kind hast du mir fast alles abgenommen! Weißt du noch, wie ich dir damals eingeredet habe, im Keller würde ein Gnom leben? Du hast noch Jahre später alte Brotrinden hinuntergebracht, weil du ihn füttern wolltest!“
„Ich mochte Klaas! Und ich mochte die Geschichten, die du von ihm erzählt hast!“
„Du hast dich schon immer gern in fremde Welten hineingedacht“, meinte er fast ein wenig nachdenklich.
„Das Leben war einfacher, als ich noch an Magie glauben konnte. Und ich habe mich gerne in deine Fantasiewelten hineingeträumt.“
„Ich auch“, gestand er mir mit einem seltsamen, wehmütigen Lächeln.
„Warum hast du damit aufgehört?“
„Irgendwann muss man erwachsen werden, Ria.“
„Du hast ihn doch auch gefüttert! Du hast auch Brotrinden für den Gnom im Keller liegen lassen! Du hast selbst daran geglaubt.“
„Es wurde irgendwie realer, weil du an ihn geglaubt hast. Ich habe mich gefragt, ob wir ihn nicht erst dadurch zum Leben erweckt haben, weil wir an ihn geglaubt haben.“
„Und ich bin zu gutgläubig?“ Fassungslos starrte ich ihn an.
Er lächelte. Für einen kurzen, zeitlosen Moment lächelte er. Doch dann erlosch das Licht in seinen Augen. Und ich wusste es. Ich wusste es, dass da etwas war, das er vor mir verbarg. Es hatte etwas mit dem Ende der Geschichten zu tun, damit, dass er hatte erwachsen werden müssen. Und es hatte etwas mit dieser unerklärlichen Angst zu tun, die er in Patricks Nähe gezeigt hatte.
„Manchmal wünschte ich, ich hätte mehr für dich da sein können“, murmelte ich bedrückt und sah zu Boden. „Damals, als Mutter immer wieder einen ihrer Kerle angeschleppt hat. Damals, als sie angefangen hat, sich immer weniger um uns zu kümmern. Es ist mir anfangs gar nicht so sehr aufgefallen, weil du immer für mich da warst. Es tut mir so leid.“
„Ach, Ria“, seufzte er nur. „Du warst noch so jung. Und ich bin dein großer Bruder. Es ist meine Aufgabe, dich zu beschützen, nicht anders herum.“
Und da war sie wieder. Diese Traurigkeit, die ich nie so wirklich verstanden hatte, ein dunkler Wolkenschatten in seinen Augen. Er schüttelte den Kopf, wie um einen unerwünschten Gedanken zu vertreiben, und dann griff er tief in seinen Spind hinein. Er wollte nicht mehr darüber reden. Gut. Ich konnte warten.
Er förderte seine schwarze Sporttasche zu Tage. Diese Tasche. Manchmal fragte ich mich, ob sich sein Sportlehrer damals eigentlich darüber im Klaren gewesen war, was er uns damit antat, als er Flo damit gedroht hatte, ihm vom Unterricht auszuschließen, wenn er nicht endlich in anständiger Sportkleidung erscheinen würde. Die Sportschuhe hatten wir dann heimlich aus der schulischen Schlamperkiste entwendet, aber die Tasche – die Tasche war so teuer gewesen, dass wir eine ganze Woche von Kartoffeln und Haferbrei gelebt hatten.
„Ich hab heute eigentlich Sport“, erklärte er mir, während das leise Surren des Reißverschlusses Erinnerungen weckte. „Die Jacke dürfte dir ein wenig zu weit sein, aber sie ist trocken...“
„Und was ziehst du an, wenn ich die Jacke nehme?“, fiel ich ihm ins Wort.
„Das Shirt.“
„Aber dann frierst du!“
„Nicht so sehr wie in nassen Kleidern. Und du wirst schneller krank. Mein Immunsystem ist besser. Und ich bin der Junge.“
Er sagte das mit einer solchen Selbstverständlichkeit. Ich fragte mich, woher diese ritterliche Art wohl kam. Sie musste angeboren sein. Mutter hatte ihn nicht so erzogen. Mutter hatte keinen von uns erzogen. Sie war nie dagewesen. Vielleicht war es noch ein wenig von Omas Einfluss. Und Flos ganz eigener Charakter.
„Trotzdem wirst du frieren...“ Und das tat er jetzt schon. Ich konnte sehen, wie er unter dem durchweichten Stoff des Pullovers schnatterte. Weil ich seine Jacke über der meinen trug. Beides waren keine Winterjacken, Winterjacken waren einfach zu teuer, aber beide zusammen gaben dann doch noch ein wenig warm. Er fror, weil er nicht wollte, dass ich fror. Weil er der Junge war.
„Es wird schon gehen“, winkte er ab, und dann drückte er mir das Kleidungsstück in die Hand. Keine Widerrede mehr, sagten mir seine Augen.
Und so kam es, dass ich den Schultag mit tropfnassen Haaren und durchweichter Hose hinter mich brachte und das erste Mal wirklich froh war, dass ich einen Platz an der Heizung hatte. Natürlich trocknete die Hose nicht wirklich, auch wenn ich mich so dicht an den Heizkörper drängte, wie es möglich war, ohne dabei zu verbrennen. Jeansstoff war dafür bekannt, dass er lange nass blieb.
Es war ein langer Schultag. Ich fühlte mich unwohl, und ich fürchtete mich vor dem Moment, an dem die Schulglocke das Ende der letzten Stunde ankündigen würde. Ich wollte nicht nach Hause. Das erste Mal fühlte ich mich in der Schule sicherer als zu Hause. Und das, obwohl die Blicke heute so viel aufdringlicher waren als sonst.
Es lag an der Jacke, das wusste ich. Es lag an der schwarzen Sportjacke, die ganz offensichtlich nicht mir gehörte, weil sie mir bis zu den Knien reichte und ich mich wohl zweimal darin hätte einwickeln können. Flo hatte schon immer weite Kleidung bevorzugt, sei es, weil man sie in vielen Lagen übereinander anziehen konnte, wenn einem kalt war, oder weil er dann nicht so schnell herauswachsen würde. Doch ich war so froh, dass ich sie hatte, die Jacke, und ich nahm die Blicke dafür gerne in Kauf.
Sie roch nach ihm.
Und während ich so meine Nase in dem weichen, abgetragenen Stoff vergrub, wusste ich auf einmal, warum ich ihn so mochte, den Geruch. Ich fühlte mich sicher, wenn er mich umgab. Flos Geruch hatte ich schon immer mit absoluter Geborgenheit verbunden.
Aber das erklärte nicht, warum mein Herz auf einmal ein wenig schneller schlug.
Doch natürlich kam es trotzdem, das Läuten. Schrill und scheppernd zerstörte es den Frieden, den ich für kurze Zeit gefunden hatte.
Laura verabschiedete sich mit einem letzten, besorgten Blick. Sie verstand nicht, was mit mir los war, und ich konnte es ihr nicht erklären. Wie sollte ich ihr auch erklären, was ich selbst nicht einmal so richtig verstand?
Und dann war ich alleine im Klassenzimmer. Ganz langsam packte ich meine Sachen zusammen. Ich hatte es nicht eilig. Vielleicht würde ich den Bus verpassen. Dann würde ich auf den nächsten warten, oder, noch besser, zu Fuß nach Hause gehen. Das würde noch länger dauern.
„Da bist du also“, schnitt Flos Stimme irgendwann durch die Stille. „Ich habe mir schon Sorgen gemacht.“
Natürlich. Wie hatte ich es nur vergessen können. Er wartete immer auf mich. Immer.
Ich verstaute meinen feuchten, nutzlosen Block in meinem Schulrucksack, der noch immer beinahe vor Nässe triefte, zog den Reißverschluss zu und sah dann zu ihm hinüber. Mit überkreuzten Beinen lehnte er am Türrahmen des Klassenzimmers. Er wirkte so viel jünger in dem hellen T-Shirt und mit den zerzausten Haaren, dir ihm in wirren Locken ins Gesicht hingen. Er brauchte dringend einen Haarschnitt. Seltsam, das mir das gerade jetzt auffiel.
„Vielleicht können wir den Bus verpassen“, meinte ich dann, als ich mir den Rucksack über die Schultern streifte.
Er warf mir einen langen Blick zu. Er durchschaute mich. Natürlich tat er das.
„Ja, das könnten wir.“ Aber es klang zögernd. So, als suche er nach den richtigen Worten, um mir zu erklären, wie falsch ich doch lag.
„Vielleicht sind sie ja gar nicht zu Hause“, fügte ich hoffnungsvoll an. Es war eine verzweifelte Hoffnung.
Flo sah mich wieder mit diesem durchdringenden Blick an. Als wüsste er etwas, das ich nicht wusste. Schweigend hielt er mir die Türe auf, und wir traten in den mittlerweile wieder recht leeren Schulflur.
Wir wechselten kein Wort mehr, während wir auf den Ausgang zu schlenderten. Aber er blieb nahe bei mir. Und er sah sich aufmerksam um. Als spürte er die Blicke, die auf uns lagen. Er hörte das Getuschel. Er musste es hören, es war unmöglich, es nicht zu hören. Er ignorierte es, warf mir nur immer wieder einen Blick von der Seite zu und blieb so dicht bei mir, wie es nur möglich war, ohne allzu auffällig zu sein.
Ich atmete erleichert auf, als wir hinaus in den leichten Nieselregen traten. Auch wenn die feinen Tropfen kalt waren. Der seltsame Druck auf meinem Brustkorb ließ nach, und ich hatte das erste Mal wieder das Gefühl, frei atmen zu können. Der Himmel spannte sich weit über uns. Die Luft roch nach Freiheit.
„Patrick wird nicht zu Hause sein, der arbeitet.“ Überrascht sah ich zu Flo auf. Seine Miene war unbewegt. Er hatte lediglich eine Tatsache ausgesprochen. Und doch war es mehr als das. Ich atmete erleichtert auf. Eine Sorge weniger. Ich würde ihn nicht den ganzen Rest des Tages ertragen müssen.
„Vielleicht können wir trotzdem den Bus verpassen?“ Selbst in meinen Ohren klang ich hilflos. Verzweifelt.
Flos Stimme wurde so sanft. So sanft, dass es beinahe weh tat.
„Kleines, es bringt nichts, es hinauszuzögern. Dadurch wird es nicht besser.“
„Aber auch nicht schlimmer.“
Er schüttelte den Kopf, und auf einmal wirkte er sehr nachdenklich.
„Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, Ria. Vor Patrick sollten wir uns in Acht nehmen. Alle beide. Ich denke nicht, dass es klug wäre, ihn jetzt schon herauszufordern.“
Wie gelassen er das alles hinnahm! Wie konnte er einfach so akzeptieren, was geschehen war? Wie konnte er einfach so akzeptieren, dass sich alles verändert hatte? Wut stieg in mir auf. Sengende, rotglühende Wut, wie ich sie noch nie zuvor verspürt hatte. Ich hätte nicht gedacht, dass ich dazu überhaupt fähig war. Aber es war einfach nicht fair!
„Es hat sie nie interessiert!“, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Nie! Und jetzt auf einmal sind wir wieder gut genug. Gut genug, ihre Dienstmägde zu spielen! Wie kann sie nur? Wie kann sie nur, Flo? Warum?“ Meine Stimme brach.
Flos Kopf war überrascht zu mir herumgefahren. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er mich an. Er hatte wohl nicht mit einem solchen Ausbruch gerechnet.
Ich auch nicht. Und ich spürte auch schon, wie der Zorn verrauchte. Zurück blieb ein überwältigendes Gefühl der Hilflosigkeit. Heiße Tränen stiegen in meine Augen, Flos Gesicht verschwamm zu einem ovalen, hellen Fleck vor dem düsteren Grau des Herbstnachmittags. Ich blinzelte, sah in den Himmel hinauf, versuchte alles, um mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich das alles mitnahm. Aber er merkte es trotzdem.
Er fluchte leise, sah sich hektisch um, und warf dann alle Vorsicht in den Wind. Einen Moment später fingen mich seine Arme auf, verhinderten, dass meine Knie nachgaben, hielten mich einfach. Und hier, mit der Wange auf seinem Shirt, umgeben von seinem vertrauten Geruch, konnte ich wieder atmen.
„Ich weiß es nicht! Verdammt, ich weiß es doch auch nicht! Aber sie ist immer noch unsere Mutter...“, murmelte er irgendwann leise in mein Haar.
„Auf dem Papier“, fügte er an, als er spürte, wie ich mich versteifte. „Auf dem Papier hat sie immer noch das Sorgerecht für uns. Das alleinige Sorgerecht. Bis wir volljährig sind, kann sie über unser Leben bestimmen.“
„Das ist so unfair!“
„Seit wann ist das Leben fair?“
Ja, seit wann war das Leben fair? Es war nicht fair, dass er mich nur wenige Augenblicke später wieder loslassen musste, weil es besser war, wenn wir nicht so gesehen wurden. Es war nicht fair, dass er neben mir an der Bushaltestelle stand und fror und so verloren und einsam aussah. Es war nicht fair, dass er mich getröstet hatte, wo ich doch eigentlich ihn hätte trösten sollen.
Denn er kehrte wieder zurück, der graue, versteinerte Blick. Je weiter wir uns von der Schule entfernten, desto weiter entfernte er sich auch von mir.
Und als ich so neben ihm im Bus saß, so dicht bei ihm und irgendwie doch so weit von ihm entfernt, da musste ich auf einmal wieder an den Gnom denken. An unseren Gnom im Keller, der nur existiert hatte, weil wir an ihn geglaubt hatten.
„Nimm ein Stück Brotrinde mit“, meinte Flo, als ich eben die Türe hinter mir zuziehen wollte. Ich war auf dem Weg in den Keller, und ich ging dort nie gerne hin. Es war irgendwie so dunkel dort unten, und so zugig, und die Schatten schienen ein Eigenleben zu haben.
Sie flüsterten.
Vielleicht war es auch nur der Wind, der flüsterte, aber es war trotzdem unheimlich. In den Ecken lebten die Schatten und die Spinnen, und ab und an verirrte sich auch eine Maus nach unten. Ich mochte Mäuse eigentlich, sie waren so süß und so klein, und ihre Pfoten sahen fast so aus wie kleine Hände, und ich verstand nicht, wie man sich vor ihnen fürchten konnten. Aber die Geräusche, die sie machten, wenn sie durch die Wände raschelten, die waren unheimlich.
Deswegen ging ich nicht gerne in den Keller. Aber ich wollte rodeln gehen, und der Schlitten war nun einmal im Keller. Es war ein alter Schlitten, der Schlitten, der einmal Oma gehört hatte. Und gestern hatte es geschneit, und Flo hatte mir versprochen, dass er mit mir rodeln gehen würde. Und er hatte es zur Bedingung gemacht, dass ich den Schlitten dieses Mal holte.
Ich sei alt genug, hatte er gemeint. Und er mochte den Keller auch nicht. Er versuchte, es vor mir zu verstecken, aber ich wusste es trotzdem. Flo konnte auch Angst haben.
Ich hatte gefragt, ob er nicht mitkommen könnte, aber er hatte nur den Kopf geschüttelt und gemeint, dass es nun einmal wichtig sei, dass man sich seinen Ängsten stellte. Er hatte so erwachsen gewirkt, als er das gesagt hatte, und irgendwie glaubte ich ja auch, dass er recht hatte.
Und deswegen hatte ich dann auch abgelehnt, als er schließlich doch eingelenkt hatte und mir angeboten hatte, mitzukommen. Ich war ein großes Mädchen, und ich würde ihm zeigen, dass ich keine Angst vor dem Keller hatte.
Ich hatte all meinen Mut zusammengenommen, und jetzt wollte er, dass ich Brotrinde mitnahm? Wusste er nicht, dass Mäuse Brotrinde liebten? Dass das Rascheln dann viel lauter werden würde?
„Warum?“ Ungläubig sah ich ǘber meine Schulter hinweg zu ihm auf.
„Weil der Gnom Brotrinde mag“, erklärte Flo einfach.
„Der Gnom?“
„Der Gnom.“
„Wir haben einen Gnom im Keller.“Ich klang immer noch ungläubig. Flo ließ sich davon nicht beirren.
„Aber natürlich. In jedem alten Haus leben Gnome im Keller. Und dieses Haus ist zweihundert Jahre alt. Es ist ein sehr alter Gnom. Aber er ist sehr nett.“
„Du kennst ihn?“ Er wirkte so vollkommen sicher, so absolut überzeugt. Mein Misstrauen begann zu bröckeln. Warum sollte Flo mich anlügen?
„Ja. Wie gesagt, er ist ein sehr netter Gnom. Wenn du ihm ein Stück Brotrinde mitnimmst, dann sorgt er dafür, dass der Wind nicht so pfeift, und dass die Mäuse nicht so laut rascheln.“
„Na gut...“
Ich war immer noch nicht so wirklich überzeugt, aber die Brotrinde nahm ich dann doch mit.
Die ganze Zeit, während ich den Schlitten aus seinem staubigen Eck befreite, hielt ich heimlich Ausschau nach dem Gnom. In jedem Schatten suchte ich eine kleine, verhutzelte Gestalt mit einer roten Zipfelmütze, hinter jedem Rascheln vermutete ich ein zwergenähnliches Wesen, das Brotrinde aß und kleine Menschenkinder beschützte. Und erst, als ich das Licht hinter mir löschte und die Treppen hinaufstieg, fiel mir auf, dass ich ganz vergessen hatte, Angst zu haben.
„Ich habe den Gnom nicht gesehen“, berichtete ich enttäuscht, als ich die Türe hinter mir zuzog. Flo nahm mir den Schlitten ab und lehnte ihn an die Wand. Dann öffnete er den Garderobenschrank und suchte unsere Mützen heraus.
„Vielleicht hat er ein bisschen Angst vor dir gehabt“, tröstete er mich dann und streifte mir die dicke Wollmütze über den Kopf. „Stell dir doch vor, wie groß du für so einen kleinen Kerl sein musst. Und er kennt dich gar nicht. Vielleicht hat er das nächste Mal weniger Angst.“
„Wie sieht er denn aus, der Gnom?“, fragte ich, als er mich am Abend ins Bett brachte. Er tat das jeden Abend. Dann setzte er sich auf meine Bettkante, strich die Bettdecke über mir glatt und steckte sie an beiden Seiten um mich herum fest. Und manchmal erzählte er mir eine Geschichte, wenn ich ihn darum bat.
„Wie er aussieht?“, fragte Flo. „Wie ein Gnom eben aussieht. Er hat eine dicke, knollige Nase, die ein bisschen wie eine Zwiebel aussieht. Er ist klein, vielleicht so groß wie ein Gartenzwerg, und er hat eine purpurrote Mütze auf. Und er kann sich unsichtbar machen. Deswegen glauben die meisten Menschen ja nicht, dass es Gnome gibt. Weil sie sich unsichtbar machen können. Und weil die meisten Gnome sehr viel Angst vor uns Menschen haben, bleiben sie auch die meiste Zeit für uns unsichtbar. Nur manchmal, wenn die Gnome spüren, dass wir ihnen nichts tun werden, wenn sie spüren, dass sie sich nicht vor uns fürchten müssen, und wenn wir eine reines Herz haben, dann können wir sie sehen.“
„Und du hast ihn schon gesehen?“ Ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich ihm glauben konnte, aber er hatte mich schon fast überzeugt. Und ich witterte eine Geschichte. Ich mochte Flos Geschichten.
„Ja, ich hab ihn schon gesehen. Ich hab sogar mit ihm gesprochen.“
Das Bett bewegte sich unter mir, als er sich neben mich legte. Und so lagen wir nebeneinander auf meinem Kinderbett, und er sah an die Decke, wo ein künstlicher Sternenhimmel über uns leuchtete, und erzählte von seiner ersten Begegnung mit Klaas, dem Gnom.
„Es war ein Tag im Winter, eigentlich genau wie heute. Und ich bin in den Keller gegangen, um den Schlitten zu holen, so wie du heute. Und da saß er. Genau auf dem Schlitten. Er hat mich angesehen und gesagt: „Hallo, Florian.“
„Woher wusste er denn deinen Namen?“, unterbrach ich ihn.
„Gnome hören und sehen viel mehr, als wir denken“, erklärte Flo mir geduldig. „Es sind die Wände, weißt du. Die Hauswände. Sie sprechen mit ihnen. Und jetzt sei leise, oder soll ich nicht weitererzählen?“
„Doch, doch, erzähl weiter.“
Und so erzählte er weiter. Er erzählte davon, dass Klaas sehr hungrig gewesen sei, und da habe er ihm ein wenig Brotrinde geholt, weil das das Lieblingsessen der Gnome ist. Und sie hatten lange miteinander gesprochen. Klaas hatte ihm von seinen Kindern erzählt, die weit fort in Amerika lebten, weil die Menschenfamilie, zu denen sie gehörten, nach Amerika gezogen sei.
„Die Gnome gehören nämlich immer zu einer Familie“, erklärte mir Flo. „Klaas hat immer bei Oma im Keller gelebt, und als sie gestorben ist, ist er zu uns gezogen, weil wir noch keinen eigenen Gnom hatten.“
„Und jetzt passt er auf uns auf?“, fragte ich und wandte den Kopf auf dem Kissen, um ihn ansehen zu können. Flo wandte mir ebenfalls seinen Kopf zu und lächelte.
„Ja, jetzt passt er auf uns auf. Immer, Krümel.“
Und so schliefen wir dann ein, die Köpfe einander zugewandt, und ich träumte von Klaas, dem Gnom, der jetzt zu uns gehörte.
Von jenem Tag an ging ich nie ohne ein Stück Brotrinde in den Keller.
„Was ist?“, fragte Flo. Wir stiegen nebeneinander die letzten Stufen zu unserer Wohnungstüre hinauf.
„Nichts.“
„Du hast gelächelt.“ Er klang verwundert. Neugierig. Er war immer so neugierig, wenn ich etwas vor ihm verbarg. Als könnte er meine Geheimnisse förmlich riechen.
„Ich musste an Klaas, den Gnom, denken. Und wie ich auf einmal keine Angst vor dem Keller mehr hatte.“
„Ah!“ Jetzt lächelte auch Flo. Kurz. Sehr kurz nur. Denn dann waren wir vor der Wohnungstüre angelangt.
Ich lauschte angestrengt, aber anders als gestern drang kein Laut zu uns heraus.
„Vielleicht ist sie nicht da.“
„Vielleicht.“ Er klang skeptisch.
Eine Weile lang spielte er mit dem Schlüssel, ließ ihn von einer Hand in die andere wandern. Sein Fuß wippte nervös auf und ab.
„Soll ich?“, fragte ich leise und deutete auf den Schlüssel. Mir war ebenso unwohl wie ihm, und allein bei dem Gedanken an die gestrigen Ereignisse krampfte sich mein Magen beinahe schmerzhaft zusammen. Aber ich wollte es nicht länger aufschieben. Das Warten war schlimmer als alles andere.
„Nein“, meinte Flo mit rauer Stimme. „Ich mach schon.“
Und dann rammte er den Schlüssel beinahe schon brutal ins Schloss. Seine Hand zitterte ein wenig, und seine Schultern waren völlig verkrampft, als er die Türe langsam aufschob. Sie sackten erleichtert herab, als uns nichts als ein dunkler, leerer Flur empfing.
„Sie ist wirklich nicht zu Hause“, seufzte ich.
Nein, Mutter war nicht zu Hause. Doch an der Kühlschranktüre hing ein gelber Notizzettel: „Bin einkaufen gegangen. Komme bald zurück.“
Und daneben eine Liste der noch zu erledigenden Hausarbeit. Wäsche waschen und den Flur wischen für mich, Abendessen kochen und die schiefe Kellertüre richten für Flo.
Ja, es hatte sich einiges verändert. Aber irgendwie war ich froh um die wenigen Augenblicke, die wir noch alleine hier für uns haben würden. Wir konnten ankommen. Wir konnten uns sammeln. Wir konnten uns Mut machen, ehe der Sturm nahte.
Flo setzte sich an den Küchentisch und ging die Post durch, so, wie er es immer tat. Und ich öffnete die Schranktüre über dem Herd und nahm zwei Brausetabletten aus dem Röhrchen.
„Vitamin C?“, fragte Flo überrascht, als ich das Glas vor ihm abstellte.
„Ich will nicht, dass du krank wirst. Du hast gefroren, Flo.“
Sein Blick war auf einmal so weich. So weich, und so dankbar. Es tat weh, dass ihm eine einfache Geste so viel bedeutete.
Nein, das Leben war nicht fair, es war nicht gerecht, und es war alles andere als einfach, dachte ich, als ich ihm dabei zusah, wie er das Glas leerte und dann mit diesem besonderen Lächeln zu mir aufsah. Mit diesem Lächeln, das nur mir gehörte.
Nein, das Leben war nicht fair.
Aber es war wertvoll. Es gab diese vielen, kleinen, besonderen Augenblicke, durch die es wertvoll wurde. Es war die Summe der kleinen, glücklichen Momente, die das Leben lebenswert machten. Und das hier war ein solcher Moment.
9. Wahrheiten
Anna-Maria
Ich weiß nicht, wie lange wir so am Tisch saßen und uns ansahen und die Stille genossen. Es war nicht lange genug. Wir hätten den ganzen Tag so zubringen können, und es wäre nicht lange genug gewesen. Meine Uhr zeigte jedoch, dass es nur ein paar Minuten gewesen waren.
Dann hörten wir einen Schlüssel klirren, und das klackende Geräusch, mit dem er sich im Schloss der Wohnungstüre drehte. Den dumpfen Schlag, dem man dem Ding immer verpassen musste, damit das Schloss richtig greifen konnte, weil die Türe natürlich immer noch verzogen war.
Flo sprang erschrocken auf und räumte hastig unsere Gläser in die Spülmaschine, so als wolle er jeden Beweis vernichten, dass wir hier gesessen und nichts getan hatten. Es war so ungewohnt, dass wir uns auf einmal dafür rechtfertigen mussten, wie wir unsere Zeit verbrachten. Es gefiel mir nicht. Es gefiel mir ganz und gar nicht.
Auf einmal war mir wieder kalt. Die nasse Jeans klebte mir noch immer an den Beinen, und selbst Flos Jacke konnte mich nicht mehr wärmen. Es war kalt in der Küche. Die ganze Wohnung war kalt, und ich war immer noch nass. Meine Haare waren noch immer nass, genauso wie Flos. Wir hätten uns umziehen sollen, als noch Zeit dafür war. Jetzt war es zu spät. Jetzt war es besser, hier sitzen zu bleiben und auf Mutter zu warten, und zu sehen, was sie von uns wollte.
„Hast du die Heizung ausgeschaltet?“, erkundigte ich mich leise. Es war schon vorgekommen. Wenn wir wirklich knapp bei Kasse gewesen waren, hatten wir an manchen Tagen die Heizkörper auf die niedrigste Stufe gestellt. Die Wohnung wurde dadurch klamm und feucht, und man konnte nur noch mit kaltem Wasser duschen, weil das warme Wasser ebenfalls durch den Heizkessel im Keller erhitzt wurde. Nur in äußersten Notfällen griff Flo zu diesem drastischen Mittel. Und für gewöhnlich sprach er es vorher mit mir ab. Er setzte eben zu einer Antwort an, doch in diesem Moment polterte es im Flur, und kurz darauf ertönte ein lautstarkes Fluchen. Die Stimme war eindeutig weiblich. Kein Patrick. Aber trotzdem war es nun mit der Ruhe endgültig vorbei.
Angespannt sahen wir beide einen Moment zur Tür. Es blieb still draußen, und so nahm ich an, dass sie ihre Schuhe auszog und ihre Jacke an die Garderobe hängte.
Flo war es, der das Schweigen brach.
„Nein, die Heizkörper müssten alle auf Stufe 2 laufen“, murmelte er und antwortete damit auf meine vorangegangene Frage. „Aber vielleicht wird das Öl langsam alle. Ich fand es schon gestern recht kalt. Dann werd ich wohl mal wieder Herrn Schmal anrufen. Ach verdammt – weißt du, wie teuer das Öl immer ist, so kurz vor dem Winter? Hoffentlich übernimmt Mutter wieder ihren Teil, sonst wird das ein sehr, sehr kalter Winter dieses Jahr.“
Als sich die Küchentüre öffneten, fuhren wir beide herum.
„Uff!“, stöhnte Mutter, und dann stellte sie zwei volle Einkaufstüten direkt neben der Türe ab. In der einen klirrte es verdächtig, und mein Magen zog sich krampfartig zusammen. Das bedeutete nichts Gutes. Alkohol bedeutete nie etwas Gutes.
„Habt ihr eine Ahnung, wie viele Treppenstufen es bis zu dieser verdammten Türe hier waren? Eine Zumutung ist das. Das nächste Mal geht ihr beide einkaufen, so schufte ich mich nicht mehr ab. Das kann ja gar nicht gut für den Rücken sein!“
Seufzend rieb Mutter sich über den Nacken und ließ sich dann schwer in einen der Küchenstühle uns gegenüber fallen.
Flo warf mir einen ungläubigen Blick zu und verdrehte dann kurz die Augen. Natürlich wussten wir, wie viele Treppenstufen es waren. Sechsundsiebzig. Ich hatte sie schon oft gezählt. Wir waren sie schon oft genug schwer beladen hinauf gestapft. Und ich wusste, dass Flo im Café noch weitaus schwerer schleppen musste.
Aber wir sagten beide nichts. Es hätte nichts geändert.
„Seit wann seid ihr eigentlich schon wieder zu Hause?“ Mit einem vorwurfsvollen Blick sah sie von mir zu Flo. Etwas in mir versteifte sich. So ein Gespräch würde das also werden.
„Seit zehn Minuten ungefähr“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Kommt ihr immer so spät?“
Seit wann interessierte sie sich für unseren Tagesablauf? Seit wann interessierte sie sich überhaupt für irgendetwas, das uns betraf? Ich warf einen hilfesuchenden Blick zu Flo hinüber, doch der hatte sich von uns abgewandt und sah zum Fenster hinaus. So, als berühre ihn all das hier nicht. Er wirkte sehr gleichgültig, aber ich kannte ihn zu gut, um darauf hereinzufallen. Er überließ es mir, diplomatisch mit Mutter umzugehen. Vielleicht, weil er sich selbst nicht traute. Und weil er wusste, dass es besser war, sie zu besänftigen, als sie offen herauszufordern.
„Für gewöhnlich schon. So spät ist es ja noch gar nicht.“ Ich war schon beinahe erstaunt, wie gut es mir gelang, jegliche Bitterkeit aus meiner Stimme herauszuhalten. Wie es mir gelang, so völlig ruhig und gelassen mit ihr zu sprechen. Doch ihre nächsten Worte machten meine mühsam aufrecht erhaltene Selbstbeherrschung beinahe zunichte.
„Wie bitte? Ihr habt noch zwei Stunden, bis Patrick kommt. Anna-Maria, hast du eine Ahnung, wie der Flur aussieht? Gerade bin ich über einen dieser verdammten Schuhe gestolpert und wäre beinahe hingefallen. Und was wäre dann mit den Einkäufen gewesen, hm? Warum könnt ihr nicht einfach eure verdammten Schuhe an die Wand stellen, wie es jeder andere normale Mensch auch tut?“
Weil der Flur viel zu eng war, um dort alle Schuhe abzustellen, ohne dass sie im Weg waren. Weil die meisten der vielen Schuhe dort Mutter gehörten. Weil es dringend notwendig gewesen wäre, so etwas wie ein Schuhregal anzuschaffen, wir aber bislang weder die Zeit noch das nötige Kleingeld gehabt hatten, uns darum zu kümmern. Es gab Wichtigeres als einen ordentlichen Flur.
Aber das sagte ich nicht. Weil sie es so oder so nicht verstanden hätte. Weil sie es nicht verstehen wollte. Wie die vielen anderen Dinge, die hier schief liefen.
„Ja, ich weiß“, lenkte ich deswegen mühsam beherrscht ein und griff unter dem Tisch nach Flos Hand. Ich brauchte ihn jetzt. Wann hatte ich begonnen, ihn so sehr zu brauchen? Mich so sehr auf ihn zu stützen? Warum fiel mir das erst jetzt auf? Warum fiel mir erst jetzt auf, wie ungewöhnlich es war, dass wir uns so sehr aufeinander verließen?
Unsere Finger verschränkten sich ineinander, und sein Daumen fuhr beruhigende Kreise über meinen Handrücken. Ich atmete tief ein und konzentrierte mich wieder auf dieses unangenehme Gespräch, das Mutter mir gerade aufzwang. Du stehst das durch, Ria. Wenn Flo da ist, kannst du das durchstehen.
„Ich kann mich nicht vierteilen, Mutter“, versuchte ich ihr zu erklären. „Ich hab Hausaufgaben, die gemacht werden müssen, die Wäsche wäscht sich nicht von alleine, und ein bisschen arbeiten gehen muss ich auch noch.“
„Du gehst arbeiten? Seit wann gehst du arbeiten?“
Müde rieb ich mir über die Stirn. Ich bekam immer Kopfschmerzen davon, wenn ich zu lange mit Mutter sprach. Sie konnte so anstrengend sein. Und nie zuvor hatte sie mich mit so vielen Fragen gelöchert. Ich fragte mich, was sie damit bezweckte. Aber es hatte keinen Sinn, es ihr nicht zu sagen. Sie würde keine Ruhe lassen, bevor sie nicht bekommen hatte, was sie wollte. Und den Ärger war es einfach nicht wert.
„Seit ich dreizehn bin, darf ich das offiziell“, erklärte ich deshalb nun. „Wirklich arbeiten gehe ich aber schon seit ich neun bin. Da hab ich angefangen, mit Flo Werbeprospekte auszutragen. Und Flo arbeitet inzwischen im Café, nur zu deiner Information.“
„Die Hausarbeit sollte aber nicht darunter leiden, nur weil du meinst, du müsstest dir ein wenig Geld für hübsche Kleider und Schminke verdienen.“
Für einen Moment war ich wirklich sprachlos. Mit offenem Mund starrte ich die Fremde an, die mir da gegenüber saß. Wirklich gemocht hatte ich meine Mutter in den letzten Jahren nicht, aber das hier...das hier...
Ich spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Ich hasste das. Ich hasste es, wenn ich die Kontrolle über mich verlor, wenn sie es wieder einmal geschafft hatte, durch meine Maske der Gleichgültigkeit zu dringen. Sie warf mir vor, meine Pflichten nicht zu erfüllen? Sie warf mir vor, den Haushalt zu vernachlässigen, wo ich mir doch wirklich alle Mühe gab, so gut wie möglich für uns zu sorgen? War der Haushalt nicht eigentlich auch der ihre? Hätte sie nicht zumindest ab und an ein wenig mehr tun müssen, als nur die Rechnungen zu bezahlen? Und nicht einmal das tat sie immer. Nicht einmal in dieser Hinsicht hatten wir uns auf sie verlassen können.
Neben mir ballte sich Flos freie Hand auf dem Tisch zur Faust.
Mutter bemerkte es nicht einmal. Gedankenverloren strich sie sich jetzt durch das Haar und blickte dann abwesend aus dem Fenster. Als habe sie auf einmal die Welt um sich herum völlig vergessen. Das geschah in letzter Zeit öfter. Dass sie sich in ihrer eigenen kleinen Welt verlor.
Erst jetzt fiel mir auf, dass sie wohl beim Friseur gewesen war. Weiche, rot getönte Locken umspielten ihr Gesicht. Diese Unsummen, die sie immer dort ließ.
Ich war noch nie beim Friseur gewesen. Ich schnitt mir die Haare für gewöhnlich selbst, mit der Küchenschere über der Spüle. Manchmal tat es auch Flo für mich. Früher hatte mir immer Flo die Haare geschnitten. Und als ich ganz klein gewesen war, war es manchmal Mutter gewesen. Wenn sie einen ihrer guten Tage gehabt hatte. Früher hatte es die noch öfter gegeben, die guten Tage. Denn sie waren da, die Erinnerungen, auch wenn ich sie oft von mir schob, nichts davon wissen wollte. Es hatte sie gegeben, denn sie waren da, diese Bilder. Diese Bilder von einer jungen Frau, die mir durchs Haar gefahren war, die fröhlich vor sich hin gepfiffen hatte und dabei nicht einen einzigen Ton getroffen hatte. Mit den Jahren waren sie immer seltener geworden, die guten Tage, und heute waren sie nichts als Erinnerungen. Erinnerungen, die umso schmerzhafter waren, weil ich mich immer gefragt hatte, was es gewesen war, was ich nur falsch gemacht hatte. Denn irgendetwas musste geschehen sein. Irgendjemand musste doch daran Schuld haben, dass sie jetzt nichts mehr von uns wissen wollte. Dass wir ihr so völlig egal waren.
Manchmal fragte ich mich, wie alt sie wohl war. So etwas wie Geburtstage hatten nur Flo und ich untereinander gefeiert. Aber sie musste noch sehr jung gewesen sein, als sie Flo zur Welt gebracht hatte. Sie war noch immer jung. Unter der zentimeterdicken Schicht Schminke war ihr Gesicht noch beinahe faltenfrei. Selbst die kleinen Krähenfüße unter ihren Augen taten dem keinen Abbruch. Sie war definitiv noch jung.
Aber in meinen Augen war das keine Entschuldigung. Denn ich wusste eines: hätten Flo und ich die Verantwortung für ein kleines Kind gehabt, wir wären trotzdem damit zurechtgekommen. Wir hätten alles für dieses Kind getan, hätten uns notfalls das Essen vom Mund abgespart. Und wir hätten es niemals zugelassen, dass so ein kleines, unschuldiges Wesen für unsere Fehler bezahlen musste.
„Florian, gibst du mir bitte eine Flasche Wein?“, durchbrach Mutters Stimme meine Gedanken. „Dort drüben...in der Einkaufstüte...“
Flos Hand rutschte aus der meinen. Er atmete einmal tief ein und aus. Seine Augen verengten sich zu grünen Schlitzen.
„Es ist erst früher Nachmittag“, presste er schließlich mühsam hervor.
„Und? Das ist ein Grund, aber kein Hindernis.“ Sie versuchte sich an einem Lächeln, gab es dann aber rasch auf. „Verdammt, Junge, ich hab einen schweren Tag hinter mir. Es ist nicht leicht, wenn man...wenn man nicht mehr gebraucht wird, verstehst du?“ Ihr Lippen zitterten. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen, und auf einmal war auch ihre Stimme sehr hoch und sehr kindlich. „Sie brauchen mich nicht mehr, verstehst du? Sie wollen mich nicht mehr. Niemand will mich mehr. Ich bin so froh, dass ich wenigstens Patrick habe. Er wird für mich sorgen, hat er gesagt...er kümmert sich um den Antrag beim Arbeitsamt. Er tut so viel für mich...“ Jammernd vergrub sie ihren Kopf zwischen den Armen.
„Scheiße“, formte Flo lautlos mit den Lippen. Wir warfen uns einen entsetzten Blick zu. Scheiße, in der Tat.
Deswegen war sie also schon so früh zu Hause. Deswegen war Patrick wohl auch bei uns eingezogen. Mutter hatte ihren Job verloren. Und er kam wahrscheinlich nun für unseren Unterhalt auf. Wir waren ihm wirklich ausgeliefert.
„Gib mir jetzt endlich die Flasche!“
„Nein!“, weigerte sich Flo.
„Doch!“ Ihre Stimme war auf einmal hart und kalt wie Stein. Sie hob den Kopf und blitzte ihn wütend an. Sein Kiefer spannte sich an, seine Lippen pressten sich zu einer dünnen Linie zusammen.
„Scheiße, mir doch egal! Tu, was du nicht lassen kannst! Aber den Wein wirst du dir schön selbst holen. Ich will nichts damit zu tun haben!“, fauchte er dann. Mit der flachen Hand schlug er auf den Tisch und stand auf. Der klatschende Laut dröhnte in meinen Ohren. Fassungslos sah ich zu ihm auf. Ich hatte noch nie erlebt, dass er so aus der Haut gefahren war. Aber ich verstand ihn. Ich verstand ihn so gut. Es war immer der Alkohol gewesen. Immer war es der Alkohol gewesen, der uns die wenigen guten Tage geraubt hatte.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Mutter zusammenfuhr. Sie sah ihn an, als hätte sie ihn noch nie zuvor gesehen. Da war mehr als Unglaube in ihren Augen. Da war diese unglaubliche...Kälte. Und ich wartete. Ich wartete auf den unvermeidlichen Ausbruch. Doch er kam nicht. Er kam einfach nicht.
Eine Weile starrte sie ihn wortlos an, dann legte sie ihren Kopf wieder auf ihre verschränkten Arme und versank in ihrer eigenen Welt. Wenigstens trank sie nicht. Sie schien nicht mehr die Kraft aufzubringen, sich mit ihm auseinander zu setzen.
Flo ging schweigend an Mutter vorbei. Er griff nach einer der Tüten, und ich nahm die andere. Er hatte recht. Es war besser, etwas zu tun zu haben.
Gemeinsam räumten wir die Lebensmittel wahlweise in den Kühlschrank oder auf die Regale der Vorratskammer.
Viel Arbeit war es nicht. Ein paar Dosen Fertigravioli, ein paar Tiefkühlpizzen, ein wenig Aufschnitt, ein Laib Brot. Und, Wunder über Wunder, doch noch ein paar Eier und eine Tüte Milch. Flo und ich warfen uns einen vielsagenden Blick zu. War etwas anderes zu erwarten gewesen? Aber es war trotzdem Essen, und es würde uns satt machen. Eine Sorge weniger.
Es war seltsam, so schweigend zu arbeiten. Normalerweise unterhielten wir uns sonst immer, besprachen, was wir am Abend kochen würden, mutmaßten darüber, wie lange die Vorräte nun wohl reichen würden, womit wir sparsam würden umgehen müssen.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Flos Augenbrauen auf einmal in die Höhe schossen.
Die Muskeln in seinem Kiefer zuckten, so als würde er sich nur mit größter Mühe einen Kommentar verbeißen. Und dann fischte er nacheinander mehrere Flaschen Wein, einen Sixpack Bier und drei Flaschen Korn aus seiner Tüte heraus.
„Wozu der Korn?“, rutschte es mir heraus. Flo warf mir einen warnenden Blick zu, doch es war bereits zu spät.
„Zum Trinken, wozu sonst?“, murrte Mutter, ohne den Kopf zu heben. Sie mochte es nicht, wenn man sie darauf ansprach. Wenn man das Offensichtliche in Worte fasste. „Muss ich mich vor dir rechtfertigen? Es ist immer noch mein Geld, und es geht dich verdammt nochmal nichts an, was ich damit mache. Seid froh, dass ich euch das Dach über dem Kopf finanziere! Und immerhin seid ihr ja bisher noch nicht verhungert, oder?“
Flo versteifte sich neben mir, und auch ich musste mir auf die Lippen beißen, um nichts darauf zu erwidern.
„Was nicht unbedingt dein Verdienst ist“, merkte Flo dann an. Er sagte das vollkommen ruhig. Es war nur eine Feststellung, und ich bewunderte ihn dafür. Ich bewunderte ihn dafür, dass er so ruhig blieb. Denn ich wusste, dass es in ihm brodelte.
„Kinder!“, zischte Mutter ärgerlich. „Nichts als Ärger und Unordnung! Warum hab ich euch eigentlich in die Welt gesetzt? Wisst ihr, wie teuer ihr seid? Wie viele Nerven ihr mich schon gekostet habt? Was ich alles für euch opfern musste?“
Selbst heute weiß ich nicht, warum diese eigentlich recht harmlose Auseinandersetzung in der Küche so eskalierte. Warum Flo auf einmal beschloss, noch einmal zu kontern. Er wusste wie ich, dass es keinen Sinn hatte, ihr zu widersprechen. Dass sie so oder so immer das letzte Wort haben musste. Und dass man nur riskierte, verletzt zu werden, wenn man ihr zuviel Angriffsfläche bot. Vielleicht war es auch die Situation. Diese unmögliche Situation, in die sie uns gebracht hatte, indem sie uns Patrick vor die Nase setzte. Vielleicht hatte er aber auch einfach genug. Vielleicht hatte er all die Jahre einfach zu viele kleine Gemeinheiten über sich ergehen lassen. Was es auch war, irgendwie brachten ihre Worte bei ihm das Fass zum Überlaufen.
Und ich sah nur zu. Ich erstarrte im Türrahmen zwischen Vorratskammer und Küche und sah zu, wie dort in dem kleinen, gefließten Raum Worte zu Waffen wurden.
„Ja, das hab ich mich allerdings auch schon oft gefragt! Warum hast du uns in die Welt gesetzt, Mutter? Wirkliches Interesse hattest du doch nie an uns!“ Er flüsterte nur, und doch brachen seine Worte durch die angespannte Stille wie Donnerschläge.
Ein bitterer, metallischer Geschmack füllte meinen Mund. Blut. Ich hatte mich auf die Zunge gebissen. Mühsam schluckte ich, war fast dankbar für den stechenden Schmerz. Er lenkte mich ein wenig ab. So viel Wahrheit steckte in Flos Worten. Irgendwie wurde alles so viel greifbarer, wenn man es aussprach. Sie hatte sich tatsächlich nie wirklich für uns interessiert. Aber es im Stillen zu denken und es dann ausgesprochen zu hören, das waren zwei völlig unterschiedliche Dinge. Warum tat es so weh, die Wahrheit zu hören?
Für einen kurzen Moment glaubte ich, so etwas wie Betroffenheit über Mutters Gesicht ziehen zu sehen. Wie ein uralter, längst vergessener Schmerz. Aber der Schatten verschwand so rasch, wie er gekommen war. Vielleicht hatte ich auch nur gehofft, ihn dort zu sehen. Weil ich insgeheim hoffte, dass es einen Grund dafür gab. Dass es einen Grund gab, der sie von uns fern gehalten hatte. Weil ich, wie jedes Kind, im Grunde meines Herzens hoffte, dass meine Mutter mich liebte. Dass sie uns liebte. War das nicht die Aufgabe einer Mutter? Ihre Kinder bedingungslos zu lieben?
Doch ihre nächsten Worte zerschmetterten diese Hoffnung.
„Was hätte ich denn tun sollen, nachdem dein Vater mich geschwängert hatte? Ich saß auf der Straße, verdammt! Ich hatte nicht das Geld, dich abzutreiben! Und als schwangere Mutter hab ich wenigstens ein wenig Unterstützung und ein Zimmer in einem Heim bekommen.“
Mit einem lauten Klirren zerschellte die Weinflasche am Boden. Die dunkelrote Flüssigkeit spritzte mir ins Gesicht, doch ich hob nicht einmal meine Hand, um mir die roten Tränen von der Wange zu wischen. Ich konnte nur Flo ansehen, der wie erstarrt zwischen den Scherben stand. Sein Gesicht hatte eine unnatürliche, kalkweiße Farbe angenommen.
„So war das also“, wisperte er. Seine Augen – diese wunderbaren, grünen Augen waren so... tot. So leer. Das war schlimmer als der steinerne Blick. Weit schlimmer.
„Ja, so war das. Und jetzt sieh mich nicht so an!“
„Warum nicht?“ Er klang überhaupt nicht wie Flo. Seine Stimme zitterte.
„Du siehst aus wie er.“
„Wie mein Vater? Konntest du mich deswegen nie wirklich leiden, Mutter?“
Ich fragte mich, woher er die Kraft für diese Worte nahm. Vielleicht war er aber einfach an einem gewissen Punkt angelangt, an dem ihm alles egal war. Viel schlimmer konnte es nicht mehr werden. Vielleicht wollte er auch einfach nur endlich die Wahrheit wissen. Auch wenn sie ihn umbrachte.
Sie sah ihn nur lange schweigend an, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Es zerriss mir das Herz. Es zerriss mir das Herz, ihn so zu sehen. Wie konnte sie nur? Sah sie denn nicht, wie er innerlich zerbrach, wie er innerlich zersplitterte wie das Glas zu seinen Füßen? Aber sie kannte ihn nicht. Er war ihr Sohn und doch ein Fremder für sie. Weil sie nie wirklich da gewesen war. Weil sie sich nie wirklich interessiert hatte. Und trotzdem hatte sie alleine durch den Umstand, dass sie uns geboren hatte, solche Macht über uns.
Manchmal fragte ich mich, ob es an uns lag. Ob wir wirklich so schrecklich waren, dass sie es nicht ertragen hatte, bei uns zu sein. Doch dann sah ich sie an, wie sie Flo anblickte. So kalt. So gleichgültig.
Es lag nicht an ihm. Es konnte nicht an ihm liegen.
„Geh auf dein Zimmer, Florian“, schnappte sie schließlich.
Er nickte nur. Und dann ging er einfach durch die Scherben hindurch. Ich hörte, wie sie knirschend zwischen den Sohlen seiner Hausschuhe und dem gefließten Küchenboden brachen. Gott sei Dank hatte er die Schuhe an. Seltsamerweise war das der erste Gedanke, der mir kam. Gott sei Dank hatte er die Schuhe an. Denn im Moment wäre es ihm vermutlich nicht einmal aufgefallen, wenn er sich die Füße aufgeschnitten hätte.
Am anderen Ende der Flures hörte ich, wie eine Türe leise ins Schloss gedrückt wurde, und das machte mir am meisten Angst. Er war nicht einmal ansatzweise wütend. Wut wäre eine Emotion gewesen, mit der er zurechtgekommen wäre. Flo machte keine Dummheiten, wenn er wütend war. Aber dieses seltsame, leise Klicken...das hatte beinahe zaghaft geklungen. Erschöpft.
„Wisch das hier auf, Anna-Maria.“
Mutter deutete auf die Weinpfütze zu meinen Füßen. Die Pfütze, die der Wein hinterlassen hatte, weil Flo die Flasche aus der Hand gerutscht war.
Für einen kurzen Moment war ich versucht, ihr einen Lappen in die Hand zu drücken und zu sagen: „Mach es doch selbst!“
Doch natürlich tat ich das nicht. Ich hatte schon sehr früh gelernt, dass es einfacher war, stillschweigend zu tun, was sie sagte, und nicht zu viel zu widersprechen. Man ging dem Ärger aus dem Weg dadurch. Nicht, dass das irgend etwas besser machte. Aber es machte das Leben einfacher. Für den Moment.
Im Stillen hatte ich Flo immer dafür bewundert, dass er es gewagt hatte, sich ihr zu widersetzen. Er war stärker als ich, mein Bruder. Aber er war es auch immer gewesen, an dem sich ihr Zorn dann entlud. Wieviel davon war meine Schuld, weil ich ihr nie die Stirn geboten hatte? Und war es nicht einfach nur feige gewesen, dabei zuzusehen, wie sie ihn fertig machte, ohne einzuschreiten?
Ruckartig beugte ich mir hinunter, sammelte mit den Fingerspitzen vorsichtig die größeren Scherben ein und trug sie zum Mülleimer. Dann wischte ich die rote Flüssigkeit mit Küchenpapier auf. Es sah aus wie Blut. Auf den weißen Küchenfließen sah es aus wie Blut. Mir wurde übel.
„Es ist schon halb fünf. Du solltest besser mit dem Essen anfangen, bevor Patrick nach Hause kommt.“
Und mit diesen Worten rauschte Mutter aus der Küche.
Fassungslos sah ich ihr hinterher.
Die Küche war so leer ohne ihn. Die Küche war so leer, dass ich glaubte, seine Abwesenheit beinahe spüren zu können. Sie war wie ein dunkler Schatten, der in der Ecke kauerte.
Es kostete mich viel, ihm nicht hinterher zu gehen. Ihm nicht hinterher zu rennen, mich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Die Scherben aufzukehren, die Mutter hinterlassen hatte. Ihn zu trösten. Einfach bei ihm zu sein. Ich wusste, dass er mich brauchte.
Ich musste mich zwingen, hier zu bleiben, und den schrecklichen Fraß aus der Dose umzurühren und halbwegs genießbar zu machen. Zwischendurch versuchte ich, so gut es ging Ordnung zu machen.
Ich wollte nicht, dass er noch mehr Ärger bekam als unbedingt notwendig. Ich wollte ihm den Rücken freihalten, so gut es irgendwie ging. Und ich wusste, dass es nur zu zusätzlichem Ärger geführt hätte, wenn ich jetzt zu ihm ins Zimmer schlich. Mutter hätte es bemerkt, und wir hätten unbequeme Fragen beantworten müssen. Und Patrick konnte jetzt jeden Augenblick nach Hause kommen.
Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, hörte ich auch schon, wie sich ein Schlüssel im Schloss der Wohnungstüre drehte.
„Hallo zusammen!“, rief Patrick in den leeren Flur hinein. Ich zuckte zusammen und hätte mich beinahe an der heißen Herdplatte verbrannt, als ich den Topf vom Kochfeld nahm. Da war es wieder. Das Gefühl der Bedrohung, dass sich wie ein unsichtbarer Strick um meinen Hals legte, mir die Luft abschnürte. Warum nur hatte ich diese unerklärliche Angst, sobald er in der Wohnung war? Warum nur konnte ich ihm einfach nicht trauen?
Es wäre zu viel verlangt gewesen, wenn Mutter und Patrick diesen Abend ebenfalls vor dem Fernseher verbracht hätten. Vielleicht hasste mich das Schicksal wirklich so sehr, wie ich es immer geglaubt hatte.
Denn natürlich beschlossen die beiden heute, dass es an der Zeit war, dass wir wie eine richtige Familie gemeinsam am großen Küchentisch aßen. Oder Patrick beschloss es. Mutter nickte einfach nur und ließ den Dingen ihren Lauf. So, wie sie es schon immer getan hatte.
„Wo ist denn Florian? Hält er es nicht für nötig, zumindest zum Essen zu erscheinen?“, fragte Patrick beinahe beiläufig, als ich ihm die Ravioli auf den Teller gab.
„Ach, was weiß ich. Er hat sich in seinem Zimmer verkrochen“, meinte Mutter, mit dieser ungewohnten Härte in der Stimme.
Mühsam schluckte ich eine passende Erwiderung hinunter. Sie wusste ganz genau, warum er dort war!
„Er fühlt sich nicht so gut...“, warf ich vorsichtig ein. Ich hatte das Gefühl, ihn verteidigen zu müssen.
„Er fühlt sich nicht so gut? Der feine Herr fühlt sich nicht so gut? Das ist doch...!“ Mit einem lauten Krachen landete Patricks Faust auf dem Tisch. Das Geschirr klirrte, und ich zuckte erschrocken zusammen.
„Erst lässt er dich seine Arbeit machen – weswegen die Dame auch heute keine Wäsche waschen konnte, was mir sehr wohl aufgefallen ist – erst lässt er dich seine Arbeit machen, und dann hält er es nicht einmal für nötig, zum Essen zu erscheinen. Wirklich, ich wollte euch eine Chance geben, aber Regina hatte von Anfang an recht. Mit dem Jungen hat man nichts als Ärger. Na warte, dem werd ich Beine machen...!“
Panik ließ mein Herz schneller schlagen. Alleine die Vorstellung, wie er zu Flo ins Zimmer stürzen würde...in dieser Stimmung, in der er jetzt war...ich wollte mir nicht vorstellen, was er dort vorfinden würde. Und wie Patrick darauf reagieren würde. Oh Gott, ich wünschte mir so sehr, Flo könnte nur diesen einen Abend noch ein wenig Frieden haben. War es nicht genug, dass heute eine kleine Welt für ihn zusammengebrochen war? Er hatte das nicht verdient. Er am allerwenigsten. Und er brauchte jetzt Trost und Verständnis, und nicht noch mehr Vorwürfe und geladenes Schweigen. Er brauchte mich, und ich konnte nicht bei ihm sein, ich war gezwungen, hier am Tisch zu sitzen und so zu tun, als sei nichts geschehen.
„Ich hol ihn schon!“, fiel ich Patrick rasch ins Wort und sprang auf, ehe er noch etwas erwidern konnte. „Ist ja gut, ich hol ihn schon!“
Dunkelheit empfing mich, kaum dass ich durch die Türe getreten war. Dunkelheit, und diese Kälte, die seit gestern Abend durch sämtliche Ritzen zu kriechen schien. Irgendetwas war nicht in Ordnung mit der Heizung.
„Flo?“ Angespannt lauschte ich in die Stille des kleinen Zimmers hinein.
„Ria“, seufzte er. Er klang nicht wütend, oder verzweifelt, oder traurig. Nur müde. Unendlich müde. „Ria. Bitte, geh. Lass mich. Bitte, lass mich einfach.“
Ich wünschte, ich hätte das tun können. Ich wünschte es so sehr. Aber dann dachte ich an diese Kälte in Mutters Blick, und an den Zorn in Patricks Augen. Es würde alles nur noch schhlimmer machen, wenn er nicht mit mir kam.
„Ich kann nicht! Ich wünschte, ich könnte es. Aber Flo, Patrick ist schon sauer, weil ich das Essen gekocht hab und nicht du. Er ist wirklich sauer. Und ich fürchte, er kommt hier rein und schleift dich zur Not an deinen Haaren hier raus, wenn du nicht freiwillig kommst. Also bitte...bitte, komm mit an den Tisch.“
Ich hörte das Laken rascheln, und dann erkannte ich im trüben Dämmerlicht, wie er sich langsam aufsetzte und sich durch das wirre Haar fuhr. Das tat er immer, wenn er aufgebracht war. Wenn er nicht weiter wusste. Dann hob er den Kopf und sah mich an, und in diesem Moment schien die Bedeutung meiner Worte zu ihm durchzudringen.
„Scheiße! Oh, scheiße. Es tut mir so leid. Ich...ich hatte es vergessen. Das mit dem Kochen. Es tut mir so leid, dass ich dich damit alleine gelassen hab.“
Da war ein Kloß in meinem Hals. Ein dicker, fetter Kloß. Nur mühsam schluckte ich an ihm vorbei.
„Ach, Flo. Das ist doch egal. Wirklich. Ich hab es gern gemacht.“
Eine lange Weile sah er mich nur an. Als würde er alleine aus meinem Anblick die Kraft schöpfen, die er nun brauchen würde.
Irgendwann nickte er und stand auf. Ich fühlte mich so viel sicherer, als er hinter mir den Flur entlang ging.
Ich konnte nur ahnen, wie viel es ihn kostete, mit mir zu kommen. Und als er sich dann auf seinen üblichen Platz mit gegenüber setzte, sah ich ihn das erste Mal wirklich an. Es war so dunkel gewesen in seinem Zimmer.
Selten hatte es mir solche Mühe gemacht, mein Gesicht in dieser neutralen Maske erstarren zu lassen. Selten hatte mich etwas so erschreckt. Er war immer noch so bleich wie zuvor, doch das war es nicht. Das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war sein Gesichtsausdruck. Und seine Augen. Er sah so leer aus. So völlig leer. Es war ein Zustand weit jenseits von Wut und Schmerz und Traurigkeit und Verzweiflung.
Und auf einmal war da diese unglaubliche Wut in mir. Verdammt, es war einfach nicht fair! Er hatte das nicht verdient!
Niemals hatte ich gesehen, wie jemand so schnell einen Teller leerte. Er schlang das Essen regelrecht hinunter, und dann stand er ohne ein weiteres Wort auf, räumte den Teller in die Spülmaschine und verschwand. Am anderen Ende des Flures fiel leise eine Tür ins Schloss.
Patricks Augen verengten sich zu schmalen, grauen Schlitzen. Doch er enthielt sich eines Kommentars. Ich fürchtete, dass es nicht dabei bleiben würde. Er hielt sich zurück, doch ich spürte die Spannung, die in der Luft hing, beinahe körperlich.
Ich zwang mich dazu, meinen Teller ebenfalls zu leeren. Jeder Bissen schmeckte wie Pappe.
***
Mitten in der Nacht wachte ich auf. Da war ein Geräusch gewesen. Es kam aus dem Flur. Jemand hatte eine Jacke vom Haken genommen. Das metallische Klicken, als der leere Haken zurück gegen das Gitter der Garderobe gefallen war, hatte mich aus dem Schlaf geschreckt.
Hastig sprang ich aus dem Bett, streifte mir einen Pullover über das Schlafanzugoberteil und stieg rasch in die Jeans, die zum Trocknen über der Heizung lag. Sie war noch ein wenig klamm, aber das war mir jetzt egal. Ich hatte so eine Vermutung, wer da soeben aus der Wohnung ging. Und ich wollte ihn nicht allein lassen. Ich konnte ihn nicht alleine lassen. Ich spürte, dass er mich brauchte. Ich hatte es immer gespürt, wenn er mich brauchte.
Als ich aus dem Zimmer rannte, hörte ich gerade noch, wie die Wohnungstüre ins Schloss fiel, und dann hastige, sich entfernende Schritte. Ich riss meinen Schlüssel vom Haken neben der Türe und schlüpfte in das erste Paar Schuhe, das ich in die Finger bekam. Es waren Flos Sportschuhe, und ich schwamm regelrecht in ihnen, aber das war mir jetzt egal. Mir blieb keine Zeit mehr, wollte ich ihn noch einholen.
Auf der Treppe stolperte ich ein ums andere Mal und konnte mich immer gerade noch so am Geländer abfangen. Ich glaubte, in der Ferne seine Schritte zu hören, wie sie sich immer weiter von mir entfernten. Vielleicht war es aber auch nur ein Echo meiner eigenen Schritte.
Eisige Kälte umarmte mich, als ich endlich die Haustüre aufdrückte. Da stand ich nun, mitten in der Nacht, auf der Straße, die so völlig verlassen wirkte. Suchend blickte ich mich um. Mein Herz raste, und ich sog gierig die eisige Nachtluft ein, die mir mit jedem Atemzug in der Lunge brannte.
„Flo!“
Und dann sah ich ihn. Er hatte fast schon das Ende der Straße erreicht. Doch als er meine Stimme hörte, blieb er stehen. Langsam wandte er sich zu mir um.
„Flo!“ Unendliche Erleichterung durchströmte mich. Jetzt rannte ich wieder. Mein Atem bildete kleine, helle Wölkchen vor meinem Mund. Die viel zu großen Schuhe schlugen mit einem seltsamen, klatschenden Geräusch gegen den Asphalt des Gehsteiges.
„Flo! Was machst du denn hier draußen! Es ist kalt...“, japste ich, als ich schwankend vor ihm zum Stehen kam. Eine warme Hand schloss sich um meinen Ellbogen, half mir, mein Gleichgewicht wieder zu finden.
„Was machst du denn hier? Kleine, es ist spät, und du bist nicht einmal richtig angezogen!“
„Ich habe gehört, wie du gegangen bist. Ich konnte dich nicht alleine gehen lassen. Ich...“
„Ich wäre schon wieder zurückgekommen.“ Er sah mir ernst in die Augen, als er das sagte.
„Ja, ich weiß. Aber...ich...ich wollte bei dir sein.“
„Oh, Ria.“
Eine lange Weile sah er mich so seltsam eindringlich an. Fast, als versuchte er, in meine Seele zu sehen. Als suchte er in meinen Augen nach Antworten auf Fragen, die er nicht auszusprechen wagte. Und irgendwann reichte er mir einfach wortlos seine Hand.
Ich weiß nicht, wie lange wir so Hand in Hand durch die Dunkelheit gingen. Ich weiß nur, dass ich Ewigkeiten so hätte gehen können. Ich spürte auf einmal die Kälte nicht mehr, ich spürte den Wind nicht, der durch meinen Pullover drang, ich spürte die Nässe nicht, die noch immer im Stoff der feuchten Jeans hing. Ich spürte nur seine warme Hand in der meinen, und die Wärme, die von ihr ausging. Und ich spürte die Traurigkeit, die ihn umgab wie ein dunkler Umhang. Die drohte, ihn zu ersticken.
Irgendwann blieb er stehen. Überrascht sah ich zu ihm auf. Ich hatte nicht bemerkt, dass wir schon so weit gegangen waren. Wir waren im Stadtpark angekommen. So viele Erinnerungen hingen hier in der Luft. Glückliche Erinnerungen, wie die vielen Herbstttage, an denen wie hier gemeinsam Flos Drachen hatten steigen lassen. Ein paar weit zurückliegende Tage, an denen wir mit Oma auf dem Spielplatz gewesen waren und Sandkuchen gebacken hatten. Und dann die vielen Gespräche, die wir hier auf der Bank geführt hatten. Im Sommer hatten wir hier oft inne gehalten und für ein paar ruhige Momente einfach nur auf der Bank gesessen. Wir hatten den Enten zugesehen, die auf der Insel des kleinen Sees miteinander stritten oder einander das Gefieder putzten. Und wir hatten über Gott und die Welt gesprochen.
Ja, das hier war so etwas wie unsere Bank gewesen. Doch jetzt, mitten in der Nacht, war sie dunkler, diese Bank. Es war, als sei ich in eine andere Welt hinein gestolpert. Im Schein der Straßenlaterne wirkte die Szene vor meinen Augen irgendwie so unwirklich. Beinahe wie ein Theaterstück. Ein Theaterstück, in dem wir die Hauptdarsteller waren. Aber wenn das hier ein Theaterstück gewesen wäre, dann wäre alles so viel einfacher gewesen. Die Wirklichkeit war nicht einfach. Nichts war mehr einfach, seit ich kein Kind mehr war.
Flos Hand fiel aus der meinen, und dann setzte er sich auf die rechte Hälfte der Bank, die schon immer die seine gewesen war. Er stützte die Ellbogen auf seine Knie und barg dann den Kopf in den Händen. Es war eine Haltung, die so viel Hoffnungslosigkeit ausdrückte.
Schweigend setzte ich mich neben ihn und wartete. Ich wartete sehr lange.
„Ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten“, gestand er mir schließlich. „Ich hatte das Gefühl, dass die Wände immer näher rückten. Ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Ich wollte nicht abhauen. Ich versprech es dir.“
Er wusste, wie sehr ich mich davor fürchtete, ihn zu verlieren. Wie sehr ich mich davor fürchtete, dass er eines Tages gehen würde, so wie mein Vater gegangen war.
„Ich glaube dir.“ Und das tat ich. Denn auch, wenn ich diese irrationale Angst vielleicht niemals in den Griff bekommen würde, wusste ich doch, dass Flo mich nie im Stich lassen würde.
Lange Zeit sagte er nichts mehr. Fast glaubte ich schon, dass er gar nicht mehr sprechen würde heute Nacht. Doch als er es dann schließlich tat, wünschte ich fast, er wäre still geblieben. Es tat so weh, ihn so reden zu hören.
„Sie hasst mich.“ Es war eine Feststellung. Nüchtern und kühl. Und doch klang seine Stimme zu dünn. So zerbrechlich. Und er sah mich nicht an.
„Und weißt du, das eigentlich Erschreckende dabei ist...es hat mich nicht einmal überrascht. Nicht wirklich. Irgendwie...irgendwie hab ich es immer gewusst. Ich wollte es nur nicht wahr haben. Ich meine – was sagt das über mich aus? Was sagt es über mich aus, wenn nicht einmal meine eigene Mutter mich lieben kann?“ Seine Stimme brach.
Ich ertrug es nicht länger, einfach so neben ihm zu sitzen und dabei zuzusehen, wie er sich quälte. Ich ertrug es nicht länger, mit anzusehen, wie seine Schultern anfingen, zu zucken. Vorsichtig legte ich meinen Arm um ihn. Für einen Moment versteifte er sich völlig, aber dann gab etwas in ihm nach. Langsam wandte er sich zu mir um. Sein Gesicht war im Schatten der Laterne verborgen. Und bevor ich so recht wusste, was geschah, lag sein Kopf an meiner Schulter. Ich legte beide Arme um ihn und hielt ihn fest. Er zitterte. Er zitterte, und ich wusste, dass es nicht an der Kälte lag. Ich glaube nicht, dass er spürte, wie kalt es war. Sein abgehackter Atem strich warm über meinen Nacken, und ich wusste es. Spätestens, als ich die Nässe an meiner Schulter spürte, wusste ich, dass er mit aller Macht vor mir verbergen wollte, dass er weinte.
Auf einmal war da dieser übermächtige Drang, ihn zu beschützen. Auch wenn seine Schultern so breit waren, dass ich kaum um sie herumlangen konnte, wirkte er auf einmal so zerbrechlich. Im bleichen, unwirklichen Licht der Laterne sah sein Nacken so verletzlich aus. Sein dunkles Haar lag seidig und schwer in meiner Hand.
Und in diesem Moment begann ich, meine Mutter zu hassen. Ich hätte sie nie für etwas hassen können, das sie mir angetan hatte. Aber hierfür, hierfür konnte ich sie hassen. Für diesen Jungen, der da in meinen Armen lag, konnte ich sie hassen. Für diesen Jungen, der die Welt für mich bedeutete. Für diesen Jungen, den sie so schonungslos mit einer Wahrheit konfrontiert hatte, die er niemals hätte hören sollen. Niemand verdiente so etwas. Niemand. Und Flo am allerwenigsten.
„Schsch“, flüsterte ich in den zerzausten Schopf. „Schsch...“
Ich gab ihm die Zeit, die er brauchte. Ich wusste, dass die Zeit zum Reden kommen würde. Dass er jetzt noch nicht in der Lage war, darüber zu sprechen. Und so ließ ich ihn weinen, auch wenn es mir das Herz brach. Mühsam schluckte ich meine eignen Tränen herunter. Ich musste jetzt stark sein. Für ihn konnte ich stark sein.
Irgendwann atmete er tief ein und löste sich von mir. Kurz wandte er sich von mir ab und fuhr sich über das Gesicht, und ich nahm an, dass er die letzten Tränen von seinen Wangen wischte. Er wollte nicht, dass ich es sah, und ich tat ihm den Gefallen und richtete meinen Blick auf meine Hände, die sich in meinem Schoß ineinander verfingen. Es war auf einmal so kalt ohne ihn.
„Was hab ich denn nur falsch gemacht?“, murmelte er schließlich und sah mich aus großen, grünen Augen an. „Warum konnte sie nicht...warum...ich versteh das nicht...“
„Flo...du bist der liebenswerteste Mensch, den ich kenne. Und du weißt, dass es nicht an dir liegt.“
Er gab einen abwehrenden Laut von sich. Er war so weit weg. Er war wieder zu seinem üblichen Platz auf der Bank zurück gekehrt, und sein Blick verlor sich in der Dunkelheit zwischen den Bäumen. Ich spürte, wie er mir entglitt. Wie ihn die Nacht umfing.
„Hey, sieh mich an.“ Vorsichtig legte ich die Hände an seine Wangen, hob seinen Kopf, drehte ihn ein wenig ins Licht. Zwang ihn, mir in die Augen zu sehen. Ich musste ihn sehen, ich musste wissen, was in ihm vorging. „Hey, hey...Flo...es liegt nicht an dir. Es kann nicht an dir liegen. Und sie hasst dich nicht.“
Ich war mir fast sicher, dass es keine Lüge war. Die Wahrheit...die Wahrheit, wie ich sie sah, war noch ein ganzes Stück grausamer. Sie hasste ihn nicht. Sie empfand nichts für ihn. Er war ihr egal. Er bedeutete ihr nicht einmal genug, dass sie ihn hassen konnte. Aber das konnte ich ihm nicht sagen. Niemals. Es war so schon schlimm genug.
„Ich versteh das nicht. Warum? Warum nur? Was hab ich ihr je getan? Was hab ich falsch gemacht?“, flüsterte er.
„Nichts. Gar nichts. Flo, hör mir zu. Hör mir zu, okay?“
Er schluckte und nickte, und dann schob sich eine Hand zwischen die meinen. Ich verflocht meine Finger mit seinen, versuchte, ihm ein wenig Wärme abzugeben, auch wenn ich spürte, wie der Wind durch mich hindurchfuhr. Lange würden wir hier nicht mehr bleiben können, wenn wir nicht völlig auskühlen wollten, doch das war mir egal. Ich konnte so lange hier ausharren, wie er mich brauchte.
„Es hat nichts mit dir zu tun. Überleg doch mal, was sie gesagt hat. Du erinnerst sie an deinen Vater. Das ist der Grund. Sie hat dich nicht geliebt. Sie konnte es vielleicht auch nicht. Manchmal frage ich mich, ob die Frau überhaupt etwas empfinden kann. Manche Menschen sollten einfach keine Kinder in die Welt setzen!“
Ich sprach nicht aus, was mir auf der Zunge lag. Ich hielt mein bestes Argument zurück. Er war es wert, geliebt zu werden. Weil ich ihn liebte. Ich sagte es nicht, weil das etwas war, das nicht an diesen Ort gehörte. Es gab keinen Ort, an dem sich meine Gefühle für ihn richtig anfühlten. Ich sagte es nicht, weil er schon genug verloren hatte in dieser Nacht. Und weil ich fürchtete, dass ich ihn verlieren würde, wenn ich es in Worte fasste. Weil es dadurch realer wurde. Greifbarer.
Ich sagte es nicht, aber irgendwie kam es mir doch so vor, als ob er es trotzdem gehört hätte.
Eine lange Zeit dachte er schweigend nach. Dann spielte ein leichtes Lächeln um seine Mundwinkel, und das erste Mal in dieser langen Nacht spürte ich wieder so etwas wie Hoffnung in mir aufkeimen.
„Willst du damit sagen, dass du froh wärst, wenn sie uns nicht bekommen hätte?“, fragte er leise.
„Nein. Ich...nein. Ich bin froh, dass es uns gibt. Ich bin froh, dass es dich gibt.“
„Ich bin auch froh, dass es dich gibt, Krümel.“
Eine lange Weile saßen wir stumm nebeneinander.
„Weißt du, ich glaube, wir haben nicht denselben Vater“, stellte er irgendwann nachdenklich fest.
„Das glaube ich auch. Ehrlich gesagt, es hätte mich beinahe verwundert. Dass sie es so lange mit einem Mann ausgehalten hat.“
Seltsamerweise erschien uns beiden diese Erkenntnis zu diesem Zeitpunkt beinahe unwichtig.
Der Wind wurde stärker, ließ die braunen Blätter zu meinen Füßen einen raschelnden Tanz aufführen. Ich fröstelte. Die Kälte kroch an mir empor wie ein Tier mit Fangarmen.
„Dir ist kalt. Wir sollten gehen.“
Und ohne ein weiteres Wort legte er mir seine Jacke über die Schultern. Dann reichte er mir wieder seine Hand, und wir gingen gemeinsam nach Hause. Denn es war immer noch mein Zuhause. Es war mein Zuhause, weil Flo da war.
10. Küchenschlachten und Parkgespräche
Florian
Viel geschlafen hatte ich nicht. Wieder einmal. Um ehrlich zu sein, fragte ich mich, ob ich überhaupt geschlafen hatte. Vielleicht war ich hin und wieder ein wenig weggedöst. Erholsam war die Nacht jedenfalls nicht gewesen. Zu viele Gedanken, die mir durch den Kopf geschwirrt waren. Zu viele Worte, die ich nicht vergessen konnte. Zu viele Gefühle, die ich nicht einordnen konnte.
Fast war ich froh, als mich der Wecker aus diesem seltsamen Zustand zwischen Schlaf und Wachsein herausriss. Es wurde allmählich zur Gewohnheit. Und ich spürte schon jetzt, wie der Schlafmangel an mir zehrte. Ich war schlichtweg erschöpft. Übermüdet und erschöpft. Unwillkürlich fragte ich mich, wie lange ich das durchhalten würde. Und ob ich das wirklich herausfinden wollte. Irgendetwas musste geschehen. Irgendetwas musste sich ändern.
Es überraschte mich kaum, dass schon Licht in der Küche brannte. Obwohl Ria normalerweise immer länger schlief als ich. Aber natürlich waren die gestrigen Ereignisse nicht spurlos an ihr vorübergezogen.
Müde blinzelte sie mich aus verquollenen Augen an, als ich die Küchentüre hinter mir schloss. Ich fragte mich, ob sie genauso wenig Schlaf bekommen hatte wie ich. Ob sie sich wohl ebenso ruhelos im Bett gewälzt hatte und sich gefragt hatte, wann das alles hier endlich ein Ende nehmen würde. Aber ich fragte nicht. Es war offensichtlich. Und so ließ ich sie die wenigen Momente der Stille genießen.
Ich wusste nicht, wie lange sie hier schon alleine in der leeren Küche gesessen hatte, aber sie war nicht untätig geblieben. Der Tisch war gedeckt. Einzig und allein der Kaffee fehlte. Natürlich. Ich hatte es ihr verboten, die Maschine auch nur anzurühren. Weil Rias Kaffee entweder zu stark oder zu schwach, aber nie genau richtig war. Beinahe musste ich lächeln, als ich mich an die beinahe durchsichtige Brühe erinnerte, die sie mir einmal vorgesetzt hatte. Und spätestens nach dem kohlschwarzen Kaffee, in dem mein Löffel beinahe stehen geblieben war und nach dem meine Hände einen ganzen Tag lang nervös gezittert hatten, hatte sie endgültiges Kaffeemaschinenverbot von mir bekommen.
Schweigend füllte ich jetzt das dunkle Pulver in den Filter, maß mit der Kanne die richtige Menge Wasser ab. Mit jenem seltsamen, vertrauten schlürfenden Geräusch rann die braune Flüssigkeit in die Kaffeekanne. Mein Lebenselixir.
Ria hatte immer noch keinen Ton von sich gegeben, doch ich spürte ihre Blicke in meinem Rücken. Sie machte sich Sorgen. Ich wusste es. Nach der vergangenen Nacht sollte mich das nicht verwundern. Es tat mir leid. Sie hatte genug Probleme, sie sollte sich nicht auch noch mit den meinen belasten. Aber ich war auch froh, dass sie mir hinterher gelaufen war. Dass sie da gewesen war, als ich sie am Meisten gebraucht hatte. Sie war immer da, wenn ich sie brauchte. Ich verließ mich auf sie. Viel zu sehr.
„Guten Morgen, Krümel“, murmelte ich und stellte eine Tasse heißen Kaffees vor ihr ab.
„Guten Morgen“, meinte sie und warf mir dann einen fragenden Blick zu.
„Er ist heiß“, erklärte ich. „Er wird dich wärmen. Ich hab vier Löffel Zucker reingetan, also müsste er für dich genießbar sein.“
Sie trank eigentlich keinen Kaffee, sie mochte den bitteren Geschmack nicht. Aber für gewöhnlich aß sie auch nichts zum Frühstück, und doch würde sie es heute tun. Ich hatte nicht vor, Patrick herauszufordern. Nicht, wenn es um Dinge ging, die es nicht wert waren, darum zu kämpfen. Ich konnte mich mit einem erzwungenen Frühstück abfinden. Vielleicht würde es uns sogar ganz gut tun. Ria war zu dünn für ein Mädchen ihres Alters.
Und ich sah, dass sie fror. Sie hatte sich ihren dicksten Pullover übergestreift, dieses rote, flauschige Ungetüm, das sie nur dann aus dem Schrank holte, wenn es gar nicht anders ging, aber sie zitterte trotzdem am ganzen Leib. Es war verdammt kalt geworden über Nacht.
„Danke!“
Und wieder einer dieser Blicke, die ich nicht zu deuten wusste. Er war irgendwie...weich.
„Vielleicht können wir den Backofen anmachen...“, brachte sie zwischen bebenden Lippen heraus, als ich eben die Eier aus dem Kühlschrank fischte, um Patricks morgendliches Spiegelei zu braten.
„Gute Idee“, murmelte ich. Es würde zwar ein wenig schwierig werden, um die offene Backofentüre herum zu navigieren, aber das war immer noch besser, als sich in dem eiskalten Raum den Arsch abzufrieren.
Mit einem leisen Brummen sprang der Ventilator im Innern des Ofens an, und schon bald spürte ich den heißen Luftzug, der sich an mir vorbei im ganzen Raum ausbreitete und nach und nach die beißenden Kälte zumindest ein wenig zurückdrängte.
„Ah“, seufzte Ria erleichtert. „Ich glaube, ich taue langsam wieder auf.“
Doch der Luftstrom, der da unter mir aufstieg, wurde immer heißer und heißer, und es wurde zunehmend unangenehmer und umständlicher, der Hitze auszuweichen und trotzdem das Spiegelei im Blick zu behalten.
Als ich das leise Lachen hinter mir hörte, wäre ich beinahe über meine eigenen Füße gestolpert. Es klang so...frei, so unbeschwert, und es wollte so gar nicht mehr zu der Stimmung passen, die in letzter Zeit in dieser Wohnung herrschte. Vielleicht war es deswegen so besonders. Vielleicht glaubte ich deswegen für einen kurzen Moment, dass mein Herz ein wenig schneller schlug.
„Was!“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und warf Ria einen gespielt empörten Blick zu.
„Das sieht so lustig aus.Wie ein...Indianerhäuptling...bei einem...Regentanz. Wie du um den Ofen herumtanzt und dabei mit dem Pfannenwender durch die Luft wedelst!“
Sie hatte die Kaffeetasse auf dem Tisch abgestellt und hielt sich nun tatsächlich den Bauch vor Lachen.
„Lustig? Na warte, ich zeig dir, was lustig ist!“, drohte ich grinsend und begann, sie mit kleinen Stückchen der Eierschale zu bewerfen.
Sie war so hilflos. Natürlich eigneten sich die Stückchen der zerbrochenen Eierschale nicht wirklich als Wurfgeschosse, dazu waren sie viel zu leicht. Aber ein paar Stückchen landeten dann tatsächlich in Rias Haar. Und sie schaffte es nicht einmal, sie herauszufischen, weil sie so sehr mit Lachen beschäftigt war. Und da musste ich lachen, weil der Anblick einfach zu komisch war. Komisch...und irgendwie süß.
Ich mochte ihr Lachen. Ich hatte es schon immer gemocht. Und ich wollte es noch ein klein wenig länger hören. Für einen kurzen Moment vergaß ich die Welt um uns herum. Für einen kurzen Moment gab es nur mich und sie und dieses unbeschwerte Geplänkel, das einst so zu dieser Küche gehört hatte wie der Herd oder der Backofen.
„Gnade! Gnade!“, japste sie irgendwann und schnappte erschöpft nach Luft. Sofort ließ ich von ihr ab.
„Scheiße, Flo, wie soll ich das denn wieder aus den Haaren bekommen? Da klebt rohes Ei an der Schale! Und die Dusche ist kalt“, schimpfte sie vor sich hin. Aber sie lachte immer noch, als sie das sagte.
„Alles in Ordnung?“
Ich konnte einfach nicht anders, ich musste mich vergewissern.
„Ja“, seufzte sie und zupfte ein wenig hilflos an ihren Haaren herum. Noch immer spielte ein Lächeln um ihre Mundwinkel. Es brachte ihre Augen zum Strahlen, dieses Lächeln. Ich war so froh, dass ich es noch immer konnte. Dieses Lächeln aus ihr hervorzaubern. Selbst nach einem Tag wie dem gestrigen. Ein warmes Gefühl des Stolzes machte sich in meiner Brust breit, füllte mich aus. Ich war das gewesen. Ich hatte sie zum Lachen gebracht.
Ich weiß nicht, wie lange ich so neben dem Herd stand und sie einfach nur ansah.
„Flo! Das Ei!“, riss mich Rias Stimme aus meinen Gedanken.
Das Ei! Das hatte ich völlig vergessen.
„Verdammter Mist!“, fluchte ich leise vor mich hin und wandte mich wieder meiner eigentlichen Aufgabe zu.
Rasch ließ ich das fertige Ei aus der Pfanne auf den Teller gleiten, ehe es mir noch anbrennen konnte. Gott sei Dank war es noch nicht verkohlt, aber es war schon so dunkel geworden, dass es gerade noch genießbar war. Verdammt, in Zukunft würde ich ein bisschen besser aufpassen müssen.
Kaum hatte ich ihr den Rücken zugewandt, da spürte ich ihn auch schon. Den eisigen Luftzug, der mich mit einem Schlag wieder in die Realität zurückholte. Wir waren nicht mehr allein. Von einem Moment auf den anderen änderte sich die Stimmung im Raum. Die Kälte war nicht nur körperlich zu spüren.
„Scheiße, ist das kalt!“
Mit einem lauten Knall fiel die Küchentüre wieder ins Schloss, und ich zuckte erschrocken zusammen und hätte beinahe den Teller mit dem Ei fallen lassen. Verdammt, wusste dieser Mensch nicht, dass es so etwas wie Türklinken gab? Und dass man die nicht nur benutzte, um die Türe zu öffnen, sondern auch, um sie wieder zu schließen?
„Was ist denn mit der verdammten Heizung los, he?“, moserte Patrick, als er sich auf den Stuhl neben Ria fallen ließ. Das war mir schon gestern aufgefallen. Dass der Stuhl neben meiner Schwester offensichtlich so etwas wie sein angestammter Platz am Esstisch werden würde. Es gefiel mir nicht. Genauso wenig, wie mir gefiel, wie er sie nun musterte. So aufmerksam. Er war viel zu aufmerksam. Er sah zu viel.
Nicht, dass ich mich dabei wohl gefühlt hätte, wenn er neben mir gesessen hätte. Aber ich hätte es ertragen, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn ich dafür Ria seine Nähe ersparen konnte.
Mutter, die ebenfalls hereingekommen war, setzte sich mit verkniffenem Gesicht auf den Platz neben dem meinen und schwieg, so als würde sie das alles nicht betreffen. Na wunderbar. Blieb es also wieder an mir hängen. Hatte ich etwas anderes erwartet? Nicht wirklich. Dafür kannte ich die Frau schon zu lange.
„Das Öl ist aus. Nehme ich an“, versuchte ich mich an einer Erklärung, während ich den Teller mit dem Spiegelei vor Patrick abstellte. Der beäugte das Ei ein wenig misstrauisch, enthielt sich aber Gott sei Dank jedes weiteren Kommentars. Zumindest, was das Essen betraf.
„Soso, das nimmst du also an, he? Schlaues Bürschchen. Und es ist dir noch nicht in den Sinn gekommen, einfach neues zu bestellen?“
Es war müßig, darauf hinzuweisen, dass wir eigentlich die Kinder und sie die Erwachsenen waren. Dass es eigentlich ihre Aufgabe gewesen wäre, das mit der Heizung zu klären. Aber so war das ja in diesem Haushalt hier schon immer gewesen. Dass ich für alles zuständig war.
„Ich kann es nicht bezahlen. Das Öl“, gestand ich leise.
„Scheiße, dann rück doch gleich mit der Sprache raus, Junge! Weißt du, mich kotzt das wirklich an! Nur, weil du nicht schon gestern dein verdammtes Maul aufbekommen hast, muss ich heute kalt duschen!“
Diese eisgrauen Augen blitzten mich über den Tisch hinweg an, und auf einmal spürte ich, wie die lächerliche Panik sich mit kalten Finger meinen Nacken empor stahl. Mit war auf einmal so kalt. Eiskalt. Mein Atem beschleunigte sich, ich bekam einfach nicht genug Luft, konnte meine Lungen nicht füllen. Meine Hände begannen zu zittern, und ich verschränkte sie unter der Tischplatte ineinander, verzweifelt bemüht, mir nichts anmerken zu lassen. Ich spürte Rias Blick, wusste, dass sie mich besorgt betrachtete, wusste, dass später die Fragen kommen würden. Sie kannte mich zu gut.
Und dann war da eine warme Hand unter dem Tisch. Eine warme Hand, die sich sanft über die meinen legte.
„Flo kann doch auch nichts dafür! Es ist uns erst gestern Abend aufgefallen“, versuchte Ria, mich zu verteidigen. Eine unglaubliche Welle der Dankbarkeit stieg in mir auf. Ich drehte meine linke Hand, verflocht meine Finger fest mit den ihren.
„Halt dich verdammt noch mal da raus, Mädchen!“, brüllte Patrick, und sie zuckte erschrocken zurück. Auch mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich mühte mich, tief und langsam ein und aus zu atmen. Ich konnte nicht zulassen, dass sie meinetwegen alles abbekam. Ich konnte einfach nicht.
Ich warf Ria einen flehenden Blick zu. Hör auf ihn. Dieses eine Mal. Bitte. Ich kann das alleine. Lenk nicht noch seine Aufmerksamkeit auf dich, wenn er ohnehin schon aufgebracht ist.
Unsere Augen trafen sich für einen Moment. Und sie schien zu verstehen.
Die Luft schien zu knistern vor Anspannung.
„Ich werd noch heute bei der Hausverwaltung anrufen“, versprach ich rasch, um die Wogen zu glätten und hoffte verzweifelt, dass er nicht merkte, wie nahe ich daran war, die Fassung zu verlieren. Ich wollte ihm nicht noch mehr Macht verleihen, wusste, dass ich keine Schwäche zeigen durfte.
„Tu das!“, brummte Patrick, aber er klang schon ein wenig versöhnlicher.
Trotzdem hielt ich Rias Hand den Rest des Frühstücks lang fest in der meinen.
„Glaubst du, er wird die Rechnung zahlen?“, fragte Ria mich skeptisch, als ich die Wohnungstüre hinter uns zugezogen hatte.
Ich schüttelte ratlos den Kopf. Ich hatte keine Ahnung, dafür kannte ich den Typen einfach noch nicht gut genug.
„Er wird es müssen. Wir können es nicht, Ria. Es reicht einfach nicht.“
Heizöl kostete immer ein ganz schöne Stange Geld auf einmal. Geld, dass ich nicht mit ein paar Schichten im Café beschaffen konnte.
Unsere Schritte hallten durch das leere Treppenhaus, als wir Seite an Seite die Stufen hinunterrannten. Wir waren wieder einmal sehr spät dran, und dieses Mal war ich wirklich früh aufgestanden. Das gemeinsame Frühstück hatte sich einfach unerträgliche lange hingezogen, und ich hatte es nicht gewagt, vorzeitig den Tisch zu verlassen. Ich hatte mich so zerbrechlich gefühlt, und ich hatte befürchtet, bei einer weiteren Konfrontation einfach zusammenzubrechen. Meine Abwehr war sehr geschwächt seit dem gestrigen Abend. Ich hoffte nur, ich würde mich rechtzeitig wieder zusammenreißen können. Ich würde all meine Kraft brauchen, wollte ich am Abend erneut eine gemeinsame Mahlzeit im Kreis der Familie überstehen.
„Er ist so...unberechenbar.“ Ria schauderte und zog ihren dünnen Mantel noch ein wenig enger um sich, als sie hinter mir auf die Straße hinaustrat. Es war so verdammt kalt. Und wir waren sowieso schon durchgefroren. Aber ich wusste auch, dass es nicht nur die Kälte war, die ihr zu schaffen machte.
„Ja, das ist er“, stimmte ich ihr zu.
„Ich mag ihn nicht.“
Ich lachte leise. Es war ein bitteres Lachen. So völlig anders als das Lachen, das wir zuvor in der Küche geteilt hatten.
„Ich auch nicht. Glaub mir, mir gefällt das alles genauso wenig wie dir. Aber haben wir denn eine Wahl?“
Inzwischen waren wir an der Bushaltestelle angelangt. Der Bussteig war voller Menschen, und doch herrschte diese merkwürdige Stille, die es nur an morgendlich überfüllten Bussteigen gibt. Keiner sprach, jeder verkroch sich in seiner Winterjacke und versuchte, noch ein wenig Ruhe zu finden, ehe der Tag wirklich begann. Ich sah mich suchend um und fand dann tatsächlich noch einen kleinen, freien Platz am linken Rand des Wartehäuschens.
Wortlos folgte Ria mir, als ich mich durch das Gewühl schlängelte.
Im roten Schein der Vodafone-Werbung fanden wir dann für einen kurzen Moment so etwas wie Ruhe. Der Typ neben uns, in Schlabberjeans und Michelin-Jacke gekleidet, hatte sich Ohrstöpsel in die Ohren gesteckt und wippte im Takt des Basses mit dem Fuß, und sein Blick verlor sich irgendwo in der Ferne. Der würde nichts mitbekommen. Wir hatten inmitten dieser Menschen tatsächlich einen Ort gefunden, an dem wir relativ für uns sein konnten.
Wenigstens regnete es heute nicht. Dafür fuhr ein eisiger Wind durch die Häuserschluchten, drang durch sämtliche Kleidungsstücke hindurch. Auch die dünne Plastikwand des Wartehäuschens war da kein wirklicher Schutz. Fast schon glaubte ich, mich nicht mehr erinnern zu können, wie es sich anfühlte, wenn man nicht fror. Die Momente in der Küche waren einfach zu kurz gewesen.
„Was war das vorhin in der Küche?“, fragte Ria auf einmal, beinahe so, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
Ich hatte es gewusst! Ich hatte es gewusst, dass ihr das nicht entgangen war. Ich wollte dieses Gespräch nicht führen. Nicht hier, nicht jetzt. Vorzugsweise überhaupt nicht.
„Was?“, versuchte ich halbherzig, ihr auszuweichen, auch wenn ich ahnte, das mir das nicht gelingen würde. Ria konnte sehr hartnäckig sein, wenn sie ahnte, dass ich etwas vor ihr verbergen wollte.
„Du weißt genau, was ich meine.“ Dunkelblaue Augen bohrten sich in die meinen. Dieser Blick. Dieser verdammte Blick. Manchmal glaubte ich fast, sie konnte in mich hineinsehen. Bis auf den Grund meiner Seele.
„Was war da los?“
„Nichts.“
„Nein, Flo. Das war ganz bestimmt nicht Nichts!“, beharrte sie.
Ich schluckte. Meine Mauern waren noch immer dünn wie Glas. Ich fühlte, wie sie sich allmählich auflösten, wie sie in der kalten Luft verflogen. Mit aller Macht versuchte ich, mich in diesen Mantel aus Gleichgültig und Ruhe zu wickeln, aus dem Moment hier zu fliehen. Aber die Ruhe wollte einfach nicht kommen. Ich war hier, genau hier, und dieses sinnlose Gefühl der Panik legte sich wieder wie ein tonnenschweres Gewicht auf meine Brust. Tief sog ich die eisige Luft in meine Lungen, spürte den metallischen Geschmack auf meiner Zunge. Die anderen Leute waren auf einmal zu nahe, sie erdrückten mich, engten mich ein, hielten mich gefangen. Luft. Ich bekam nicht genug Luft! Fast glaubte ich schon, schwarze Sternchen vor meinen Augen flackern zu sehen. Ich zwang mich, langsamer zu atmen. Langsamer und tiefer. Ganz allmählich wich das Schwindelgefühl zurück und machte einer wohltuenden Leere Platz.
Rias Augen weiteten sich, und wieder sah sie mich so an. So besorgt. Doch hinter der Sorge war etwas anderes. Etwas Dunkleres. Zorn. Unbändiger Zorn, den sie mühsam zurückhielt. Meinetwegen.
„Können wir...können wir ein andermal darüber reden? Nicht gerade hier?“, presste ich mühsam hervor.
„Natürlich. Ist schon in Ordnung. Ich bin da, Flo. Allest ist gut.“ Ihr warme Hand stahl sich in meine Jackentasche, ihre Finger schlossen sich fest um die meinen. Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen, fühlte diesem Band nach, das uns zusammenhielt. Und ganz langsam spürte ich, wie ich wieder ruhiger wurde.
„Aber irgendwann?“, wisperte sie in die Stille hinein, die uns umgab wie eine Seifenblase. „Irgendwann erzählst du es mir?“
„Irgendwann“, gab ich mich seufzend geschlagen. Sie nickte nur. Ihre Augen ließen mich nicht mehr los. Als wollte sie sichergehen, dass ich nicht in mich zusammenbrach. Als wäre sie jederzeit bereit, mich aufzufangen. Sah man es mir so deutlich an? War ich so leicht zu durchschauen?
„Flo, ich will dich nicht...ich will dich nicht zu irgend etwas drängen. Aber ich...ich mach mir Sorgen um dich“, murmelte sie, als mein Atem allmählich wieder ruhiger ging.
Da war er wieder. Dieser seltsame, weiche Blick.
„Ich weiß“, murmelte ich und sah zu Boden. Zu den plattgetretenen, schwarzen Kaugummileichen, die dort ihr einsames Dasein zwischen Zigarettenstummeln und zerknitterten Bonbonpapierchen fristeten.
Ich wusste, dass sie nicht urteilen würde. Ich wusste, dass sie auf meiner Seite war, egal, was geschah. Dass sie nur helfen wollte. Aber es gab nun einmal Dinge, die wurden erst wirklich schlimm, wenn man sie aussprach.
Und vielleicht wollte ich selbst nicht ergründen, was da gewesen war. Ich hatte versucht, es fortzuschieben, nicht darüber nachzudenken. Es zu vergessen. Aber irgendwie war das mit dem Vergessen nicht so einfach, wie ich gedacht hatte.
***
Gerade, als wir uns einen gemeinsamen Platz an der Haltestange neben der Mitteltüre erkämpft hatten, spürte ich das summende Vibrieren meines Handys in meiner Hosentasche. Dieses uralte Ding, das ich Jens für ein paar Euro abgekauft hatte, als der sich das neuste I-Phone geleistet hatte. Im Gewühl war es nicht einfach, das Teil aus meiner Hosentasche zu fischen. Ich entschuldigte mich bei der jungen Frau hinter mir, die ich versehentlich mit meinem Ellbogen gestoßen hatte, und erntete nichts weiter als einen genervten Blick.
Mit grimmiger Miene las ich den Text, der eben angekommen war. Scheiße. Genau das, was mir heute noch gefehlt hatte.
„Ich muss heute noch ins Café, Kleine.“
„Heute? Aber...ich dachte, du hast noch ein paar Tage frei!“
„Das dachte ich auch. Aber so, wie es aussieht, ist Lisa krank geworden, und der Chef will, dass ich einspringe. Scheiße, ich brauch den Job. Und ein wenig Geld könnte nicht schaden – auch wegen dem Öl.“
Ich wusste, dass sie es nicht mochte, wenn ich arbeiten ging. Und sie wusste, dass sie mich nicht davon würde abhalten können.
Sie sah mich lange an. Ihre Augen waren auf einmal so traurig. Sie sah auf einmal so viel älter aus. Und da erst wurde mir bewusst, was es für sie bedeuten würde, wenn ich heute gleich nach der Schule arbeiten gehen würde. Sie wäre alleine. Sie wäre den ganzen Nachmittag mit Mutter in der Wohnung alleine. Sie würde all die Hausarbeiten, die eigentlich mir zugedacht gewesen waren, mit erledigen müssen. Und sie würde vielleicht sogar noch Ärger von Mutter oder Patrick kassieren, weil sie mir etwas abgenommen hatte.
„Wenn du...wenn du meinst, dass du mich brauchst...ich kann auch absagen. Ich meld mich krank oder so.“
Sie schüttelte nur den Kopf. Auf einmal sah sie so unendlich müde aus. So, wie ich mich fühlte. Es wurde einfach zu viel. Im Moment wurde alles irgendwie einfach zu viel.
„Es wird schon gehen“, murmelte sie. „Und ich weiß, dass wir das Geld brauchen. Glaub mir, ich weiß das. Auch wenn ich mir immer wünsche, es gäbe einen anderen Weg... Aber mach dir keine Sorgen um mich. Ich krieg das schon hin. Wäre ja nicht das erste Mal. Ich ruf bei der Hausverwaltung an, und dann kümmere ich mich um die Wäsche und um das Essen. Nur die Tür...die Tür wird auf dich warten müssen. Ich riskiere nicht noch einmal einen Krankenhausbesuch.“
Mit einem schwachen Lächeln sah sie zu mir auf. Es wirkte ein wenig angestrengt, und es erreichte ihre Augen nicht, aber es war ein Lächeln. Ein Lächeln nur für mich.
„Ich danke dir.“
„Gern geschehen. Sieh du nur zu, dass es nicht allzu spät wird.“
Da war sie wieder. Diese Kälte, die sich in meinem Brustkorb ausbreitete. Zuhause war nicht länger sicher.
„Ich bin da, bevor du ins Bett gehst. Ich schwör es dir. Ich lass dich nicht mit ihm alleine.“
Sie musste sehen, wie ernst es mir war. Sie wusste, dass ich niemals zulassen würde, dass ihr etwas zustieß.
„Danke!“, flüsterte sie. Und das erste Mal seit gestern Abend hatte ich wieder das Gefühl, etwas wert zu sein.
„Gern geschehen.“
***
Mit dem ersten Läuten hatte ich schon meine Sachen zusammengepackt und stürmte aus der Tür. Ich glaubte, die verwunderten Blicke meiner Klassenkameraden förmlich in meinem Rücken spüren zu können, doch es störte mich schon lange nicht mehr. Sollten sie doch von mir denken, was sie wollten. Es war mir egal. Sie waren mir egal. Ich hatte genug andere Sorgen. So lange sie mich in Ruhe ließen, war es mir gleich, ob sie mich für einen verrückten Spinner hielten. Und noch hatte niemand etwas verlauten lassen, das in eine gefährliche Richtung ging. Noch hielten sich die lästernden Bemerkungen in einem ungefährlichen Rahmen.
„Du bist spät dran“, stellte Ria fest, als ich schließlich keuchend vor ihrem Klassenzimmer zum Stehen kam. Sie lehnte an der Wand, ihren Schulrucksack bereits auf dem Rücken, der dünne Mantel gegen die Kälte draußen bis oben zugeknöpft. Wie lange sie wohl bereits auf mich wartete? Der Schulflur war bereits fast verlassen, das Getrappel unzähliger Schülerfüße nur noch eine ferne Erinnerung.
„Tut mir leid“, murmelte ich. „Die Kamp hat uns länger festgehalten. Wir schreiben nächste Woche eine Klausur, und ich musste noch die Lektüreliste von der Tafel abschreiben.“
„Hey, so hab ich das nicht gemeint. Das war kein Vorwurf.“
„Ich weiß.“
Sie nickte nur. Gemeinsam gingen wir auf den Ausgang zu. Auf einmal hatten wir es beide nicht mehr sonderlich eilig.
„Um Drei fängt meine Schicht an“ , dachte ich laut nach. „Es reicht gerade noch, um nach Hause zu fahren und Mittag zu essen.“
Ria biss sich auf die Lippe und warf mir einen kurzen Blick zu.
„Was?“ Ich konnte mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Sie wirkte auf einmal so unsicher, beinahe schüchtern. „Raus mit der Sprache.“
„Eigentlich hab ich gar keinen Hunger... Können wir noch kurz durch den Park gehen? Und du gehst dann von dort aus ins Café?“
Überrascht sah ich zu ihr hinunter. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Aber irgendwie gefiel mir die Aussicht, noch ein wenig Zeit mit ihr verbringen zu können. Noch ein paar ruhige Momente mit ihr zu genießen, ehe der Stress des Alltags uns wieder einholte. Er gefiel mir so sehr...aber konnten wir es wirklich wagen? Ich wollte nicht riskieren, dass sie meinetwegen Ärger bekam.
„Ich will nicht nach Hause“, versuchte sie, zu erklären, was keiner Erklärung bedurfte.
„Ich weiß. Ich auch nicht. Aber Patrick...“
„Das ist mir egal! Wenn ich mich beeile, schaff ich das schon alles, bevor er kommt.“
„Sicher? Aber Mutter...“
„Die wird nicht viel mitbekommen. Ich wette mir dir, dass sie sich schon die erste Flasche unter den Nagel gerissen hat. Sie wird nicht darauf achten, wann ich genau nach Hause komme.“
„Bist du dir sicher?“
Ich musste noch einmal nachfragen. Wir gingen damit ein Risiko ein. Ich konnte Patrick so schlecht einschätzen. Und nach den letzten beiden Tagen wurde mir auch Mutter immer fremder. Wer wusste schon, wie sie reagieren würde? Und wenn dann auch noch Alkohol im Spiel war...
„Ich komm mit ihr zurecht“, versicherte Ria mir hastig. „Wirklich. Ich bin schon ein großes Mädchen.“
„Wenn du meinst...“
Vielleicht war es ja auch besser, so wenig Zeit wie nur irgend möglich in der Wohnung zu verbringen. Und es war einfach zu verlockend. Die Vorstellung, ein paar freie Minuten hier zu verbringen. Ein wenig Abstand zu bekommen. Für ein paar kostbare Augenblicke einfach nur wir selbst sein zu dürfen. Das war so besonders an Ria. Bei ihr konnte ich ich selbst sein.
Der Stadtpark war völlig verlassen. Eigentlich wunderte mich das, denn es war ein recht schöner Herbsttag. Durch das gelb-rot verfärbte Blätterdach fielen vereinzelte, goldene Strahlen, die alles in ein sehr weiches, warmes Licht tauchten. Aber natürlich war es auch sehr kalt. Vielleicht war das der Grund, aus dem wir heute hier alleine waren. Die Kälte, und der Wind, der die Luft noch eisiger erschienen ließ, als sie es tatsächlich war.
Schweigend gingen wir nebeneinander auf dem geschotterten Pfad entlang. Sorgsam vermied ich dabei jenen Teil des Parkes, in dem unsere Bank stand. Ich wollte ein wenig Frieden finden, nicht an die gestrige Nacht erinnert werden.
„Dort drüben, unter der Eiche“, meinte Ria und nickte mit dem Kopf in die Richtung eines Baumes, der einsam mitten auf der Wiese stand. „Dort sieht es gemütlich aus.“
Ich konnte ihr nur zustimmen. Die Eiche war schon sehr alt und von Wind und Wetter gebeugt, ihre Zweige waren schwer und knorrig und reichten teilweise bis auf den Boden hinab. Wie dicke Schlangen wanden sie sich auf dem Rasen und bildeten einen natürlichen Unterstand, der von außen nur schlecht eingesehen werden konnte. Irgendwie gefiel mir der Gedanke, dort im Schutz der Äste und des noch immer recht dichten Blattwerkes mit Ria alleine zu sein. Sicher vor neugierigen Augen und Ohren ein wenig Ruhe zu finden.
„Wo war eigentlich Laura?“
Ich hatte mich auf einen der niederen Äste gesetzt. Ria nutzte ihren Schulranzen als Sitzunterlage und hatte sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm gelehnt. Ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen drangen durch die Blätter hindurch und malten ein verzweigtes Muster aus Licht und Schatten auf ihr Gesicht.
Gerade erst war mir aufgefallen, dass Ria alleine auf mich gewartet hatte. Normalerweise kam das selten vor. Normalerweise war das Mädchen immer an ihrer Seite und ging erst nach Hause, wenn ich da war. Es war ein stillschweigender Pakt zwischen uns beiden, dass wir Ria nicht alleine ließen, oder bislang war es zumindest immer so gewesen.
„Ach, die hat jetzt einen Freund. Paul aus der Parallelklasse. Sie wollte sich heute nach der Schule mit ihm treffen, deswegen hatte sie es so eilig“, erklärte Ria. Sie klang ein wenig traurig.
„Mhm.“ Ich wusste nicht, was ich sonst darauf hätte erwidern sollen. Das war der Lauf der Dinge. Wir wurden erwachsen, alles würde sich irgendwann einmal ändern. Freundschaften hielten nicht unbedingt ewig stand. Und Laura war keine besonders enge Freundin gewesen. Aber ich hatte sie gemocht. Sie war für Ria da gewesen. Sie hatte auf meine Schwester aufgepasst.
Wie schnell das gehen konnte. Das mit dem Verlieben. Irgendwie machte mir das Angst.
Eine lange Zeit saßen wir schweigend da. Es war schon weit nach Mittag, und allmählich machte sich der erste Hunger bemerkbar. Es war kein wirklich schlimmer Hunger. Im Laufe der Jahre hatte ich gelernt, zwischen einem vagen Hungergefühl und richtigem Hunger zu unterscheiden. Das hier war gar nichts. Aber ich wusste auch, dass ich bis zum späten Abend nichts mehr zwischen die Zähne bekommen würde. Also fischte ich meinen Schulrucksack aus dem Gras unter mir und wühlte mich durch das Chaos aus Heften und Büchern. Irgendwo auf dem Grund fand ich dann tatsächlich noch einen Riegel.
„Möchtest du auch etwas?“, bot ich Ria an, als ich die Silberfolie entfernt hatte.
„Nein.“ Beinahe abwesend schüttelte sie den Kopf.
Eine kleine Weile lauschten wir wieder der Stille, während ich langsam und bedächtig kaute.
„Hattest du schon einmal eine Freundin?“
Ich verschluckte mich beinahe an meinem Schokoriegel.
„Was?“ Ich warf ihr einen ungläubigen Blick zu. „Wann hätte ich bitteschön für so etwas Zeit finden sollen? Denkst du nicht, dass du das mitbekommen hättest, wenn ich eine Freundin gehabt hätte?“
„Ich weiß nicht...es war nur so ein Gedanke...du bist schon siebzehn...“ Sie schlug die Augen nieder, pflückte einen Grashalm und drehte ihn unruhig zwischen den Fingern.
„Und? Du bist fast sechzehn, und du hattest auch noch nie einen Freund. Oder?“ Eigentlich hatte ich gedacht, dass wir in jeder Hinsicht immer ehrlich zueinander gewesen waren. Auf einmal war ich mir da irgendwie nicht mehr so sicher.
„Nein...“, murmelte sie leise. „Irgendwie...hatte ich auch nie das Bedürfnis.“
„Nicht?“
Träumte nicht jedes Mädchen davon, ihren ganz persönlichen Traumprinzen zu treffen? War es in ihrem Alter nicht normal, irgendwelchen Jungs hinterher zu schmachten?
„Warst du nie neugierig?“, hakte ich nach.
„Doch...schon...“, gab sie zögernd zu. Sie warf mir einen seltsamen Blick zu.
„Aber?“, drang ich weiter in sie. Warum war mir das auf einmal so wichtig?
„Aber...es hat sich...nicht ergeben. Ich hatte...wenig Zeit...und...ich denke so oder so nicht, dass sich jemand für mich interessiert hätte. Du weißt ja...an mir ist nichts dran...und nach dem Ereignis mit Tom...hatte ich auch nie wieder das Bedürfnis...die Erfahrung zu wiederholen.“ Sie zerriss den Halm zwischen ihren Fingern in winzige Stückchen. Ihre Bewegungen waren so abgehackt. So steif.
Tom! Oh Gott...Tom!
Es kostete mich viel, aber ich schaffte es tatsächlich, die aufkeimende Wut zu unterdrücken. Sie brauchte mich jetzt. Und ich konnte ihr nicht helfen, wenn ich wütend war.
Mit einem Satz war ich von meinem Ast heruntergesprungen. Vorsichtig ging ich auf sie zu, setzte mich neben sie ins Gras. Mit sanfter Gewalt löste ich ihren Klammergriff und entwand ihr die Reste des Grashalms. Dann nahm ich ihre Hände in die meinen. Sie waren so kalt, ihre Hände. So kalt und so klein in den meinen. So zerbrechlich.
„Oh, Ria. Glaubst du das immer noch? Ich weiß nicht, warum er das gesagt oder getan hat...aber es stimmt nicht. Du bist schön. Du bist wunderschön, und jeder, der etwas anderes behauptet, hat keine Augen im Kopf.“
Damit hatte ich ihre volle Aufmerksamkeit. Einen langen Moment starrten wir uns einfach nur an. Immer wieder setzte sie zum Sprechen an, öffnete den Mund, und schloss ihn dann wieder. Vielleicht war es auch besser, wenn sie nichts darauf erwiderte. Vielleicht war es besser, wenn wir beide vergaßen, dass diese Worte jemals gesagt worden waren.
Ich war selbst überrascht über das, das mir da entwischt war. Aber es stimmte. Sie war wunderschön. Sie war so schön, dass es wehtat.
Und alleine der Gedanke, dass dieser Kerl es gewagt hatte, sie gegen ihren Willen anzufassen, und dass sie noch heute so darunter litt – dieser Gedanke schmerzte, wie noch nie etwas geschmerzt hatte.
„Es tut mir leid“, fügte ich irgendwann leise an. „Es tut mir leid, das mit Tom, dass ich nicht rechtzeitig da war. Ich hatte dir versprochen, auf dich aufzupassen, und dann war ich nicht da, als du mich am Meisten gebraucht hast.“
„Es war nicht deine Schuld“, flüsterte sie. „Warum nimmst du immer die Schuld für Dinge auf dich, für die du nichts kannst?“
„Ich war nicht da“, beharrte ich.
„Du kannst nicht immer da sein.“ Endlich hob sie den Blick von unseren Händen. Im Licht der tief stehenden Sonne waren ihre Augen so blau wie der Himmel.
„Ich kann es versuchen.“
Es war ein Versprechen.
11. Die Freiheit des menschlichen Willens
Wer an die Freiheit des menschlichen Willens glaubt, hat nie geliebt und nie gehasst.
(Marie von Ebner-Eschenbach)
Anna-Maria
Natürlich war die Zeit im Park zu kurz. Ich weiß nicht, wie lange wir nebeneinander unter der Eiche saßen, ich auf meinem Schulranzen und Flo im Gras neben mir. Ich war mir sicher, dass ihm kalt war. Der Boden war eisig. Aber er blieb dort. Irgendwann hatte er sich neben mir an den Stamm gelehnt. Meine rechte Hand hielt er noch immer fest in der seinen.
Nur ein paar Sonnenstrahlen drangen durch das Blätterdach zu uns hindurch, und sie wärmten nicht. Dazu stand die Sonne schon zu tief. Und auch wenn es unter der Eiche ein wenig windgeschützt war, fror ich doch in meinem dünnen Mantel.
Aber ich sagte nichts. Ich sagte nichts, weil ich wusste, dass Flo sonst darauf bestanden hätte, dass ich nach Hause ging. Ohne ihn. Ich hätte noch viel mehr ertragen als die Kälte, um bei ihm sein zu können. Es war so friedlich, dort unter der Eiche. So friedlich, so still. Ich war zufrieden mit der Welt.
Aber natürlich konnte diese eine, gestohlene Stunde nicht ewig dauern. Und irgendwie war es immer so, dass die Zeit viel schneller verging, wenn man versuchte, die Momente mit aller Macht festzuhalten. Wie Sand, den man versucht, in der Hand zu halten. Je fester man die Finger zusammenpresst, desto schneller rinnt er durch die kleinen Zwischenräume hindurch.
Was die ruhigen Momente mit Flo betraf, drückte ich immer zu fest.
„Ich sollte dann gehen“, meinte er leise.
Ich brachte nicht mehr als ein stummes Nicken zustande. Ich wollte nicht, dass er ging. Ich wollte nicht alleine nach Hause. Aber vor allem anderen wollte ich nicht, dass Flo ins Café ging. Er wirkte heute so viel verletzlicher. So viel zerbrechlicher.
Er war nicht gern unter Leuten. Das hatte ich schon immer gespürt. Er hatte gerne ein wenig Platz für sich. Er mochte es nicht, im Gedränge zu stehen. Jeder Mensch hat diesen zutiefst persönlichen Raum von vielleicht einem halben Meter. Jeder fühlt sich unwohl, wenn ihm ein anderer zu nahe kommt. Doch bei Flo war das irgendwie etwas anderes. Er schrak manchmal regelrecht vor anderen zurück. Nicht vor mir. Meine Nähe schien ihn noch nie gestört zu haben. Aber bei Fremden – und insbesondere bei Männern – war das irgendwie etwas anderes.
Heute früh in der Küche war er regelrecht vor Patrick zurückgefahren. Ich verstand es bis zu einem gewissen Grad, ich konnte den Typen auch nicht leiden. Aber bei Flo – bei Flo war es irgendwie mehr als das. Er hatte regelrechte Panik bekommen. Ich hatte es gesehen – wie er immer wieder tief eingeatmet hatte. Wie sich sein ganzer Körper versteift hatte. Wie er instinktiv den Kopf ein wenig eingezogen hatte.
Ich machte mir Sorgen um ihn.
Schweigend gingen wir nebeneinander zum Ende des Parkes.
„Bis heute Abend, Krümel.“
„Bis dann.“
Einen Moment sahen wir uns schweigend an. Ich konnte in seinen Augen nicht lesen. Er hatte mich ausgeschlossen. Wieder einmal.
Fast dachte ich schon, dass er sich einfach umwenden und gehen würde, als ihm plötzlich ein Gedanke zu kommen schien.
Er fischte einen Gegenstand aus seiner Hosentasche heraus und reichte ihn mir. Verwundert nahm ich das Handy entgegen.
„Brauchst du das nicht selbst?“
„Nicht, wenn ich arbeite. Und...ich würde mich irgendwie wohler fühlen, wenn du es hast. Die Nummer vom Café ist eingespeichert. Also, wenn etwas sein sollte, kannst du mich dort erreichen.“
„Aber...“, protestierte ich. Er hatte mir von Anfang an klar gemacht, dass Jobs in der Gastronomie zwar recht leicht zu bekommen sind, dass man sie aber ebenso schnell wieder verlieren kann. Dass es nicht gut war, wenn ich ihn während der Arbeit anrief, weil er deswegen Probleme bekommen konnte, wenn der Chef da war.
„Nichts aber. Bitte, Ria. Ich habe keine ruhige Minute, wenn ich nicht weiß, dass es dir gut geht.“
Und für einen Moment waren die grünen Augen wieder so groß und offen. So warm. Und so verdammt ernst. Sie drangen in mich.
„Versprichst du es mir? Versprichst du mir, dass du sofort anrufst, wenn etwas sein sollte?“
Ich nickte nur. Irgendwie hatte ich auf einmal diesen Kloß im Hals.
Das schwarze Handy lag seltsam schwer in meiner Hand. Es war noch immer warm.
Ich sah ihm lange hinterher, als er die befahrene Hauptstraße in Richtung Innenstadt entlang ging. Eine einsame Gestalt auf dem breiten Bürgersteig, die Schultern gegen den eisigen Wind hochgezogen, die Hände in den nun leeren Hosentaschen vergraben.
***
Es war ein langer Weg nach Hause. Vielleicht kam es mir aber auch nur so vor. Vielleicht lag es daran, dass meine Gedanken immer wieder zu Flo abschweiften. Was er jetzt wohl tat? Wie es ihm jetzt wohl ging?
Vielleicht waren es aber auch die Gedanken daran, was mich zu Hause erwarten würde. Ich hatte Flo angelogen. Ich war mir keinesfalls sicher, dass ich mit Mutter zurechtkommen würde. Sie war unberechenbar geworden. Ich konnte sie nicht länger einschätzen.
Immer wieder schloss ich meine Hand fest um das Handy, fuhr mit meinen Fingerspitzen die Form der Tasten nach. Irgendwie fühlte ich mich ein klein wenig sicherer. Ich konnte ihn anrufen. Ich konnte ihn jederzeit anrufen, wenn etwas sein sollte.
Die Wohnung war seltsam still. Es brannte kein Licht, obwohl es draußen schon langsam zu dämmern begann.
„Mutter?“, rief ich, als ich den Schlüssel an den Haken neben der Türe hängte.
Keine Antwort.
Neben dem Telefon lag ein gelber Klebezettel mit einer Einkaufsliste. Ich kannte die Handschrift nicht. Die Buchstaben waren groß und geschwungen. Sie wirkten irgendwie sehr selbstbewusst. Und neben dem Klebezettel lag ein Zwanzig-Euro-Schein. Na, wenn das mal kein Wink mit dem Zaunpfahl war. Es war zu optimistisch gewesen, anzunehmen, dass von nun an Mutter einkaufen würden. Aber es lag Geld dort. Und ich wusste, dass ich die zwanzig Euro sinnvoller anlegen würde, als es Mutter getan hätte.
„Mutter!“, rief ich erneut in die Stille der dunklen Wohnung hinein. Irgendwie fand ich es ein wenig unheimlich. Nichts regte sich. Aber ihr Mantel hing noch immer an der Garderobe, ihre Schuhe standen darunter, und ihr Schlüssel war noch immer an seinem Platz am Schlüsselbrett. Sie musste hier sein!
Seufzend klopfte ich an die geschlossene Schlafzimmertüre. Wieder keine Antwort. Nicht, dass ich etwas anderes erwartet hätte.
Vorsichtig drückte ich die Klinke herunter und öffnete die Türe einen Spalt breit.
„Mutter?“
„Was...“ Ein Schatten regte sich im Bett. Die Vorhänge waren noch immer fest zugezogen, es herrschte ein düsteres Dämmerlicht. Die Luft war so stickig, das man sie hätte schneiden können. Es roch nach Schlaf und abgestandenem Alkohol.
„Ria! Was soll das! Lass mich schlafen!“, flüsterte eine heisere Stimme, die ich kaum wiedererkannte.
„Es ist schon Nachmittag, Mutter! Wolltest du nicht einkaufen gehen?“
„Warum soll ich immer alles machen? Warum bleibt immer alles an mir hängen? Siehst du nicht, dass es mir nicht gut geht? Lass mich...geh doch selbst einkaufen, wenn es dir so wichtig ist! Und jetzt mach die Tür zu!“, murrte sie.
Und da sah ich sie. Die leere Schnapsflasche neben dem Bett. Schweigend wandte ich mich wieder um und schloss die Türe. Es hatte keinen Sinn, mit ihr zu diskutieren. Wenigstens wusste ich jetzt, dass sie noch lebte.
Als ich in die Küche trat, hielt ich für einen kurzen Moment verblüfft inne. Da lag ein riesiger Berg Wäsche neben der Waschmaschine. Wäsche, die ganz eindeutig nicht die unsere war. Patricks Wäsche. Wie lange hatte der Mann nicht mehr gewaschen? Und wie, zum Teufel, sollte ich das so schnell wegbekommen? Wir hatten nur den kleinen Wäscheständer, auf den gerade mal eine Maschine voll Kleidung passte.
Kopfschüttelnd lud ich eine Ladung Kleider in die Maschine, schüttete das Pulver hinterher und betete, dass sie mich diesmal nicht im Stich ließ. Das Ding war die Urgroßmutter aller Waschmaschinen, ein Erbstück aus Omas Haushalt. Der Deckel hatte sich nicht mehr schließen lassen, und so hatte Flo in stundenlanger Arbeit einen Verschluss improvisiert. Immer mal wieder blieb das Gerät mitten im Waschgang stehen, und man musste ihm einen Schlag gegen die Seitenwand geben, damit es weiterlief. Aber ansonsten hatte sie uns bislang treue Dienste erwiesen.
Mit dem vertrauten, sirrenden Geräusch fing die Maschine an zu waschen, und ich nahm den Einkaufszettel genauer in Augenschein.
Es war eine ganz schön lange Liste.
***
Natürlich war es so gut wie unmöglich, einkaufen zu gehen und dann auch noch mit der ganzen Hausarbeit fertig zu werden, ehe Patrick nach Hause kam. Ich hatte das gewusst. Ich hatte es von Anfang an gewusst, und es war mir egal gewesen. Mit Flo an meiner Seite wäre alles viel schneller gegangen. Vielleicht wäre dann auch meine Angst nicht so groß gewesen.
In Windeseile versuchte ich noch, den Flur zu wischen, ehe ich das leise Klacken aus der Küche vernahm, das ankündigte, dass die Maschine durchgelaufen war.
Adrenalin durchflutete meinen Körper, als ich hastig den Wäscheständer aufstellte und dabei natürlich eines von Flos T-Shirts auf den Boden fallen ließ. Gott sei Dank war es nur Flos Shirt uns keines von Patrick.
Kaum war die Wäsche versorgt, wirbelte ich im Eiltempo durch die Küche, um noch rechtzeitig mit dem Essen fertig zu werden.
Als ich das Geräusch des Schlüssels hörte, der sich im Schloss der Wohnungstüre drehte, wurde mir ein wenig übel. Fest umklammerte ich das Handy in meiner Hosentasche. Ich lauschte auf die lauten Schritte, die durch den Flur stapften. Als die Küchentüre mit einem Ruck geöffnet wurde, glaubte ich für einen kurzen Moment, mein Herz wäre stehen geblieben. Aber dann pochte es heftig weiter in meiner Brust, jeder Schlag ein kleiner, schmerzhafter Stich.
„Ist meine Wäsche fertig?“, war Patricks erste Frage, als er sich auf seinen Stuhl fallen ließ und nach dem Topf Spaghetti griff, der auf dem Tisch stand.
Ich rührte ein letztes Mal in der Soße und schaltete dann den Herd aus. Gott sei Dank war das Essen fertig. Ich hatte alles hinbekommen. Auch ohne Flos Hilfe hatte ich wie durch ein Wunder irgendwie alles hinbekommen. Ich war ein klein wenig stolz auf mich. Aber ich hatte mich auch noch nie zuvor so erschöpft gefühlt. So am Ende meiner Kräfte. Und mir war so kalt. Mir war so verdammt kalt...
Die Heizung! Scheiße!
Ich hatte vergessen, bei der Hausverwaltung anzurufen. In der Hektik war es mir schlichtweg entfallen. Mein Magen zog sich krampfartig zusammen. Meine Hände begannen, ein ganz klein wenig zu zittern. Ich mühte mich, mir nichts anmerken zu lassen. Hoffentlich fiel es ihm nicht auf. Hoffentlich fragte er nicht nach!
Ich stellte den Topf mit der Soße ebenfalls auf dem Tisch ab, setzte mich auf meinen Stuhl und sah auf meine Hände hinab, die sich in meinem Schoß ineinander verflochten hatten. Sie waren so kalt. So kalt, und irgendwie so klein. Ich wünschte mir Flo herbei. Ich wünschte mir so sehr, er wäre jetzt hier. Niemals hatte ich mich so alleine gefühlt wie in diesem Moment, als ich mit Patrick in der Küche war.
Er sah mich so abwartend an. So ungeduldig. Und erst da fiel es mir auf. Er hatte mir eine Frage gestellt. Er hatte mich nach der Wäsche gefragt. Das war eine Frage, die ich beantworten konnte.
„Ich habe einen Teil gewaschen, ja. Aber trocken ist sie noch nicht...“
„Warum hast du sie denn nicht in den Trockner getan? War das ein Handgriff zu viel für dich?“
„Wir haben keinen Trockner.“
„Nicht?“
„Siehst du denn hier einen?“, war ich versucht, zu erwidern, aber nach einen Blick in sein Gesicht verbiss ich mir den Kommentar. Flo hatte recht gehabt. Es machte uns das Leben nur schwerer, wenn wir ihn unnötig reizten. Und so schüttelte ich einfach nur den Kopf.
„Dann besorg einen! Herrgott, was seid ihr alle schwer von Begriff!“
Er rührte heftig in seinem Teller, so dass die Soße über den ganzen Tisch spritzte. Er schien es nicht einmal zu bemerken.
„Wo ist überhaupt deine Mutter? Und der Junge? Warum sitzen wir hier alleine am Tisch? Habe ich mich gestern nicht etwa deutlich genug ausgedrückt?“
„Mutter ist in ihrem Zimmer...“, setzte ich an.
„Sag bloß, sie ist den ganzen Tag nicht herausgekommen! Sag bloß, sie hat den ganzen Tag faul im Bett gelegen!“
Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ich wusste nicht, was ich dazu hätte sagen sollen. Es stimmte. Im Grunde stimmte es doch.
Patrick schien das Antwort genug zu sein. Mit einem leisen Fluch sprang er vom Tisch auf und rauschte aus der Küche.
Als das Geschrei im Schlafzimmer anfing, hielt ich mir die Ohren zu wie ein Kleinkind. Ich wollte das nicht hören. Ich hatte genug.
Irgendwann kam Patrick dann mit meiner Mutter im Schlepptau in die Küche zurück. Schweigend aßen wir die inzwischen beinahe kalten Nudeln. Mutter sah müde aus. Sehr müde und sehr bleich. Irgendwie wirkte sie älter und zerbrechlicher. Fast hätte ich ein wenig Mitleid mit ihr gehabt. Ja, doch, irgendwie hatte ich sogar ein wenig Mitleid mit ihr. Auch wenn ich es nicht verstand. Sie verdiente es nicht. Nicht, nachdem sie Flo so behandelt hatte. Nicht, nachdem sie uns erst in diese Situation gebracht hatte. Sie hatte Patrick in unser Leben gebracht. Sie war schuld!
Aber irgendwie konnte ich sie nicht hassen. Ich konnte sie nicht hassen. Vielleicht ist es einfach nicht möglich, einen Menschen zu hassen, der so elend aussieht. Vielleicht lag es daran, dass sie immer noch meine Mutter war. Nach allem, was passiert war, war sie noch immer meine Mutter.
Es wurde kein Wort gesprochen. Und irgendwie war das noch schlimmer. Irgendwie war diese drückende Stille noch schlimmer als des Geschrei vorhin. Am liebsten hätte ich mir wieder die Ohren zugehalten, um diese schreckliche, dröhnende Stille nicht hören zu müssen.
Patrick fragte nicht nach Flo. Mutter hatte sich so oder so nie wirklich für ihn interessiert. Aber ich bemerkte die Blicke. Ich bemerkte die wütenden Blicke, die er immer wieder in Richtung des leeren Stuhles mir gegenüber warf.
***
Nachdem ich den Tisch wieder abgeräumt hatte, verkroch ich in meinem Zimmer. Ich gab vor, Hausaufgaben machen zu müssen, und Patrick nickte nur abwesend. Gott sei Dank, dachte ich, als ich meine Zimmertüre hinter mir schloss. Gott sei Dank war er immer noch ein wenig zu beschäftigt damit, auf meine Mutter wütend zu sein. Vielleicht würde er sich an ihr abreagieren. Vielleicht würde es Flo dann heute Abend ein wenig leichter haben. Es war ein schrecklicher Gedanke, irgendwie. Aber ich konnte ihn nicht zurücknehmen.
Natürlich war es eine vergebliche Hoffnung. Natürlich wurde Flo nicht verschont.
Den ganzen Abend hatte ich es nicht gewagt, auch nur ein wenig Musik zu hören. Ich lauschte. Ich lauschte auf jedes Geräusch im Flur. Ich wollte da sein, wenn Flo nach Hause kam. Ich wollte bei ihm sein, wenn er mich brauchte.
Als ich hörte, wie die Wohnungstüre ins Schloss fiel, sprang ich auf und verteilte den Inhalt meines Federmäppchens über dem Fußboden. Ich nahm es gar nicht richtig wahr. Mit einem Satz war ich an der Tür, schlüpfte auf Zehenspitzen heraus.
Patrick hatte sich in voller Größe vor Flo aufgebaut, die Hände in die Hüften gestemmt. Selbst von hinten sah er sehr furchteinflößend aus. Er war wirklich verdammt groß. Mein Herz schlug schon wieder viel zu schnell.
Flo tat mir so leid. Ich wusste doch, wie fertig er jedes Mal war, wenn er vom Café nach Hause kam. Ich wünschte, ich hätte ihm helfen können. Ich wünschte es so sehr.
„Wo warst du, Junge?“, verlangte Patrick zu wissen. Seine Stimme war so tief.
„Arbeiten“, gab Flo einsilbig zurück und zog seine Schuhe aus.
Ich sah, wie sich Patricks Schultern versteiften, und ich erinnerte mich an die wütenden Blicke beim Abendessen.
„Flo arbeitet im Café am Marktplatz.“
Patrick fuhr zu mir herum. Ich hatte Recht gehabt. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt. Da war so viel Zorn in ihm. Ich glaubte beinahe, ihn spüren zu können, diesen Zorn. Wie ein bitterer, metallischer Geschmack lag er auf auf meiner Zunge.
„Danke, Mädchen, aber ich habe ihn gefragt, oder etwa nícht? Halt dich da verdammt nochmal raus! Ich will es von ihm hören.“
„Ich arbeite im Café“, sagte Flo hastig. Er wollte Patricks Aufmerksamkeit wieder auf sich lenken. Selbst jetzt versuchte er, mich zu schützen.
Einen Moment herrschte ein gefährliche, angespannte Stille in dem engen Flur.
Und dann begann Patrick zu lachen. Es war ein dröhnendes, polterndes Lachen. Es wirkte ebenso einschüchternd und hart wie der Mann selbst.
„Kellner! Der Junge ist Kellner! Nein, so etwas. Weißt du, das passt zu dir. Wer kein richtiger Mann ist, sollte sich auch nicht an Männerjobs versuchen. Kellner! Ja, wirklich, das passt. Ein Weiberberuf! Herrlich!“
So abrupt, wie das Lachen begonnen hatte, endete es auch wieder. Als habe jemand einen Schalter betätigt.
„Wage es nicht noch einmal, wegen dieses...Jobs...deine häuslichen Pflichten zu vernachlässigen!“
Flo nickte nur. Es tat weh, ihn so zu sehen. Es tat so weh. Er wirkte so verloren hinter dem Rücken des Riesen. So klein.
„Gib mir das Geld“, meinte Patrick dann und streckte die Hand aus, die offene Handfläche zeigte nach oben.
„Das Geld?“
„Das Geld! Herrgott, bist du schwer von Begriff oder was? Das Geld! Deinen Lohn! Wenn ich euch schon allesamt durchfüttere, dann finde ich es nur gerecht, wenn ihr euren Teil dazu beisteuert!“
Einen Moment herrschte geschockte Stille. Ich konnte es nicht glauben. Ich konnte es nicht glauben, dass das tatsächlich geschah.
Irgendwann löste sich Flo aus seiner Starre. Mit abrupten, hölzernen Bewegungen griff er in seine Hosentasche. Und mit wachsendem Entsetzten sah ich zu, wie er ein kleines Bündel Scheine in Patricks Hand zählte.
„Hey, Kleines“, murmelte Flo, als Patrick im Wohnzimmer verschwunden war.
Ich brachte kein Wort heraus. Ich konnte noch immer nicht so recht fassen, was da eben geschehen war.
„Hey. Ria. Sieh mich an.“
Er hatte seine Jacke an die Garderobe gehängt und stand jetzt dicht vor mir. Ich hob den Blick von meinen kalten Fingern, die sich wieder ineinander verschlungen hatten.
„Ist alles in Ordnung, Kleines?“ Da war so viel Sorge in seinen Augen. Irgendetwas in mir gab nach. Es war zu viel gewesen. Es war einfach zu viel gewesen. Und wir waren alleine hier auf dem Flur. Wir waren alleine, und mir war so kalt.
Ich schlang meine Arme um ihn. Für einen winzigen Moment erstarrte er. Doch dann spürte ich, wie sich seine Arme ebenfalls um meine Schultern legten. Er hielt mich erstaunlich fest. Er hielt mich so fest, dass ich mich fragte, ob er nicht ebenso nach Halt suchte wie ich.
„Jetzt ist alles wieder in Ordnung“, murmelte ich in seinen Pullover, der nach Kaffee und Bier und Flo roch. Und für einen kleinen Moment war es das auch. Für einen kleinen Moment war die Welt wieder in Ordnung.
***
„Du gehst heute nicht in die Schule!“ Mit einem heftigen Ruck zog ich die Haustüre hinter uns ins Schloss. Ich war so froh, der drückenden Stille entkommen zu sein. Patricks giftigen Blicken und Mutters erschöpften. Meiner Angst und Flos Niedergeschlagenheit.
Aus müden, rotumrandeten Augen sah Flo mich nun an. Da waren dunkle Schatten unter seinen Augen. Dunkle, violette Schatten, die fast an blaue Flecken erinnerten. Das Grün war so stumpf. So matt. So erschöpft. Ich fragte mich, ob er überhaupt geschlafen hatte. Wie lange es her war, seit er das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen hatte. So konnte es nicht weitergehen.
„Wie stellst du dir das vor, Ria? Wir können nicht einfach fehlen!“, protestierte er schwach.
Selbst seine Schritte waren so seltsam kraftlos. Manchmal griff er nach dem Treppengeländer. Er ging wie ein alter Mann.
„Und ob wir das können! Was werden wir schon groß versäumen an einem Tag? Du kannst dir die Aufschriebe immer noch von einem Klassenkameraden besorgen, oder du fragst den Lehrer. Aber du gehst so nicht in die Schule, Flo!“
Noch nie war ich mir einer Sache so sicher gewesen. Noch nie war ich so entschlossen gewesen.
„Und die Entschuldigungen?“
„Die wirst du dann eben fälschen.“
Flo hatte Mutters Unterschrift schon so oft gefälscht, dass ich manchmal fragte, ob er sie vielleicht besser beherrschte als seine eigene. Manchmal war es einfach notwendig gewesen. So viel musste unterschrieben werden. Klassenarbeiten, Zeugnisse, Elternbriefe, Arbeitsverträge. Und wenn Mutter nicht da war, mussten die Abgabefristen trotzdem eingehalten werden.
Ich hatte damit gerechnet, dass er heftig widersprechen würde. Dass ich sehr viel Überzeugungsarbeit würde leisten müssen. Ich hatte mir dutzende gute Argumente zurechtgelegt und wusste doch, dass er sie alle entkräften würde. Flo legte so unglaublich viel Wert auf seinen Abschluss. Nicht, dass ich ihn nicht verstanden hätte, aber Flo erkannte manchmal seine eigenen Grenzen nicht.
Doch er widersprach nicht. Er nickte nur müde und folgte mir dann, als ich seinen Arm nahm und ihn in Richtung Innenstadt führte. Und meine Sorge wuchs ins Unermessliche.
„Der Park?“, fragte er leise, als wir durch das schmiedeiserne Tor des Stadtparkes hindurchtraten.
„Ich dachte, wir können beide ein bisschen Frieden gebrauchen“, erklärte ich.
Flo nickte nur. Vielleicht war er zu erschöpft, um etwas darauf zu erwidern. Vielleicht war es ihm einfach egal.
Als ich vor unserer Eiche stehenblieb, warf er mir einen seltsamen Blick zu. Das erste Mal an diesem Morgen hatte ich das Gefühl, dass er hier war. Genau hier. Bei mir.
„Danke“, flüsterte er. Er sah zu Boden, als er das sagte. Er sah mich nicht an. Aber ich ahnte trotzdem, was er vor mir verbergen wollte.
„Ist schon in Ordnung, Flo. Jeder braucht mal eine Pause. Auch du.“
Er sah mir stumm dabei zu, wie ich die alte Decke von Oma im Gras vor den untersten Ästen der Eiche ausbreitete. Wie ich die Thermoskanne voll heißen Kakaos aus meinem Rucksack fischte und dann die Keksdose hervorkramte.
„Du hast wirklich an alles gedacht, oder?“, lächelte er. Es war ein müdes Lächeln. Er sah so verdammt erschöpft aus. Aber er lächelte. Er lächelte!
„Ich hab es versucht“, murmelte ich. Für dieses Lächeln hätte ich noch viel mehr getan. Und auf einmal war ich so unendlich froh, dass mir diese Idee gekommen war, als ich mitten in der Nacht aufgewacht war und nicht mehr hatte einschlafen können. Auf einmal war ich so froh, dass ich dieser Eingebung gefolgt war.
Seufzend ließ sich Flo neben mir auf der Decke nieder und warf seinen eigenen Rucksack achtlos ins Gras. Dann schloss er die Augen und vergrub seinen Kopf in den Händen. Eine lange Weile sah ich es mir an. Eine lange Weile wartete ich. Aber irgendwann hielt ich es nicht mehr aus.
„Was ist los? Was ist los mir dir, Flo?“, fragte ich sanft.
Er sah noch immer nicht auf. Er atmete tief und zitternd ein. Doch als ich eine seiner Hände behutsam löste und fest in die meinen nahm, da sprudelten die Worte auf einmal nur so aus ihm heraus. Es war fast, als wäre ein Damm gebrochen.
„Es ist...es ist einfach zu viel. Ich weiß nicht, wie wir das alles schaffen sollen! Ich weiß nicht, wie es jetzt weiter gehen soll! Vorher...vorher hatte ich zumindest so etwas wie einen Plan. Wir sind zurechtgekommen. Es war nicht einfach, aber wir sind zurechtgekommen. Und ich hab immer gedacht, dass ich dir vielleicht sogar ein Studium finanzieren kann, wenn ich weiter im Café arbeite. Wenn ich mit der Schule fertig bin, kann ich mehr Schichten übernehmen. Vielleicht hätten wir sogar Bafög bekommen. Wir hätten das irgendwie hinbekommen. Aber jetzt...jetzt seh ich einfach keine Zukunft mehr. Verstehst du? Ich seh sie nicht. Ich weiß nicht...ich weiß nicht, was ich noch tun soll. Was ich noch tun kann. Gegen Patrick komme ich einfach nicht an. Er hat alles an sich gerissen. Und ich hab das Gefühl...mir entgleitet alles...und ich verlier mich immer mehr darin. Ich entgleite mir...
Scheiße, Ria, ich weiß einfach nicht mehr, wie es weiter gehen soll! Ich weiß es einfach nicht!“
Er war immer lauter geworden, hatte begonnen, mit seiner freien Hand wild zu gestikulieren. Jetzt erstarrte er mitten in der Bewegung. Sein Blick traf den meinen. Es war ein Strudel. Ein Strudel der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit tobte dort im Graugrün seiner Augen.
„Hey. Hey, wir schaffen das, hörst du? Bis jetzt haben wir doch immer alles zusammen geschafft!“
„Aber ohne Geld...wie sollen wir...was sollen wir nur tun?“
„Wir finden eine Lösung! Vielleicht nicht jetzt, vielleicht nicht morgen, aber wir finden eine Lösung. Sieh es mal so: auch wenn Patrick eine Plage ist, hat es doch auch sein Gutes. Wir sind nicht mehr für alles verantwortlich. Er gibt uns Geld fürs Essen, und ich bin mir fast sicher, dass von nun an die Rechnungen bezahlt werden. Es ist doch nicht nur schlecht, dass er jetzt da ist.“
Flo schnaubte ungläubig. „Ist das dein Ernst? Da war es mir lieber, als wir noch für uns selbst sorgen mussten! Da waren wir wenigstens von niemandem abhängig!“
Darauf konnte ich nichts mehr sagen. Denn er hatte recht. Es war so viel einfacher gewesen, als wir noch für uns selbst gesorgt hatten.
Eine lange Weile saßen wir unter den tiefhängenden Ästen der Eiche und sahen uns an. Ich hielt noch immer seine Hand in den meinen. Und ganz allmählich glaubte ich zu sehen, wie die Anspannung ein klein wenig von ihm abfiel.
Er atmete tief ein.
„Du bist nicht alleine“, flüsterte ich in die Stille hinein. „Das darfst du nicht vergessen, Flo. Egal, was passiert, wie schwer es auch wird. Du bist niemals alleine. Wir stehen das gemeinsam durch. Und zusammen schaffen wir das. Ich weiß noch nicht, wie. Aber bisher haben wir immer einen Weg gefunden. Und wir werden wieder einen finden. Und die ganze Zeit wirst du mich an deiner Seite haben. Du bist nicht alleine.“
Er erwiderte nichts darauf. Vielleicht fand er einfach seine Stimme nicht. Vielleicht hatte er auch nichts zu sagen. Aber er sah mich wieder sehr lange an. Der wilde Strudel war verschwunden. Da war wieder diese Wärme in seinen Augen. Da war wieder dieser weiche Blick, den ich nicht so recht deuten konnte. Und dann drückte er meine Hand und verflocht seine Finger mit den meinen.
„Weißt du noch, als du mir damals erzählt hast, die Enten am See seien verwunschene Kinder?“, fragte ich irgendwann.
„Die verlorenen Kinder vom See. Natürlich weiß ich das noch...“
Gedankenverloren blickte Flo durch das Wirrwarr der Äste über uns in den blauen Novemberhimmel hinauf, und ich tat es ihm gleich. Wie dünne Nebelschwaden zogen weiße Federwolken über das dunkle Blau. Es war ein ungewöhnlich warmer Tag. Altweibersommer. Die Äste der alten Eiche waren schon so gut wie kahl, und die Sonne hatte nicht mehr so viel Kraft. Aber es war trotzdem halbwegs warm hier im Sonnenschein. Oder vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass Flos Wärme zu mir hinüberdrang.
Und während wir so schweigend nebeneinander lagen, erinnerte ich mich an eine Zeit, als wir öfter hier im Park gewesen waren. Ich war noch sehr klein gewesen, vielleicht im Kindergartenalter. Aber trotzdem konnte ich mich noch so gut erinnern...
„Warum sind wir eigentlich immer alleine hier?“, fragte ich Flo. Er saß neben mir am Seeufer und warf kleine Steinchen in das klare Wasser. Gemeinsam beobachteten wir, wie sich die kleinen Kreise immer weiter ausbreiteten, einander umschlangen, ineinander flossen und sich schließlich in der Ferne verloren.
„Warum sind alle anderen Kinder hier mit ihrer Mutter oder mit ihrem Vater am See, und wir sind ganz alleine?“
„Mutter ist krank“, erinnerte er mich.
„Mutter ist immer krank.“ Besorgt sah ich zu meinem großen Bruder auf, der immer noch einen Stein nach dem anderen im See versenkte. Auf einmal war da diese unglaubliche Angst in mir.
„Oma war auch immer krank. Und dann ist sie gestorben. Glaubst du, Mutter stirbt auch? Ist sie so krank, dass sie bald stirbt wie Oma?“
Flos Kopf fuhr zu mir herum. Eine ganze Weile sah er mich schweigend an. Dann fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. Das tat er immer, wenn er nicht mehr so recht weiter wusste. Wenn er nachdenken musste.
„Nein, das ist etwas anders“, meinte er schließlich. „Mutter stirbt nicht. Sie ist anders krank als Oma.“
Auf einmal fiel mir das Atmen wieder ein wenig leichter. Das leuchtete mir ein. Oma war immer dünner und dünner geworden und hatte ihre Haare verloren. Ganz dunkel konnte ich mich noch daran erinnern, denn ich war damals noch sehr klein gewesen. Und vielleicht konnte ich mich auch nur daran erinnern, weil Flo mir davon erzählt hatte.
Aber Mama hatte noch alle ihre Haare. Und sie wurde auch nicht dünner. Sie lag nur immer im Bett und musste manchmal spucken. Aber sie hatte noch alle ihre Haare. Erleichtert seufzte ich und griff dann auch nach einem kleinen Stein. Mit einem leisen Platschen verschwand er unter der Wasseroberfläche. Fasziniert betrachtete ich die kleinen, kreisförmigen Wellen.
„Also stirbt sie nicht“, vergewisserte ich mich noch einmal.
„Nein, Krümel. Sie stirbt nicht.“
Ich legte mich zurück auf die Decke, die Flo mitgenommen und im Gras ausgebreitet hatte. Es war diese Decke, die nur aus verschiedenen Stoffflicken zusammengenäht war. Oma hatte sie immer Pätschwörkdecke genannt. Ich mochte sie, die Decke. Sie war so schön weich. Und man konnte sie im Winter über die Bettdecke legen und hatte es dann noch ein bisschen wärmer.
Ich sah in den blauen Sommerhimmel hinauf und versuchte, in den weißen Wölkchen Formen zu finden. Da war ein Auto, und ein Bett, und eine alte Frau. Eine alte Frau mit langen, weißen Haaren, die im Wind verwehten.
„Vermisst du sie manchmal? Die Oma?“, fragte ich leise.
Flos Antwort kam ebenso leise. „Ja.“
Ein letztes Platschen, ein wenig lauter als alle anderen zuvor, und das ärgerliche Quaken einer Ente, gefolgt von dem vertrauten Flap-flap, mit dem sie sich in die Luft erhob. Wie ein dunkler Schatten flog das aufgeschreckte Tier über uns hinweg.
Dann lag Flo neben mir auf der Decke und sah ebenfalls in den Himmel hinauf.
Wieder einmal versuchte ich, mich an Omas Gesicht zu erinnern. Ich wusste noch, dass sie weiße Haare gehabt hatte, weiße Haare mit ein wenig Grau darin. Aber ihr Gesicht war immer so verschwommen. Ich konnte es nicht mehr zusammensetzten. Es war fort.
„Ich kann mich kaum noch an sie erinnern“, gestand ich. Meine Stimme klang so klein. So klein und verloren, wie ich mich fühlte.
„Das ist doch nicht schlimm, Krümel. Du warst doch noch so klein.“
Die Decke raschelte leise, als Flo sich zu mir umdrehte. Seine Augen waren so grün. Im Sonnenlicht waren seine Augen immer so grün. Er sah nicht böse aus. Er war nicht böse auf mich, obwohl ich mich nicht mehr so richtig erinnern konnte. Warum war er nicht böse?
„Aber es ist doch nicht richtig! Dass ich sie vergesse.“
„Nein, das ist nicht richtig. Aber wir können es nicht ändern. Wir können nur versuchen, uns so lange wie möglich an sie zu erinnern.“
„Verschwindet sie dann?“, flüsterte ich. Irgendwie hatte ich Angst, diese Befürchtung laut auszusprechen. Als könnte sie dadurch Wirklichkeit werden. „ Wenn wir sie vergessen haben? Ist sie dann für immer fort?“
„Nein“, beruhigte mich Flo. „Sie hat mir versprochen, dass sie bei uns bleibt. Dass sie immer auf uns aufpassen wird.“
„Glaubst du das? Dass sie auf uns aufpasst? Dass sie noch da ist?“
„Ja, das glaube ich. Sie muss doch nachschauen, ob ich mein Versprechen halte.“
Jetzt war meine Neugier geweckt.
„Was hast du ihr denn versprochen?“
Flo schluckte. Lange Zeit sah er mich einfach nur an. Dann drehte er sich wieder um und blickte in den Himmel hinauf. Ich glaubte schon nicht mehr, dass er antworten würde. Es tat mir leid, ich hatte ihn nicht aufregen wollen. Ich hatte ja nicht wissen können, dass er sich nicht gerne daran erinnerte. Aber irgendwann antwortete er dann doch. Die Worte waren so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte.
„Dass ich dich beschützen werde“, wisperte er. „Dass ich immer auf dich aufpassen werde.“
Irgendwie wurde mir ganz warm, als er das sagte.
„Danke!“
„Nichts zu danken, Krümel.“
Es wurde zu still dort am See. Langsam gingen die meisten Kinder mit ihren Eltern zurück nach Hause. Zurück zu einem gedeckten Tisch, zu einem gemeinsamen Abendessen. Keines dieser Kinder hatte eine Mutter, die krank im Bett lag. Keines dieser Kinder hatte Angst, dass der Kühlschrank wieder einmal leer sein könnte. Keines dieser Kinder war so wie Flo und ich.
„Erzählst du mir eine Geschichte? Bitte?“
Ich wusste nicht genau, warum das auf einmal so wichtig war. Warum ich mich auf einmal so nach einer von Flos Geschichten sehnte. Vielleicht lag es daran, dass er so traurig aussah. Dass er in den Himmel hinauf blickte und so traurig aussah. Flo war immer so viel fröhlicher, wenn er erzählte. Dann leuchteten seine Augen, als hätte jemand eine Kerze hinter ihnen angezündet. Und ich mochte es, wenn er mit seinen Worten Dinge erschuf. Ich wollte auch nicht mehr an all die anderen Kinder denken, die keine kranke Mutter zu Hause hatten. Und ich wollte nicht mehr an Oma denken, und daran, dass Flo sie vermisste.
Flo fragte nicht, warum es so wichtig war. Vielleicht, weil er es wusste. Er sah mich an und nickte.
„Was soll ich dir denn erzählen?“
„Erzähl mir etwas von den Enten. Warum sie immer so traurig aussehen.“
„Du findest, dass die Enten traurig aussehen?“
„Ja! Schau doch nur, ihre Augen. Die sehen doch traurig aus. Und wie sie immer rufen!“
„Hm“, machte Flo und sah sich die Enten ein wenig genauer an. „Du hast recht, meinte er irgendwann. „Die sehen wirklich ein bisschen traurig aus.“
„Erzählst du mir jetzt die Geschichte?“, drängte ich.
„Ja. Warte. Lass mich einen Moment nachdenken.“
Er setzte sich auf und sah auf den See hinaus. Sein Blick verschwand in der Ferne. Und dann war er wieder da – dieser Glanz in seinen Augen.
„Die Enten vom See...Die Enten vom See waren nicht immer Enten, musst du wissen. Sie waren einmal Kinder. Kinder wie du und ich...“
Und er erzählte mir meine Geschichte. Eine Geschichte, die so traurig war, dass ich beinahe weinen musste. Nur beinahe. Ich war schon immer tapfer gewesen. Ich war so tapfer, dass ich nicht weinte.
Flo erzählte von den Kindern, die einmal hier am See gelebt hatten. Damals, als es noch keine Stadt gegeben hatte, hatte hier eine große Gruppe Kinder gelebt. Sie hatten ihre Eltern in einem Krieg verloren und mussten nun ganz alleine für sich sorgen. Doch eines Tages ging eines der Kinder zu weit in den Wald hinein und kam nie wieder zurück. Es war das allerkleinste Kind, und alle anderen Kinder hatten das kleinste Mädchen immer am Liebsten gemocht. Und als es nicht wieder kam, waren die anderen Kinder untröstlich. Sie suchten den ganzen Wald ab, aber sie fanden das Mädchen nicht.
Sie weinten so viele Tränen, dass aus den Tränen ein See geworden war. Der See, an dem wir jetzt saßen. Und als ein Mond vergangen war und die Kinder noch immer weinten, da verwandelten sich die Kinder eines nach dem anderen in kleine, traurige Enten. Kleine, traurige Enten, die auch heute noch auf dem Grund des Sees der Tränen nach dem verlorenen Mädchen suchten.
Entsetzt hatte ich zu Flo aufgesehen, als er seine Geschichte beendet hatte.
„Aber warum ist sie denn nicht gut ausgegangen?“, fragte ich verzweifelt. „Warum ist sie denn nicht gut ausgegangen? Alle deine Geschichten gehen immer gut aus!“
Jetzt weinte ich wirklich. Ich war nicht mehr tapfer. Aber es war einfach so traurig gewesen. Es war noch immer so traurig. Wenn ich daran dachte, dass die Enten noch immer suchten...dass sie nach all den Jahren nicht aufgegeben hatten. Obwohl das Mädchen doch sicher schon lange tot war.
„Du hast mich doch gefragt, warum die Enten so traurig sind“, verteidigte sich Flo. „Wie hätte ich denn eine Geschichte erzählen können, die gut ausgeht, wenn die Enten auch heute noch so traurig sind?“
Darauf wusste ich keine Antwort. Flo schüttelte den Kopf. Und dann war er bei mir. So dicht vor mir. Vorsichtig wischte er mir die Tränen von den Wangen.
„Es tut mir leid, Kleines. Heute kann ich irgendwie keine fröhliche Geschichte erzählen. Ich weiß auch nicht, warum. Es tut mir leid.“
Ich nickte nur. Ich konnte nicht böse sein. Es war eine schöne Geschichte gewesen, auch wenn sie so traurig gewesen war. Und als er alle Tränen fortgewischt hatte, da legte ich meine Arme um ihn. Und er hielt mich fest und wiegte mich ein wenig hin und her. Es war so warm. Es war so warm, und ich fühlte mich so sicher.
„Glaubst du, dass sie es auch heute noch suchen? Nach so vielen Jahren?“, fragte ich irgendwann leise.
„Ja, das glaube ich“, meinte Flo. „Wenn du das verschwundene Mädchen wärst – ich würde nicht aufhören zu suchen. Ich würde niemals aufhören, nach dir zu suchen.“
Die Enten vom See...Durch die Äste der alten Eiche sah ich ihnen dabei zu, wie sie sich gegenseitig das Gefieder putzten. Wie sie ab und an in den See hinabtauchten. Natürlich wusste ich heute, dass sie dort nach Würmern und anderen Kleintieren im Schlamm des Seegrundes suchten. Dass es einfache Stockenten waren, und keine verwunschenen Kinder. Aber irgendwie waren sie für mich immer noch die verlorenen Kinder vom See.
Irgendwann wandte ich mich zu Flo um. Ich weiß nicht, was ich ihm hatte erzählen wollen. Vielleicht hatte ich ihn einfach nur ansehen wollen.
Er schlief. Eigentlich hätte es mich nicht überraschen sollen. Er hatte so verdammt müde ausgesehen. Und es tat ihm sicher gut, wenn er ein wenig Schlaf nachholen konnte. Aber irgendwie schnürte sich meine Kehle ein wenig zu, als ich ihn so betrachtete.
Er sah so friedlich aus. Die rabenschwarzen Strähnen standen in alle Richtungen ab, hingen ihm weit in die Stirn hinein. Seine Gesichtszüge waren im Schlaf weicher. Entspannter. Er sah so unschuldig aus. So unbedarft. So...jung.
Und als ich ihn so betrachtete, stahl sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen.
Eine der dunklen Strähnen hatte sich in seinen Wimpern verfangen. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie erschien mir das nicht richtig. Fast ohne mein Zutun streckte sich meine Hand nach ihm aus. Vorsichtig strich ich die Strähne zurück. Seine Haut war so weich unter meinen Fingern. So warm. Mein Herz klopfte auf einmal ein klein wenig schneller.
Und dann schlug er die Augen auf. Blinzelte verwirrt zu mir empor. Richtete sich hastig auf und kam mir dabei noch näher als zuvor.
„Ria! Was...“
Ich antwortete nicht. Irgendwie fand ich meine Stimme nicht mehr. Lange Zeit saßen wir uns gegenüber und sahen uns einfach nur an. Irgendetwas hatte sich verschoben. Irgendetwas war anders. Flos Augen weiteten sich. Er spürte es auch. Er musste es spüren.
Ich sah, wie sein Adamsapfel auf und ab hüpfte, als er schluckte.
Noch immer lag meine Hand auf seiner Wange. Warum fiel mir das erst jetzt auf? Behutsam zog ich sie zurück. Doch die Spannung blieb. Die Spannung, die in der Leere zwischen uns hing. Es war wie kurz vor einem Gewitter. Kurz vor einem Sturm. Diese Ahnung einer unaufhaltsamen Naturgewalt, die in wenigen Momenten über einen hereinbrechen wird. Die Luft schien Funken zu sprühen.
„Oh Ria!“ Es war mehr ein Stöhnen als ein Flüstern. Ich hörte die Verzweiflung in seiner Stimme, aber auch die Sehnsucht, dieselbe Sehnsucht, die auch durch meine Adern rann wie flüssiges Feuer. Er war so verdammt nah, so warm...seine Lippen waren leicht geöffnet, seine hektischen Atemzüge strichen zart über meine Wangen.
Als seine weichen Lippen die meinen das erste Mal zart streiften, spürte ich, wie die verräterische Nässe in meinen Augen überquoll. Ein gequälter Laut entfuhr ihm, halb Seufzen, halb Stöhnen, und dann lag sein Mund erneut auf dem meinen. Noch immer so unglaublich zärtlich, aber auch ein klein wenig fester, ein klein wenig bestimmter, ein klein wenig verlangender.
Heiße und kalte Schauer jagten meinen Rücken hinab.
Die Welt um mich herum verschwamm, wurde zu einer fernen Erinnerung. Es gab nur noch uns beide und dieses beinahe schon schmerzhafte Ziehen in meiner Brust, das flatternde Kribbeln in meinem Bauch. Ich spürte seine Hände, die sich in meinem Haar vergruben, sanft meinen Kopf umfassten, mich zu ihm zogen. Seine Wärme umgab mich, sein Duft hüllte mich ein. Es war wie ein Rausch. Ich nahm nichts mehr um mich herum wahr. Nur den sanften Druck seiner Lippen auf den meinen. Wieder und wieder und wieder.
Und dann waren es meine Hände, die sich in seinen Haaren verfingen, die ihn näher zu mir zogen. Noch näher. Meine Lippen, die sich auf seine pressten. Meine Zunge, die vorsichtig seine Unterlippe nachzeichnete. Er keuchte überrascht, und dann war er es, der den Kuss vertiefte.
So süß. Niemals war etwas so süß gewesen.
Es war ein Gefühl wie Fliegen. Wie Fallen. Ich hatte den Boden unter den Füßen verloren. Alles war anders. Alles war anders und doch hatte sich eines nicht verändert. Er war mein einziger Halt. Er hielt mich aufrecht, während sich die Welt um mich herum auflöste, an Bedeutung verlor.
„Nein!“ Mit einem Laut, der wie ein Schluchzen klang, riss er sich von mir los. Keuchend saßen wir uns gegenüber und starrten uns an. Ich spürte, wie die Kälte langsam bis in mein Herz hineinkroch. Mir war so kalt ohne die Wärme seiner Arme, die sich noch vor wenigen Augenblicken fest und sicher um mich geschlossen hatten. Die Realität holte mich ein, ließ mich schmerzhaft auf dem steinharten Boden der Tatsachen ankommen.
„Was hab ich nur getan?“, stöhnte Flo und vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Es tut mir so leid, Ria! Verflucht, was hab ich mir nur dabei gedacht! Wir können nicht...wir dürfen nicht...warum...wie konnte ich nur?“
Er klang beinahe hysterisch, die Worte jagten einander, überschlugen sich, als sie in einem wirren Haufen vor meinen Füßen landeten.
Und da spürte ich die warmen Spuren der Tränen auf meinen Wangen, und es fühlte sich an, als sei es Blut. Denn mit den Tränen floss auch jegliches Glück, jegliche Freude, jeglicher Lebenswille aus mir heraus. Ganz allmählich dämmerte mir, was dieser Moment bedeutete. Und das wirklich sonderbarste daran war, dass es mich nicht im Mindesten überraschte. Irgendwie hatte ich es immer gewusst. Irgendwie hatte ich immer gewusst, dass ich ihn liebte. Ich hatte es nur nie wahrhaben wollen. Weil es nicht sein durfte. Weil es verboten war.
Aber warum hatte es sich dann so richtig angefühlt, ihn zu küssen? Warum hatte es mich nicht abgestoßen? Es hatte sich nicht angefühlt, als würde ich meinen Bruder küssen. Es hatte sich angefühlt wie nach Hause kommen. Es hatte sich so verdammt richtig angefühlt. Als seien wir schon immer füreinander bestimmt gewesen. Und dieses Gefühl war so mächtig gewesen.
„Es tut mir so leid, Kleines!“, flüsterte er, und seine Stimme brach beim letzten Wort. Ich konnte es nicht länger mit ansehen, wie er sich selbst wieder einmal die Schuld gab. Es brachte mich um.
Auf einmal war er so weit weg. Auch wenn er neben mit saß, auch wenn ich seine Wärme spürte, wurde sie doch vom kalten Wind verweht. Auch wenn er neben mir saß, war da doch dieser tiefe Graben, der sich auf einmal zwischen uns auftat.
„Es hat sich nicht falsch angefühlt“, flüsterte ich irgendwann in die Stille hinein, in die Leere des Abgrundes.
Und da sah ich sie. Die einzelne Träne, die zwischen seinen dichten Wimpern hervorquoll, eine silberne Spur auf seiner bleichen Wange hinterließ.
„Nein“, wisperte er. „Das hat es nicht.“
12. Richtig und Falsch und das Dazwischen
Anna-Maria
Ich weiß nicht, wie lange wir so schweigend nebeneinander saßen und zu verstehen versuchten, was da soeben geschehen war. Flo hatte sich von mir abgewandt. So saß er da, den Kopf in den Händen vergraben, und ich sah nur seinen Rücken, und seinen Ellbogen, der auf seinen angezogenen Knien lag, und den dichten, zerzausten schwarzen Schopf. Ich war das gewesen. Ich hatte seine Haare zerzaust. Noch immer glaubte ich, seine weichen Lippen auf den meinen zu spüren. Da war noch immer dieses unbekannte Flattern in meinem Magen, aber es war nicht mehr leicht wie zuvor. Die Flügel hatten Krallen bekommen, scharfe Krallen, die mich von innen zerrissen.
Da war dieser Graben zwischen uns, dieser tiefe Graben, und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ich ihn überbrücken sollte. Ob ich ihn überbrücken konnte.
„Es tut mir leid“, flüsterte ich irgendwann, nur um etwas zu sagen, weil die Stille unerträglich wurde.
Flo regte sich nicht. Lange glaubte ich, dass er mir nicht antworten würde. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob all das hier wirklich geschah. Der Traum hatte sich in einen Alptraum gewandelt, und es wäre so schön gewesen, einfach aufwachen zu können. Aber wenn ich das hier alles nur träumte, dann hätte ich auch den Kuss geträumt. Und trotz allem konnte ich den Kuss nicht bereuen. Für einen einzigen Moment hatte ich eine Ahnung davon erhalten, wie es sich anfühlte, glücklich zu sein. Für einen einzigen Moment war die Welt in Ordnung gewesen. Nein, den Kuss konnte ich nicht bereuen.
„Es war nicht deine Schuld“, murmelte Flo leise. Also hatte er mich doch gehört. Irgendwie erleichterte mich dieses Wissen ein wenig. Das hier, all das hier, war real.
Es war so typisch für Flo, dass er mir jede Schuld absprach. Aber ich wusste auch, was der nächste, logische Gedankengang war.
„Aber auch nicht die deine“, sagte ich fest. „Können wir uns darauf einigen, dass wir beide Schuld haben?“
Da wandte er sich wieder zu mir um. Niemals hatte ich einen ähnlichen Gesichtsausdruck bei ihm gesehen. Er sah so zerrissen aus. Seine Mundwinkel hoben sich ein wenig, nur ein klein wenig. Aber seine Augen...seine Augen. Das Grün war seltsam matt. Irgendwie … hoffnungslos.
„Oh, Ria“, murmelte er nur.
Und wieder sahen wir uns eine lange Weile einfach nur an. Irgendwann blieb sein Blick an meinen Lippen hängen, und er sah rasch wieder fort. Waren selbst Blicke gefährlich geworden?
„Was machen wir jetzt nur?“, seufzte ich.
Sein Kopf fuhr erneut zu mir herum. „Was wir jetzt machen sollen?“
Einen Moment lang starrte er mich beinahe ungläubig an. So verständnislos. Als läge die Antwort auf meine Frage auf der Hand. Aber das tat sie nicht. Nicht für mich.
Flo schüttelte den Kopf, und dann wandte er sich wieder von mir ab, als könne er meinen Anblick nicht länger ertragen.
„Wir vergessen, dass das hier jemals geschehen ist“, meinte er. „Wir vergessen, dass das jemals mehr war oder hätte sein können. Was ist denn schon groß geschehen? Es war nur ein Kuss, Ria. Nicht mehr. Nur ein Kuss.“
Jedes einzelne Wort traf mich wie ein Dolchstoß. Mitten in die Brust. Wie konnte er das in diesem ruhigen, gefassten Tonfall sagen? Wie konnte er das sagen, ohne mich dabei anzusehen?
„Das ist nicht dein Ernst, oder?“, flüsterte ich.
Er antwortete nicht, sah nur weiter in Richtung des Sees. In Richtung der Enten, die immer noch voller Trauer nach dem verlorenen Mädchen suchten.
Oh, ich konnte mit ihnen fühlen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich soeben auch etwas unwiederbringlich verloren hatte.
„Das kann nicht dein Ernst sein! Wie soll ich das vergessen?“ Meine Stimme klang beinahe schrill in der Stille des Morgens. So unwirklich. So klein. So verloren.
Irgendwie hatte er es geschafft, mit wenigen Worten alles zu zerstören. Ich sollte vergessen? Wie sollte ich das jemals vergessen? Wie konnte er das von mir verlangen?
Eine lange Weile saß er so da und rührte sich nicht. Dann erhob er sich langsam, mühevoll, beinahe wie ein alter Mann. Für einen Moment sah er tatsächlich aus wie ein alter Mann.
„Welche Wahl haben wir denn?“, flüsterte er tonlos. Und als er sich dann zu mir umwandte, wünschte ich, er hätte es nicht getan. Ich wünschte mir, er hätte noch länger neben mir gesessen und auf den See gestarrt, und ich hätte diesen Ausdruck niemals in seinen Augen sehen müssen. Ich wusste, dass ich ihn nie wieder würde vergessen können.
Er wirkte nicht verzweifelt, oder traurig, oder hoffnungslos. Das erste Mal erschien er mir wie ein Fremder. Er war kalt. Völlig kalt. Nichts berührte ihn mehr.
Er sagte nichts mehr. Es war auch nicht nötig. Er wandte sich um und ging. Einfach so. Und ich blieb genau so dort sitzen. Erstarrt. Und alleine. So alleine. Auf einmal war mir kalt.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß. Wie lange ich dort saß und spürte, wie etwas in mir unwiderruflich zerbrach. Er war gegangen. Einfach so. Ohne einen letzten Blick zurück hatte er sich einfach umgedreht und war gegangen. Bedeutete ich ihm so wenig? War es ihm so völlig egal, wie es mir dabei ging? Das war nicht mein Flo! Mein Flo wäre bei mir geblieben, hätte versucht, gemeinsam mit mir irgendeine Lösung zu finden! Mein Flo hätte eine Lösung gefunden.
Aber vielleicht ist er einfach nicht mehr dein Flo, flüsterte eine böse Stimme in meinem Inneren. Vielleicht war er nie wirklich dein Flo. Vielleicht hast du immer nur gesehen, was du sehen wolltest. Oder du hast ihn so abgeschreckt, dass er jetzt nie wieder etwas von dir wissen will. Vielleicht hast du ihn auch nie wirklich gekannt.
Vielleicht hatte ich ihn auch abgeschreckt. Natürlich. Warum kam ich erst jetzt darauf? Ich hatte ihn abgestoßen. Und es war so verständlich. Ich war seine Schwester. Es war einfach nicht richtig gewesen, was wir getan hatten. Wir hatten gegen alle moralischen Regeln verstoßen. Natürlich konnte er mir danach nicht mehr ins Gesicht sehen.
Ob er mich nun hasste? Oh, bitte nicht! Ich konnte alles ertragen, alles überstehen, wenn ich nur einen winzigen Teil von Flo behalten könnte. Ich konnte ihn nicht vollkommen verlieren. Aber vielleicht hatte ich das ja schon. Er war gegangen. Er war einfach gegangen.
Beinahe war ich froh darüber, dass er nicht hier war. Er sollte nicht sehen, wie es mich zerriss. Niemand sollte mich so sehen. Ich glaube nicht, dass ich es ertragen hätte, wenn mich jemand so gesehen hätte. Ich war zu verletzlich. Bei der kleinsten Berührung würde ich in tausend Teile zerspringen.
Irgendwann schlang ich beide Arme um mich. Ich barg den Kopf auf den Knien und umarmte mich selbst. Ich musste versuchen, mich irgendwie zusammen zu halten. Ich musste versuchen, das hier irgendwie zu überleben. Ich schwebte. Ich schwebte im luftleeren Raum, und nichts hielt mich mehr zusammen. Nichts hatte mehr Bedeutung.
Ich weinte nicht. Ich war jenseits eines Punktes angelangt, an dem Tränen irgendwie geholfen hätten. Ich war jenseits eines Punktes, an dem man Schmerz empfand. Vielleicht war das besser. Vielleicht war es besser, wenn ich die Wunde nicht spürte. Wenn ich die leere Stelle nicht mehr spürte, an der einmal mein Herz gewesen war. Für einen kurzen Augenblick fragte ich mich, ob ich wohl den Rest meines Lebens so seltsam taub sein würde. Ob ich wohl niemals wieder etwas empfinden würde. Ich hoffte es. Ich wollte nicht, dass die Taubheit nachließ.
Als ich meinen Platz unter der Eiche verließ, stand die Sonne bereits hoch im Zenit. Meine Knie schmerzten ein wenig, weil ich so lange reglos einfach nur dagesessen hatte. Irgendwie schien sehr viel zu schmerzen. Aber es war nicht länger von Bedeutung. Es berührte mich nicht. Alles war gleichgültig geworden.
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich zurück nach Hause kam. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich durch den Park ging, oder die Treppenstufen hinauf, oder wie ich die Türe aufschloss. Vielleicht ist das auch besser so. Vielleicht waren diese Momente zu dunkel, zu düster, als dass ich mich an sie erinnern wollte.
Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann alleine im Hausflur stand, und dass ich eine geraume Zeit dort stand, ehe mir bewusst wurde, wo ich eigentlich war, und dass ich vielleicht zunächst einmal die Schuhe ausziehen und den Mantel an den Haken hängen sollte. Also tat ich genau das. Nacheinander. Bedächtig. Langsam. Wie eine alte Frau.
Es überraschte mich nicht, dass Flo nicht zu Hause war. Wenn ich ihm so egal war, dass er einfach gegangen war, dann war ihm wohl auch alles andere egal. Ich brachte nicht die Kraft auf, mich um ihn zu sorgen. Ich brauchte alle Kraft für mich selbst.
Mutter war wohl wie immer nicht aus dem Bett gekommen, und ich machte mir nicht die Mühe, nach ihr zu sehen. Ich war nicht bereit für eine erneute Diskussion, und es war mir auch schlichtweg egal. So lange sie mich in Ruhe ließ, würde ich sie in Ruhe lassen. Nicht, dass ich ernsthaft erwartet hätte, dass es ihr auffallen würde, wie früh ich heute schon wieder zu Hause war. Aber ich wollte es nicht riskieren.
Bis heute weiß ich nicht, wie es mir gelang, den Rest des Tages einfach so zu tun, als sei nichts geschehen. Ich hängte die Wäsche vom Vortag ab, legte sie zusammen, lud eine neue Ladung in die Waschmaschine, wusch das Geschirr ab und wischte den Fußboden. Und all das tat ich, ohne an irgendetwas zu denken. Mein Kopf war wie leergefegt, und auch dafür war ich dankbar. Ich wollte nicht nachdenken. Ich wollte nur vergessen.
Irgendwann gegen Nachmittag hörte ich, wie sich ein Schlüssel in der Haustüre drehte. Das erste Mal schrak ich nicht zusammen. Selbst der Gedanke an Patrick jagte mir keine Angst mehr ein. Ich fühlte nichts.
Leise Schritte tappten durch den Flur. Ich hätte sie überall wiedererkannt. Flos Schritte. Ich erlaubte mir, ein klein wenig erleichtert zu sein, ein klein wenig aufzuatmen. Er war zu Hause. Es ging ihm gut. Auch wenn ich ihn verloren hatte, war das immer noch wichtig. Dass es Flo irgendwo gab, und dass es ihm gut ging.
Hastig rieb ich mit dem Scheuerlappen über einen besonders hartnäckigen Fleck. Die Schritte kamen näher. Die Küchentüre öffnete sich. Und dann spürte ich es. Ich hatte es immer gewusst, wenn er mich ansah. Ich erstarrte, wie eine Maus erstarrt, wenn sie den Blick des Habichts auf sich ruhen spürt. Eine lange Weile verharrten wir so. Bitte, geh, flehte ich in Gedanken. Die Taubheit drohte zu weichen, und ich wusste nicht, wie ich das ertragen hätte. Sie war es doch, die mich jetzt zusammenhielt.
Ich glaubte, ihn leise seufzen zu hören, und dann schloss sich die Türe wieder, und ich war alleine.
Den Rest des Tages liefen wir uns nicht mehr über den Weg. Einmal glaubte ich, ihn an der Haustüre werkeln zu hören, doch als ich mich irgendwann doch auf den Flur hinaus wagte, weil meine Blase drohte, überzulaufen, war er schon weiter gezogen. Vielleicht reparierte er die Kellertüre, wie Patrick es ihm aufgetragen hatte. Ein anderes Mal glaubte ich, ihn am Telefon sprechen zu hören, aber als ich Patricks fertige Wäsche in Mutters Zimmer hinüber trug, hing das Telefon bereits wieder in der Gabel. Irgendwie hatte ich den leisen Verdacht, dass Flo mich bewusst mied. Vielleicht hatte er mein stummes Flehen gehört. Vielleicht verstand er. Vielleicht war er deswegen gegangen, ohne sich umzusehen. Weil auch er den Verlust der Taubheit fürchtete. Was auch immer der Grund war, ich war ihm dankbar dafür.
Als der späte Nachmittag in den frühen Abend überging, stand ich vor der offenen Speisekammertüre und überlegte, was ich kochen könnte, als ich es wieder hörte. Das leichte Quietschen, mit dem sich die Küchentüre in meinem Rücken öffnete.
„Was machst du da, Ria?“ In der Stille der leeren Küche klang seine Stimme seltsam zögernd. Irgendwie schüchtern. Flo war nie schüchtern gewesen. Nicht mir gegenüber. Es hatte nie einen Grund gegeben. Irgendwie hatte sich alles verändert. Wir schlichen auf Zehenspitzen umeinander herum. Hatten Angst, den anderen zu verschrecken oder selbst verletzt zu werden.
„Essen kochen“, murmelte ich. Mehr brachte ich nicht heraus.
„Du brauchst nicht....lass mich das machen...“, meinte Flo sanft. Warum nur war er auf einmal wieder so...freundlich? Warum konnte er nicht so kalt sein wie zuvor am See? Das war irgendwie einfacher gewesen.
Ich hörte das leise Rascheln seiner Kleidung, als er näher kam. Näher, immer näher... zu nahe. Ich machte einen hastigen Satz zur Seite und eilte dann beinahe fluchtartig aus der Küche. Das Bild war zu vertraut, ihn dort vor der Speisekammertüre stehen zu sehen. Zu vertraut. Ich zog den Mantel der Taubheit noch ein wenig fester um mich herum und versuchte zu vergessen, was ich nicht vergessen konnte.
Natürlich konnte ich mich nicht den Rest des Abends in meinem Zimmer verkriechen. Auch wenn ich nichts lieber getan hätte. Ich wollte mich auf meinem Bett zusammenrollen, mich ganz klein machen. Mich selbst umarmen. Und dann wollte ich mein Gesicht im weichen Fell meines Teddys vergraben. Er hätte mich verstanden. Mein Teddy hatte mich immer verstanden. Und er hatte nie protestiert, wenn ich wieder einmal sein künstliches Fell nassgeweint hatte.
Doch es gab keinen Teddy mehr. Einer von Patricks Vorgängern hatte ihn versehentlich in den Müllschlucker geworfen, und seither war ich teddylos. Es gab keinen Teddy, und es kamen keine Tränen, und ich war kein kleines Kind mehr, das sich einfach in sein Bett kuscheln und die Welt um sich herum vergessen konnte.
Als Patricks schwere Stiefel durch den Flur polterten, versuchte ich mich, so gut es ging, zu sammeln. Und dann trat ich meinem Schicksal gegenüber. Was konnte auch noch groß passieren? Schlimmer konnte es doch eigentlich nicht mehr werden, dachte ich.
Oh, wie sehr ich mich doch irrte. Wie sehr ich mich irrte. Aber vielleicht war es auch gut, dass ich nicht wusste, wie schlimm es wirklich werden konnte. Es gibt nur einen gewissen Grad an Schmerz, den ein Mensch ertragen kann, ohne daran zu zerbrechen. Vielleicht war es gut, dass die schlimmen Dinge nicht immer alle zugleich geschahen. Dass ich Zeit hatte, mich dazwischen ein wenig zu erholen. Mich in Sicherheit zu wähnen und ein wenig Kraft zu sammeln.
Vielleicht wusste das Schicksal, dass ich für einen Tag alles ertragen hatte, das ich ertragen konnte. Denn Patrick schien recht guter Laune zu sein. Vielleicht lag es auch daran, dass wir sehr viel Zeit gehabt hatten, Flo und ich, und dass jetzt dank meines vorübergehenden Putzwahnes die Wohnung blitzte und blinkte.
Es kam kein Wort des Dankes – nicht, dass ich eines erwartet hätte. Aber er ließ uns weitestgehend in Ruhe. Das Abendessen verlief so friedlich, wie es in dieser angespannten Atmosphäre möglich war. Doch weder Mutter noch Patrick schienen zu bemerken, dass irgendetwas anders war. Es fiel ihnen nicht auf, dass Flo seinen Stuhl ein wenig vom Tisch fortgerückt hatte, dass er darauf bedacht war, meinem Blick nicht zu begegnen. Es fiel ihnen nicht auf, dass ich lustlos in meinem Essen stocherte und mich weit, weit fort wünschte. Natürlich würgte ich die Nudeln trotzdem herunter. Auch wenn ich glaubte, sie jeden Moment wieder hochwürgen zu müssen, auch wenn ich schon den bitteren Geschmack der Galle in meinem Rachen schmeckte. Ich hatte Patricks beinahe wütenden Blick bemerkt, als ich den noch halbvollen Teller versuchsweise ein wenig von mir fortgeschoben hatte.
Und eben, als ich glaubte, jetzt wirklich erbrechen zu müssen, nachdem ich die letzte Nudel heruntergezwungen hatte, da erschien auf einmal ein volles Glas Wasser in meinem Blickfeld.
Flo sagte nichts, und ich sah nicht zu ihm auf, als ich das Glas entgegen nahm. Aber irgendwo tief in mir drinnen keimte so etwas wie zaghafte Hoffnung auf. Vielleicht war ich doch nicht vollkommen alleine. Vielleicht hatte ich ihn nicht vollkommen verloren. Und vielleicht würden wir einen vorsichtigen Weg finden, miteinander umzugehen. Miteinander im selben Raum zu sein, ohne uns zu verletzen. Ohne die ständige Erinnerung daran, was hätte sein können. Vielleicht würde ich eines Tages einen Weg finden, zu vergessen. Und vielleicht, nur vielleicht, könnten wir uns wieder ein wenig nahe kommen. Nicht so nahe wie vor dem Vorfall unter der Eiche, sicherlich. Aber so nahe, dass ich mich nicht mehr so schrecklich alleine fühlte wie ich es im Moment tat.
***
Es war eine lange Nacht. Es war eine verdammt lange Nacht. Für neun furchtbare Stunden war ich mit meinen Gedanken alleine. Und in der Dunkelheit und Stille war es irgendwie so viel schwerer, die Taubheit aufrecht zu halten. Nicht mehr daran zu denken, was geschehen war.
Immer wieder spürte ich seine weichen Lippen auf den meinen. Fühlte seinen warmen Atem über meine Wange streichen, hörte sein leises Stöhnen, das mir durch Mark und Bein gegangen war. Doch die Erinnerungen waren nicht mehr leicht und süß und schön. Sie waren grausam. Weil sie so falsch waren.
Er war gegangen. Es hatte ihn abgestoßen. Er war ohne ein weiteres Wort gegangen, und er war so schrecklich abweisend und kalt gewesen. Er hatte meine Nähe nicht länger ertragen. Weil es falsch war. Es war falsch, was wir getan hatten. Es war falsch, was ich empfunden hatte. Es hätte sich nicht richtig anfühlen dürfen. Es hätte niemals geschehen dürfen.
Aber warum, verdammt, warum konnte es sich dann nicht einmal in meiner Erinnerung falsch anfühlen? Warum hatte ich nicht gespürt, was ich hätte spüren müssen? Warum konnte ich nicht vergessen?
Lag es daran, dass es mein erster Kuss gewesen war? Lag es daran, dass es Flo gewesen war?
Sollte ich tun, was er von mir verlangt hatte? Sollte ich versuchen, zu vergessen, dass das jemals geschehen war?
Doch in der Stille der Nacht begriff ich, was ich von Anfang an geahnt hatte. Ich konnte es nicht. Ich konnte nicht vergessen. Und, wenn ich ehrlich war, wollte ich es auch nicht. Auch wenn alles, was danach geschehen war, so schmerzhaft gewesen war, auch wenn ich wusste, dass es falsch war, änderte das doch nichts daran, dass ich in diesem einen Moment wirklich glücklich gewesen war.
Es dämmerte bereits, als ich mich müde in meine Bettdecke wickelte und doch noch ein wenig Schlaf fand. Als die beruhigende Taubheit sich endlich wieder über mich senkte und mit ein wenig Ruhe schenkte.
Natürlich war ich nicht ausgeschlafen, als der Wecker klingelte. Aber ich war auch irgendwie froh darüber, aufstehen zu können. Nicht mehr mit mir alleine sein zu müssen. Nicht mehr denken zu müssen.
Als ich in die Küche trat, erwartete mich bereits eine heiße Tasse Kaffee. Flo stand am Herd und briet Patricks Ei, und der Backofen blies warme Luft in den kalten Raum. Ich setzte mich wortlos, und ebenso wortlos fuhr Flo mit seiner Arbeit fort.
„Möchtest du etwas essen?“, kam es irgendwann zaghaft aus Richtung des Herdes.
„Nein, danke“, nuschelte ich in meine Tasse hinein.
Wir sprachen miteinander. Immerhin. Aber wir tänzelten immer noch vorsichtig umeinander herum. Ich glaubte nicht mehr daran, dass sich das in nächster Zeit ändern würde.
Und ich sollte Recht behalten.
***
Stunden wurden zu Tagen, Tagen zu Wochen. Die Taubheit blieb. Sie war zu meinem einzigen Freund geworden. Ich hatte niemanden mehr, auf den ich mich verlassen konnte. Nicht einmal mir selbst traute ich. Ich war zu schwach. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich einen besorgten Blick in Flos Richtung warf, wie ich mich fragte, wie er wohl mit der neuen Situation zurecht kam. Immer wieder hoffte ich, dass er auch ab und zu an mich dachte.
Ich war so alleine. Niemals zuvor war ich so alleine gewesen. Es war ein schreckliches Gefühl. Da war auf einmal diese Leere in mir. Diese taube Leere, die eigentlich hätte schmerzen sollen. Es war fast schlimmer, dass sie nicht schmerzte. Denn irgendwie wurde dadurch alles so seltsam surreal, fast traumähnlich.
Manchmal fragte ich mich, ob ich nicht zu einem Geist geworden war. Zum Geist eines Menschen, der irgendwie vergessen hat, dass er gestorben ist.
In dieser seltsamen Stimmung ging ich schweigend neben Flo zur Bushaltestelle. Es war kalt geworden, und ich hatte noch immer keine richtige Winterjacke. Doch das störte mich nicht. Die Kälte war real. Der eisige Wind fuhr durch den Jeansstoff hindurch, und es kümmerte mich nicht. Wenigstens etwas berührte mich noch.
Ich vermisste es. Ich vermisste es, berührt zu werden. Einfach, um zu wissen, dass ich nicht alleine war. Die simplen, beiläufigen Berührungen hatten mir immer gezeigt, dass da jemand war, dem ich nicht egal war. Sie hatten mich irgendwie an die Wirklichkeit gebunden. Ich hatte sie ebenso verloren wie alles andere auch. Seltsam, wie viel Bedeutung Kleinigkeiten tragen konnten.
Ich vergrub meine kalten Finger in den Hosentaschen. Sie sahen so einsam aus, wie sie da an meinen Seiten in der kalten Luft hingen. Irgendwie gefiel mir das nicht.
Und da sah ich die erste weiße Flocke vor mir durch die Luft taumeln. Schnee. Es schneite.
Es war Winter geworden, und ich hatte es nicht einmal richtig bemerkt.
Bald gesellte sich eine zweite Flocke dazu, und dann eine dritte. Fasziniert betrachtete ich den zögernden Tanz, mit dem sie auf die Erde zu taumelten. Der Beton zu meinen Füßen war noch nicht kalt genug. Der Schnee schmolz, kaum dass er die Erde berührte. Irgendwie stimmte mich das traurig. So viel Schönes vergeht vor seiner Zeit. Es erschien mir wie ein Zeichen.
Und das erste Mal war da wieder so etwas wie Widerstand in mir. Es war nicht richtig. Es war nicht richtig, dass die Flocken ein so kurzes Leben hatten. Sie sollten Ewigkeiten durch den Himmel tanzen. Sie sollten sich in einer weichen, weißen Decke über die Welt legen. Ich mochte Schnee. Alles wurde so viel stiller, wenn Schnee lag. Irgendwie ruhiger. Friedlicher. Ich konnte Frieden gebrauchen.
Ich zog meine Hände wieder aus dem Hosentaschen und begann, die Flocken aufzufangen. Natürlich schmolzen sie auf meinen warmen Händen sogar noch schneller. Es frustrierte mich. Es machte mich wütend. So wütend. Warum war ich auf einmal so wütend? Der graue Schleier, der mich bislang so sicher umfangen hatte, verflog ein wenig, als diese sinnlose Wut mich vereinnahmte...
„RIA!“
Eine Hand krallte sich um meinen rechten Arm, und ich wurde beinahe brutal zur Seite gerissen. Wind peitschte mir ins Gesicht, und mit einem lauten Hupen raste ein LKW an mir vorbei, so dicht, dass ich den beißenden Gestank angesengten Gummis riechen konnte, als der Fahrer auf die Bremse trat.
Verwirrt blinzelte ich gegen die Flocken an, die nun immer dichter fielen, und versuchte zu verstehen, was da eben geschehen war. Es war alles so verdammt schnell gegangen.
„Verdammt, hast du keine Augen im Kopf? Du kannst doch nicht einfach so auf die Straße treten!“, schrie Flo mich an.
Zum ersten Mal seit so langer Zeit sah ich zu ihm auf. Zum ersten Mal seit langer Zeit sah ich ihn wirklich an. Ich sah in dieses Gesicht, das mir einfach nicht aus dem Kopf gegen wollte, das mich in meinen Träumen verfolgte. In diese unglaublich grünen Augen, die auf einmal gar nicht mehr kalt oder abweisend oder müde oder vorsichtig und schüchtern waren. Sie blitzen mich wütend an, doch unter dem oberflächlichen Zorn schwelte noch etwas anderes, etwas, das ich nicht so recht zu erkennen vermochte. Früher hatte ich ihn so gut lesen können, früher hatte ich ihn so gut verstanden.
„Ich hab es nicht gemerkt.“
Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich es tatsächlich nicht gemerkt hatte. Für einen kurzen Moment verspürte ich so etwas wie Bedauern. Ein Sekundenbruchteil, und der LKW hätte mich erfasst. Ob es geschmerzt hätte? Ob mich jemand vermisst hätte?
Und irgendwie wusste ich da, dass zumindest Flo mich vermisst hätte. So zornig, wie er jetzt war. Niemand war ohne Grund zornig.
„Du hast es nicht gemerkt? Wie, du hast es nicht gemerkt?“, kam es ungläubig zurück.
„Ich hab es nicht gemerkt. Es tut mir leid.“ Selbst in meinen eigenen Ohren hörte ich mich irgendwie leblos an.
Eine Weile lang herrschte angespanntes Schweigen. Meine Worte hingen schwer in der Leere zwischen uns. Ich seufzte und wandte den Blick ab. Flo ließ zögernd meinen Arm los. Vorsichtig, so als sei ich zerbrechlich. Vielleicht war ich das auch.
Und dann stand er auf einmal direkt vor mir. Ein warmer Finger lag unter meinem Kinn und hob meinen Kopf an. Noch immer vorsichtig, aber auch ein klein wenig bestimmt. Ich hatte keine andere Wahl, als erneut zu ihm aufzusehen. Was ich dort sah, überraschte mich.
Da waren so viele Emotionen. So viele Empfindungen, die wie Schatten über sein Gesicht huschten. Entsetzen, Zuneigung, Schock, Angst, und etwas, das ich nicht so recht benennen konnte. Mir wurde irgendwie warm, als er mich so ansah. Mein Herz klopfte heftig in meiner Brust. So lange hatte es geschwiegen. Ich wollte es nicht mehr spüren. Ich wollte nichts mehr fühlen. Es war besser, nichts zu fühlen. Sicherer.
Flos Augen verengten sich zu Schlitzen. Er versuchte, in mir zu lesen. Er war schon immer gut darin gewesen. Was er sah, schien ihm nicht zu gefallen. Mit einem leisen Keuchen trat er einen Schritt zurück. Es klang irgendwie schmerzhaft, das Keuchen.
„Es ist dir egal, oder? Verdammt, Ria! Schau mich an und sag mir, dass dich das eben zu Tode erschrocken hat. Schau mich an und sag mir, dass es dir nicht egal ist!“
Aber ich hatte mich nicht erschrocken. Ich hatte nur akzeptiert, was geschehen war. Ich hatte es akzeptiert und ein klein wenig bedauert, dass Flo eingegriffen hatte. Es wäre einfacher gewesen, wenn mich der LKW mitgenommen hätte. Einfacher für mich. Ich war schon immer ein Feigling gewesen.
„Welchen Unterschied hätte es gemacht?“, murmelte ich und wandte dann hastig den Blick ab. Ich schämte mich dafür, dass ich so schwach war. Aber so war es nun einmal. Und darauf lief es doch wohl hinaus, oder? Welchen Unterschied hätte es schon gemacht? Ein Jahr oder zehn, zwanzig Jahre oder hundert, es lief immer wieder auf das selbe hinaus. Es war nur immer mehr vom selben. Was würde sich schon in zehn Jahren daran ändern, dass ich haben wollte, was ich nicht haben konnte, und von etwas träumte, das nicht sein durfte.
„Was es für...was es für...einen Unterschied macht? Das ist nicht dein Ernst, Ria. Das kann nicht dein Ernst sein!“
Warme Hände umfassten mein Gesicht. Und auf einmal war er so nah. So nah. So gefährlich nah. Seine Augen schimmerten. Das Grün schwamm. Ich verstand es nicht. Ich wollte es nicht verstehen.
„Ich kann dich nicht verlieren! Das musst du doch wissen! Du musst doch wissen, dass...“, flüsterte Flo eindringlich.
Ich konnte ihn nicht weiter reden lassen. Er war zu nah, und seine Worte drangen zu tief. Also fiel ich ihm ins Wort. Weil ich nicht hören wollte, was er sagte.
„Du bist gegangen. Und ich kann dich verstehen. Es war falsch.“ Und auf einmal hatte ich mich nicht mehr unter Kontrolle. Auf einmal sprudelte aus mir heraus, was ich so lange zurückgehalten hatte. Ich wusste, dass ich ihm zuviel in die Hand gab, dass ich ihm zuviel verriet. Doch der Damm war gebrochen. „Aber ich kann es nicht vergessen, Flo, ich kann einfach nicht. Und es hat so weggetan. Anfangs. Aber jetzt...jetzt ist irgendwie alles egal. Es ist einfacher, wenn alles egal ist.“
Er war immer näher gekommen. Immer näher, und ich konnte nicht länger zurückweichen, weil die Plexiglaswand des Bushaltestellenhäuschens jetzt hinter meinem Rücken war. Wir waren alleine. Der Bus hatte gehalten, die anderen Fahrgäste waren eingestiegen, der Bus war wieder gefahren, und wir waren geblieben. Ich hatte es nicht einmal richtig wahrgenommen. Niemals war es mir so gleichgültig gewesen, ob ich rechtzeitig zur Schule kam, und Flo schien das ausnahmsweise einmal ähnlich zu sehen.
Außer dem vorbeirauschenden Verkehr waren wir hier alleine. Und Flo war so nahe. So nahe, dass er seine Stirn jetzt gegen meine lehnte. Die Geste war so vertraut.
„Es tut mir leid. Es tut mir so leid...“, flüsterte er, immer wieder, bis seine Stimme brach. Erst, als ich das Salz auf meinen Lippen schmeckte, begriff ich, dass er weinte. Dass er es war, der so zitterte. Aber vielleicht zitterte ich auch. Der Wind war kalt, und mein Mantel zu dünn für das Wetter. Vielleicht zitterte ich auch nicht nur wegen der Kälte. Vielleicht hatte ich auch Angst.
Wie von selbst hoben sich meine Arme und legten sich vorsichtig um Flos Taille. Es tat weh, ihn weinen zu sehen. Durch den grauen Nebelschleier drang ein leiser Stich hindurch. Ich hatte es noch nie mitansehen können, wenn er weinte. Es kam so selten vor. Es bedeutete so viel.
„Warum weinst du?“ Am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen. Aber die Frage war heraus, und ich konnte sie nicht mehr zurücknehmen. Und als er dann antwortete, wollte ich sie auch nicht mehr zurücknehmen. Auch wenn es vielleicht besser gewesen wäre. Aber es war so oder so zu spät. Es war von Anfang an zu spät gewesen.
„Weil ich dich beinahe verloren hätte“, murmelte er, und sein Atem strich warm durch mein Haar. Ganz zart fuhr seine Hand über meine linke Wange, zeichnete den Bogen meines Kinns nach. Sie bebte ein wenig, die Hand. Aber vielleicht war das auch ich. Vielleicht bebte ich, weil die Hand so warm war gegen den kalten Wind, und weil es so unglaublich schön war, berührt zu werden.
„Weil ich so dumm war“, flüsterte Flo so leise, dass ich ihn kaum noch verstand. „Aber ich wollte doch nur...ich wollte dich doch nur schützen. Ich wollte doch nur...Aber ich hätte es wissen müssen. Ich hätte wissen müssen, dass es dich ebenso zerbricht, wie es mich zerbrochen hat.“
Ich verstand ihn noch immer nicht. Vielleicht wollte ich ihn auch einfach nicht verstehen. Weil es zu schön war, um wahr zu sein. Und weil alles Gute und Schöne nie von Dauer ist.
„Es tut mir so leid“, wisperte er ein letztes Mal, und ich glaubte ihm. Ich konnte ihm nicht verzeihen, nicht so schnell, nicht sofort. Aber ich glaubte ihm.
Und irgendwie wusste ich, tief in mir drinnen, dass er nicht der Einzige war, der Schuld hatte. Ich hatte ihn von mir gestoßen, aus Angst, verletzt zu werden. Ich hatte mich selbst geschützt, und wenn er so empfand wie ich, dann hatte ich ihn ebenso verletzt. Vielleicht trug keiner Schuld.
„Es tut mir auch leid“, murmelte ich deshalb, doch er schüttelte nur den Kopf.
Es war so typisch Flo. Er hatte nie eine Entschuldigung erwartet. Ganz gleich, was ich angestellt hatte. Vielleicht konnte ich ihm doch verzeihen.
Weiter kam ich mit meinen Gedanken nicht.
Denn Flo unterbrach mich mit einem Kuss.
Er küsste mich. Die erste vorsichtige Berührung seiner Lippen riss mich mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurück. Wärme durchströmte mich. Süße, süße Wärme. Seine Lippen schmeckten nach Salz, und es brannte ein wenig. Es war kein sanfter Kuss. Er fing sanft an. Aber schon bald wurde er wild, wild und beinahe verzweifelt.
Der graue Schleier fiel von mir ab. Ich fühlte wieder. Ich fühlte, und es tat weh, so vieles tat wieder weh, aber ich konnte es nicht bereuen, wieder zu fühlen. Nicht, wenn Flo mich küsste, als gäbe es kein Morgen mehr. Als sich seine Hände in meinen Haaren zu Fäusten ballten, wimmerte ich leise. Auf einmal konnte ich ihm nicht mehr nahe genug sein.
Flo küsste mich hinter dem Bushaltestellenhäuschen, verborgen vor den Blicken der anderen. Oder vielleicht küsste ich auch ihn.
Es war falsch, es war verboten, aber irgendwie auch so richtig.
Die Welt war nicht wieder in Ordnung, als wir uns irgendwann keuchend voneinander lösten. Sie würde nie wieder in Ordnung sein.
Aber auf einmal stand ich nicht mehr allein im Schneetreiben. Mein Kopf war gegen Flos Brust gepresst und er hielt mich so fest, als wolle er mich nie wieder loslassen. Die Kälte konnte mir nichts anhaben. Flo hielt sie von mir fern. Er war so warm. So warm. Den grauen Schleier brauchte ich nicht mehr, wenn Flo mich zusammenhielt.
Und vielleicht war die Welt doch für einen winzigen Moment wieder so, wie sie sein sollte.
13. Splitter
Florian
Ich weiß nicht, wie lange ich dort im Schneetreiben stand und Ria an mich drückte. Mich an sie klammerte wie ein Ertrinkender. Irgendetwas in mir war gebrochen. Ich fühlte mich, als bestünde ich nur noch aus einzelnen Scherben. Aus Splittern. Und sie war der Grund. Sie war der einzige Grund, aus dem ich noch hier war. Der einzige Grund, weiterzuleben. Auch wenn ich keine Hoffnung mehr sah.
Wäre es nur um mich gegangen, ich hätte schon lange aufgegeben. Es war so einfach, aufzugeben.
Ich weiß nicht, wie lange wir uns so aneinander fest klammerten, dort an der dicht befahrenen Straße, auf der sie beinahe gestorben wäre. Wie lange wir dort standen, während ich versuchte zu begreifen, was ich eigentlich schon immer gewusst hatte. Ich konnte sie nicht verlieren. Ich würde sterben, wenn ich sie verlor. Aber zu dieser Erkenntnis war eine neue hinzu gekommen: sie konnte mich ebensowenig verlieren.
Ich wusste nicht, was das für uns bedeutete. Oder vielleicht wusste ich es nur zu gut. Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich wollte nicht einmal daran denken. Es durfte nicht sein. Niemals hatte ich mich so vollkommen hilflos gefühlt.
Und doch...und doch war diese graue Leere in meinem Inneren irgendwie weniger schmerzhaft, seit ich sie in meinen Armen hielt. Die Splitter waren weniger scharfkantig, rieben nicht mehr beständig aneinander. Ria hielt sie zusammen. Sie hielt mich zusammen.
Irgendwann vergrub ich mein Gesicht in ihrem weichen, warmen Haar. Atmete ihren Duft ein. Ihren warmen, vertrauten Geruch. Sie fühlte sich so klein an in meinen Armen. So zerbrechlich. Aber auch so lebendig. Sie war so herrlich lebendig, so wunderbar warm.
Immer wieder sah ich diesen einen Moment vor meinem inneren Auge ablaufen. Immer wieder sah ich sie auf die Straße gehen, sah den riesigen LKW mit dem blauen Aufdruck auf sie zu rasen.
Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Wie in Zeitlupe sah ich, wie Ria auf die Straße trat. Einen Schritt. Dann blieb sie stehen. Dort, wo die Reifen der LKWs bereits tiefe Rillen im Asphalt hinterlassen hatten.
Es war, als hätte ich Jahre Zeit, einzugreifen. Doch mein Körper wollte mir nicht gehorchen. Ich war zu langsam. Fast schien es mir, als müssten sich meine Beine durch tiefen Morast kämpfen. Ich war zu langsam. Und dann sah ich ihn, den großen Sattelschlepper. Den großen Sattelschlepper, der laut hupend auf Ria zuschoss. Sie sah so klein aus im harten, bleichen Licht der Scheinwerfer, die sich durch den zunehmend heftiger fallenden Schnee bohrten. Sie sah so klein aus. Sie wirkte so zerbrechlich. Sie war so zerbrechlich.
„RIA!“, brüllte ich.
Natürlich hörte sie mich nicht. Sie starrte nur weiter in das weiße Schneetreiben hinein. Sie war so abwesend in letzter Zeit.
Ich weiß nicht, wie es mir gelang, sie doch noch rechtzeitig am Arm zu packen und zurück zu reißen. Es war knapp. Es war so verdammt knapp.
Doch das war nicht das Schlimmste gewesen. Das Schlimmste waren ihre Augen gewesen. Nachdem ich sie von der Straße gezerrt hatte, hatte sie zu mir aufgesehen. Und ihre Augen...ihre Augen. Sie waren so … leer... gewesen. So völlig ausdruckslos.
Und es war meine Schuld. Ich hatte ihr das angetan.
Es war das erste Mal, dass ich hassen konnte, dass ich abgrundtief hassen konnte. Ich hasste mich, weil ich ihr das angetan hatte.
Aber welche Wahl hatte ich denn gehabt? Welche Wahl hatten wir denn? Wir hatten nie eine Chance gehabt. Wir würden nie eine Chance haben.
Im Moment wollte ich nicht daran denken. Ich wollte sie nur festhalten und froh sein, dass sie noch lebte. Dass sie noch atmete, dass ihr Herz noch schlug. Ich konnte es spüren, ihr Herz. Wie es sanft gegen meinen Brustkorb pochte. So fest hielt ich sie, dass ich ihr Herz spüren konnte. Jeder Pulsschlag hielt nicht nur sie, sondern auch mich am Leben.
„Flo?“, murmelte Ria irgendwann gegen meine Brust. Fast wünschte ich mir, sie hätte geschwiegen. Ich wollte nicht denken. Ich wollte an nichts anderes denken als an Ria in meinen Armen. Ich wollte die Welt um uns herum vergessen, nur für einen kleinen Moment. Aber der Moment war bereits vorbei, und die Wirklichkeit holte uns ein. So, wie sie uns irgendwann immer einholte.
„Ja?“, fragte ich schicksalsergeben.
„Vielleicht...vielleicht sollten wir...woanders hingehen? Vielleicht...ist es hier nicht ein wenig zu...was, wenn...was, wenn uns jemand sieht?“, schlug sie zaghaft vor.
„Sicher.“
Allein der Gedanke, sie auch nur für einen Augenblick loslassen zu müssen, war mir beinahe unerträglich. Es war zu knapp gewesen, und ich konnte noch immer spüren, wie das Adrenalin durch meine Adern jagte.
Aber sie hatte recht. Natürlich hatte sie recht. Es war zu gefährlich. Dass mir das nicht bereits viel früher aufgefallen war, sagte so viel über meinen momentanen Zustand.
Es kostete so viel Kraft, mich von ihr zu lösen. Es gelang mir nicht vollständig. Fast ohne mein Zutun verschränkten sich meine Finger mit den ihren. Es war zu lange her, dass ich von einem anderen Menschen berührt worden war. So lange, dass ich jemanden berührt hatte. Ich hatte sie so sehr vermisst.
Sie protestierte nicht. Sie entzog sich mir nicht. Sie wandte sich nicht von mir ab, wie sie es in letzter Zeit so oft getan hatte. Statt dessen verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem winzigen Lächeln. Es war das erste Mal seit jenem Tag im Park, dass sie den Versuch eines Lächelns wagte. Und da spürte ich es. Wie sich zwei der spitzen Scherben in meinem Inneren wieder ineinander fügten. Ich hatte sie nicht verloren. Noch nicht.
Wir hatten kein Ziel. Ich wusste nicht, wohin ich hätte gehen sollen. Nach Hause? Dort würde uns nur zu deutlich klar werden, in welch auswegloser Situation wir uns befanden. In den Park? Dort warteten die Erinnerungen an einen Tag, der so schön hätte sein können und der doch alles zerstört hatte. Nein, für den Park waren die Scherben noch zu scharfkantig, und Ria noch zu zerbrechlich.
Irgendwie war ich auch nicht in der Lage, eine bewusste Entscheidung zu treffen. Entscheidungen waren im Moment einfach zu anstrengend. Zu vieles, das abgewogen werden musste, zu vieles, das mit in die Waagschale geworfen werden musste. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte nicht mehr. Einen Tag Frieden. Nur einen einzigen Tag Frieden. Das war es, was wir beide jetzt brauchten. Eine Atempause. Vielleicht hatte ich zuviel nachgedacht. Vielleicht hatte ich zuviel gegrübelt und befürchtet und damit alles noch viel schlimmer gemacht. Vielleicht war es besser, Ria zu vertrauen. Ria, die immer alles aus dem Bauch heraus zu entscheiden schien. Die mehr im Jetzt lebte. Vielleicht war es besser, im Jetzt zu leben.
Hand in Hand gingen wir die befahrene Straße entlang. Zischend brausten die Autos an uns vorbei. Das Schneetreiben hatte sich in Schneeregen verwandelt, der matschige Pfützen auf der Straße zurückließ. Immer wieder, wenn einer der LKWs besonders dicht am Bürgersteig vorbei raste, spritzte der Matsch auf. Binnen weniger Minuten waren meine Hosenbeine durchnässt. Es kümmerte mich nicht. So vieles kümmerte mich nicht mehr seit jenem Tag im Park. Nichts hatte mehr Bedeutung. Nichts, mit Ausnahme des Mädchens, dessen Hand ich fest in der meinen hielt. Mit Ausnahme des Mädchens, das ich mit meinem Körper vom spritzenden Schneematsch abschirmte.
Irgendwann begriff ich, dass ich vielleicht kein Ziel hatte, Ria hingegen sehr wohl. Sie war es, die an den Fußgängerüberwegen inne hielt, die mich über Zebrastreifen zog und sich für eine Richtung entschied. Beständig lotste sie mich in die Innenstadt, und ich begriff es erst richtig, als wir uns schon in der Fußgängerzone befanden.
Ich fand es gewagt, sogar ein wenig riskant. Immerhin waren wir schulpflichtig. Wenn wir einer Polizeistreife oder auch nur einem übermäßig besorgten Bürger in die Arme liefen, würden wir Fragen beantworten müssen. Im schlimmsten Fall würden uns die Beamten zur Schule eskortieren, und dann würde auch das Jungendamt genauer hinsehen. Doch ich fand einfach nicht die Kraft, ihr zu widersprechen. Nicht, wenn ich doch inzwischen ahnte, wohin sie mich führte.
Es überraschte mich deshalb nicht sonderlich, als wir uns vor dem hohen, gläsernen Gebäude wiederfanden, mit dem ich nur gute Erinnerungen verknüpfte. Hier hatten wir uns immer in unsere Fantasiewelten geflüchtet, oder in die Welten, die die Fantasie anderer erschaffen hatte. Hierher waren wir geflohen, wenn es im Park zu kalt gewesen war, wenn wir es zu Hause nicht mehr ausgehalten hatten.
Es war ein Ritual. Wir verstanden uns ohne Worte. Wir hingen unsere Jacken an die beiden rechten Haken im Eingangsbereich, traten uns den Schneematsch von den Schuhen und gingen dann dicht nebeneinander die breiten, steinernen Treppenstufen aus einem vergangenen Jahrhundert hinauf.
Es schmerzte beinahe körperlich, ihre Hand aus der meinen gleiten zu lassen. Aber es war notwendig. Man kannte uns hier. Und auch wenn die Bibliotheksangestellten in der Regel ein Auge zudrückten, was die Tageszeit betraf, zu der wir uns hier aufhielten, so würden sie doch Verdacht schöpfen, wenn wir zu vertraut miteinander umgingen.
Es tat weh, ständig etwas verbergen zu müssen. Diese Fassade aufrecht zu erhalten. Diese Fassade, hinter der ich mich schon so lange verbarg. Hinter der wir uns schon so lange verbargen. Es war so vertraut, den Schein wahren zu müssen. Ich hatte mein ganzes Leben lang nichts anderes getan. Und doch war es jetzt irgendwie anders. Es wog schwerer. Vielleicht, weil ich das erste Mal etwas verbergen musste, das ich selbst zu verantworten hatte.
Ohne ein weiteres Wort zu wechseln gingen wir zu unserem üblichen Platz. Dort, im obersten Stock in der hintersten Ecke, schliefen die Kinderhörspielkassetten und die Märchenvideokassetten ihren hundertjährigen Schlaf. Ebenso wie die alte Steintreppe ein Relikt aus einem vergangen Jahrhundert war, stammten auch sie aus einer anderen Zeit.
Hier waren wir für uns. Ab und an verirrte sich eine Praktikantin hierher, aber auch das kam nur äußerst selten vor. Wir waren hier so unsichtbar, wie man es in einer öffentlichen Bibliothek nur sein kann.
Ria machte es sich auf einem der Sitzkissen bequem. Auf einem der quietschgrünen Sitzkissen, die sich unter den Kassettenrekordern befanden und die wohl zum gemütlichen Faulenzen einladen sollten. Lange Zeit stand ich unschlüssig da und wusste nicht so recht, was ich mit mir anfangen sollte. Ich fühlte mich so verdammt … schüchtern. Ich wusste nicht mehr, wie ich mit ihr umgehen sollte. Sollte ich auf Abstand bleiben, war es das, was sie wollte?
Irgendwann schüttelte sie mit einem schwachen Lächeln den Kopf und zog ein weiteres Sitzkissen neben das ihre. Erleichtert und zugleich vorsichtig ließ ich mich darauf nieder und griff dann behutsam nach ihrer Hand. Ich hielt es einfach nicht länger aus, bei ihr zu sein und sie nicht zu berühren. Zu lange war ich auf Abstand geblieben. Zu dicht war ich heute davor gewesen, sie zu verlieren.
Sie schien nichts dagegen zu haben. Ihre Hand drehte sich in der meinen, ihr Daumen fuhr in sanften Kreisen über meinen Handrücken. Heiße Schauer jagten meinen Rücken hinab. Dass eine so zarte, so unschuldige Berührung so viel Bedeutung haben konnte. Und doch konnte ich mich nicht von ihr losreißen.
Eine lange Weile saßen wir so stumm nebeneinander und sahen uns an. Ich konnte in Rias Augen nicht mehr so gut lesen wie früher. Es war, als habe sie innerlich einen Vorhang zugezogen. Sie war erwachsen geworden. Sie wirkte so viel älter. So viel entschlossener. Aber zugleich irgendwie auch so zerbrechlich. Ich musste behutsam vorgehen. Es waren Wunden geschlagen worden. Tiefe Wunden, die noch nicht verheilt waren.
Nie zuvor hatte ich sie mit solcher Vorsicht behandelt. Nie zuvor hatte ich so auf meine Worte geachtet wir in den letzten Wochen. Es war noch nicht vorbei. Wir fingen gerade an, uns wieder einander zu nähern. Ich konnte sie noch immer verlieren. Ich war noch immer kurz davor, sie zu verlieren.
Ob es wohl besser wäre, sie jetzt zu verlieren, als Monate, wenn nicht gar Jahre darauf zu warten? Aber ich konnte es nicht. Ich konnte es einfach nicht. Ich war zu schwach. Ich konnte sie nicht noch einmal von mir stoßen. Nicht, wenn ich wusste, dass ich sie genauso verletzte wie mich selbst.
Ria war es, die die Stille durchbrach.
„Kannst du mir verzeihen?“, wisperte sie.
„Ob...was?“ Verwirrt sah ich auf sie hinab. Ich hatte mit allem gerechnet. Mit allem, aber nicht mit diesen Worten.
„Natürlich kann ich...was soll ich dir denn verzeihen?“
„Dass ich dich von mir gestoßen habe. Dass ich...dass ich nicht verstanden habe...“
„Aber das war doch...das habe ich doch erwartet. Ich wollte doch, dass...dass du mich von dir stößt. Es war die einzige Möglichkeit...es ist die einzige Möglichkeit...“
Ich verhaspelte mich, stolperte über die Worte. Seufzend atmete ich tief ein und versuchte, mich zu sammeln.
„Es gibt nichts zu verzeihen, Ria. Wirklich nicht. Aber...kannst du...kannst du mir denn verzeihen?“
Es blieb lange still. Furcht senkte sich wie ein dunkler Schatten über mich. Mir war so kalt. So kalt. Ich hatte nicht gewusst, dass Furcht einen Geschmack haben konnte. Sie schmeckte nach Metall. Nach rostigem Metall. Ich schluckte mühsam. Was sollte ich nur tun, wenn sie nicht vergeben konnte? Wenn sie nicht vergessen konnte? Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten.
„Ich hoffe es“, flüsterte Ria dann, und auf einmal konnte ich wieder atmen. „Nicht sofort...da ist noch immer diese Wunde in mir, weißt du, dieser Riss, der noch heilen muss. Und ich hoffe so sehr, dass er heilen kann. Ich hoffe so sehr, dass ich es eines Tages vergessen kann. Ich kann nämlich nicht ohne dich leben, Flo. Ich kann es einfach nicht. Ich hab mich noch nie so alleine gefühlt wie in den letzten Wochen. Nichts hat mehr Sinn gemacht. Ich habe nicht einmal richtig...gelebt, weißt du? Ich hab mich selbst verloren...“
Vielleicht war das meine Strafe. Vielleicht war es eine größere Strafe, erkennen zu müssen, was ich angerichtet hatte.
„Oh, Ria...“, flüsterte ich und streckte die Hand nach ihr aus. Ich wollte sie trösten. Vielleicht wollte ich ihr übers Haar streichen, vielleicht wollte ich nach ihrer anderen Hand greifen. Ich wusste es nicht. Doch sie wies mich zurück. Das erste Mal wies sie mich zurück.
„Nicht!“ Sie hob ihre freie Hand in einer abwehrenden Geste und rückte ein Stück von mir fort. „Lass mich ausreden, Flo! Hör mir zu, bitte, hör mir zu!“
Ich schluckte und nickte. Da war sie wieder, diese Vorsicht. Diese Vorsicht, und dieser Graben, der sich zwischen uns auftat. Aber sie hielt nach wie vor meine Hand, oder ich hielt die ihre. Da war noch immer ein Band zwischen uns.
„Wir haben so viel falsch gemacht“, murmelte Ria. Sie klang bedrückt. Sie spürte ihn auch, den Graben. „Beide. Wir haben beide Fehler gemacht. Wir sollten reden. Wir haben in den letzten Wochen zu wenig geredet. Ich denke, das war der größte Fehler, den wir gemacht haben. Dass wir zu wenig geredet und uns zu viel dabei gedacht haben.“
Sie war mutiger als ich. Sie war schon immer mutiger gewesen. Sie hob den Kopf und sah mich an. Mit diesen himmelblauen Augen, die noch immer so schrecklich leer waren. Aber da war nicht mehr nur Leere. Da war ein Funke. Ein Funke Leben flackerte in ihren Augen. Ich würde nicht zulassen, dass er erlosch. In diesem Moment schwor ich mir, dass ich alles dafür geben würde, ihn am Leben zu halten und ihr die Hoffnung zu geben, die ich selbst schon verloren hatte.
„In Ordnung“, murmelte ich deswegen. „Dann lass uns reden.“
Sie atmete tief ein, schien ein wenig Mut zu sammeln. Unwillkürlich schlossen sich ihre Finger fester um die meinen. Ich war mir fast sicher, dass ich nicht hören wollte, was sie zu sagen hatte.
„Wo warst du? Wo bist du hingegangen, nachdem du mich im Park allein gelassen hast?“
Sie fragte nicht, warum ich gegangen war. Sie machte mir keinen Vorwurf. Und allein, dass sie die Frage so gestellt hatte, verriet mir, dass sie mich besser durchschaute, als ich es für möglich gehalten hätte.
Ich wollte es ihr nicht sagen. Ich wollte nicht, dass sie es erfuhr. Aber wie konnte ich mich weigern, ihr zu antworten? Wie konnte ich mich jetzt vor ihr verschließen, wo ich sie doch so lange von mir gestoßen hatte? Wie konnte ich mich jetzt wieder von ihr entfernen, wo wir doch gerade die ersten, zögernden Schritte aufeinander zu gingen?
Und so entschied ich, ihr die Wahrheit zu sagen. Ich hatte genug davon, alles zu verbergen. Ich hatte zu oft gelogen, mich zu oft versteckt. Ich war es so leid.
„Ich wüsste nicht, dass ich mich bewusst entschieden hätte, irgendwo hin zu gehen. Ich bin zerbrochen, Ria. Meine ganze Welt ist in sich zusammengefallen wie ein Kartenhaus. Ich konnte nicht mehr. Ich musste alleine sein. Ich wollte nicht, dass du mich so siehst, und ich wollte nicht riskieren, die Grenze noch mehr zu überschreiten. Ich war dir zu nahe, es war zu gefährlich, verstehst du? Ich bin vor dir geflohen, aber noch mehr vor mir selbst.“
Ich verstummte und sah auf meine Hand. Auf meine Finger, die so fest mit den ihren verflochten waren. Ich zog Kraft aus der Berührung.
„Ich bin eine ganze Weile ziellos durch den Park geirrt. Und dann bin ich Richtung Innenstadt gegangen...“
Wieder zögerte ich. Sie sollte all das nicht hören. Ich wollte nicht darüber sprechen.
„Und dann was?“ Diese Augen. Diese himmelblauen Augen. Sie sahen zu viel. Sie drangen zu tief.
„Flo, was sagst du mir nicht? Was war da los?“
Ich seufzte. Und dann erlaubte ich mir, mich zu erinnern. Mich an das zu erinnern, das ich am Liebsten für immer vergessen hätte.
„Ich kann es nicht vergessen!“, hatte sie geflüstert, mit diesem schrecklich toten Ausdruck in den Augen. Und ich hatte sie verstanden. Gott, wie gut ich sie verstanden hatte. Ich konnte auch nicht vergessen. Es war der schönste und zugleich der schrecklichste Moment meines Lebens gewesen. Nie, niemals würde ich vergessen, wie es gewesen war, das Mädchen, das ich schon mein ganzes Leben geliebt hatte, zu küssen. Ebenso, wie ich niemals vergessen würde, wie sie mich angesehen hatte, als ich gegangen war.
Verdammt, es war die einzige Möglichkeit gewesen! Ich hatte mit mir gerungen, dort, unter der Eiche. Es war gewesen, als würde ich mir das Herz aus der Brust reißen. So musste es sich anfühlen, zu sterben. Und in gewisser Weise war ich auch gestorben.
Nur schemenhaft konnte ich mich daran erinnern, wie ich danach ziellos durch den Park geirrt war.
Lange hatte ich auf der Fußgängerbrücke gestanden, die den Park mit dem nächsten Stadtbezirk verband. Lange hatte ich dort am Geländer gestanden und in die Tiefe geblickt und mit dem Gedanken gespielt, einfach aufzugeben. Der Gedanken an die Zukunft, die mich erwarten würde, hatte mir den Brustkorb zugeschnürt, mir das Gefühl gegeben, nicht mehr atmen zu können. Mit absoluter Klarheit hatte ich erkannt, was mich erwartete. Ein Leben in dem Bewusstsein, dass ich meine Schwester liebte. Ich hatte sie schon immer geliebt. Ich würde sie immer lieben. Daran würde sich nie etwas ändern. Ebensowenig, wie sich die Tatsache ändern würde, dass sie meine Schwester war. Dass ich sie nicht lieben durfte. Dass ich sie von mir stoßen musste, wieder und wieder und wieder, bis es uns irgendwann beide zerbrach.
Es wäre besser für sie, wenn ich nicht da wäre. Es wäre besser für uns beide.
Vielleicht würde sie vergessen können. Sie war noch jung. Vielleicht würde sie einen anderen finden. Vielleicht würde sie sich in einen anständigen Jungen verlieben. Vielleicht konnte sie glücklich werden.
Ich hätte alles gegeben, um sie glücklich zu sehen.
Alleine der Gedanke, sie an einen anderen zu verlieren, schmerzte so sehr, dass ich leise aufstöhnte. Ich konnte sie nicht verlieren. Und doch musste ich es. Auf die ein oder andere Weise würde ich sie verlieren müssen. Um unser beider Willen.
Es wäre so einfach gewesen, zu springen.
Aber dann dachte ich daran, wie ich sie zurücklassen würde. Bei Mutter und Patrick. Ohne jemanden, der auf sie acht gab. Wie lange würde sie alleine zurechtkommen? Was, wenn Mutter sich noch tiefer in ihrem Rausch verlor? Was, wenn Patrick gewalttätig wurde? Ich traute ihm nicht.
Nein, ich konnte sie nicht alleine lassen. Nicht so.
Lange stand ich auf der Brücke und sah auf die dicht befahrene Straße unter mir und klammerte mich am Geländer fest, während etwas in mir für immer zerbrach. Vielleicht war das der Moment, in dem ich den letzten Rest meiner Kindheit ablegte. In dem ich endgültig erwachsen wurde. Der Moment, in dem ich begriff, wie mein Leben von nun an aussehen würde.
Ich würde auf Ria acht geben. So, wie ich es immer getan hatte. Ich würde auf sie acht geben. Mehr nicht. Ich würde versuchen, der Bruder zu sein, der ich eigentlich nie gewesen war. Ich würde versuchen, weniger zu sein.
Und dann, wenn sie mich nicht mehr brauchte, würde ich gehen. Ich würde gehen und mich nie wieder umsehen. Ich würde versuchen, irgendwie zu überleben. Und wenn sich das als zu schwierig herausstellte, konnte ich immer noch hierher kommen und allem ein Ende machen.
Ich fühlte mich wie ein alter Mann, als ich mich irgendwann vom Geländer losriss und mich nach Hause schleppte. Da war diese Leere in mir. Das Leben hatte jeden Sinn verloren. Ich musste mich zwingen, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Ich musste mich zwingen, weiter zu atmen. Ich musste mich zwingen, an meinem Vorsatz festzuhalten und einfach nach Hause zu gehen. Nach Hause zu gehen und weiterzuleben, als sei nichts gewesen. Wenn doch nichts mehr so war wie zuvor.
Und ich hatte es versucht. Oh, Gott, ich hatte es versucht. Ihretwillen. Nur ihretwillen.
Selbst dabei hatte ich wohl versagt.
„Ich stand eine ganze Weile auf der Brücke“, flüsterte ich in die Stille der leeren Bibliothek hinein, und meine Worte schienen so unendlich schwer zu wiegen. Beinahe fürchtete ich mich vor ihnen. Und doch war es besser, sie loszuwerden. Das Gewicht loszuwerden, das mir den Brustkorb zusammendrückte. „Ich stand eine ganze Weile auf der Brücke und sah auf die Straße hinunter. Es hat so weh getan, verstehst du? Es war einfach zu viel, und ich wollte, dass es endlich aufhört. Ich wollte dich nicht länger in Gefahr bringen, ich wollte doch nur, dass du ein glückliches Leben haben kannst. Ich...ich hatte einfach keine Kraft mehr. Ich wollte nur noch, dass es aufhört. Und ich habe hinunter gesehen und mir überlegt, wie es wäre, einfach über das Geländer zu steigen und...und loszulassen.“
„Flo...“
Ich wollte sie nicht ansehen. Ich wollte sie nicht ansehen, und dann konnte ich doch nicht anders.
Nacktes Entsetzen. Da war nacktes Entsetzen in ihren Augen. So viel Angst. Jede Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie war leichenblass.
„Warum?“, brachte sie irgendwann heraus.
„Welchen Sinn hat ein Leben ohne dich?“ Selbst in meinen eigenen Ohren klang meine Stimme irgendwie gebrochen. Schwach. Besiegt. „Welchen Sinn macht es, auf eine Zukunft zu hoffen, wenn ich doch mit Sicherheit weiß, dass ich dich verlieren werde, auf die ein oder andere Art? Dass das hier nicht von Dauer sein kann?“
Darauf lief es doch wohl hinaus. Und sie verstand. Etwas verschob sich. Der Graben. Der Graben wurde schmaler und schmaler, bis irgendwann nur noch ein winziger, gezackter Spalt zurückblieb. Der Ausdruck in ihren Augen wurde irgendwie weicher, irgendwie wärmer. Wärmer und zugleich trauriger.
Und auf einmal war sie da. Auf einmal ruhte ihr Kopf an meiner Schulter, und ihre Arme lagen um meine Taille, hielten mich fest, klammerten sich an mir fest.
„Dann hätte ich dich beinahe verloren?“, flüsterte sie gegen meinen Hals. Ihre Stimme bebte leicht, und ich spürte die warme Nässe, die durch mein Shirt drang. Sie weinte. Es waren lautlose Tränen, aber sie weinte. Vorsichtig umarmte ich sie ebenfalls, wiegte uns leicht hin und her und versuchte, sie zu beruhigen. Ich spürte ihn. Ich spürte den Stich in meinem Herzen. Es hatte immer geschmerzt, sie weinen zu sehen. Vielleicht bedeutete das, dass die Splitter noch ein wenig mehr zusammengewachsen waren. Wenn ich schon wieder Schmerz empfinden konnte.
„Dann hätte ich dich beinahe verloren? Ich war so wütend, Flo. Ich war so traurig. Ich hab die Welt nicht mehr verstanden. Ich bin nach Hause gegangen, und ich hab mir nicht einmal Sorgen um dich gemacht. Ich hatte keine Kraft mehr, mir Sorgen um dich zu machen. Dabei hätte ich dich beinahe verloren. Und ich wusste es nicht einmal. Ich hab es nicht gespürt! Warum hab ich das nicht gemerkt, Flo? Warum hab ich nicht gemerkt, dass ich dich verliere?“
„Schsch“, murmelte ich beruhigend und strich ihr sanft über das Haar. Über dieses weiche, seidige Haar. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie so reagieren würde. Dass es ihr so nahe gehen würde. Ich hatte sie unterschätzt. Ich hatte sie in vielerlei Hinsicht unterschätzt.
Es tat gut, ihr so nahe zu sein. Es tat so unglaublich gut, für sie da zu sein. Sie zu trösten. Sie zu halten.
„Du hast mich nicht verloren“, flüsterte ich in ihr Haar. „Ich bin hier, Ria. Ich bin hier.“
Ich war da. Für den Moment. Ich war da, und wir waren beide nicht mehr alleine.
„Versprichst du es mir? Versprichst du mir, dass du nie wieder an so etwas denken wirst?“
Etwas in mir versteifte sich. Ich wünschte es so sehr. Ich wünschte so sehr, ich hätte das Wort über die Lippen bringen. Ja. Ein einfaches Ja hätte genügt. Aber ich konnte es nicht sagen. Weil es eine Lüge gewesen wäre.
„Das...das kann ich dir nicht versprechen.“
Eine ganze Weile blieb sie stumm. Dann fuhr sie sich mit dem Handrücken über die Wangen und löste sich von mir, so dass sie zu mir aufsehen konnte. Ihre Wimpern waren nass und verklebt von den Tränen, und eine Strähne hing ihr in das rechte Auge hinein. Behutsam strich ich das Haar hinter ihr Ohr zurück. Mein Finger brannte, dort, wo er ihre Haut berührt hatte. Hastig zog ich meine Hand wieder zurück.
Wieder sahen wir uns lange an.
Ria biss sich unschlüssig auf die Unterlippe. Sie versuchte, in mir zu lesen. In mich zu dringen. Langsam kam sie immer näher. Mit den Händen stützte sie sich auf dem Regal in meinem Rücken ab. Sie war so nah. So gefährlich nahe. Unwillkürlich wich ich ein wenig zurück. Es kostete so viel Kraft, sie nicht in meine Arme zu schließen. Sie nicht an mich zu ziehen. Nicht die Hände in diesem weichen Haar zu vergraben. Sie nicht zu küssen. Diese weichen Lippen zu schmecken. Mich in dem Kuss zu verlieren, wie vorhin an der Bushaltestelle. In ihrem Duft zu ertrinken.
Ich erschrak vor mir selbst.
Es war gefährlich geworden, ihr nahe zu sein.
Irgendwann schloss ich die Augen und wandte den Kopf ab.
„Bitte“, flüsterte ich verzweifelt. Zweimal hatte ich mich nicht im Griff gehabt. Musste sie unbedingt ein drittes Mal herausfordern?
Warum schmerzte es so, als sie vor mir zurückwich? Warum war mir auf einmal so kalt? Warum wünschte ich mir auf einmal, ich wäre nicht so vernünftig gewesen?
„Du hast Angst“, stellte Ria verblüfft fest. „Du hast Angst vor mir. Warum, Flo?“
„Weil ich mich selbst nicht mehr richtig unter Kontrolle habe, wenn du so nahe bist“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Weil es verdammt gefährlich ist! Begreif das doch endlich!“
Ihr wütender Blick traf auf den meinen. Sie mochte es nicht, wenn ich sie zurecht wies. Ich hielt ihm stand, dem Blick. Ich musste ihm standhalten.
Sie blieb nicht lange wütend. Sie war noch nie nachtragend gewesen. Manchmal fragte ich mich, ob es daran lag, dass es sie so viel Kraft kostete, wütend zu sein. Vielleicht lag es auch daran, dass sie nie lange böse auf mich sein konnte. Vielleicht lag es auch daran, dass sie so alleine war, wenn ich nicht da war. Wenn sie mit mir Streit hatte, wen hatte sie denn dann noch?
Der Zorn wich rasch. Zurück blieb eine tiefe Traurigkeit, die schlimmer war als alles andere. Sie traf mich. Genau an der Stelle, an der die Splitter noch immer schmerzhaft gegeneinander rieben.
Mit einem leisen Stöhnen vergrub ich meinen Kopf in den Händen. Meine Finger verkrallten sich in meinen Haaren, ballten sich dort zu Fäusten. Es schmerzte, doch ich begrüßte ihn, den Schmerz. Er hielt mich in der Realität. Er brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück.
„So geht es nicht weiter, Ria“, seufzte ich in meine Hände hinein. „Ich kann nicht so tun, als sei nichts gewesen. Ich kann es nicht vergessen. Irgendwie...irgendwie ist alles anders, verstehst du, und es ist so schwer, mich von dir fernzuhalten. So verdammt schwer!“
„Warum hältst du dich dann von mir fern? Warum...warum lässt du es nicht einfach geschehen?“, fragte sie zaghaft.
Ich lachte. Es klang so bitter, das Lachen. So gar nicht nach mir.
„Warum fragst du, wenn du die Antwort schon kennst?“
„Warum gibst du so schnell auf?“, entgegnete sie fest.
„Für was soll ich denn kämpfen, Ria?“
Auf einmal fühlte ich mich so müde. So verdammt alt und so verdammt müde. Sie hatte recht. In gewisser Weise hatte ich aufgegeben.
„Für uns! Du sollst für uns kämpfen!“
Uns. Sie hatte uns gesagt. So, als wollte sie...so, als wünschte sie...
Langsam hob ich den Kopf. Unsere Blicke trafen sich. Sie war so wunderschön. So wunderschön, wenn sie aufgebracht war. Ihre Augen blitzen. Sie sah nicht müde aus. Sie hatte noch nicht aufgegeben.
„Gibt es das denn? Ein uns?“, fragte ich vorsichtig. Ich bewegte mich auf einem Minenfeld. Die Luft war irgendwie schwerer geworden.
Ich las die Antwort in ihren Augen. Mach mir nichts vor, schienen sie mir zuzuflüstern. Versuch nicht, es abzustreiten.
Lange rang ich mit mir. Fand keine Worte. Es war, als habe mich die Fähigkeit, mich zu artikulieren, schlichtweg verlassen.
„Was ist denn das zwischen uns, hm? Ist das nichts? Ist das bedeutungslos?“
Auf einmal wirkte Ria unsicher.
Bedeutungslos? Hatte sie es noch immer nicht verstanden?
„Nein! Nein, Ria! Es ist alles. Alles!“ Sie musste doch wissen, wie viel sie mir bedeutete! „Aber das hier ist kein Spiel, verdammt! Das hier ist kein Spiel, und wir sind keine Kinder mehr!“
„Ich weiß, dass das kein Spiel ist! Aber deswegen dürfen wir doch nicht einfach aufgeben! Wir müssen kämpfen, Flo!“ Sie war laut geworden. Eigentlich hätte ich einschreiten sollen. Ich hätte sie daran erinnern sollen, dass wir an einem öffentlichen Ort waren, und dass es verdammt riskant war, so lautstark zu diskutieren. Doch es war mir gleich. Ich hatte mich nun mindestens ebenso in Rage geredet wie sie.
„Warum soll ich kämpfen, wenn wir doch so oder so keine Chance haben? Wenn wir nie eine Chance hatten?“, konterte ich. Oh ja, ich konnte auch laut werden.
„Wir leben noch, oder?“, hielt Ria mir entgegen. „Nach allem, was passiert ist, nach allem, was wir durchgemacht haben – Mutters Saufeskapaden, kein Geld fürs Essen, aber wir leben noch, Flo! Weil wir gekämpft haben! Weil du gekämpft hast. Wir können das schaffen!“
„Wie denn? Wie sollen wir das schaffen? Wie können wir gewinnen, wenn doch die ganze Welt gegen uns steht?“
Auf einmal wich dieses Feuer aus ihren Augen. Dieses innere Feuer, das sie angetrieben hatte. Ich glaubte, beinahe zusehen zu können, wie es in ihr erlosch. Auf einmal wirkte sie wieder so jung. So jung und so verloren und so unendlich traurig.
„Vielleicht geht es nicht darum, zu gewinnen. Vielleicht geht es nur darum, so lange wie möglich irgendwie zu überleben“, flüsterte sie. „Vielleicht geht es nur darum, so viel Zeit wie möglich mit dir zu verbringen. Dich so lange festzuhalten, wie ich kann.“
„Damit kannst du leben?“, fragte ich ungläubig. „Du kannst mit dem Wissen leben, dass du mich verlieren wirst?“
Sie schwieg lange. Sie schwieg lange und sah zu Boden. Als sie den Kopf wieder hob, waren frische Tränenspuren auf ihren Wangen. Selbst im gedämpften Licht sah ich sie.
„Wenn ich die Wahl habe, jetzt mit dir zusammen zu sein oder dich gleich für immer zu verlieren – ja, dann kann ich damit leben.“
Wie von selbst hoben sich meine Hände. Wie von selbst legten sie sich behutsam auf ihre Wangen, umrahmten ihr Gesicht. Der Graben hatte sich geschlossen. Der Graben hatte sich geschlossen, und alles war so neu. So neu und so unbekannt und so gefährlich. Ich schwankte.
Ich taumelte immer dichter auf den Abgrund zu. Wenn ich fiel, wenn wir fielen, dann gab es kein Zurück mehr. Ich konnte sie nicht mit mir reißen, ich konnte es nicht zulassen.
Sie wollte mich. Ich hatte nur zu gut verstanden, was sie mir sagen wollte. Ich wollte sie auch. Wenn wir die einzigen Menschen auf der Welt gewesen wären und niemand nach unserem Namen gefragt hätte, hätte mich nichts glücklicher machen können. Aber wir waren nicht die beiden einzigen Menschen auf der Welt, und man würde nach unserem Namen fragen.
„Der Preis ist zu hoch, Ria.“
Als ich meine Stirn gegen die ihre lehnte und langsam den Kopf schüttelte, zitterte sie. Vielleicht zitterte ich auch. Es war kalt geworden in unserem Versteck.
14. Trippelschritte
Anna-Maria
„Der Preis ist zu hoch, Ria.“
Ich wurde ihn einfach nicht los, diesen Satz. So viele Sätze, die mir immer wieder durch den Kopf schwirrten, aber dieser wog irgendwie am Schwersten.
„Es ist mir egal! Es ist mir egal, was es mich kostet! Es ist mir egal!“ hatte ich geflüstert.
Seine Augen waren so dunkel gewesen. So dunkel, und irgendwie so unendlich traurig. Lange hatte er mich angesehen.
„Aber mir ist es nicht egal“, hatte er dann leise erwidert. Und irgendwie hatte ich geahnt, dass es ihm dabei völlig gleichgültig war, welchen Preis er zahlen musste.
Nach einer Weile waren wir dann ohne ein weiteres Wort aufgestanden und nach Hause gegangen. Er hatte meine Hand fest in seiner gehalten. Und ich hatte es zugelassen.
Er hatte sich bemüht, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber er hatte meine Hand nicht losgelassen. Nicht ein einziges Mal. Selbst seine Jacke hatte er unbeholfen mit der linken Hand übergestreift und mir dann in meinen Mantel geholfen.
Es war ein langer Weg nach Hause gewesen. Wir hatten es beide nicht sonderlich eilig gehabt.
Beinahe ziellos waren wir durch die Innenstadt geschlendert. Die Wolkendecke war ein wenig heller geworden, und der wenige Schnee, der liegen geblieben war, war bereits zu großen Pfützen geschmolzen, die das weiße Grau des Himmels gespiegelt hatten. Ein kalter Wind hatte durch die Häuserschluchten geweht, war unbarmherzig durch den Stoff meines Mantels gefahren und war mit eisigen Fingern über meine Haut gestrichen. Aber irgendwie...irgendwie war mir trotzdem beinahe warm gewesen. Flos Hand war so warm gewesen. Er hatte mich so fest gehalten.
Noch heute morgen war die Welt grau und kalt gewesen. Jetzt kehrten die ersten Farben zurück. Langsam lichtete sich der Nebel.
Ich fühlte mich noch immer so zerbrechlich, so verletzlich. So schutzlos. Aber die große, warme Hand, die sich so fest um die meine schloss, vermittelte mir auch das erste Mal seit langer Zeit wieder so etwas wie Sicherheit. Wie Geborgenheit. Flo war da. Er war wieder da.
Er hatte mich von der Straße gezerrt. Immer noch glaubte ich, den Schrei in meinen Ohren nachhallen zu hören. Den Schrei, der so voller Verzweiflung, so voller Angst gewesen war.
Da war ein Teil von mir, der ihn dafür hasste, dass er mich so im Stich gelassen hatte. Der ihn dafür hasste, dass er nicht mit mir gesprochen, sondern einfach für mich entschieden hatte, was das Beste für uns war.
Ich hatte gelitten. Ich hatte Wochen in dieser kalten, grauen Welt verbracht. Ich hatte mich selbst verloren. Aber wie konnte ich ihm das zum Vorwurf machen? Wie konnte ich es ihm zum Vorwurf machen, wenn er ebenso gelitten hatte wie ich? Wie konnte ich ihm zum Vorwurf machen, dass er mich hatte schützen wollen?
Alles war irgendwie anders geworden. Da war noch immer dieser Riss in meinem Inneren, der noch nicht verheilt war. Ich konnte nicht vergessen, wie es gewesen war, ihn zu verlieren. Ich hatte ihm vertraut. Flo war der einzige Mensch gewesen, dem ich absolut vertraut hatte. Und er war gegangen. Er war gegangen, ohne ein Wort der Erklärung. Und mein Vertrauen war erschüttert worden. Ich wusste nicht, ob die Wunde jemals vollständig heilen würde. Ob ich jemals wirklich würde vergessen können. Ob ich jemals wirklich würde verzeihen können.
Aber ich wollte es versuchen.
Irgendwie hatte das Gespräch in der Bibliothek wieder einmal alles geändert. Ich verstand nun, dass es ihm ähnlich gegangen war. Dass er nicht nur mich, sondern auch sich selbst verletzt hatte.
Und dann war da dieses Bild von Flo, der auf der Brücke stand und in den Abgrund sah. Diese Bild wurde ich einfach nicht mehr los. Ich wusste, es würde mich bis in meine Träume verfolgen.
Oh Gott, ich konnte ihn nicht verlieren. Ich konnte es nicht.
***
Es dämmerte bereits, als Flo seinen Schlüssel aus der Hosentasche zog und die Haustüre aufschloss. Schweigend gingen wir nebeneinander die Treppenstufen hinauf. Erst, als wir vor unserer Wohnungstüre angelangt waren, lösten sich seine Finger zögernd von den meinen. Mir war auf einmal kalt.
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Einen wutentbrannten Patrick, der einen Anruf von der Schule bekommen hatte und nun auf uns wartete, um uns die Hölle heiß zu machen, oder eine betrunkene Mutter, die am Küchentisch saß und teilnahmslos zu uns aufsehen würde.
Nichts von dem geschah.
Alles war wie immer. Die Wohnung war dunkel und still, Patricks Arbeitsstiefel fehlten und die Tür zum Schlafzimmer war geschlossen. Im Wohnzimmer stapelten sich die leeren Pizzakartons neben der Couch, halbvolle Bierflaschen reihten sich auf dem Küchentisch, und die Wäsche quoll bereits aus dem übervollen Wäschekorb.
Flo seufzte, halb erleichert, halb erschöpft. Ich erwartete, dass er sich nun ohne ein weiteres Wort der Hausarbeit widmen würde, so, wie er es in letzter Zeit immer getan hatte. Möglichst, ohne mit mir dabei im selben Raum sein zu müssen. Doch das tat er nicht.
Er half mir vorsichtig aus dem feuchten Mantel, hängte ihn an den Haken neben seine eigene Jacke, streifte sich die Schuhe von den Füßen und wartete geduldig, bis ich es ihm gleich getan hatte. Dann trat er dicht an mich heran und nahm meine kalten Hände in die seinen.
Ich hatte es so vermisst, berührt zu werden. Es war so wunderschön. Aber es tat auch irgendwie weh.
„Ich...ich mach uns einen heißen Kakao. Damit wir wieder ein wenig auftauen. Einverstanden?“
Er klang so unsicher, beinahe schüchtern. So gar nicht nach Flo. Und er sah mich so prüfend an. Die grünen Augen waren so ernst.
Ich konnte nur nicken.
Flo nickte ebenfalls, und dann verschwand er wortlos in der Küche.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort wie erstarrt im Flur stand und durch die offene Küchentüre beobachtete, wie Flo die Milch aus dem Kühlschrank und das Schokoladenpulver aus dem Schrank suchte und beides in einem Topf verrührte. Aber irgendwann gab ich mir einen Ruck und trat ebenfalls in die Küche. Als ich die Türe leise hinter mir schloss, erstarrte Flo für einen Moment in der Bewegung. Seine Schultern hoben sich, als er tief ein- und wieder ausatmete. Er drehte sich nicht zu mir um. Es war nicht nötig. Ich wusste, dass er meine Schritte überall erkannt hätte, so wie ich die seinen.
Wenig später saßen wir uns mit zwei dampfenden Tassen heißer Schokolade gegenüber. Ich hatte die Bierflaschen kurzerhand neben dem Herd abgestellt, aber wir wussten beide, dass das nur eine vorübergehende Lösung war.
„Patrick kommt in einer Stunde“, murmelte ich und rührte ein wenig in meinem Kakao, weil ich irgendwie nicht wusste, was ich sonst mit meinen Händen anstellen sollte.
„Ich weiß“, erwiderte Flo leise.
„Warum...“, fing ich an und verstummte dann wieder. Irgendwie fand ich nicht die richtigen Worte.
„Warum ich trotzdem Kakao gemacht habe?“, vervollständigte Flo meine Frage.
Ich nickte ein wenig hilflos.
„Versteh es nicht falsch, ich mag den Kakao, und ich sitze wirklich gerne hier mit dir, aber ist es nicht ein wenig gefährlich?“
„Dir war so kalt“, flüsterte Flo und umfasste dann vorsichtig mit beiden Händen mein Gesicht, so wie zuvor in der Bibliothek. Auf einmal war er wieder so nah. Sein Geruch hüllte mich ein wie eine warme Decke. Es war nur ein kurzer Moment. Aber obwohl er sich sofort wieder zurück zog, brannte sich die Hitze seiner Handflächen doch in meine Wangen.
„Ich hab gesehen, wie du gezittert hast, als wir nach Hause gekommen sind. Ich wollte dich ein wenig aufwärmen.“
„Danke.“
Das erste Mal seit langer Zeit spürte ich, wie sich meine Mundwinkel ein wenig hoben. Es war ein beinahe ungewohntes Gefühl. Irgendwie fühlte ich mich ein wenig leichter. Und als ich sah, wie sich Flos Mund ebenfalls zu einem kleinen, unsicheren Lächeln verzog, da war mir, als hätte eine der Scherben in meinem Inneren wieder ihren Platz gefunden.
Und dann saßen wir uns wieder schweigend gegenüber und tranken unseren Kakao. Aber es war ein anderes Schweigen als zuvor. Es war irgendwie so vertraut. Da war sie wieder, diese Nähe, die ich so vermisst hatte. Das erste Mal seit langer Zeit fühlte ich mich, als sei ich tatsächlich wieder zu Hause angekommen.
Natürlich blieb uns nicht viel Zeit, die Ruhe zu genießen. Aber vielleicht war das ganz gut so. Vielleicht war es ganz gut so, dass wir nicht genug Zeit hatten, uns in der Ruhe zu verlieren.
***
Er ließ mich nicht mehr aus den Augen. Er war immer da. Von jenem Tag an war er wieder da, so wie er es früher immer gewesen war. Er lachte und scherzte mit mir, während er in der Küche das Abendessen vorbereitete, er ging mit mir gemeinsam zur Schule und wartete nach dem Unterricht vor dem Klassenzimmer auf mich. Er gab mir seine Jacke, wenn ich fror, er schirmte mich von Patrick ab, so gut es eben ging. Er ging so behutsam und vorsichtig mit mir um, als sei ich unglaublich zerbrechlich und unglaublich kostbar. Allmählich spürte ich, wie etwas in mir heilte.
Vielleicht war das so mit dem Verzeihen. Vielleicht war das nicht ein Gefühl, das einfach da war. Vielleicht musste Vertrauen langsam wieder gewonnen werden. Stück für Stück. Wie ein Mosaik, das man wieder zusammensetzt. Vielleicht war es mit dem Verzeihen genauso. Vielleicht war es wie eine Vase, die zerbrochen war, und die man Stück für Stück wieder ineinander fügte. Vielleicht war es auch so, dass die Vase später nie wieder so aussah wie zuvor. Die feinen Risse würden bleiben, nur für den aufmerksamen Betrachter erkennbar.
Es war irgendwie anders als früher. Er war da, ja, aber irgendwie auch nicht. Da war wieder dieser Abstand zwischen uns. Immer wieder merkte ich, wie er mich aus den Augenwinkeln betrachtete, und jedes Mal, wenn ich zu ihm hinübersah, wandte er mit flammenden Wangen den Blick ab. Und da war etwas in seinen Augen, das vorher nicht dagewesen war. Eine merkwürdige Melancholie, die ich zuvor nie wahrgenommen hatte. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, wirkte er so ernst. So ernst, und irgendwie traurig. So viel älter als noch vor ein paar Monaten.
Ich konnte ihn nicht vergessen. Ich konnte ihn nicht vergessen, diesen Tag, der so viel verändert hatte und doch irgendwie nichts. Ich konnte nicht vergessen, wie er mich geküsst hatte, dort, im Schatten hinter der Bushaltestelle. Ich konnte nicht vergessen, wie er mich angesehen hatte. Wie er mich angesehen hatte, ehe er seine Stirn an die meine gelehnt hatte. Ich konnte nicht vergessen, wie er gezittert hatte.
Er hatte nicht gesagt, dass er mich nicht wollte. Er hatte nicht gesagt, dass ihn der Gedanke abstieß. Der Preis war zu hoch. Das war alles. Aber vielleicht war es auch genug.
***
Inzwischen war tiefster Winter. Die Heizung lief wieder – Gott sei Dank. Inzwischen herrschten draußen Minusgrade. Ich war so froh, dass Patrick sich um die Heizkosten gekümmert hatte. Vielleicht hatte es doch seine Vorteile, dass es nun einen Mann im Haus gab, der für so etwas Sorge trug. Das hatte ich auch zu Flo gesagt, aber der hatte mich nur lange angesehen. Mit diesem ernsten Blick. Und dann hatte er den Kopf geschüttelt.
„Ich wünsch mir so sehr, dass du recht behältst“, hatte er dann gesagt. „Ich wünsch es mir so sehr, aber ich glaube es nicht. Wir werden sehen.“
Es war einer dieser langen Winterabende, an denen es schon am Nachmittag dunkel wird. Ich mochte sie nicht, die Dunkelheit, aber irgendwie war es dadurch in der Küche noch viel gemütlicher als sonst. Irgendwie friedlicher. Ruhiger.
Flo kümmerte sich um das Essen, ich kümmerte mich um die Wäsche. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich ihn, während ich die Kleidungsstücke sortierte und in die Trommel der Waschmaschine lud. Er wirkte so ruhig, beinahe gelassen. Ich wusste nicht mehr, wie lange es her war, dass ich ihn so entspannt gesehen hatte. Zugegeben, in den „verlorenen“ Wochen hatte ich ihn nicht so genau beobachtet wie sonst, ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, und er war mir auch aus dem Weg gegangen. Aber wie konnte er jetzt so entspannt sein? Ich war alles andere als entspannt. Ich fürchtete mich. Denn irgendwie war es mir jetzt nicht mehr gleichgültig, was mit mir geschah. Es war mir nicht mehr gleichgültig, und ich fühlte mich so verletzlich wie schon lange nicht mehr.
„Musst du heute nicht ins Café?“, stellte ich irgendwann die Frage, die mir schon seit einer geraumen Weile auf der Zunge brannte. Ich fürchtete mich vor der Antwort. Ich wollte heute abend nicht alleine mit Patrick und Mutter sein. Und ich fürchtete mich davor, mit meinen Gedanken alleine zu sein. Mir auszumalen, wie es ihm ging, dort im Café. Was er sich heute wohl würde anhören müssen. Auch wenn er so entspannt wirkte, sah ich doch die Unsicherheit in seinem Blick, wann immer er zu mir hinüber sah. Und er sah oft zu mir hinüber. Mindestens ebenso oft wie ich, denn jedes Mal, wenn ich ihm einen kurzen Blick zugeworfen hatte, hatten sich unsere Augen getroffen. Und jedes Mal war mir dabei ein wenig warm geworden, und ich hatte mich hastig wieder der Wäsche zugewandt.
„Nein“, kam es zögernd aus der Richtung des Herdes.
„Oh, Gott sei Dank“, rutschte es mir heraus.
Es blieb lange still. Selbst das rhythmische Klappern des Kochlöffels war verstummt. Es war, als sei Flo dort vor dem Herd erstarrt.
„Ich hab gekündigt“, fügte er dann noch ein wenig leiser an.
Ich fuhr zu ihm herum. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an, oder besser gesagt seinen Rücken.
„Du hast WAS?“
Flo drehte sich langsam zu mir um.
„Ich arbeite nicht mehr im Café.“
Es klang beinahe schuldbewusst. Er sah mir nicht in die Augen, musterte den soßenroten Kochlöffel in seiner Hand mit übertriebenem Interesse.
Wie lange hatte ich auf diesen Moment gewartet? Wie lange hatte ich darauf gewartet, dass er endlich einsah, was er sich immer wieder damit antat, wenn er dort arbeiten ging. Wie lange hatte ich versucht, ihn zu überzeugen, dort endlich zu kündigen. Und jetzt erzählte er mir so vollkommen beiläufig, dass er es endlich getan hatte.
„Seit wann? Warum? Was...?“, brachte ich schließlich mit klopfendem Herzen heraus.
„Seit einem Monat.“
„Seit...“ Ich schluckte. Seit einem Monat. Seit einem Monat?
Ich fragte nicht, warum er mir nichts davon gesagt hatte. Wir hatten nicht sonderlich viel miteinander gesprochen über diese Zeit. Wir hatten nach vorne gesehen, hatten versucht, die Vergangenheit zu vergessen. Aber manchmal konnte sie wohl einfach nicht vergessen werden.
Es traf mich. Es traf mich sehr. Ich hatte nichts davon mitbekommen. Hatte er es vor mir verbergen wollen, oder war ich wirklich so unaufmerksam gewesen? Es tat weh, an diese Wochen zu denken, an die verlorene Zeit. All die verlorenen Tage.
Es tat weh, daran zu denken, wie weit wir uns in dieser Zeit voneinander entfernt hatten.
„Gut“, brachte ich heraus, als ich irgendwann meine Sprache wieder gefunden hatte.
Da löste Flo endlich seinen Blick vom Kochlöffel.
„Gut? Was...“ Verwirrt runzelte er die Stirn und biss sich auf die Unterlippe. „Was soll daran bitteschön gut sein?“
„Gut! Es ist gut! Der Job hat dich fertig gemacht, und ich wollte schon so lange, dass du endlich damit aufhörst.“
„Aber...verstehst du nicht...dadurch sind wir noch mehr von Patrick abhängig!“
„Wir werden eine Lösung finden. Wir kommen schon zurecht. Wir sind bisher immer irgendwie zurecht gekommen.“
Eine lange Weile sah er mich einfach nur an. Es war so still hier in der Küche. So warm. Das Grün war so warm. Und das erste Mal seit langer Zeit glätteten sich die Falten auf Flos Stirn ein wenig. Er sah auf einmal so jung aus. So jung und so erleichtert.
„Danke“, murmelte er irgendwann leise. Und da war es wieder. Dieses scheue, vorsichtige Lächeln.
Ich schluckte und wandte hastig den Blick ab. Es war gefährlich, dieses Lächeln. Auch wenn es so wunderschön war. Oder vielleicht gerade deswegen.
Der beißende Geruch nach verbranntem Essen schreckte mich aus meinen Gedanken.
„Oh, verdammt!“, fluchte Flo und riss den Topf von der Platte. Das Abendessen hatten wir beide vollkommen vergessen.
„Scheiße, scheiße, scheiße!“, jammerte er vor sich hin, während er versuchte, die Soße irgendwie zu retten und sie mit ein wenig Wasser und viel Tomatensaft verdünnte. Ich goß derweil die Spaghetti ab, die als weicher Klumpen im Sieb landeten.
„Es tut mir leid“, murmelte ich, doch Flo schüttelte nur den Kopf.
„Es war doch meine Schuld, ich hab vergessen, weiter umzurühren.“
„Aber ich hab dich abgelenkt.“
„Und ich hätte einfach nur den Herd ausschalten müssen. Gib es auf, Ria“, meinte er bestimmt.
„Was wird Patrick wohl dazu sagen...“
Mir wurde ein wenig übel bei dem Gedanken daran. Patrick hatte immer wieder klar gemacht, dass er es nicht gerne sah, wenn seine Regeln nicht befolgt wurden. Ich wusste nicht, wie er reagieren würde, wenn ihm nicht Gehorsam geleistet wurde.
„Das werden wir gleich herausfinden“, antwortete Flo angespannt, und da hörte auch ich es. Das laute Krachen, mit dem die Wohnungstüre ins Schloss fiel.
Jetzt war mir wirklich schlecht. Mein Herz hämmerte wie wild gegen meinen Brustkorb.
„Oh nein. Oh verdammt. Oh Flo, was machen wir nur!“
Hektisch sah ich mich in der Küche um. Nicht einmal der Tisch war gedeckt! Das Essen war verdorben, und wir hatten einfach keine Zeit mehr.
„Ist schon gut. Ist schon gut, wir schaffen das. Sieh mich an, Krümel. Sieh mich an!“
Auf einmal stand er dicht vor mir. Eine warme Hand legte sich auf meine Wange.
„Ich bin bei dir, okay? Ich lass nicht zu, dass er dir was tut. Es war meine Schuld, in Ordnung?“
„Aber was ist mit dir, Flo, was ist, wenn er...“
„Ich kann auf mich aufpassen. Lass mich das machen. Bitte, halt dich raus, ja?“, flüsterte er eindringlich.
„Aber Flo...“
Die Schritte kamen immer näher. Diese schweren Schritte, die durch den Flur dröhnten. Jedenfalls kam es mir so vor.
Flo wich hastig zurück, aber sein Blick hielt den meinen noch immer gefangen.
„Versprich es mir!“
Ich kam nicht mehr dazu, zu antworten, denn im selben Moment öffnete sich die Küchentüre.
Es geschah so langsam. Wie in Zeitlupe. Die Türe öffnete sich quälend langsam, und ebenso quälend langsam kam Patrick in den Raum geschlurft. Schwer ließ er sich auf den Stuhl neben meinem fallen.
Er sagte kein Wort. Er starrte auf den leeren Tisch und wartete. Er war so eine große, bedrohliche Präsenz. Eine große, bedrohliche Präsenz kurz vor der Explosion.
Der Tisch! Mein Gott, der Tisch war immer noch nicht gedeckt! Ich wollte eben aufspringen, als mich ein funkelnder grüner Blick traf.
„Bleib sitzen!“, beschwor er mich tonlos.
Ich kämpfte mit mir. Einerseits wollte ich ihm so gerne helfen – andererseits wollte ich ihn auch nicht ablenken und wieder daran schuld sein, dass er einen Fehler machte. Und er war abgelenkt, wenn er mich so anfunkelte. Viel zu sehr.
Seufzend ließ ich mich wieder zurück in meinen Stuhl sinken.
Noch nie in meinem Leben war ich so angespannt gewesen. Ich war mir sicher, dass morgen selbst die Muskeln in meinem Kiefer schmerzen würden, so fest biss ich die Zähne aufeinander. Ich hatte keine Angst um mich. Ich hatte Angst um Flo. Ich konnte die zornigen Blicke beinahe spüren, die Patrick ihm immer wieder unter gesenkten Lidern hervor zuwarf. Ich glaubte beinahe, den Zorn in ihm brodeln zu hören. Flo zog alle Aufmerksamkeit auf sich, wie er da so alleine am Herd stand und versuchte, zu retten, was noch zu retten war. Und er war sich dessen bewusst. Er wollte, dass Patricks Zorn sich auf ihn richtete. Er wollte ihn von mir fernhalten.
Mein Herz überschlug sich beinahe. Ich hatte keine Angst um mich. Ich hatte Angst um ihn.
Ich konnte ihn nicht verlieren. Und ich konnte es nicht ertragen, ihn leiden zu sehen. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass ihm irgendetwas geschah. Auf einmal fühlte ich mich so vollkommen hilflos.
Und in diesem Moment begriff ich, dass ich ihn nie gehasst hatte. Ich konnte es nicht. Ich konnte ihn nicht hassen, auch wenn es vielleicht besser gewesen wäre.
„Wo ist Regina?“, knurrte Patrick, als Flo die Nudeln auf vier Teller verteilte.
„In ihrem Zimmer“, warf ich hastig ein, ehe Flo antworten konnte.
Patricks Kopf fuhr zu mir herum. Diese Augen. Ich mochte diese Augen nicht. Sie waren so stahlblau. So kalt. Sie machten mir Angst.
„Worauf wartest du dann noch?“, fragte er liebenswürdig. Seine Stimme klang so freundlich, aber sein Blick war noch immer kalt. Eiskalt. Hastig sprang ich auf.
In der Türe verharrte ich einen Moment unschlüssig. Ein letztes Mal sah ich mich um, sah zu Flo, der sich gerade auf seinen Platz setzte. Ich wollte ihn nicht alleine lassen. Irgendwie widerstrebte es mir, ihn mit Patrick alleine zu lassen. Es fühlte sich nicht richtig an.
Als habe er meine Gedanken gehört, sah Flo in diesem Moment zu mir auf.
„Geh“, formte er mit den Lippen.
Und ich ging.
Stickiges Dämmerlicht empfing mich, als ich die Tür zum Schlafzimmer öffnete. Auf mein Klopfen hatte Mutter wie üblich nicht reagiert. Ich wusste nicht, warum ich mir überhaupt noch die Mühe machte.
Doch zu meinem Erstaunen lag sie nicht unter der Decke. Die Nachttischlampe malte einen matten Lichtkreis auf die eine Hälfte des Bettes, und dort saß sie und hielt ein altes, schon ein wenig vergilbtes Buch in den Händen. Ein Fotoalbum.
„Mutter, es gibt Abendessen“, sagte ich halblaut, um sie nicht zu erschrecken. Sie erschrak nicht. Ich erschrak. Denn Mutter drehte sich mit einem seligen Lächeln zu mir um.
„Ria!“, rief sie. „Du bist so hübsch, weißt du das?“
Ich wusste nicht, was an meiner aufgelösten Frisur und an den noch immer ein wenig klammen, abgetragenen Jeanshosen und dem verwaschenen Pullover hübsch sein sollte, aber irgendwie freute ich mich trotzdem über das Kompliment.
„Danke“, murmelte ich. „Aber würdest du trotzdem mitkommen? Patrick wird langsam ungeduldig. Und das Essen wird kalt.“
„Natürlich, Liebes, natürlich“, meinte sie ein wenig zerstreut und deutete dann auf eines der Bilder in dem Album, das sie noch immer auf ihren angezogenen Knien balancierte. Sie sah so jung aus, wie sie dort saß und mit leuchtenden Augen in das Buch hineinblickte. Fast wie ein Kind.
„Ihr wart schon immer so süß, ihr beiden. Meine Kleinen. Schau mal. Schau dir das an!“
Ich wollte sie anschreien. Ich wollte sie anschreien und aus dem Bett zerren und sie in die Küche schleifen. Ich erinnerte mich an Patricks eisigen Blick, an seinen schwelenden Zorn. Und Flo war ganz alleine mit ihm in der Küche.
Aber ich wusste auch, dass ich Mutter nur dazu bewegen würde, mit mir zu gehen, wenn ich ihr ihren Willen ließ. Und so rannte ich hastig um das breite Doppelbett herum und tat ihr den Gefallen.
Ich hatte nur einen kurzen Blick auf das Bild werfen wollen. Aber dann...das Bild!
Ich hatte nicht gewusst, dass es überhaupt Bilder von uns gab. Ganz verschwommen konnte ich mich noch daran erinnern, dass Mutter früher einmal eine Kamera gehabt hatte, und dass sie auch dann und wann ein wenig fotografiert hatte. Aber das war schon Jahre her. Und die Bilder, die dabei entstanden waren, hatte ich auch nie zu Gesicht bekommen.
Doch an dieses Bild konnte ich mich erinnern.
Ich konnte mich an den Moment erinnern, der darauf festgehalten war. Für immer eingefroren auf Zelluloid.
Es zeigte zwei Kinder. Zwei Kinder, die Hand in Hand vom Betrachter fortgingen. Der Junge sah über die Schulter zurück, und der grüne Blick schien mich selbst über den Abgrund der vielen Jahre hinweg zu bannen. Er drückte so viel Entschlossenheit aus. So viel Ernsthaftigkeit.
„Er hat schon immer auf dich aufgepasst. Süß, nicht?“, seufzte Mutter.
Fassungslos starrte ich sie an. Später würden mir viele passende Erwiderungen einfallen, aber im Moment war ich einfach nur sprachlos. Und Mutter redete munter weiter, als sei ich gar nicht da.
„Er sieht aus wie sein Vater. Dieselben Augen. Derselbe Blick.“
„Mutter, wir sollten jetzt wirklich in die Küche gehen. Das Essen wird kalt!“, presste ich mühsam hervor.
„Ja ja, ich komm ja schon. Warum bist du nur immer so ungeduldig.“
Misstrauisch sah ich ihr dabei zu, wie sie sich langsam erhob und dann eine halbe Ewigkeit unter dem Bett nach ihren Hausschuhen suchte.
„Das Fotoalbum solltest du hier lassen“, merkte ich an, als sie schon auf die Türe zuging.
„Ah ja“, nuschelte sie gedankenverloren und legte das Buch dann zögernd auf dem Telefontisch neben der Türe ab. Dabei fiel etwas aus dem Buch heraus und flatterte geräuschlos zu Boden. Mutter schien es nicht bemerkt zu haben. Hastig bückte ich mich und ließ das zerknickte Foto dann unbemerkt in meiner Hosentasche verschwinden.
„Die Nudeln sind matschig. Und die Soße schmeckt angebrannt. Herrgott, Junge, kannst du nicht einmal Nudeln kochen?“, dröhnte Patricks aufgebrachte Stimme bis in den Flur. Ich zuckte zusammen. Instinktiv wollte ich fortrennen, all das hier weit hinter mir lassen. Aber das konnte ich nicht. Flo. Da in der Küche war Flo, und er war ganz allein mit Patrick. Ich konnte ihn nicht im Stich lassen. Ich hätte ihn nicht so lange alleine lassen dürfen!
Die Atmosphäre in der Küche war so geladen, dass ich beinahe glaubte, die Funken fliegen zu sehen. Mutter saß wie ein Häufchen Elend zusammengesunken auf ihrem Stuhl, doch Patrick schien sie nicht einmal zu bemerken. All seine Wut war auf meinen Bruder gerichtet.
Der kam gar nicht dazu, ein Wort zu seiner Verteidigung zu sagen, denn Patrick polterte gleich weiter.
„Eine Zumutung ist das, wirklich! Den Fraß da kannst du selber essen, und das ist noch wirklich großzügig. Eigentlich sollte ich euch beide hungrig zu Bett gehen lassen. Ich fass es nicht! Da kommt man nach einem langen Arbeitstag nach Hause, und nicht einmal das Essen steht fertig auf dem Tisch! Ich verlange nicht viel von euch, wirklich nicht, aber nicht einmal das Wenige bringt ihr zustande!“
„Es ist noch eine Pizza im Tiefkühlfach“, wandte ich vorsichtig ein. Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen, als sich Patricks wütender Blick nun mir zuwandte.
„Pizza, ja?“, knurrte er. „Bis die fertig ist, bin ich verhungert!“
„Ich kann dir Rührei machen. Das kannst du dann essen, während du auf die Pizza wartest“, bot ich an.
Patrick kniff die Augen zusammen. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Ich mühte mich, mir nichts anmerken zu lassen. Irgendwie wusste ich, dass ich keine Schwäche zeigen durfte. Dass er jede Schwachstelle ausnutzen würde. Dass es alles nur viel schlimmer machen würde, wenn ich mir etwas anmerken ließ. Wenn ich mir anmerken ließ, wie sehr ich mich in diesem Moment vor ihm fürchtete.
Nach einer halben Ewigkeit nickte Patrick. Wortlos machte ich mich auf den Weg zum Kühlschrank.
Du bist nicht allein, redete ich mir Mut zu. Flo ist da. Er wird auf dich aufpassen. Er hat es versprochen.
Minuten später wünschte ich, ich hätte den Vorschlag nicht gemacht. Denn ich spürte, wie Patrick mich beobachtete. Wie er jeden meiner Schritte genauestens verfolgte. Ein einziges Mal wandte ich mich um – nur um mich dann hastig wieder zum Herd zu drehen.
Er sah mich so...lauernd...an. So...berechnend. Da war etwas in seinem Blick, das mir die Haare zu Berge stehen ließ. Das mir einen eisigen Schauer den Rücken hinab jagte.
Mein Magen verkrampfte sich zu einem schmerzenden Knoten.
Es war so still in der Küche geworden. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass es so still sein konnte, wenn doch vier Menschen im Raum waren. Es war unheimlich. Es war gespenstisch.
Mühsam unterdrückte ich den Würgereiz, als ich das Ei in der Pfanne verrührte. Mir war auf einmal schlecht.
Wie lange sah er mich schon so an, ohne dass es mir aufgefallen war? Was hatte ich ihm nur getan? Was wollte er von mir? Irgendwie hatte ich so ein Gefühl, dass ich die Antwort auf die letztere Frage lieber nicht wissen wollte. Vielleicht, weil ich sie insgeheim schon kannte.
***
Der Blick verfolgte mich. Lange lag ich wach und sah zu meiner Tür hinüber, vor die ich meinen Schreibtischstuhl gestellt hatte. Ich hatte die Lehne unter die Türklinke geklemmt, wie ich es einmal in einem Horrorfilm gesehen hatte, aber ich hatte nicht viel Hoffnung, dass es helfen würde, sollte Patrick wirklich hereinkommen wollen. Es würde mir vielleicht ein paar Sekunden erkaufen.
Besser als nichts. Aber ich fühlte mich trotzdem ausgeliefert. Patrick schlief im Zimmer nebenan. Ich war hier nicht sicher vor ihm.
Eigentlich hatte ich wach bleiben wollen. Aber irgendwann fielen mir dann doch die Augen zu. Ich war einfach zu müde, um sie noch länger offen zu halten...
Ich saß in einem Zug. Jedenfalls nahm ich das an, denn die Polsterbank unter mit erinnerte mich so sehr an den einzigen Urlaub, den ich je erlebt hatte, als wir mit Oma nach Sylt gefahren waren. Auch das rhythmische Rattern passte dazu, und das leichte Schaukeln, als sich der Zug in eine Kurve legte. Doch dieser Zug hier war irgendwie anders als der, mit dem wir nach Sylt gefahren waren. Erst nach geraumer Zeit fiel mir auf, was genau anders war. Die Fensterscheiben fehlten – deswegen war das Rattern der Räder auch so laut – und es war dunkel. Es war dunkel, und ich war alleine. Da war kein Flo, der neben mir saß und mir Geschichten erzählte, während die Landschaft an uns vorbeiflog, da war keine Oma, die uns belegte Brote reichte und uns immer wieder ein kleines Bonbon oder ein Stückchen Schokolade zusteckte. Nein, ich war ganz alleine mit dem Heulen des Windes und dem Rattern der Räder.
Zumindest dachte ich das anfangs.
Irgendwann bemerkte ich ihn. Irgendwie fühlte ich mich so...beobachtet. Immer wieder versuchte ich, das Dämmerlicht zu durchdringen, doch erst, als sich meine Augen vollständig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich ihn wirklich.
Patrick.
Patrick saß mir gegenüber im Gepäcknetz und beobachtete mich. Er sah mich nur an und lächelte dieses stille Lächeln, das irgendwie schlimmer war als jede ausgesprochene Drohung. Mir wurde kalt. So kalt. Ich war so alleine, und mir war so kalt, und ich fürchtete mich, wie ich mich noch nie zuvor gefürchtet hatte. Und Patrick sah mich nur an und lächelte, und der Zug wurde immer schneller und schneller, raste auf einen Horizont zu, der nur noch aus Schwärze zu bestehen schien.
„Was willst du von mir?“, flüsterte ich, aber jeder Laut wurde vom Tosen des Windes übertönt.
„Was willst du?“, schrie ich, aber der Wind war zu laut, und Patrick lächelte nur dieses kalte, wissende Lächeln und sah mich weiter an. Niemals hatte ich mich so bloßgestellt gefühlt. Fast kam es mir so vor, als würde ich nackt vor ihm sitzen. Als sähe er bis in mein Innerstes hinein.
Der Zug schaukelte gefährlich, während er nun regelrecht über die Schienen flog, und dann sprang Patrick vom Gepäcknetz herab und kam auf mich zu. Langsam und lächelnd und unaufhaltsam.
Ich schrie, so laut, dass meine Ohren davon klangen.
Schweißgebadet schreckte ich aus dem Schlaf. Es war dunkel in meinem Zimmer, natürlich war es dunkel, und mir war kalt, und ich fürchtete mich wie schon lange nicht mehr.
Flo. Das war mein erster Gedanke, und ich konnte ihn nicht mehr abschütteln. Vielleicht war es kindisch, vielleicht war es auch gefährlich, aber ich wurde diesen Gedanken einfach nicht mehr los. Er war so verlockend.
Irgendwann gab ich der Versuchung nach.
Ich streifte die warme, sichere Bettdecke ab, schlüpfte in meine Hausschuhe hinein und schlich mich dann leise über den dunklen, kalten Flur. Sorgsam umging ich die knarrenden Dielen.
Vor Flos Zimmertüre zögerte ich. Die Hand schon am kalten Griff der Türklinke, hielt ich erschrocken inne. Was tat ich hier überhaupt? Hatte er mir nicht wieder und wieder deutlich gemacht, dass die Zeiten vorbei waren, als ich mich mit dem Teddy unterm Arm zu ihm ins Bett flüchten konnte? Hatte er mir nicht wieder und wieder gezeigt, dass er Abstand brauchte, dass es zu gefährlich war, wenn wir zu nahe waren? Und alleine bei dem Gedanken, ihm so nahe zu sein, klopfte mir das Herz bis in den Hals.
Aber es war so kalt im Flur. Als ich mich schon von der Tür wegdrehte, kroch mir die Kälte unter den Saum des langen T-Shirts, und die Tür zu Mutters Schlafzimmer war ein lauerndes schwarzes Loch, ein dunkles Auge, das mir zuzublinzeln schien.
Mit einem entschiedenen Ruck drückte ich die Klinke hinab und huschte in das Zimmer meines Bruders hinein.
Flos Zimmer war klein. Niemals zuvor war mir das deutlicher bewusst gewesen. Von meinem Platz vor der Tür konnte ich jeden seiner regelmäßigen Atemzüge hören.
Er sah so friedlich aus. Im Schlaf war sein Gesicht vollkommen entspannt. Er schlief, wie er schon als kleiner Junge geschlafen hatte, auf dem Bauch, und sein Kopf ruhte auf den verschränkten Armen.
Er sah so friedlich aus, und irgendwie auch so verletzlich. Auf einmal kam ich mir vor wie Patrick. Ich beobachtete auch, wo ich eigentlich den Blick abwenden sollte. Schamröte kroch mir hitzig über die Wangen. Eben griff ich nach der Türklinke, als auf einmal seine Stimme durch die Stille brach.
„Ria?“
Ich fuhr erschrocken zu ihm herum. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte: Wut, Enttäuschung, Furcht, Ablehnung? Alles, nur nicht diesen zutiefst besorgten Blick.
„Was ist passiert?“
„Ich hab schlecht geträumt.“
Er sah mich nur an. Er sah mich lange an und schluckte. Es war ihm unangenehm. Natürlich war es ihm unangenehm. Was hatte ich mir nur dabei gedacht. So einfach in sein Zimmer zu platzen, mitten in der Nacht.
„Ist schon gut, ich geh schon. Es tut mir leid, ich wollte dich nicht aufwecken...“
„Nein. Nein, bleib. Bitte, bleib. Komm her. Es ist kalt da draußen.“
Er sah mich immer noch an. Aber vor seinem Blick hatte ich keine Angst. Es war kein kalter, lauernder Blick. Er war warm und irgendwie weich. Und ein wenig unsicher.
Ich zauderte. Sah hektisch zwischen Flo und der Tür hin und her. Doch als er dann vorsichtig und beinahe schüchtern die Bettdecke anhob, da war es irgendwie entschieden.
Wärme umfing mich. Flo rückte zur Seite, um mir Platz zu machen. Er rückte weiter von mir fort als früher. Wir berührten uns nicht. Wahrscheinlich wäre es auch zu viel gewesen. Wahrscheinlich war es besser so. Aber seine Hand, seine Hand suchte unter der Decke nach der meinen. Suchte und fand sie. Fast schon ohne unser Zutun verflochten sich unsere Finger miteinander. Sicherheit. Ich fühlte mich so sicher, hier bei ihm. Ich hatte das Gefühl, endlich wieder richtig atmen zu können.
Und das war der Moment, in dem irgendwie alles in sich zusammenfiel.
Ich mühte mich, ruhig weiter zu atmen, als irgendetwas in mir brach. Ich schloss die Augen und ließ die lautlosen Tränen meine Wangen hinab rinnen. Das Kissen fing sie auf.
Und dann waren da sanfte Finger, die mir die Nässe von den Wangen strichen. Eine Hand legte sich auf mein Haar. Auf einmal war er da. Auf einmal war er ganz nah.
Ich zitterte ein bisschen, als er meinen Kopf vorsichtig auf seine Schulter bettete. Und dann krallte ich meine Hände in sein Shirt und hielt mich an ihm fest.
Er fragte nicht. Er wusste, dass ich noch nicht soweit war. Er hielt mich einfach und ließ mich weinen und strich mir immer wieder sanft über das Haar.
„Hey“, murmelte er leise in meinen Nacken hinein. „Hey, ist ja gut. Ist ja gut, Ria. Schsch.“
Irgendwann versiegten die Tränen. Irgendwann versiegten die Tränen, und er rückte ein wenig von mir ab. Lange lagen wir uns so gegenüber und sahen uns an, sahen unseren Händen dabei zu, wie sie sich wieder umeinander schlangen. Atmeten dieselbe Luft und lebten in der Stille. Bis er sie irgendwann brach.
„Was ist passiert?“, wiederholte er seine Frage von zuvor.
„Ich hab geträumt. Von ihm. Von Patrick.“
„Du hast Angst vor ihm.“ Es war eine Feststellung, kein Frage. Er sah grimmig aus. Und so ernst.
„Ja, ich...ich hab Angst vor ihm. Er sieht mich so komisch an. Ich mag nicht, wie er mich ansieht. Ich hab den Stuhl unter die Türe geklemmt, aber ich konnte trotzdem erst nicht einschlafen. Und dann hab ich von ihm geträumt. Wir waren in einem Zug, und er saß da und hat mich angesehen. Das war schon schlimm genug. Aber dann ist er immer näher gekommen, und dann...“
Ich atmete tief ein, versucht, mich ein wenig zu sammeln. Flos Finger strichen beruhigend über meinen Handrücken.
„Ich fühl mich nicht mehr sicher, verstehst du?“, fuhr ich dann leise fort. „Nicht, wenn er mich so anschaut. Ich weiß, das klingt verrückt, und vielleicht ist es das auch, aber ich hab solche Angst vor ihm, Flo!“
„Nein, das klingt nicht verrückt. Ganz und gar nicht. Ich mag es auch nicht, wenn er dich so ansieht. Und es jagt mir auch eine Scheißangst ein. Aber ich bin bei dir, in Ordnung? Und wenn du meinst, dass es gar nicht mehr geht, dann laufen wir eben davon oder zeigen ihn an oder was weiß ich. Aber wir finden irgendwie eine Lösung. Und bis dahin bist du nicht alleine. Niemals. Ich versprech es dir. Ich bin da. Okay?“
Er sagte nicht, dass es doch nur Blicke seien. Er sagte nicht, ich solle mich doch nicht so anstellen, und dass es doch nicht so schlimm sei. Er bot mir keine Lösung an, versprach mir nicht, dass alles wieder gut werden würde. Aber er würde da sein. Was immer geschah, er würde da sein. Und ich glaubte ihm.
15. Von Nebelgeistern und schwarzen Kisten
Anna-Maria
Das schrille Klingeln eines Weckers riss mich aus dem Schlaf. In einem Moment lag ich an einem Strand, von Palmen umgeben, die sich sanft im Wind wiegten, und nur das leise Rauschen der azurblauen Wellen durchbrach die friedliche Stille. Im nächsten Moment saß ich hellwach im Bett und schlug mir dabei den Kopf schmerzhaft an der Schräge an.
„Au, verdammt!“, fluchte ich vor mich hin und rieb vorsichtig über die wunde Stelle, die nun ein wenig pochte.
Warum war da eine Schräge? Und warum stand das Bett an der falschen Stelle, und überhaupt...
„Ria?“, murmelte eine verschlafene Stimme neben mir. „Was?“
Ah ja. Richtig. Ich war gestern zu Flo geflohen. Und dann war ich da wohl auch eingeschlafen.
Es war schön, nicht alleine aufzuwachen. Bei Flo aufzuwachen, nach einer Nacht, in der ich mich nicht gefürchtet hatte. Denn irgendwie hatte ich mich auch die Nächte zuvor nie wirklich sicher gefühlt. Nicht mehr, seit Patrick hier lebte. Ich hatte es nur nicht bemerkt. Weil ich es nicht bemerken wollte. Weil es so oder so nichts gab, das ich dagegen hätte tun können. Aber es war so schön, aufzuwachen und keine Angst zu haben. Auch wenn es nur ein flüchtiges Gefühl war. Auch wenn der Frieden bald vorbei sein würde.
Die Matratze unter mir bewegte sich, als Flo sich aufsetzte. Einen Moment später verstummte das nervtötende Klingeln.
„Was ist los?“ Mattgrüne Augen blinzelten fragend zu mir hinauf.
„Ich hab mir den Kopf gestoßen“, murrte ich. Warum musste so etwas immer mir passieren? Warum war es immer ich, die sich das Knie an irgendwelchen Türrahmen anschlug, die über nicht vorhandene Türschwellen stolperte oder sich den Kopf an Dachschrägen stieß?
„Ach ja?“
Über Flos Gesicht huschte ein jungenhaftes Grinsen. So, als hätte er meinen inneren Monolog gehört und mache sich nun über mich lustig. Er hatte mich schon immer mit meiner Schusseligkeit aufgezogen.
„Grins nicht so! Es tut weh!“, beschwerte ich mich, aber das Grinsen wurde nur noch breiter.
Für einen Moment stockte mir ein bisschen der Atem. Ich mochte es, wenn er grinste. Das tat er viel zu selten. Und irgendwie war die Fröhlichkeit ansteckend. Unwillkürlich begann ich ebenfalls zu grinsen.
Für diesen einen Moment vergaß ich alles andere. Ich vergaß, dass es Patrick gab, der mich so seltsam ansah, ich vergaß, dass Flo Angst vor mir hatte, oder vor dem, was da zwischen uns war. Ich vergaß alles um uns herum, sah nur diese verschmitzte Grinsen und fühlte die Wärme, die sich in mir ausbreitete. Irgendwie schien der Raum enger zu werden, und die Luft schwerer. Flos Augen wurden dunkler. Ernster.
„Ich sollte wohl besser in mein Zimmer gehen“, brachte ich irgendwann heraus.
„Ja, das wäre wohl besser...“, murmelte Flo leise.
***
Die Küche war noch dunkel, als ich eintrat. Das war seltsam. Normalerweise war er immer vor mir hier. Hoffentlich kam er bald. Hoffentlich war er bald hier, denn die Zeit wurde langsam knapp, und Patrick war immer sehr pünktlich. Ich wollte nicht alleine mit Patrick sein.
Ich fischte die Eierpackung aus dem Kühlschrank und begann, den Tisch zu decken. Dann faltete ich umständlich einen Kaffeefilter zusammen und stopfte ihn in die Kaffeemaschine. Mehr konnte ich nicht mehr tun. Ich hatte schließlich Kaffeemaschinenverbot.
Als ich mich etwas unsicher auf meinen Stuhl setzte, um auf Flo zu warten, fiel mir etwas auf. Da war etwas in meiner hinteren Hosentasche. Überrascht stand ich auf und fuhr mit der Hand in die Tasche. Papier. Ein hartes Stück Papier. Zögernd fischte ich es aus der Tasche – und erstarrte. Das Foto. Ich hatte das Foto vollkommen vergessen. Das Foto, das Mutter gestern hatte fallen lassen, und das ich, einem inneren Impuls folgend, einfach eingesteckt hatte.
Langsam ließ ich mich wieder am Tisch nieder und faltete es dann vorsichtig auseinander.
„Was hast du da?“
Erschrocken fuhr ich zusammen. Ich hatte ihn nicht hereinkommen hören. Zu sehr war ich im Anblick des Bildes versunken. Zu sehr war ich in Erinnerungen versunken.
„Gott, Flo, schleich dich doch nicht so an!“, schimpfte ich leise vor mich hin.
„Tut mir leid. Aber jetzt sag schon – was fesselt dich da so?“
„Ein Foto.“ Sorgsam strich ich mit dem Handrücken über den Knick. Über die Hände der beiden Kinder, die einander festhielten. „Ein Foto von uns.“
„Es gibt Fotos von uns?“ Jetzt war Flos Neugier geweckt.
Ich nickte unsicher, wusste nicht so recht, ob ich es ihm zeigen sollte, wie er reagieren würde. Aber es war schon zu spät, er hatte den Tisch schon umrundet und sah mir nun über die Schulter. Einen Moment schien er regelrecht zu erstarren
„Ah“, machte er dann nur. Es war ein kurzer, abgehackter Laut. Und da wusste ich endgültig, dass er sich erinnerte. Wie hätte er es auch vergessen sollen. Wie hätte er diesen Tag vergessen sollen. Ich wusste, dass ich ihn nie vergessen würde.
„Ich hätte nicht gedacht, dass sie das hier aufgehoben hat“, meinte Flo irgendwann. Er hatte sich auf dem Stuhl neben dem meinen niedergelassen, auf dem Stuhl, den Patrick inzwischen schon so gut wie für sich in Besitz genommen hatte. Es erfüllte mich mit einem gewissen Unbehagen, dass Flo nun dort saß. Es erschien mir zu gefährlich. Aber ich sagte nichts.
„Ich versteh es auch nicht. Warum hat sie es aufgehoben? Warum ausgerechnet dieses Bild? Sie hat es doch nicht verstanden – warum wir damals gegangen sind. Sie hat nie verstanden, warum wir manchmal einfach zusammen verschwunden sind. Sie hat uns nie wirklich verstanden. Sie tut es immer noch nicht“
„Vielleicht gerade deswegen. Vielleicht hängt sie an diesen Bildern, weil sie verstehen wollte...weil sie verstehen will...“
„Meinst du?“
„Ich weiß es nicht“, meinte Flo gedankenverloren und strich dann vorsichtig mit dem Zeigefinger über den Knick. Über die beiden Hände der Kinder.
Unsere Augen trafen sich.
Und auf einmal war ich dort. Auf einmal war ich wieder dort, neun Jahre zuvor. Vor dem Kindergarten, wo das damals angefangen hatte. Dieser lange, lange Tag...
Es war kalt. Es war so kalt. Zitternd hüllte ich mich in meinen dünnen Mantel und drückte mich noch ein wenig dichter an die Mauer in meinem Rücken. Auch die Mauer war kalt, aber sie war wenigstens trocken.
Dani war gegangen. Dani hatte die Tür des Kindergartens hinter mir abgeschlossen und war gegangen. Dani, die Erzieherin aus unserer Gruppe, die ich schon immer von allen Erzieherinnen am Liebsten gemocht hatte, weil sie mir manchmal ein Stück von ihrem Frühstücksbrot zusteckte, und weil sie eigentlich immer mit mir wartete, wenn Mutter wieder einmal zu spät kam.
„Es tut mir leid, aber meine Kinder warten auf mich“, hatte sie gesagt. „Ich muss nach Hause.“
Ich hatte genickt. Ich wollte nicht, dass andere Kinder genauso warten mussten wie ich. Denn dann wäre ich schuld, wenn sie irgendwo warteten und froren. Ich war schon groß. Ich konnte warten.
„Und du bist sicher, dass deine Mutter gleich kommt?“, hatte sie mich gefragt.
„Ja“, hatte ich gesagt. „Sie müsste eigentlich schon lange da sein. Sie hat gesagt, dass sie mich heute abholt. Wegen der Erdigung.“ Natürlich würde meine Mama kommen. Sie hatte es mir versprochen. Sie hatte versprochen, dass sie kommen würde.
Aber sie war immer noch nicht da. Sie war nicht da, und ich war so alleine, und mir war so kalt.
Die Regentropfen prasselten jetzt lautstark auf das Vordach des leeren Kindergartens. Der Wind peitschte mir ins Gesicht. Es tat beinahe weh. Ich hatte mich ganz klein gemacht, hatte die Knie angezogen und die Arme über dem Kopf verschränkt.
Meine Wangen waren nass. Vielleicht vom Regen, vielleicht aber auch nicht. Ich atmete tief ein. Ich musste stark sein. Und ich durfte nicht weinen. Das hier war mein bester Rock, meine beste Bluse. Ich durfte sie nicht schmutzig machen. Den ganzen Tag schon hatte ich darauf acht gegeben. Die anderen Kinder hatten mich ganz komisch angesehen. Wer kam schon mit schwarzen Kleidern in den Kindergarten?
Der Wind heulte immer lauter um die Hausecke herum. Das Vordach des Kindergarten klapperte, als die Böen an ihm rissen. Es klang so gespenstisch. So unheimlich. Und ich begann mich zu fragen, ob Mama wirklich kommen würde. Sie hatte mich schon einmal alleine gelassen. Als sie damals gesagt hatte, ich solle ohne sie in den Kindergarten gehen. Ich hatte den Weg doch nicht gewusst. Ich hatte mich verirrt und mich dann irgendwo unter einem Dach zusammengerollt. So wie jetzt. Beinahe so wie jetzt.
Wo war sie denn nur?
Langsam ließ der Regen etwas nach. Aber der Wind bließ immer noch, und es war immer noch kalt. Doch auf einmal war ich nicht mehr alleine. Da waren zwei Arme, die sich um mich geschlungen hatten.
Ich erschrak nicht. Ich wusste genau, wer das war. Ich hätte ihn überall erkannt.
„Flo“, seufzte ich erleichtert.
„Hallo, Krümelchen“, murmelte er, während er mich sorgsam in eine Jacke hüllte, die nach Flo roch. Ein schwarze, große Jacke, die ich noch nie gesehen hatte. Aber sie war warm, und alles andere war mir egal.
Das Regenprasseln klang jetzt irgendwie anders. Näher. Und die Tropfen spritzten nicht mehr bis zu mir hinüber. Vorsichtig sah ich zwischen meinen Knien hindurch auf. Da saß Flo vor mir in der Hocke, und in der rechten Hand hielt er einen riesigen, schwarzen Regenschirm, der irgendwie zu groß für ihn war. Er sah auch anders aus als sonst. Er hatte eine schwarze Hose und ein weißes Hemd an, und seine Haare waren nicht verstrubbelt, sondern sorgfältig nach hinten gekämmt. Er sah damit so erwachsen aus.
Ach ja, richtig. Flo hatte sich für die Erdigung fein angezogen. So wie ich auch.
„Dann ist Mutter also nicht gekommen.“ Er sah so ernst aus, als er das sagte. Beinahe wütend.
„Nein“, flüsterte ich in den dicken Stoff meines Rockes hinein.
Eine warme Hand strich mir über das Haar.
„Das hab ich mir schon gedacht. Es tut mir leid, dass ich so spät dran bin, aber ich hab den Bus verpasst. Und Mutter hatte versprochen, dass sie dich abholt.“
„Ist nicht so schlimm. Jetzt bist du ja da.“
Eine lange Weile war es still. Ich wusste nicht, worauf wir warteten. Ob wie überhaupt auf etwas warteten. Vielleicht wartete ich, dass Flo mich an der Hand nahm und mich mit sich nach Hause nahm. Vielleicht wartete Flo, dass ich von selbst aufstand. Vielleicht brauchte ich einfach noch ein wenig Zeit, um ein wenig aufzuwärmen. Um zu vergessen, wie kalt es gewesen war, bevor Flo gekommen war.
„Warum hast du dich denn so klein gemacht? Ich hab dich ja kaum gesehen, hier in der Ecke. Hast du Angst?“, fragte Flo irgendwann.
„Angst?“ Empört hob ich den Kopf und blitzte ihn an. Jedenfalls versuchte ich es. Ich war noch nie besonders gut darin gewesen, auf Flo wütend zu sein. „Ich hab keine Angst! Ich bin schon groß!“
„Aber wenn du den Kopf zwischen die Knie steckst, verpasst du ja den ganzen Spaß. Dann kannst du die Nebenfrauen gar nicht sehen.“
„Die Nebelfrauen?“
„Ja, die Nebelfrauen. Siehst du sie nicht? Siehst du nicht, wie sie tanzen, dort auf der Wiese?“
Und tatsächlich, als ich vorsichtig zwischen Flos Armen hindurchblinzelte, konnte ich sie sehen, die Nebelgeister, die auf der Wiese gegenüber tanzten. Hauchdünne Schleier flogen über das regenfeuchte Gras, als die Sonne wieder zwischen den Wolken hervorlugte.
„Siehst du, wie sie lachen und fangen spielen, wie ihre Schleier im Wind flattern und ihre Gewänder über das Gras streifen?“
„Ja, ich sehe sie! Ich sehe sie, Flo!“
Und ich sah sie tatsächlich, sah ihre Kleider fliegen, die ebenso hauchzart und durchsichtig waren wie die Geister selbst, sah, wie sie einander einfingen und wieder auseinander stoben, sah, wie sie lachten und sich im Wind wiegten. Es war atemberaubend und irgendwie wunderschön.
„Sie kommen immer, wenn der Regen aufhört“, erzählte Flo. Er hatte sich vorsichtig neben mich auf die Stufe vor dem Kindergartentor gesetzt, und da saßen wie jetzt eng nebeneinander. „Dann freuen sie sich, weil die Blumen wieder Wasser bekommen haben. Sie lieben es, wenn die Welt so nass ist, so sauber, beinahe wie frisch gewaschen. Und dann kann man sie tanzen sehen. Aber nur, wenn man weiß, wie man schauen muss. Die meisten Menschen sehen nämlich nicht, Krümel. Die meisten Menschen sehen nicht, was direkt vor ihrer Nase ist. Die meisten Menschen sind manchmal blind.“
„Aber warum denn? Warum sehen sie das nicht? Es ist doch so schön!“
„Weil sie nicht sehen wollen. Weil sie alles fürchten, was anders ist.“
„Ich fürchte mich nicht!“, erklärte ich stolz.
„Nein, natürlich nicht“, lachte Flo, und auf einmal klang er nicht mehr nachdenklich und traurig, sondern sehr fröhlich. „Du bist ja auch mein Krümel. Warum solltest du vor irgendetwas Angst haben?“
„Oh, aber manchmal hab ich doch Angst“, gestand ich irgendwann kleinlaut ein. „Ich hab Angst vor der Erdigung heute. Ich will da nicht hin.“
„Vor der Beerdigung“, verbesserte Flo mich sanft. „Ja, davor hab ich auch ein bisschen Angst. Und irgendwie will ich da auch nicht hin.“
„Du hast Angst?“Ungläubig sah ich zu ihm auf. Flo war schon so groß, so erwachsen. Warum sollte er vor irgendetwas Angst haben?
„Auch große Brüder haben manchmal Angst.“
„Hilft es dir, wenn ich da bin?“, fragte ich. Mir half es, wenn er da war. Vielleicht konnte ich ihm ja auch ein kleines bisschen Mut geben.
„Ja, es hilft sogar sehr, Krümelchen“, meinte Flo leise. Er sah mich nicht an, sah nur auf seine Hände hinab, die das Moos aus den Ritzen der Pflastersteine rupften. Beinahe erstaunt betrachtete er die Mooskrümel, ehe er sie von seinen Hosenbeinen fegte.
„Dann musst du keine Angst mehr haben. Weil wir zusammen hingehen. Und ich versprech dir, dass du nicht alleine bist. Weil ich ja da bin. In Ordnung?“
„In Ordnung“, flüsterte er.
Und da war es beschlossen. Wenn ich ihm helfen konnte, dann konnte ich auch die Erdigung durchstehen. Für Flo konnte ich das.
***
Es war immer noch kalt. Aber ich fror nicht mehr so. Flo hielt mich an der Hand. Seine Hand war warm. Warm und beruhigend. Das leise Flüstern der anderen Leute hallte merkwürdig in der großen Kirche wider. Aus allen Ecken schien es zu wispern und zu flüstern. Wie Geister. Vielleicht waren es ja auch Geister. Vielleicht lebten hier all die Geister der Menschen, die man geerdigt hatte.
„Wo ist Mama?“, fragte ich.
„Die wird schon kommen.“
Ich wusste nicht, wie oft ich die Frage schon gestellt hatte. Und wie oft mir Flo schon geantwortet hatte. Aber er wurde nicht böse. Vielleicht, weil es zu anstrengend war, böse zu sein. Nicht mal auf Mama war ich noch böse. Ich war nur traurig. Und froh, dass Flo da war.
„Sicher?“, hakte ich noch einmal nach.
„Ganz bestimmt.“
Aber er sah nicht so sicher aus. Immer wieder warf er einen Blick über die Schulter, so als suche er sie. So, als erwarte er, dass sie jeden Moment durch die große, hölzerne Türe treten würde. Doch es kamen nur immer mehr fremde Menschen in schwarzen Kleidern.
Irgendwie war mir das alles so unheimlich. Es war zu still. So viele Menschen, und es war so still. Die Stille hallte irgendwie auch von den Wänden wieder.
Aber am Schlimmsten war der schwarze Kasten vor uns. Der schwarze Kasten, in dem jetzt Oma lag. Es gefiel mir nicht, dass wir so dicht davor saßen. Ich hätte mich lieber in einer der hinteren Reihen versteckt.
Ich wusste, dass ich eigentlich still sein sollte. Dass ich still sitzen und traurig aussehen sollte. Aber es war so unheimlich, und es war zu still, und ich hatte zu viele Fragen im Kopf.
„Meinst du nicht, dass sie es unheimlich findet, so alleine in dem schwarzen Kasten?“, flüsterte ich deswegen irgendwann in Flos Richtung. „Da ist es doch sicher ganz dunkel drin! Warum hat sie denn nicht einmal ein Fenster, aus dem sie rausschauen kann?“
Flo lächelte ein wenig. Nur ein wenig, aber ich war so froh, dass ich doch gefragt hatte, wenn er jetzt lächelte und nicht mehr so ernst und traurig aussah.
„Das ist kein Kasten, sondern ein Sarg“, erklärte er. „Und sie braucht kein Fenster, Ria, und ihr ist auch nicht kalt. Sie ist nicht mehr hier.“
„Aber wer ist es denn dann? Wer ist denn dann in dem Kasten?“
Flo schluckte. Er warf einen hastigen Blick über seine Schulter in die Bank hinter uns und beugte sich dann zu mir hinüber.
„Das ist...das ist das, was von Oma noch übrig ist. Damit wir...damit wir sie beerdigen können. Damit wir uns verabschieden können. Aber alles, was wichtig ist...ihre Seele...die ist nicht mehr da. Die ist jetzt oben im Himmel und schaut auf uns herunter.“
Ich versuchte, mir das vorzustellen. Wie sich Oma teilte und ein Teil von ihr zwischen den Wolken schwebte. Vielleicht war das wie mit den Nebenfrauen. Vielleicht schwebte sie jetzt zwischen den Wolken wie die Nebelfrauen auf der Wiese. Irgendwie glaubte ich, dass ihr das sicher gefallen würde. So zu schweben und zu tanzen. Aber warum musste sie deswegen fort gehen? Konnte sie nicht hier bei uns auf der Wiese tanzen? Warum hatte sie nur so weit fortgehen müssen?
Auf einmal war ich traurig.
„Ich will aber nicht, dass sie da oben ist. Ich will, dass sie hier ist!“
Flo atmete tief ein und sah von mir fort. Er sah lange hinauf zur Kirchendecke. Ob er in den Himmel sehen wollte? Ob er nach Oma sehen wollte? Irgendwann wischte er sich mit der Hand über die Augen und sah mich dann endlich wieder an.
„Das will ich auf, Kleine. Das will ich auch...“
Und auf einmal hatte ich Angst. Wenn Oma einfach so gehen konnte – dann konnte auch Mama gehen. Oder...oder Flo.
Der Gedanke war so schrecklich, dass mir ein wenig übel wurde. Was würde ich denn tun, wenn Flo ganz plötzlich krank werden würde? So wie Oma. Die war auch krank geworden, und dann war sie ins Krankenhaus gekommen, und ich hatte sie nicht mehr besuchen dürfen. Nur Mama hatte sie besucht, und Flo hatte gehen dürfen, ohne mich, weil alle gesagt hatten, dass ich noch zu klein dafür sei. Warum war ich zu klein dazu, Oma zu besuchen? Früher hatte ich sie doch auch immer besucht? Aber ich hatte nicht gehen dürfen, und ein paar Tage später hatte ich dann Flo weinend in seinem Zimmer gefunden, und er hatte gesagt, dass Oma jetzt fort sei. Im Himmel.
Was würde ich denn tun, wenn Flo plötzlich gehen würde? Dann wäre ich ganz alleine. Wer würde mich denn dann noch vom Kindergarten abholen? Wer würde mich in den Arm nehmen, wenn ich traurig war, oder mich trösten, wenn ich Angst hatte?
„Du darfst das nie tun, ja? Du darfst nie in den Himmel gehen. Du musst immer hier bleiben, hier, bei mir. Versprichst du mir das?“
„Das kann ich dir nicht versprechen, Krümel. Aber ich werds versuchen, ja?“
Und er drückte meine Hand so fest, dass es fast weh tat. Ich drückte zurück. Ich wollte ihn nicht mehr loslassen, nie wieder. Ich würde ihn für immer so fest halten. Meinen Flo. Damit er für immer bei mir bleiben konnte und nie dort hoch in den Himmel musste.
Mama kam nicht, als wir in der Kirche saßen und viele Leute vor den schwarzen Kasten traten und von Oma erzählten.
Mama kam nicht, als wir Lieder für Oma sangen, und sie kam auch nicht, als vier Männer kamen und den schwarzen Kasten nahmen und aus der Kirche trugen. Irgendwann standen wir auf und gingen hinterher, und mit uns die ganzen anderen Leute, von denen ich niemanden kannte. Es war ein langer, schwarzer Zug. Von oben, dachte ich mir, von oben sehen wir sicher aus wie eine Ameisenstraße. War es das, was Oma sehen würde? Eine Ameisenstraße?
Das Geflüster war leiser geworden, aber dafür hörte man jetzt immer wieder halblautes Schluchzen von den Wänden widerhallen. Ein Mann schnäuzte laut in ein Taschentuch. Alle waren sie schwarz angezogen, und fast alle weinten oder sahen ganz, ganz traurig aus.
Ich weinte nicht. War das schlimm, dass ich nicht weinte?
„Muss ich weinen, Flo?“, fragte ich irgendwann verunsichert. Selbst die Frau mit dem zerknitterten Gesicht, die direkt neben mir ging, selbst die hatte jetzt angefangen zu weinen.
„Nein“, flüsterte Flo. „Das ist okay. Wenn du weinst, ist das in Ordnung, und wenn du nicht weinst, ist das auch in Ordnung. Ich weine auch nicht. Man kann auch traurig sein, ohne zu weinen.“
Das leuchtete mir ein. Vielleicht war es auch nur so, dass Flo schon so viele Tränen geweint hatte, dass er jetzt keine mehr übrig hatte. Er hatte nämlich geweint. Zu Hause. Nachts, wenn er geglaubt hatte, dass ich schon schlief. Da hatte ich auch geweint. Weil Flo geweint hatte, und weil ich traurig gewesen war, dass Oma jetzt nicht mehr hier war.
Mama kam auch nicht, als die Männer den Sarg in ein großes, dunkles Loch im Boden taten. Ganz weit unten in der Erde war er nun, und dann fing ein Mann in einem schwarzen Mantel an, seltsame Worte in einer fremden Sprache zu sagen, und die Leute gingen nacheinander an den Rand des Lochs und warfen Blumen darauf hinunter. Blumen...und Erde! Deswegen hieß das erdigen – weil man Erde auf den Sarg warf!
„Du, Flo?“
„Ja?“
„Warum...Wie soll Oma denn zurückkommen, wenn die Männer die Erde auf den schwarzen Kasten tun?“
Flo sah mich ganz merkwürdig an. Lange sah er mich so an. Dann lächelte er, aber es war ein trauriges Lächeln. Wie ein Lächeln, das man lächelt, um nicht weinen zu müssen.
„Sie kommt nicht mehr zurück“, sagte er dann ganz sanft. Ganz vorsichtig. „Sie kommt nie wieder zurück, Krümel. Das ist so, wenn man tot ist. Dann ist man für immer fort.“
„Nie wieder? Sie kommt nie wieder zurück?“
„Nie wieder.“
Und dann nahm er mich in den Arm. Ich kam mir ganz klein vor, als wir da so standen, vor all den Leuten, die sich um das Loch in der Erde versammelt hatten. Wir waren so klein, und irgendwie auch so verloren in der Masse der Menschen, die ich alle nicht kannte.
Ich hielt mich an Flo fest, aber ein bisschen hielt er sich wohl auch an mir fest. Ich vergrub den Kopf an seiner Schulter, und dort, wo es niemand sah, dort weinte ich dann doch. Ich weinte, weil ich mich so klein und verloren fühlte, und weil Oma fort war und nie wieder kommen würde, und weil ich sie vermisste. Und ich weinte, weil Mama nicht gekommen war, und weil ich irgendwie wusste, dass das nicht richtig war, dass sie jetzt da sein sollte.
Irgendwann ließ Flo mich wieder los, oder ich ließ ihn los. Jedenfalls standen wir wieder nebeneinander, als der Mann in dem schwarzen Mantel ein altes, dickes Buch aufschlug und wieder diese seltsame Worte sagte, die ich nicht verstand.
„Was macht der Mann da?“, flüsterte ich Flo zu.
„Das ist ein Pfarrer. Der betet für sie. Das ist ein altes Gebet, deswegen kann man es nicht verstehen“, erklärte Flo mir ebenso leise.
„Aber warum betet er denn für sie? Wenn sie doch gar nicht mehr hier ist?“
„Er betet, damit ihre Seele den Weg in den Himmel findet.“
„Ist sie denn noch nicht da oben?“
„Ich glaube, dass sie schon dort ist. Aber wir können es nicht sicher wissen. Es kann nicht schaden, für sie zu beten, oder?“
Nein, das konnte nicht schaden. Und so verschränkte ich meine Hände ebenfalls ineinander und betete, dass Omas Seele den Weg in den Himmel finden möge.
Und während wir noch beteten, da sah ich sie. Nicht Oma, nein, Oma war schon nicht mehr hier. Mama. Mama stand dort neben dem Grab und warf eine weiße Rose auf den Sarg.
„Mama!“, rief ich erleichtert.
„Schsch!“, zischte die alte Dame neben mir empört und warf mir einen vernichtenden Blick zu. Es war die Dame mit dem zerknitterten Gesicht. Sie sah unheimlich aus. Sie hatte nur noch ein paar gelbe Zähne im Mund und so viele Falten im Gesicht, dass man ihre Augen darunter kaum noch erkennen konnte. Es waren kleine, verschrumpelte Schlitze, ihre Augen. Kleine Schlitze, die mich wütend anblitzten. Erschrocken versteckte ich mich ein wenig hinter Flos Rücken.
„Da ist Mama!“, flüsterte ich ihm zu.
„Ich weiß. Ich hab sie auch gesehen“, murmelte er. Er klang gar nicht erfreut.
„Wo war sie denn so lange?“
„Das wüsste ich auch gerne.“
Mama warf die Blume in das Grab und trat dann langsam die Stufen des Erdhügels hinunter. Ich glaubte, dass sie nun zu uns kommen würde. Sie würde herkommen und mich in den Arm nehmen. Ich wollte in den Arm genommen werden. Ich wollte, dass sie mir sagte, dass jetzt alles wieder gut werden würde. Ich wollte, dass sie uns an der Hand nahm, und das wir alle drei nach Hause gehen würden. Dass wir zusammen in der Küche Kakao tranken und vergaßen, dass das hier jemals passiert war.
Aber Mama kam nicht. Mama ging an uns vorbei ans andere Ende der Menschenmenge. Dort vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Ihre Schultern zuckten. Sie sah uns nicht mehr an.
Der Pfarrer betete weiter, aber ich konnte nicht mehr beten.
„Warum ist sie nicht zu uns gekommen?“, fragte ich verwirrt und enttäuscht. „Warum kommt sie nicht her?“
„Sie ist traurig“, sagte Flo.
„Aber ich bin auch traurig. Du bist auch traurig. Können wir nicht zusammen traurig sein?“
Auf diese Frage wusste auch Flo keine Antwort.
Und als der Sarg schließlich vollständig mit Erde bedeckt war, nahm Flo meine Hand.
„Komm. Wir gehen.“ Er sah streng aus, beinahe wie die Dame, die mich so böse angesehen hatte. Aber ich wusste, dass er nicht auf mich böse war. Er war einfach nur müde. Ich war auch müde.
„Wohin?“
„Zu den Nebelfrauen. Im Park sind sie jetzt sicher am schönsten.“
Ich seufzte erleichtert. Ich wollte fort von hier, fort von den vielen Menschen mit zerknitterten Gesichtern, fort von Mama, die vor uns weglief, die uns nicht in den Arm nehmen wollte, fort von der schwarzen Kiste und dem ernst dreinblickenden Pfarrer.
„Können wir die Enten füttern? Wie mit Oma?“
„Ich denke schon.“
„Gut“, nickte ich zufrieden. Oma würde sich freuen, wenn sie sah, dass wir ihre Enten fütterten. Sie wollte sicher nicht, dass wir hier weiter mit zerknitterten Gesichtern vor dem Erdhügel standen und traurig waren. Oma hatte immer viel gelacht.
Wir waren noch nicht weit gekommen, vielleicht ein paar Schritte weit den geschotterten Weg entlang in Richtung Friedhofstor gegangen, da hörte ich es. Knirschender Kies in unserem Rücken. Jemand folgte uns.
„Florian, Anna-Maria! Wo wollt ihr denn hin? Was fällt euch ein, einfach von Omas Beerdigung zu verschwinden!“
Ich erstarrte erschrocken. Das war Mutter. Mutter, die uns hinterherlief. Ich wollte nicht zurück. Jetzt war es zu spät. Vorher hatte ich gewollt, dass sie mich in den Arm nahm, aber jetzt nicht mehr. Sie war vor uns davongelaufen. Jetzt wollte ich vor ihr davonlaufen. Aber ich konnte doch auch nicht einfach vor Mutter davonlaufen. Hilfesuchend sah ich zu Flo auf.
„Willst du zurück?“, fragte er leise und sah mich ernst an. Ich schüttelte den Kopf.
„Gut. Ich auch nicht.“
Dann drehte er sich langsam zu Mutter um.
„Wir gehen in den Park!“, rief er zurück. Es klang sehr entschlossen, fast ein wenig wütend.
„Aber...“ Mutters Stimme klang jetzt näher. „Aber ihr könnt nicht gehen. Was sollen denn die Leute denken?“
„Das ist mir egal“, gab Flo leise zurück. Seine Stimme war so kalt.
„Ihr könnt mich doch nicht hier alleine lassen!“Irgendwie klang sie auf einmal so verloren. So klein. Gar nicht wie eine Mama, die doch eigentlich vor nichts Angst haben darf.
„Lass sie doch gehen“, mischte sich nun eine andere Stimme ein. Eine tiefe, männliche Stimme, die ich inzwischen schon recht gut kannte. Robert. Robert, der oft bei uns zu Besuch war und den Mama ganz besonders mochte. Ich mochte ihn irgendwie nicht. Flo mochte ihn auch nicht.
„Doch, das können wir. Du hast uns auch oft alleine gelassen“, murmelte Flo leise. Und mit diesen Worten wandte er sich wieder mir zu, und Hand in Hand gingen wir weiter auf das schmiedeeiserne Friedhofstor zu.
Ich musste nicht fragen, ob Flo sich an den Tag erinnerte. Ich wusste es. Ich würde ihn auch nicht vergessen. Den Tag, an dem wir uns für immer von Oma verabschiedet hatten. Der Tag, an dem ich begriffen hatte, dass Mama nicht war wie andere Mamas, dass sie uns wieder und wieder alleine lassen würde. Der Tag, an dem ich das endlich verstand.
Mutter hatte gelächelt, als sie das Bild angesehen hatte. Sie hatte es süß gefunden, dass Flo mit an der Hand genommen hatte. Es war nicht süß gewesen. Er hatte mich zusammengehalten. Er war für mich dagewesen. Er war für mich dagewesen, weil es sonst niemand war. Weil unsere Mutter nicht den Platz einnehmen konnte, den Oma einmal gehabt hatte. Weil sie vollkommen überfordert gewesen war, hatten wir für uns selbst sorgen müssen. Das sagte dieses Bild.
Nein, ich konnte nicht darüber lächeln. Und Flo auch nicht.
„Hat es dich nicht gestört, dass ich dich damals mit Fragen regelrecht gelöchert habe? War es nicht nervig, ein kleines, quengelndes Mädchen an der Hand zu halten, das ständig dumme Fragen stellt?“, erkundigte ich mich und versuchte, mit einem schwachen Lächeln meine Unsicherheit zu überspielen. In Momenten wie diesem wurde mir erst richtig bewusst, was ich für eine Last gewesen sein musste. Was für eine Bürde für einen achtjährigen Jungen.
„Nein, du warst mir keine Last“, murmelte Flo leise, den Blick noch immer auf das Bild fixiert. „Du hast mich zusammengehalten. Deine Fragen haben mich irgendwie abgelenkt. Du hast mich abgelenkt. Du warst genau das, was ich in dem Moment gebraucht habe. Du hast mich gebraucht, und das war das Wichtigste überhaupt. Ich hatte eine Aufgabe. Ich musste mich um dich kümmern. Ich musste für dich da sein. Du hast mich zusammengehalten. Schon immer, Ria.“
Wieder schien der Raum so eng zu werden. Wieder war mir so warm. Wieder wurde die Luft so schwer, und etwas in meinem Inneren so leicht.
Ich fand keine Worte. Ich fand keine Worte, die ich darauf hätte sagen können. Aber irgendwie waren auch keine nötig.
Es war Patrick, der den Moment störte. Wie hätte es auch anders sein sollen. Wir hatten die Zeit vergessen.
Wieder sagte er kein Wort. Wieder war es Flo, der zum Herd hastete. Wieder fühlte ich diese kalten, berechnenden Augen auf mir ruhen. Spürte, wie sie an mir hinabglitten. Wie Hände. Wie kalte, verlangende Hände. Wieder fühlte ich mich so absolut hilflos, so vollkommen ausgeliefert.
Und dann warf ich einen Blick zu Flo hinüber, der beinahe steif wirkte, wie er dort am Herd stand, und ich wusste, dass er sämtliche Muskeln angespannt hatte. Dass er jederzeit bereit war, für mich durch die Hölle zu gehen, ebenso wie ich es für ihn getan hätte. Und da verstand ich, was genau er mit seinen Worten gemeint hatte.
Das Wissen, dass er dort am Herd stand und sich mühte, sich für mich aufrecht zu halten, verlieh mir einen ungeahnten Mut. Es war schwer, und es würde immer schwer sein. Aber er war mein Grund, weiterzumachen. Wäre ich alleine gewesen, hätte ich vielleicht schon vor langer Zeit aufgegeben, hätte mich gefragt, was es für einen Sinn machte, Tag für Tag weiterzuleben, wenn es doch niemals besser werden würde, sondern vielleicht nur noch schlimmer.
Flo war dieser Grund. Er war der Grund, warum ich jeden Morgen aufstand und weitermachte. Weil er mich brauchte. Weil er das hier auch nicht alleine konnte. Und weil vielleicht, nur vielleicht, der Tag auch ein paar schöne Momente bringen würde. Momente, die nur uns gehörten. Wie die vielen Augenblicke im Park, oder am See, oder in der Bücherei. Momente, die immer nur uns gehört hatten. Die vielleicht schmerzhaft waren, aber auch so wunderschön. Weil sie so besonders waren. Weil sie das Leben lebenswert machten.
Ich wusste, dass er das nie zugegeben hätte. Aber vielleicht, nur vielleicht, war das auch mit einer der Gründe, aus denen Flo nicht gesprungen war. Vielleicht hatte er doch noch ein wenig Hoffnung.
Als Flo die Haustüre hinter sich ins Schloss zog, griff ich in meine Tasche und reichte ihm das Foto.
„Hier, nimm du es.“
„Du hast es gefunden. Es ist deines“, wehrte er fast ein wenig erschrocken ab.
„Nein, du nimmst es“, beharrte ich.
Und als er es zögernd entgegen nahm und dann so vorsichtig in seine Tasche steckte, als handele es sich um etwas unendlich Zerbrechliches, da wusste ich, dass es richtig war, dass er es haben sollte. Er brauchte es vermutlich mehr als ich.
16. Feuer und Eis
Anna-Maria
Etwas hatte sich verändert. Etwas hatte sich verändert in den Tagen seit dem Kuss im Park und dann wieder seit meinem Beinahe-Unfall mit dem LKW. Flo schien einen Teil seiner Vorsicht verloren zu haben. Vielleicht waren wir beide zu nahe daran gewesen, den anderen zu verlieren. Vielleicht war es die beständige Anspannung, unter der wir zu Hause standen, die auch an ihm fraß. Wir hatten nur einander. Flo war der einzige Mensch, dem ich absolut vertraute, und ich wusste, dass es umgekehrt genauso war. Dass er mich so brauchte, wie ich ihn brauchte.
Aber da war noch mehr. Es war mehr als Vertrauen, mehr als Freundschaft und füreinander-sorgen. Da war dieses Band. Dieses Band, dieses tiefe Verständnis. Wir brauchten uns nur einen Blick über den Esstisch zuwerfen, wenn Patrick wieder einmal einen seiner Ausraster hatte. Es bedurfte einer einzigen Berührung unserer Hände unter dem Tisch, und ich fühlte mich stärker. Ich wusste, dass ich nicht alleine war. Dass ich es niemals sein würde.
Vielleicht war es die angespannte Situation mit Patrick, die uns mutiger werden ließ. Vielleicht war es die gemeinsame Sorge, der gemeinsame Feind, der uns zusätzlich zusammenschweißte. Vielleicht war es meine wachsende Angst vor den Blicken, mit denen Patrick mich bedachte. Aber ich fand mich nachts zunehmend öfter in Flos Zimmer wieder. Weil ich mich einfach sicherer fühlte, wenn er bei mir war. Und weil ich mich nach ihm sehnte, wenn ich alleine in meinem Bett lag. Weil es so viel wärmer war, wenn er sich die Decke mit mir teilte. Und, auch wenn ich es nur ungern vor mir selbst zugab, weil ich mich in seiner Nähe irgendwie lebendiger fühlte.
Und es kam immer öfter vor, dass wir auf beiden Seiten des Bettes einschliefen und am nächsten Morgen eng umschlungen aufwachten.
Manchmal, nur manchmal, wünschte ich mir, Flo würde noch ein wenig länger schlafen, nachdem der Wecker schon geklingelt hatte. Nur damit ich noch ein klein wenig länger so liegen konnte und seine Arme um mich spüren konnte. Wie sie mich festhielten. So fest und sicher und warm. Wie sein Herz unter meinem Ohr schlug.
Aber meist schoss Flo mit dem ersten Läuten des Weckers aus dem Bett.
Ich begann, das billige silberfarbene Plastikding zu hassen.
„Hey, Ria! Alles in Ordnung?“, riss mich Flos Stimme aus meinen Gedanken. Noch ein wenig müde blinzelte ich über meine dampfende Kaffeetasse zu ihm hinüber. Wie es ihm nur immer gelang, so früh am Morgen bereits schon so wach und gut gelaunt zu sein, war mir ein Rätsel.
„Ja, mir geht’s gut“, murmelte ich in meine Tasse hinein.
„Schlafmütze!“, zog er mich auf.
„Selber Schlafmütze!“, grummelte ich leise. Ich musste nicht zu ihm aufsehen, um zu wissen, dass er bis über beide Ohren grinste. Dieses jungenhafte, verschmitzte Grinsen, das so gefährlich war.
In diesem Moment ging die Türe auf. Ich sah nicht auf. Obwohl ich natürlich wusste, dass es das nicht besser machte. Der Stuhl neben dem meinen wurde geräuschvoll zurückgezogen, und dann spürte ich, wie sich die feinen Härchen in meinem Nacken aufrichteten.
Ich hatte inzwischen herausgefunden, dass es besser war, ihn so lange wie nur möglich zu ignorieren. Umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass er mich übersah. Aber natürlich hatte ich heute kein Glück mit dieser Taktik.
„Hol mir eine Tasse Kaffee, Schätzchen“, befahl Patrick. Ich sah hastig zu Flo hinüber, aber der war gerade noch mit dem Spiegelei beschäftigt. Er konnte mir nicht helfen. Vor allem dann nicht, wenn die Aufforderung explizit an mich gegangen war. Wir hatten schnell gelernt, dass es besser war, Patricks Anordnungen genau zu befolgen.
Ich stand also auf und wollte um den Tisch herum gehen. Aber anders als sonst rückte Patrick mit seinem Stuhl nicht an den Tisch, um mir Platz zu machen. Nein, er blieb genau so sitzen. Die graublauen Augen musterten mich mit einem dieser Blicke. Mit einem dieser Blicke, die mir so Angst machten.
Mein Herz fing an zu rasen. Schweiß trat mir in kleinen Perlen auf die Stirn, während ich fieberhaft nach einem Ausweg suchte. Es gab keinen. Ich musste mich an ihm vorbei zwängen.
Das leise Klappern des Kochlöffels verstummte. Ich wusste, dass Flo mich angespannt beobachtete. Ich wusste auch, dass er mir nicht helfen konnte. Hierbei nicht.
Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Versuchte, mich durch die schmale Lücke zwischen Stuhllehne und Wand zu drücken, ohne Patrick zu berühren. Natürlich gelang es mir nicht. Und eben, als meine Schulter die seine streifte, drehte er sich zu mir um.
Es geschah so schnell, dass ich zuerst gar nicht so recht wusste, wie mir geschah. Auf einmal lag da eine Hand auf meiner Brust. Ein tastende, suchende Hand. Ich zuckte zurück und schlug mir den Kopf an der Wand. Da war kein Platz. Kein Platz, um ihm auszuweichen. Mir wurde übel. Mir wurde übel, und als ich aufsah in diese kalten, wissenden Augen, da wusste ich, dass ich noch nie zuvor solche Angst gehabt hatte. Ich vergaß, zu atmen, ich vergaß, zu fliehen. Ich war wie erstarrt, wie das Kaninchen, das die Schlange kommen sieht. Patrick grinste. Es war kein amüsiertes Grinsen. Es war ein überlegenes. „Ich hab dich in der Hand, und du kannst rein gar nichts gegen mich tun“, schien mir dieses Grinsen zu sagen. „Ich kann mit dir machen, was ich will.“
Und auf einmal war mir kalt. Mir war so kalt. Irgendetwas in meinem Inneren gefror zu einem kalten, harten Eisblock.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand und versuchte, nicht zu fühlen, wie die Hand an mir herumtastete. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Bis auf einmal ein lautes Klirren durch die Küche hallte. Patrick fuhr erschrocken zurück, und ich nutzte seine momentane Unaufmerksamkeit, um mich an ihm vorbei zu quetschen.
„Gottverdammt, Junge!“, brüllte Patrick. Die Worte hatten einen seltsamen, scheppernden Klang, aber vielleicht lag das auch nur daran, dass er so laut war. „Kannst du nicht einmal aufpassen? Weißt du, wie teuer das Geschirr war?“
Es war nicht Patricks Geschirr, sondern unseres. Ich sagte das nicht. Ich war nicht lebensmüde. Aber ich dachte es. Zu mehr war ich im Moment nicht in der Lage. Meine Beine waren seltsam leicht und wollten mir nicht so recht gehorchen. Und mir war noch immer ein wenig übel.
Eine Hand packte mich am Ellbogen. Panik flackerte in mir auf, aber der Griff war sanft und irgendwie behutsam. Flo. Flo, der mich sorgsam um die Scherben auf dem Boden herumnavigierte. Ich hatte sie nicht bemerkt, die Scherben. Die Tellerscherben, die mich wahrscheinlich gerettet hatten.
Unsere Augen trafen sich. Nur für einen Moment, denn ich wusste, dass es noch nicht vorbei war. Dass ich das Frühstück noch irgendwie durchstehen musste. Sie waren so traurig, seine Augen. So traurig und irgendwie verzweifelt, aber da war auch eine seltsame Entschlossenheit ihn ihnen, die mir Mut machte.
„Setz dich auf meinen Platz“, murmelte Flo mir zu, als ich eine Tasse aus dem Küchenschrank fischte.
Ich hatte keine Kraft, ihm zu widersprechen. Und der Ausweg, den er mir anbot, war einfach zu verlockend. Und so nickte ich nur.
Wortlos stellte ich die volle Kaffeetasse vor Patrick auf dem Tisch ab. Ich hielt den Blick gesenkt. Der Tag hatte noch nicht einmal richtig angefangen, und ich wünschte schon, ich könnte mich wieder in meinem Bett verkriechen. Ich wollte nichts mehr sehen. Nichts mehr sehen, und nichts mehr fühlen. Aber ich konnte sie noch immer spüren. Die große Hand, die sich um meine Brust schloss.
Als ich mich auf Flos Stuhl setzte und über den Tisch hinweg nach meiner Kaffeetasse angelte, zitterte meine Hand. Sie zitterte so sehr, dass ich fürchtete, den Kaffee zu verschütten. Ich wollte nicht, dass Patrick es sah. Ich wollte nicht, dass er sah, wie sehr er mich erschüttert hatte. Aber natürlich sah er es trotzdem. Er hatte mich die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen. Ich spürte es, so, wie ich es irgendwie immer spürte, wenn er mich beobachtete.
Als Flo sich auf den Stuhl neben dem meinen setzte, konnte ich das erste Mal wieder richtig atmen. Seine Hand suchte unter dem Tisch nach der meinen. Suchte und fand sie. Sein Daumen fuhr beruhigende Kreise über meinen Handrücken. Aber auch seine Hand zitterte ein wenig.
Von diesem Augenblick an nahm ich alles irgendwie nur noch am Rande wahr. Wie durch einen dicken Nebelschleier bemerkte ich, wie Mutter irgendwann noch hereinkam, wie Flo unserer beiden Kaffeetassen in die Spüle räumte und wie wir dann beide endlich diesen schrecklichen Raum verließen. Mit seltsamen, hölzernen Bewegungen zog ich meine Schuhe an. Flo war es, der mir in meinen Mantel half und mir meine Schultasche reichte.
Hand in Hand gingen wir die Treppenstufen hinab. Mit einem Ruck zog Flo die Haustüre hinter sich ins Schloss.
Und dann lag ich in seinen Armen, und er drückte mich so fest an sich, als wolle er mich nie wieder loslassen. Und endlich, endlich konnte ich wieder richtig atmen. Der kalte, graue Schleier, der mich umfangen hatte, fiel von mir ab. Ich zitterte. Ich zitterte so sehr, dass ich mich nur mit Mühe aufrecht hielt. Oder vielleicht war es Flo, der mich aufrecht hielt.
„Oh Gott, Ria, es tut mir so leid! Es tut mir so leid, es tut mir so leid!“, flüsterte er immer wieder in mein Haar.
Ich atmete seinen Duft ein, spürte, wie seine Wärme langsam das Eis in meinem Inneren auftaute. Er hielt mich, und ich war nicht mehr alleine. Ich konnte alles durchstehen, wenn er mich nur so hielt.
„Es war nicht deine Schuld“, murmelte ich in seine Jacke. „Du hast mich gerettet. Hättest du nicht den Teller fallen lassen...“
Ich verstummte. Den Satz wollte ich nicht einmal zu Ende denken.
Ich weiß nicht, wie lange wir so neben der Haustüre standen. Aber irgendwann löste er sich wieder von mir. Langsam, und beinahe unwillig. Ich griff nach seiner Hand, und er schenkte mir ein schwaches Lächeln.
„Na los – bringen wir es hinter uns“, seufzte ich. „Der Bus wartet nicht auf uns.“
Flo sah mich lange prüfend an. Dann strich er mir sanft eine Strähne hinter das Ohr, die der Wind gelöst hatte.
„Wir müssen nicht in die Schule gehen.“
Ich war ihm so dankbar. Ich war ihm so dankbar, dass er mir einen Ausweg anbot, dass er verstand, wie sehr mir der Vorfall soeben mitgenommen hatte. Aber ich wusste auch, dass es keine Lösung war. Ich konnte mich nicht verstecken, ich konnte nicht davonlaufen. Ich musste versuchen, irgendwie weiterzumachen.
„Ich denke, es ist besser, wenn wir gehen“, meinte ich. „Dann bin ich ein bisschen abgelenkt.“
„Bist du dir sicher?“
Und wieder sah er mich so forschend an. Als versuchte er, in meinen Kopf hineinzusehen.
„Ja.“
„Na dann...“, seufzte er.
Es war eine stille Busfahrt. Flo hatte einen Doppelsitzplatz ergattert, und so saß er nun neben mir und hielt meine Hand. Seine Jacke hatte er quer über unsere Oberschenkel gelegt, und im Schutz der Jacke waren seine Finger fest mit den meinen verschränkt. Ein Risiko, das er sonst in der Öffentlichkeit nur selten einging. Immer wieder warf er einen Blick zu mir hinüber, um zu sehen, ob ich reden wollte. Ich wollte nicht. Ich wollte nur vergessen, was ich nicht vergessen konnte. Ich bezweifelte, dass ich es jemals vergessen würde.
Flo war sehr still. Sehr still und sehr nachdenklich.
Als wir aus dem Bus ausstiegen, ging er dicht neben mir. So dicht, dass sich unsere Schultern beinahe berührten. Er verabschiedete sich nicht wie üblich mit einem Lächeln und einem Nicken im Eingangsbereich der Schule. Er brachte mich bis vor die Tür meines Klassenzimmers. Eine ganze Weile stand er dort und schien mich nicht gehen lassen zu wollen. Irgendwie wollte ich auch nicht gehen. Ich fühlte mich so sicher, wenn er bei mir war.
Aber ich wollte auch nicht, dass er meinetwegen Ärger bekam.
Als das schrille Läuten der Schulglocke durch den Flur hallte, fuhr ich erschrocken zusammen.
„Kommst du zurecht?“, fragte Flo besorgt. Er sah noch immer so nachdenklich aus. So nachdenklich und so bedrückt.
„Es wird schon gehen“, meinte ich.
„Du weißt, wo ich Unterricht habe. Wenn es nicht mehr geht, sagst du etwas von einem familiären Notfall und holst mich aus dem Unterricht. Okay?“
Verblüfft starrte ich ihn an. War das sein Ernst?
„Versprichst du es?“, drängte er, als ich keine Antwort gab. „Versprichst du mir, dass du kommst, wenn es zu viel wird?“
„Ich versprech es.“
„Gut. Ich hab dich lieb, Ria. Pass auf dich auf.“
Und dann beugte er sich zu mir hinunter und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
Ich sah ihm lange nach. Ich sah ihm lange nach, als der den Flur hinunterging. Unwillkürlich fuhr meine Hand zur Stirn. Seine Lippen waren so weich gewesen. Ich glaubte, sie noch immer dort spüren zu können. Als hätten sie ein Mal hinterlassen. Ein Mal, das in Flammen stand.
***
Noch nie hatte sich ein Schultag so lange gezogen. Ich war nicht abgelenkt. Nicht genug. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab. Immer wieder war ich dort in der Küche, gefangen zwischen der Stuhllehne und der Wand, und immer wieder spürte ich diese Hand, die nach mir griff. Noch nie hatte ich mich so bloßgestellt gefühlt. So verletzlich und so zerbrechlich.
Laura schien zu merken, das etwas nicht in Ordnung war. Immer wieder warf sie mir einen besorgten Blick zu. Sie sagte nichts. Nicht mehr. Sie hatte mich gefragt. Gleich, nachdem ich ins Zimmer gekommen war, hatte sie mich gefragt, was mit mir los sei.
„Nichts!“, hatte ich gesagt und aus dem Fenster gesehen. Und sie hatte verstanden. Seither ließ sie mich nicht mehr aus den Augen. Für einen Moment fragte ich mich tatsächlich, ob sie einen Pakt mit Flo geschlossen hatte. Denn ich war mir fast sicher, dass er mir ganz ähnliche Blicke zugeworfen hätte, wenn er hier gewesen wäre.
Immer wieder fuhr ich mit dem Zeigefinger über meine Stirn. Über diese eine Stelle, die noch immer ein wenig zu brennen schien. So sanft. Seine Lippen waren so sanft gewesen.
Natürlich war er da, kaum dass es zur letzten Stunde geläutet hatte. Dieses Mal war ich eine der ersten, die aus dem Zimmer stürzten. Und da war er. Wie üblich lehnte er an der gegenüberliegenden Flurwand und sah mich an. Heute lächelte er nicht, wie er es sonst so oft tat. Heute lächelte er nicht dieses stille Lächeln, das nur für mich bestimmt zu sein schien. Heute war er sehr ernst.
Er nahm auch nicht meine Hand. Vielleicht lag das daran, dass die Schülermassen soeben Richtung Ausgang strömten. Es war zu riskant. Er sah mich nur an, mit diesen ersten, grünen Augen, und strich mir sanft eine Strähne hinter das Ohr zurück. Sein Finger verharrte ein klein wenig zu lang auf meiner Wange. Hitze breitete sich dort aus, und da war so ein merkwürdiges Flattern in meinem Bauch. Auf einmal wünschte ich mir, er würde ein wenig näher kommen. Ich schluckte und schaffte es doch nicht, den Blick abzuwenden. Lange sahen wir uns an, und seine Augen wurden dunkel.
Und dann zog Flo seine Hand so abrupt zurück, als habe er sich verbrannt. Vielleicht hatte er das auch. Meine Wangen waren so heiß, dass sie beinahe zu glühen schienen.
„Komm“, meinte er nur, wandte den Blick ab und ging, und ich folgte ihm schweigend. Auf einmal hatte ich es nicht mehr eilig. Ich wollte nicht nach Hause. Ich wusste nicht, ob ich mich dort jemals wieder sicher fühlen würde.
Aber der Weg, den Flo einschlug, war nicht der Weg nach Hause. Es war auch nicht der Weg in den Park. Eine ganze Weile ging ich schweigend neben ihm auf dem breiten Gehsteig und versuchte, herauszufinden, wohin wir denn nun gingen. Irgendwann siegte die Neugier.
„Flo, was hast du vor?“, fragte ich vorsichtig.
„Zuerst gehen wir zum Schrottplatz, und dann zum Baumarkt...“, antwortete Flo fast ein wenig abwesend. Er sah mich immer noch nicht an.
„Zum Baumarkt?“ Was wollte er denn im Baumarkt? Und woher wollte er das Geld nehmen, um dort einzukaufen?
„Du wirst schon sehen“, murmelte er ausweichend. Er sah immer noch nicht auf. Aber er griff nach meiner Hand. Und auf einmal war es mir egal, wohin wir gingen.
Es war ein weiter Weg zum Schrottplatz. Wir mussten die halbe Stadt durchqueren. Ein eisiger Wind wehte, und ich verkroch mich noch ein wenig tiefer in meinem Mantel. Nicht, dass es sonderlich viel geholfen hätte. Der dünne Stoff hatte dem Wind nichts entgegen zu setzen. Irgendwann zog Flo seine Jacke aus und hängte sie mir über die Schultern. Ich widersprach heftig, aber es hatte keinen Sinn. Er hätte sich selbst den Pullover noch ausgezogen, nur damit ich nicht fror. Manchmal war er so ein verdammter Sturkopf. Aber irgendwie liebte ich ihn auch dafür.
Der Wind wurde immer kälter. Es roch nach Schnee. Und tatsächlich begann es zu schneien, als wir schließlich vor einem hohen Maschendrahtzaun stehen blieben. Es waren dicke, feuchte Flocken, die wie betrunken durch die Luft taumelten und eine dünne, weiße Schicht auf dem grauen Teerboden hinterließen.
Vage erinnerte ich mich, schon einmal hier gewesen zu sein. Damals, als wir in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Fahrräder gestohlen hatten. Doch jetzt war es nicht dunkel, und im Schnee würden unsere Spuren gut zu sehen sein.
„Meinst du nicht, dass es ein bisschen riskant ist, mitten am Tag auf dem Schrottplatz einzubrechen?“, fragte ich vorsichtig.
„Sicher“, erwiderte Flo achselzuckend.
„Warum machen wir es dann nicht heute Nacht?“
Flo warf mir einen langen Blick zu.
„Ist das weniger riskant? Wenn wir uns an Patrick vorbeischleichen müssen?“, fragte er leise.
„Das haben wir doch schon einmal hinbekommen, oder nicht?“, wandte ich ein.
„Ja, schon...“ Er schluckte und scharrte unruhig mit dem Fuß in der dünnen Schneeschicht.
„Aber...?“, bohrte ich nach.
„Aber da wusste ich auch noch nicht, dass...ach, verdammt, Ria. Vielleicht ist es heute Nacht schon zu spät!“
Und da erkannte ich diesen seltsamen, ernsten Blick zum ersten Mal als das, was er war. Verzweiflung. Flo war verzweifelt. Er wusste nicht mehr weiter. Und irgendwie glaubte er, hier auf dem Schrottplatz die Lösung für unser Problem zu finden. Ich wusste nicht, wie sie aussehen sollte, diese Lösung. Denn eine Pistole würde er hier ganz sicherlich nicht finden. Ganz zu schweigen davon, dass es keine Lösung gewesen wäre, Patrick zu erschießen. Auch wenn ich schon selbst das ein oder andere Mal mit dem Gedanken gespielt hatte. Es wäre Mord gewesen. Mord bedeutet Gefängnis. Und ich hätte es nicht ertragen, so lange von Flo getrennt zu sein. Ganz zu schweigen davon, dass ich wusste, dass Patrick uns dann bis zum Ende unseres Lebens verflogt hätte, wenn sein Blut an unseren Händen geklebt hätte.
Es machte mir Angst. Es machte mir Angst, dass Flo zu solch riskanten Maßnahmen griff. Aber er schien einen Plan zu haben. Ein Plan war besser als nichts. Und ich vertraute ihm.
„In Ordnung“, flüsterte ich deswegen. „Was soll ich tun?“
Flo sah zum Maschendrahtzaun hinüber, der den gesamten Schrottplatz umgab, wahrscheinlich schon auf der Suche nach einer Stelle, die sich am Besten zum Klettern eignete.
„Du stehst Schmiere“, meinte er dann. „Wie damals, als wir die Fahrräder geklaut haben. Wenn jemand kommt, pfeifst du. Laut. Und pass auf, dass dich niemand sieht. Am Besten bleibst du in der Nähe der Autos. Zur Not kannst du dich dahinter verstecken.“
Und er wies mit einer vagen Handbewegung in Richtung der Autos, die Stoßstange an Stoßstange am Straßenrand parkten.
Besorgt sah ich ihm dabei zu, wie er seinen Schulrucksack ablegte, die Kapuze über den Kopf zog und ein Paar Handschuhe aus seiner Hosentasche fischte.
„Gib mir deinen Rucksack“, forderte er dann und streckte die Hand danach aus. Zögernd streifte ich mir den Schulrucksack von den Schultern.
„Was willst du damit?“
„Ich brauch einen leeren Rucksack, aber ich kann meine Schulsachen nicht einfach so in den Schnee legen“, erklärte er geduldig, während er seine Bücher mit zu den meinen stopfte. Ich hatte nicht gewusst, dass man das Ding dermaßen vollstopfen konnte, aber Flo schien Übung darin zu haben.
„Was ist, wenn sie dich erwischen?“, warf ich ein.
„Dann rennst du.“ Die Antwort kam völlig gelassen. Ich sah ihn ungläubig an. Das konnte nicht sein Ernst sein! Ich würde ihn nicht einfach seinem Schicksal überlassen! Er kannte mich! Wie konnte er das nur von mir verlangen?
„Und was ist mit dir?“, brachte ich irgendwann heraus.
„Ich bekomm das schon irgendwie hin.“
Wieder sah er mich kurz an. Er sah immer noch so ernst aus. Ernst und entschlossen. Er hatte seinen Entschluss gefasst, jetzt würde er handeln. Und ich wusste, dass ich nichts mehr tun konnte, um ihn davon abzubringen. Ich konnte ihm nur helfen, so gut es ging, und hoffen.
„Es wird schon gut gehen, Ria. Ich bekomm das irgendwie hin.“ Er schenkte mir ein kurzes Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Wenn er mich beruhigen wollte, war er dabei nicht sonderlich erfolgreich.
„Versprochen?“
„Versprochen.“
Er drückte noch einmal kurz meine Hand, wie zum Abschied, und dann ging er zum Zaun hinüber und begann, ihn langsam und vorsichtig hinaufzuklettern. Und mir blieb nichts anderes übrig, als mit bangem Herzen zuzusehen und die Daumen zu drücken, dass alles glatt gehen würde.
Das Schneetreiben wurde immer heftiger, bis ich ihn irgendwann beinahe aus den Augen verlor. Einerseits war ich froh, denn so war die Chance weit geringer, dass man ihn entdecken würde. Andererseits machte der feuchte Schnee den Zaun rutschiger. Flo setzte seine Füße sehr behutsam in die Drahtmaschen hinein, aber einmal rutschte sein Schuh dann doch auf der glatten Oberfläche ab. Wie in Zeitlupe sah ich, wie er langsam das Gleichgewicht verlor. Mein Herz machte einen Satz. Ich sah ihn schon fallen, sah ihn auf dem harten Beton aufschlagen. Er war so hoch. Er war zu hoch, als dass er fallen konnte, ohne sich ernsthaft zu verletzen. Doch Flo fing sich im letzten Moment. Der Zaun ratterte gefährlich laut, als er mit dem Oberkörper dagegen schlug.
„Scheiße!“, hörte ich ihn fluchen.
„Ist alles in Ordnung?“, rief ich leise zu ihm hinauf.
„Ja, scheint so“, rief er zurück. „Hat das jemand gehört?“
„Ich glaube nicht.“ Ich sah mich trotzdem noch einmal um. Die Straße war verlassen. Natürlich wusste ich nicht, ob er vielleicht vom Schrottplatz aus gehört worden war. Doch Flo wusste das genausogut wie ich.
Er sah sich noch einmal prüfend um, und dann kletterte er weiter, noch ein wenig langsamer als zuvor. Als er oben angekommen war, hielt ich die Luft an. Aber er kletterte ohne große Schwierigkeiten über den Zaun und auf der anderen Seite wieder hinunter.
Ein letztes Mal wandte er sich zu mir um. „In Ordnung. Bis gleich.“
„Pass auf dich auf!“, flüsterte ich.
Er nickte nur, und dann war er im Schneetreiben zwischen den Containern verschwunden.
Ewigkeiten vergingen. Ich starrte in die weiße Welt aus fallenden Flocken hinein, versuchte, das Schneegestöber zu durchdringen, bis ich irgendwann schwarze Punkte im endlosen Weiß sah. Es war kalt. Obwohl ich Flos Jacke über der meinen trug, war mir so kalt. Ich wollte mir nicht einmal ausmalen, wie kalt ihm wohl inzwischen war.
Er war zu lange fort. Was machte er nur? Vielleicht hatten sie ihn schon entdeckt. Vielleicht saß er in diesem Moment auf dem Rücksitz eines Polizeiautos. Ich mochte mir nicht vorstellen, was das für Folgen hätte. Wie Patrick ausrasten würde. Nein, ich mochte nicht daran denken. Aber wo blieb er nur? Wo war er nur? Unruhig tänzelte ich von einem Bein auf das andere.
Und dann, nach einer weiteren Ewigkeit, erkannte ich einen Umriss im fallenden Schnee. Einen Umriss, der sich mir näherte. Wenig später stand Flo auf der anderen Seite des Zaunes und begann, hinaufzuklettern. Zwei Metallstangen ragten aus dem Rucksack heraus, oder jedenfalls sah es so aus.
Flo kletterte jetzt nicht mehr ganz so vorsichtig wie zuvor. Er schien es eilig zu haben. Oben angekommen, sah er sich hastig um und schwang sich dann gewagt auf die andere Seite des Zaunes. Er rutschte ihn mehr herunter, als dass er kletterte. Einen halben Meter über dem Boden ließ er los und kam mit einem dumpfen Laut auf dem Boden auf.
„Los, lauf! Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich gesehen haben“, zischte er mir zu, fasste mich an der Hand und zog mich hinter sich her.
Ich stolperte mehr hinter ihm her, als dass ich rannte. Er war einfach zu schnell. Der Rucksack lag schwer auf meinen Schultern und drückte mich zu Boden, die eisige Luft brannte in meinen Lungen, und immer wieder glitt ich beinahe auf dem nassen, schneebedeckten Beton aus, aber Flo rannte und rannte.
Hinter der nächsten Hausecke stolperte ich wirklich, und ich wäre gefallen, hätte er mich nicht aufgefangen. Eine ganze Weile hielt er mich so an sich gedrückt, während wir beide versuchten, zu Atem zu kommen.
„Es tut mir leid“, keuchte er, „aber ich dachte wirklich, dass mich jemand gesehen hat. Ich hab jemanden rufen hören.“
Er war so warm. Er war so warm, und er hielt mich so fest. Und er war in Sicherheit. Erleichterung durchströmte mich, so heftig, dass es beinahe weh tat.
„Ist schon gut. Hast du wenigstens gefunden, was du gesucht hast?“
„Ja, das hab ich“, meinte er geheimnisvoll. Und auf einmal strahlte er mich an. Wie ein kleiner Junge, der einen Schatz gefunden hat. Es war ansteckend, das Strahlen.
„Ich bin so froh, dass du heil über den Zaun gekommen bist. Ich hatte solche Angst um dich!“, seufzte ich.
„Ich hatte auch Angst“, gestand er mir. „Aber es ist ja alles gut gegangen.“
Ich wusste nicht, was ich dazu noch sagen sollte. Also schwieg ich und sah ihn an, während das Schneetreiben um uns herum immer heftiger wurde. Irgendwie störte es mich nicht. Auf einmal war da wieder so etwas wie Hoffnung.
„Und was jetzt?“, fragte ich irgendwann.
Flo grinste. „Jetzt gehen wir zum Baumarkt.“
„Und was suchen wir hier?“, fragte ich, während Flo mich zielstrebig durch die hohen, schmalen Gänge führte. Das Neonlicht stach unangenehm in meinen Augen, es war zu grell nach dem trüben Dämmerlicht, das draußen geherrscht hatte.
„Wir werden vier Eisenwinkel brauchen für die beiden Riegel“, erklärte er und sah mich dabei erwartungsvoll an.
„Zwei Riegel?“ Das war also sein Plan? Er wollte Riegel vor unsere Türen bauen? Und plötzlich ergab das mit den Stahlstangen einen Sinn.
Ein Riegel vor der Tür! Der Gedanke gefiel mir. Er war zwar nicht so befriedigend wie die Alternative – Patrick mit der Eisenstange eins über den Kopf zu ziehen, sobald er es wagte, zu mir ins Zimmer zu kommen – aber weitaus realistischer. Praktischer. Flo eben.
„Zwei Riegel“, sagte Flo. „Dein Zimmer und meines. Dann kannst du dich auch bei mir sicher fühlen.“
Natürlich. Das war so typisch. Er baute auch vor seine Tür einen Riegel. Nicht, damit er einen sicheren Ort hatte, an den er sich zurückziehen konnte. Nein, er tat es für den Fall, dass ich wieder zu ihm kam, wenn ich nachts nicht schlafen konnte. Es würde auch in Zukunft in Ordnung sein, wenn ich nachts zu ihm kam. Obwohl mein Zimmer ja dann genauso sicher war wie das seine.
„Ich fühl mich immer sicher bei dir“, sagte ich leise.
Das Lächeln, das er mir daraufhin schenkte, war so warm. Mir war auf einmal so warm. Hastig wandte ich den Blick ab, musterte die Schrauben im Regal gegenüber mit übertriebenem Interesse.
„Ah ja, Schrauben. Die brauchen wir auch noch.“
Flos Hand griff über meine Schulter hinweg nach einer Packung. Ich erstarrte. Er war so nahe. Er war so dicht hinter mir. Ich hätte mich nur einen winzigen Schritt nach hinten gehen müssen, und wir hätten uns berührt. Ich hätte nur meinen Kopf drehen müssen, und...ich verbot mir, den Gedanken zu Ende zu denken.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, erstarrte Flo ebenfalls. Die Schraubenpackung schwebte reglos in der Luft über meiner Schulter. Dann war sie auf einmal fort.
Ich schluckte und drehte mich langsam um. Flo war ans andere Ende des Ganges zurückgewichen und beobachtete mich mit dunklen Augen.
Ich räusperte mich. Er atmete tief ein und sah zu Boden.
„Eisenwinkel. Ich...ich geh dann mal.“ Und schon war er im nächsten Gang verschwunden.
Als er kurz darauf mit den Winkeln zurückkam, hatte ich mich wieder einigermaßen gefangen. Er hielt sorgsam ein wenig Abstand, als wir gemeinsam zur Kasse gingen.
„Warum hast du nicht einfach hier zwei Eisenstangen gekauft?“, fragte ich, auch um die unangenehme Stille zu überbrücken, die zwischen uns hing.
„Zu teuer“, murmelte Flo und sah mich immer noch nicht an. „Das hier können wir uns gerade so leisten. Aber ich will sparen, was nur geht. Falls...“
Er unterbrach sich hastig. Aber ich hatte auch so verstanden. Falls irgendetwas geschah. Für den Notfall wollte er etwas zurücklegen.
***
Wir schwiegen, als wir uns einen Weg durch den Schnee nach Hause bahnten. Flo ging direkt neben mir, aber er hielt sorgsam Abstand. Irgendwie tat es weh. Es tat weh, dass da wieder dieser Abstand war, und ich fürchtete mich. Ich wollte nicht nach Hause.
Panik stieg in mir auf, als wir die Treppen hinaufstiegen. Mein Magen verkrampfte sich, und mein Herz raste. Ich wollte nicht dort hinein. Auf einmal erschien mir die Wohnung zu klein, zu eng. Ich war dort zu ausgeliefert. Was, wenn Patrick schon zu Hause war?
Vor der Wohnungstüre erstarrte ich. Luft! Ich brauchte Luft, und irgendwie schien nicht genug da zu sein. Bunte Sternchen tanzten vor meinen Augen.
„Ria?“
Auf einmal war Flo ganz nahe. Seine Hände legten sich warm auf meine Wangen. Das Bild vor meinen Augen wurde wieder ein wenig klarer. Grün. Seine Augen waren so grün.
„Atme. Atme, Ria!“, sagte er und sah mich dabei so eindringlich an. So ernst. So besorgt. „Es ist alles in Ordnung. Patrick ist nicht da, und wenn er nach Hause kommt, kannst du in dein Zimmer gehen und abschließen. Du bist in Sicherheit. Atme!“
Und ich atmete.
„Geht es?“, fragte er irgendwann leise.
Ich nickte. „Danke“, flüsterte ich.
„Schon gut.“
Er ging vor mir in die Wohnung. Er machte überall Licht, sah in jeden Raum hinein. Selbst in Mutters Schlafzimmer warf er einen Blick.
„Es ist alles in Ordnung. Er ist nicht hier“, rief er mir dann über die Schulter hinweg zu. Und da wagte ich es endlich, über die Schwelle zu treten.
Den Rest des Tages kümmerte ich mich um die Hausarbeit, während Flo zunächst in meinem und dann in seinem Zimmer verschwand. Hin und wieder drang ein leiser Fluch durch die geschlossene Tür, und einmal polterte es, als ihm wohl eine der Eisenstangen aus der Hand geglitten war.
„Alles in Ordnung?“, rief ich, als er aufgehört hatte zu fluchen.
„Ja, nichts passiert“, kam die Antwort, und ich widmete mich erleichterte wieder der Waschmaschine.
Ich fühlte mich so unwohl. Früher war ich immer gerne in der Küche gewesen. Ich verband so viele schöne Erinnerungen mit dem Raum. Aber jetzt – jetzt ertappte ich mich immer wieder dabei, dass ich zum Tisch hinübersah und die harte, tastende Hand auf mir spürte.
„Ria, kommst du mal kurz?“, rief Flo, als ich gerade dabei war, die Wäsche auf die Leine im Wohnzimmer zu hängen. Ich warf die Socke, die ich gerade in der Hand gehalten hatte, wieder zurück in den Wäschekorb. Er war in meinem Zimmer, jedenfalls hatte es sich so angehört.
Was ich dort sah, ließ mich überrascht inne halten. Da waren zwei wirklich große Eisenwinkel zu beiden Seiten der Tür angebracht. Es sah irgendwie so...wuchtig aus. Wuchtig und vertrauenserweckend.
Mit einem leisen Klappern rastete der Riegel ein. Eine dicke Eisenstange von sicherlich zwei Zentimetern Durchmesser.
„So, fertig“, seufzte Flo. „Du kannst die Tür zwar nicht von außen abschließen, aber hier dürfte Patrick nicht mehr ungebeten hereinkommen, wenn du im Zimmer bist. Vorher müsste er schon die Tür zu Kleinholz verarbeiten.“
Ich lächelte zu ihm hinauf. Unsere Blicke trafen sich. Lange sah er mich an. Lange sah er mich an, mit diesen grünen Augen, die immer dunkler wurden.
Die Luft zwischen uns schien Funken zu sprühen.
Und dann lagen seine Hände zu beiden Seiten meines Kopfes an der Tür. Ballten sich dort zu Fäusten, während er mir langsam immer näher kam.
Und auf einmal hatte ich keine Angst mehr. Wir waren in Sicherheit, hier in meinem Zimmer, der Riegel hielt die Außenwelt von uns fern. Niemand konnte mir hier zu nahe kommen. Ich war sicher. Dank Flo war ich hier sicher. Und vor ihm hatte ich keine Angst.
Es war unvermeidlich. Es war, als versuchte man, den Ozean mit bloßen Händen aufzustauen.
Fast wie von selbst hoben sich meine Hände und vergruben sich in den dunklen Locken. So weich. So weich war sein Haar, und so warm, und noch immer ein wenig feucht vom Schweiß. Meinetwegen. Er hatte all das hier meinetwegen getan. Er war meinetwegen über den Zaun geklettert und hatte dabei sein Leben riskiert. Damit ich sicher war.
Da war wieder diese Wärme in mir.
Flo stöhnte. Es war ein leiser Laut, aber er klang so verzweifelt. So zerrissen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie seine Hände zu zittern begannen.
Er war so nah. Er war so nah, aber noch nicht nahe genug.
Ich las es in seinen Augen. Die Verzweiflung, aber auch die wachsende Entschlossenheit. Er entfernte sich. Er entfernte sich von mir, und auf einmal war das mehr, als ich ertragen konnte. Ich brauchte ihn. Ich brauchte ihn so sehr.
„Flo, bitte“, flehte ich, und die Entschlossenheit wankte ein wenig. Da flackerte etwas im glasklaren Grün seiner Augen. Ein Funke. Da war ein Funke. Er atmete bebend ein.
Einen Moment verharrten wir so, wie erstarrt, und keiner von uns brachte die Kraft auf, sich abzuwenden. Keiner von uns hatte den Mut, diesen letzten Graben zu überwinden.
Es war gefährlich, das wusste ich. Aber ich glaubte, nicht mehr atmen zu können, wenn ich ihn jetzt nicht küsste.
Und dann lagen meine Lippen auf den seinen. Süß. So süß.
Zuerst war er wie erstarrt. Doch dann war es, als sei ein Damm gebrochen. Er gab einen leisen Laut von sich – fast wie ein Wimmern. Und dann bewegten sich seine Lippen unter den meinen.
Die Welt drehte sich. Die Welt drehte sich auf ihrer Achse, während alles um uns herum an Bedeutung verlor.
17. Was niemand sehen darf
Anna-Maria
Anfangs war da so viel...Dringlichkeit. Wie er mich gegen die Tür drückte, die Hände noch immer zu Fäusten geballt, gleich neben meinem Kopf. Wie er seine Lippen auf meine presste. Und dann waren es nicht nur seine Hände, die zitterten. Er bebte am ganzen Körper – oder war ich das?
Ich verlor mich in dem Kuss. Das hier, das hier war Leben. Die Schmetterlinge in meinem Magen tanzten einen wilden Tanz und rissen mich mit sich. Nur am Rande nahm ich wahr, wir wir durch mein Zimmer stolperten. Flo hielt mich. Ich wäre gefallen, wenn er mich nicht gehalten hätte. Und dann war da meine Matratze, die uns auffing. Warm. Flo war so warm. Ich war sicher, hier bei ihm. Mit ihm.
Ich weiß nicht, woran es lag. Ob wir mutiger geworden waren, oder ob wir schlichtweg aufgegeben hatten. Vielleicht war es die Tatsache, dass wir hier hinter dem Riegel sicher waren. Vielleicht war es die Verzweiflung und das Gefühl der Hilflosigkeit, das Patricks Angriff in mir ausgelöst hatte. Vielleicht wollte ich einfach nur vergessen. Vielleicht war es einfach unvermeidlich, und wir hatten uns schon viel zu lange dagegen gesträubt.
Vielleicht wollte ich spüren, wie es war, glücklich zu sein, und wenn auch nur für ein einziges Mal. Vielleicht wollte ich mich für einen Moment in der Illusion verlieren, dass es so etwas wie absolutes Glück gab. Denn das hier – das hier war Glück. Mitten in der Hölle hatte ich das Paradies gefunden.
Luft. Ich brauchte Luft. Und so löste ich mich irgendwann ein wenig von ihm, nur, um kurz zu Atem zu kommen. Unsere Augen trafen sich – die seinen so dunkel und irgendwie verloren. Dieser wilde Hunger in mir starb und machte einer eigentümlichen, weichen Zärtlichkeit Platz. Auf einmal war das Bedürfnis, ihn zu trösten, stärker als alles andere. Meine Hände hoben sich, fuhren sanft durch das schwarze Haar, das ich zuvor zerzaust hatte. Vorsichtig strich ich es wieder glatt. Er schluckte, und das Grün glänzte verräterisch. Ganz langsam näherte ich mich ihm. Als sich unsere Lippen wieder trafen, war es war mehr ein zartes Streifen als ein Kuss. Sanft. So sanft. Etwas in meinen Inneren erbebte. Das hier fühlte sich irgendwie näher an. Bedeutender. Wichtiger.
Salz. Auf einmal schmeckte ich Salz.
„Flo“, murmelte ich besorgt und rückte ein wenig von ihm ab. „Flo, was...“
Verwirrt musterte ich ihn. Seine Augen glitzerten noch immer ein wenig, aber da waren keine Tränenspuren auf seinen Wangen.
Flo hob eine Hand und strich mir sanft über die Wange. Nass. Tränen. Da waren Tränen auf meinen Wangen. Ich weinte! Warum weinte ich?
„Hey“, flüsterte er. „Ist schon gut. Es ist okay, Ria.“
Da war diese seltsame Traurigkeit in mir. Ich verstand nicht, woher sie kam. Sie umfing mich wie dunkler Nebel. Die Tränen hinterließen brennende Spuren. Sie fielen lautlos und spülten etwas aus mir heraus, etwas Kaltes. Es war so seltsam befreiend.
Und auf einmal fing ich an zu zittern. Ich lag neben Flo auf meinem Bett, und ich zitterte, und mir war kalt, und ich fühlte sie wieder, die Hände, die nach mir griffen, die mich in die Enge drängten. Die mich bedrohten. Die mich in meinem eigenen Heim bedrohten. Angst ballte meinen Magen zu einem festen, schmerzenden Knoten zusammen. Ich schnappte nach Luft und klammerte mich an Flo fest, versuchte, zu vergessen, was ich nicht vergessen konnte.
Irgendwie war es so viel schlimmer, dass es dort in der Küche geschehen war. In der Küche, wo ich mich immer so wohl gefühlt hatte. All die schönen Erinnerungen schienen mir nun schrecklich besudelt. Weniger wertvoll. Sie machten mir Angst. Alles machte mir Angst. Hier, hier war ich sicher, aber ich würde nicht für immer hier bleiben können. Flo würde nicht für immer da sein. Und selbst Flo würde mich nicht schützen können...nicht auf Dauer. Nicht vor Patrick. Ich atmete schaudernd ein, versuchte, mich zu beruhigen.
Ich verstand mich selbst nicht mehr. Meine Gedanken waren so völlig wirr und zusammenhangslos. Noch vor ein paar Minuten war ich im Paradies gewesen, und nun hatte mich wieder die Angst in ihren Klauen.
Flo hielt mich. Er hielt mich und fuhr mir immer wieder beruhigend über das zerzauste Haar. Ich wusste, wenn er jetzt gehen würde, würde ich in mich zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Da war keine Kraft mehr in mir. Etwas in mir war noch immer nicht ganz verheilt. In den letzten Tagen hatten sich die Splitter meines Selbst wieder ein wenig zusammengefügt. Aber die Risse waren noch immer so gut zu spüren, und der Zwischenfall in der Küche hatte wieder etwas zerspringen lassen. Ich war aus Glas, aus zerbrechlichem Glas.
Wir hatten uns geküsst. Nur allmählich sickerte die Bedeutung dessen zu mir durch. Wir hatten uns geküsst, und damals im Park...nein, daran konnte ich jetzt nicht denken. Das war zu viel, das war einfach zu viel. Die Angst, die mich nun ergriff, war eine gänzlich andere. Sie drückte nicht meinen Magen zusammen. Sie schlich sich in meine Adern wie tödliches Gift. Sie betäubte. Sie umfing mich wie kalter, grauer Nebel. Ich konnte ihn nicht gewinnen lassen, den Nebel. Nicht, nachdem ich nun wusste, was es mich kostete, mich von ihm zu befreien.
Ich schlang meine Arme noch fester um Flos Taille. Auch wenn ich wusste, dass ich nicht stark genug war, ihn zu halten, wenn er gehen wollte. Bitte, geh nicht fort!
„Was ist los?“, fragte Flo alarmiert. Seine Hand rieb beruhigende Kreise über meinen Rücken.
„Geh nicht fort!“, murmelte ich in sein T-Shirt hinein. „Bitte, geh nicht fort!“
„Was...?“ Vorsichtig löste er sich ein wenig von mir. Ich hatte es gewusst. Ich war nicht stark genug, ihn zu halten. Selbst, wenn ich es versuchte. Er war stärker als ich, war es schon immer gewesen.
Grüne Augen blickten suchend in die meinen. Ich konnte nicht in ihnen lesen. Er war zu sehr auf mich fixiert. Ich konnte in seinen Augen nicht lesen!
„Bitte, geh nicht fort! Es tut mir leid, dass ich damit angefangen habe. Ich...weiß auch nicht, was in mich gefahren ist...Es wird nicht wieder vorkommen, es tut mir leid, bitte, geh nicht!“
Ich verhaspelte mich, stolperte über die Wörter. Bitte, Flo, geh nicht!
So etwas wie Bedauern oder Schuldbewusstsein huschte über Flos Gesicht, und meine Angst wurde zu einer ausgewachsenen Panik.
Und dann lagen zwei warme Hände an meinen Wangen, zwangen mich, ihn anzusehen. Warm. Seine Hände waren so warm, und sein Blick war so weich. Er drang in mich.
„Ich geh nicht fort. Niemals wieder, Ria. Es tut mir so leid.“
Ich wollte ihm glauben. Ich wollte ihm so sehr glauben. Aber mein Glaube an ihn war erschüttert worden, als er gegangen war. Als er gegangen war, ohne ein Wort, und mich dort im Park alleine gelassen hatte.
„Versprochen?“ Ich klang so...klein. Meine Stimme zitterte ein wenig, und ich hasste mich dafür, dass ich so schwach war.
„Versprochen! Oh, Ria!“, seufzte er und zog mich noch ein wenig enger an sich. Eine ganze Weile lagen wir so nebeneinander. Mein Kopf lag auf seiner Schulter, und seine Finger spielten gedankenverloren mit meinen Haaren. Meine Wangen waren noch immer feucht, und ich bekam die Tränen einfach nicht unter Kontrolle.
„Ich versteh das nicht. Was ist nur los mit mir?“, brachte ich irgendwann zwischen bebenden Lippen hervor.
„Es war wohl einfach alles ein bisschen viel“, meinte Flo. „Kein Wunder.“
Ich weiß nicht, wie lange wir so ineinander verschlungen auf meinem Bett lagen und einfach nur die Stille genossen. Die Welt vor dem Fenster war dunkel geworden. Flos Herzschlag zählte das Verrinnen der Zeit. Ich spürte, wie er sich immer mehr neben mir versteifte.
„Ria, wir sollten...“, murmelte er irgendwann.
„Ich weiß“, flüsterte ich. „Ich weiß.“
Da war sie wieder. Die Panik, die mit klammen Fingern nach mir griff, mir über den Nacken strich. Kalt. So kalt.
„Du kannst auch hier bleiben“, bot Flo zögernd an. „Ich werd Patrick sagen, dass du krank bist. Vielleicht...“
Die Vorstellung war verlockend. So verlockend. Ich wusste, dass es feige war. Ich wusste, ich konnte mich nicht ewig vor ihm verstecken. Ich wusste, ich würde ihm früher oder später wieder entgegen treten müssen. Vielleicht war es sogar noch schlimmer, es hinauszuzögern. Aber ich wusste auch, dass Flo recht hatte. Ich hatte einfach nicht die Kraft, ihm heute noch einmal zu begegnen.
„Bist du sicher?“
„Ja, ich bin sicher. Ich...es ist besser, wenn ich mir nicht auch noch um dich Sorgen machen muss.“
Sanft strich er mir eine Strähne hinter das Ohr zurück und versuchte sich dann an einem Lächeln. Es sollte mich wohl beruhigen, dieses Lächeln. Aber es wirkte irgendwie gequält. Seine Augen waren so dunkel. So groß und so dunkel und irgendwie hoffnungslos. Ich kannte ihn zu gut. Er fürchtete sich ebenfalls. Auch wenn er es nie zugegeben hätte. Schon alleine deswegen nicht, um mich nicht zu beunruhigen. Und auf einmal hatte ich Angst um ihn.
„Flo...“, setzte ich an, doch er unterbrach mich mit einer abweisenden Handbewegung.
„Ich bin schon ein großer Junge. Mach dir keine Sorgen um mich.“
Ich wusste, dass er das sagte, damit ich mir keine Vorwürfe machte. Dass er es herunterspielte, um meinetwillen. Aber ich kannte ihn zu gut, um nicht die Anspannung in seinen Schultern zu bemerken, als er mir den Rücken zuwandte und zur Tür hinüberging. Seit heute morgen hatten wir beide eine Ahnung davon, was der Preis für das Zusammenleben mit Patrick sein könnte. Ich hoffte nur, dass Flo heute vor ihm in Sicherheit war. Dass er nicht für meine Abwesenheit würde zahlen müssen.
***
Lange lag ich auf der weichen Decke und betrachtete den eisernen Riegel. Vergeblich versuchte ich, zu hören, was da draußen vor dieser Türe geschah. Es war so leise. Es war viel zu leise. Und je länger ich lauschte, desto unruhiger wurde ich. Meine Fantasie ging mit mir durch.
Ich sah Flo, wie er von Patrick an die Wand gedrückt wurde. Wie Patrick ihm den Ellbogen an die Kehle presste. „Wo ist sie?“, knurrte er. Flo schüttelte nur stur den Kopf, und Patrick drückte immer fester zu, bis Flo irgendwann mit einem schrecklichen, erstickten Laut in sich zusammensank.
„Nein!“, flüsterte ich. Meine Finger krallten sich in den uralten Stofflöwen, der einmal Flo gehört hatte. Aber Karlchen blieb stumm und reglos, und ich war alleine mit meinen Gedanken und den Bildern in meinem Kopf, die immer lebendiger und realer wurden, je länger es still blieb.
Ich wollte aufspringen. Ich wollte aufspringen, zur Türe hinausstürzen und mich schützend vor Flo stellen. Nichts, aber auch gar nichts, konnte schlimmer sein als hier zu sitzen und nicht zu wissen, wie es ihm ging. Ich lieber tausend mal von Patrick angegrabscht worden, als Flo leiden zu sehen. Warum erkannte ich das erst jetzt? Warum war ich nicht mutig genug gewesen? Jetzt war es zu spät. Jetzt konnte ich nicht mehr in die Küche stürmen und ihm zu Hilfe eilen. Ich hätte damit alles nur noch schlimmer gemacht. Ich hätte seine Lüge aufgedeckt – die Lüge, die er nur meinetwegen erzählt hatte – und ihn damit in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht. Oh Gott, Flo!
Ich vergrub mein Gesicht im abgegriffenen Fell des Stofflöwen und konnte doch die Bilder nicht ausblenden. Die Bilder, die mir durch den Kopf spukten, wie um mich zu verhöhnen.
Ich sah Flo, wie er das Essen verteilte. Sah, wie Patrick mit diesem wissenden, überlegenen Lächeln aufblickte und sich beschwerte, dass das Essen nicht warm genug sei. Wie er Flo brutal am Arm packte und ihn zum Herd hinüber schleifte. Wie er Flos Hand auf die noch heiße Herdplatte drückte. Flo wurde kalkweiß, und es zischte, und er stöhnte leise. Flo schrie nicht. Er hatte nie geschrien, wenn einer von Mutters Freunden der Ansicht gewesen war, ihn bestrafen zu müssen. Es war Gott sei Dank nicht oft vorgekommen.
Mir wurde übel.
Ein leises Klopfen an meiner Tür erlöste mich irgendwann, riss mich aus meinen Gedanken.
War das Patrick? Wollte er nach mir sehen? Eigentlich hätte ich Angst haben sollen. Aber wenn Patrick hier war, war Flo für den Moment in Sicherheit.
Wie erstarrt saß ich auf meinem Bett, den Stofflöwen immer noch fest an mich gedrückt, und wusste nicht, was ich nun tun sollte.
„Ich bin's, Ria. Lass mich rein“, drang da Flos gedämpfte Stimme durch das Holz.
Ich atmete. Süße, süße Luft. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich die Luft angehalten hatte. Dann, nach einer halben Ewigkeit, brachte ich meine Beine dazu, sich zu bewegen. Meine Knie waren so weich. Ich schwankte mehr zur Tür hinüber, als dass ich ging. Allein der Gedanke, dass Flo ungeschützt im Flur stand, trieb mich vorwärts. Flo. Oh, hoffentlich war ihm nichts passiert.
Er sah müde aus. Das war das erste, das ich bemerkte, nachdem ich den schweren Riegel gelöst und ihn hineingelassen hatte. Er schien nicht ernsthaft verletzt zu sein, jedenfalls nicht auf den ersten Blick, aber er sah müde aus. Erschöpft. Trotzdem war das erste, das er fragte, kaum dass er über die Schwelle getreten war: „Wie geht es dir?“
„Jetzt geht es mir wieder gut“, antwortete ich ehrlich, während ich die Türe hastig hinter ihm schloss. Der dunkle Flur war zu bedrohlich.
Es war das erste Mal, dass er nachts zu mir gekommen war, fiel mir da auf. Irgendwie war es seltsam. Es bedeutete mehr. Er war gekommen. Um nach mir zu sehen, um bei mir zu sein? Er war gekommen, und jetzt saß er neben mir auf der Matratze, und ich baumelte mit den Füßen in der Luft und sah überall hin, nur nicht zu ihm. Es war so seltsam, es war so ungewohnt. Eine ganze Weile saßen wir so nebeneinander, in der stillen Dunkelheit meines Zimmers.
„Wie geht es dir?“, wagte ich irgendwann, die Frage zu stellen, die mir auf der Zunge brannte.
Flo angelte nach der Lampe. Nach der Lampe, die auf meinem Nachttisch stand, seit er sie mir damals vom Sperrmüll besorgt hatte. Der Schirm war verbeult, aber ich mochte sie, die Lampe. Ich blinzelte in der plötzlichen Helligkeit, und auch Flo kniff die Augen gegen das Licht zusammen.
„Es tut mir leid“, murmelte er. „Es war...zu dunkel...stört es dich sehr? Ich kann sie auch wieder ausschalten.“
Aber er hatte sich merklich entspannt, seit der Schein der Lampe die Schatten in die Ecken gedrängt hatte. Und ich hatte so oder so nur in der Dunkelheit gesessen, weil ich irgendwie gefürchtet hatte, Patrick könne den Lichtschein unter der Tür durchschimmern sehen und beschließen, nach mir sehen zu wollen. Jetzt, da Flo hier war, schien diese Angst irgendwie nicht mehr wichtig zu sein.
Eine lange Weile sahen wir uns an.
„Und?“, hakte ich irgendwann nach. Flo blinzelte.
„Du solltest aufhören, dir ständig Sorgen um mich zu machen“, wehrte er ab. „Ich kann auf mich selbst aufpassen.“
Er klang zu defensiv. Misstrauisch sah ich zu ihm auf. Er hatte den Mund zu einer dünnen, grimmigen Linie zusammengepresst und blickte zur Tür hinüber. Er wich mir aus.
„Was ist passiert?“
„Nichts.“
Ich kniff die Augenbrauen zusammen und legte die Stirn in Falten.
„Wirklich?“
Flo seufzte genervt.
„Du weißt schon. Das übliche. Das Essen hat nicht geschmeckt, du warst nicht da...er war ein bisschen aufgebracht. Nichts ernsthaftes.“
Schweigend und sehr vorsichtig griff ich nach seiner Hand, drehte die Innenfläche ins Licht.
Nichts. Die Haut war unversehrt, bis auf die kleine, kreisrunde Narbe an seiner Daumenwurzel, die schon vollständig verblasst war. Ich konnte nicht anders. Ganz vorsichtig fuhr ich mit dem Finger darüber.
Flo sah zu mir hinunter, und unsere Augen trafen sich. Sein Blick war auf einmal so weich.
„Wirklich. Es ist nichts passiert. Nichts Ernstes. Du musst aufhören, daran zu denken, Kleine. Das hier“, und er nickte in Richtung seiner Hand, die noch immer in der meinen lag, „das hier ist schon so lange her.“
„Ich bekomme die Bilder nicht aus meinem Kopf.“ Und den Geruch. Und dein leises Stöhnen.
„Es ist schon lange her“, wiederholte Flo. „Nichts von Bedeutung.“ Und seine Finger schlossen sich sanft um die meinen.
Wir wussten beide, dass das nicht stimmte. Aber ich beschloss, es darauf beruhen zu lassen. Wir hatten auch so genug Sorgen, wir mussten nicht auch noch in der Vergangenheit herum stochern. Nicht jetzt. Nicht heute.
Wieder saßen wir eine lange Weile schweigend nebeneinander. Ich spürte, wie die Wärme von Flos großer Hand in meine überging. Die Stille war so friedlich. Ich genoss es, mir zumindest für den Moment keine Gedanken machen zu müssen. Wir waren sicher hier. Für den Augenblick.
Ich wusste nicht, wie spät es war. Schon sehr spät, jedenfalls fühlte es sich so an. Aber ich brachte es nicht über mich, darauf hinzuweisen. Denn ich wusste nicht, ob er heute bei mir bleiben würde. Immerhin war er es gewesen, der zu mir gekommen war.
Ich wollte nicht, dass er ging. Ich wollte mich nur noch ein wenig länger sicher fühlen. Ich wollte nur noch ein wenig länger die friedliche Stille in seiner Gegenwart genießen. Trotzdem konnte ich es irgendwann nicht mehr zurückhalten, das Gähnen. Ich hob hastig die Hand vor den Mund, aber natürlich fiel es Flo trotzdem auf.
„Wenn du lieber schlafen willst, musst du das sagen“, murmelte er vorsichtig. „Ich wollte dich nicht aufwecken. Ich wollte dich nicht stören. Aber ich wollte noch einmal nach dir sehen. Geht es dir wirklich gut, Ria?“
„Du solltest aufhören, dir ständig Sorgen um mich zu machen. Ich kann auf mich selbst aufpassen“, wiederholte ich seine Worte von zuvor. Ich versuchte, eine ernste Miene aufzusetzen, aber es gelang mir nicht ganz.
Er lächelte. Für einen kurzen Moment lächelte er dieses warme Lächeln, das nur mir gehörte, und die Schmetterlinge in meinem Bauch flatterten wieder.
„Ich werde mir immer Sorgen um dich machen, Ria“, fügte er nach einer kleinen Weile sehr ernst an. Er sah nachdenklich aus. Nachdenklich und irgendwie traurig.
„Du störst mich nicht“, versicherte ich ihm rasch. „Ich glaube sowieso nicht, dass ich heute schlafen kann. Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt will.“ Schaudernd dachte ich an die schrecklichen Bilder, die mir durch den Kopf gespukt waren, ehe er gekommen war. Ich fürchtete, dass sie zurückkehren würden, sobald er die Türe hinter sich geschlossen hatte. Es war einfach zu viel geschehen.
„So schlimm?“, fragte Flo mitfühlend und betrachtete mich mit gerunzelter Stirn.
„Es geht schon“, wiegelte ich hastig ab, aber er durchschaute mich, wie er es immer tat.
Er räusperte sich und wand sich ein wenig unbehaglich auf der Matratze.
„Soll ich...“, begann er zögernd. Mit der freien Hand fuhr er sich durchs Haar und verwuschelte die ohnehin wirren Strähnen noch ein wenig mehr. „Soll ich...würdest du dich...besser fühlen...wenn ich hier bleibe?“
„Ja“, murmelte ich mit klopfendem Herzen. Röte stieg mir ins Gesicht und ich wandte hastig den Kopf zur Seite, in der Hoffnung, dass er es nicht sah. „Ja, ich würde mich besser fühlen...“
Was war nur los mit mir? Warum konnte ich ihm nicht mehr in die Augen sehen? Warum hatte es auf einmal eine völlig andere Bedeutung, wenn er bei mir blieb?
„Du bist müde, oder?“, fragte Flo.
Ich nickte nur. Ich konnte ihn immer noch nicht ansehen.
„Ja dann...“ Er langte über mich hinweg nach der Lampe, und die Dunkelheit aus den Ecken kroch wieder hervor. Ich schauderte leise und schlüpfte hastig unter die Bettdecke.
Flo tat es mir nach. Er achtete sorgsam darauf, mich nicht zu berühren. Aber seine Hand suchte unter der Decke nach der meinen und fand sie. Fest und warm und sicher schlossen sich seine Finger um die meinen.
Der Schlaf brach über mir zusammen wie eine Welle, die mich mit sich riss. Es war ein traumloser Schlaf.
***
Ich weiß nicht, was es war, das mich in dieser Nacht weckte. Vielleicht hatte ich einfach gespürt, wie er mich ansah. Jedenfalls schrak ich aus dem Schlaf und blickte direkt in diese tiefen Augen, die im bleichen Mondlicht von einem seltsamen, beinahe silbernen Grau waren.
Irgendwie war es so natürlich, neben Flo aufzuwachen. Ich fühlte mich so geborgen. Die seltsame Schüchternheit vom Abend war verschwunden. Das hier, das hier war richtig.
Ich leckte mir über die vom Schlaf trockenen Lippen, und Flos Augen wurden dunkler. Die Luft zwischen uns wurde schwerer. Mein Blick huschte zu seinem Mund hinüber, und da flammte etwas in seinen Augen auf. Ich glaubte, förmlich die Funken sprühen zu sehen. Er sah so zerrissen aus. Fast ohne mein Zutun hob sich meine Hand, legte sich sanft auf seine Wange.
Er schloss die Augen und seufzte leise. Irgendetwas an dem Laut brach meine Selbstbeherrschung. Und dann lagen meine Lippen auf seinen, und er küsste mich, und ich küsste ihn. Da war wieder diese Wildheit. Diese Wildheit, die irgendwie nach Verzweiflung schmeckte. Als ich wieder nach Luft schnappen musste, wanderte Flos Mund meinen Hals hinunter. Heiße und kalte Schauer rannen meinen Rücken hinab. Ich hatte nicht gewusst, dass sich etwas so gut anfühlen konnte. Meine Hände schlichen sich unter sein T-Shirt, strichen über seine Schultern, über seinen Rücken, zogen ihn dichter zu mir. Näher. Ich wollte ihm noch näher sein. Und dann lag er auf mir, und sein Mund fand wieder den meinen. Er zitterte.
Diesmal unterbrachen uns keine Tränen. Wir waren alleine, wir waren in Sicherheit, und ich hatte keine Angst.
Und ich vergaß. Ich vergaß alles um uns herum. Es gab nur Flo und mich, und dieses Bedürfnis nach mehr. Ich drehte meine Hände in sein Haar, drückte mich noch näher an ihn heran. Flo stöhnte auf. Es war ein tiefer, irgendwie hilfloser Laut, der etwas in mir erschütterte. Plötzlich schob er mich von sich. Er war sehr sanft, aber auch sehr bestimmt. Auf einmal lag ich auf der anderen Seite der Matratze, und wir berührten uns nicht mehr.
Schwer atmend sahen wir uns an. Ich wollte mehr. Ich wollte mehr, als ihn nur zu küssen, und so, wie er mich ansah, ging es ihm wohl ähnlich. Das erste Mal hatte ich ein wenig Angst vor dieser seltsamen Macht, die wir über einander hatten. Das erste Mal hatte ich ein wenig Angst vor mir selbst. Das erste Mal hatte ich Angst, die Kontrolle über mich zu verlieren. Flo zu küssen war eine Sache. Aber ich hatte das Gefühl, dass wir kurz davor waren, eine Grenze zu überschreiten. Eine Grenze, die so viel gefährlicher war. Vielleicht hatten wir sie auch längst überschritten, und es gab kein Zurück mehr.
„Was machen wir nur? Ich...ich...“ Flo schluckte und wandte den Blick ab. „Ich kann mich einfach nicht von dir fernhalten. Ich kann es nicht! Es tut mir so leid.“
„Das musst du doch auch nicht“, wandte ich vorsichtig ein. Ich hatte Angst vor diesem Gespräch. Er hatte versprochen, mich nicht mehr alleine zu lassen, aber ich rechnete trotzdem jedem Moment damit, dass er einfach aufstand und ging. Das letzte Mal war er gegangen. Ich konnte nicht vergessen, dass er gegangen war, nachdem wir uns geküsst hatten.
Er ging nicht. Er sah mich nur sehr lange sehr ernst an.
„Hast du eine Ahnung, wie gefährlich das hier ist?“, fragte er irgendwann mit leiser Stimme.
Er spürte es also auch.
Wir sahen uns lange in die Augen, dort in diesen endlosen Momenten, die nur das Mondlicht sah. Auf einmal war er so weit fort. Es schmerzte, dass da auf einmal wieder dieser Graben zwischen uns war.
„Wir schaden doch niemandem damit! Wir begehen doch kein Verbrechen, wenn wir einander lieben. Wie kann es falsch sein, dich zu lieben?“, flüsterte ich irgendwann in den Abgrund hinein. Ich wusste nicht, ob ich wirklich eine Antwort auf diese Frage erwartete. Vielleicht gab es keine Antwort darauf.
Flo atmete scharf ein. Dieser Funke...da war wieder dieser Funke in seinen Augen. Eine lange Weile sah er mich an.
„Du liebst mich?“, fragte er leise. Es klang irgendwie ungläubig, beinahe geschockt.
„Ja. Ich liebe dich, Flo. Irgendwie...hab ich das schon immer getan.“ Es klang so richtig. Natürlich liebte ich ihn. Wieso hatte ich das nicht schon viel früher bemerkt? Dass ich ihn nicht nur wie einen Bruder liebte? Warum überraschte es mich so? Warum überraschte es ihn so? Aber irgendwie war es so viel realer, wenn man die Worte aussprach und sie nicht nur dachte.
Flo war wie erstarrt. Er sah mich lange an, ohne etwas zu sagen. Seine Miene war undurchdringlich. War ich zu weit gegangen? War das zu viel für ihn? War es doch falsch? Ich starrte ihn an und wartete. Wartete und hoffte.
Ich hätte es nicht ertragen, wenn er mich erneut von sich gestoßen hätte. Ich glaubte nicht, dass ich das noch einmal hätte durchstehen können, ohne daran zu zerbrechen. Nicht nach dem Vorfall mit Patrick. Ich brauchte ihn. Ich brauchte ihn so sehr, und ich konnte ihn nicht verlieren.
„Ich liebe dich auch“, wisperte er. Seine Augen waren so offen. So offen und so traurig und so...verzweifelt.
Diese Worte – diese einfachen vier Worte warfen meine Welt endgültig aus der Bahn. Diese Worte und der traurige Blick, der irgendetwas tief in meinem Inneren zum Klingen brachte.
Ich wusste, dass ich diesen Moment niemals vergessen würde. Egal, was geschah, diesen einen Augenblick würde ich für immer wie einen kostbaren Schatz in meiner Erinnerung bewahren. Der Moment, in dem wir endlich ehrlich zueinander waren. Der Moment, in dem ich erfuhr, dass der Junge, den ich schon immer geliebt hatte, mich ebenso liebte.
Aber da war immer noch dieser Abstand zwischen uns. Er sah mich an, mit diesen silbergrauen, traurigen Augen, und er rührte sich nicht. Er nahm mich nicht in den Arm. Er lag nur da und sah mich an, als habe er soeben erfahren, dass wir nur noch einen Monat zu leben hätten. Und ich wusste, dass es egal war, was die anderen dachten, dass es egal war, was ich dachte. Wenn Flo der Ansicht war, dass es falsch war, wie konnte es dann richtig sein?
„Das hier...das hier fühlt sich nicht falsch an. Warum soll es falsch sein, wenn wir uns lieben? Wenn wir füreinander da sind, uns gegenseitig helfen?“
Ich hatte mich aufgesetzt und mich gegen die kalte Wand gelehnt, und auch Flo richtete sich nun langsam auf. Langsam und sehr vorsichtig, so als wolle er mich nicht erschrecken.
„Es ist nicht falsch!“, versuchte ich es noch einmal. „Es kann nicht falsch sein!“
Da war noch immer so viel Widerstand in seiner ganzen Haltung. Wie konnte er so denken? War es so schrecklich, der Gedanke, mich zu lieben? So abstoßend? Irgendwo tief in mir drinnen wusste ich, dass ich ihm unrecht tat, aber ich war so verletzt. Wie konnte er mir sagen, dass er mich liebte, und mich im gleichen Moment abweisen?
„Es ist verboten, Ria.“ Er war immer noch so verdammt ernst. Seine Augen waren so groß. So geschockt. So, als könne er immer noch nicht so richtig fassen, was da soeben geschah.
„Es ist auch verboten, die Schule zu schwänzen oder Müll im Park abzuladen. Es ist auch verboten, auf dem Schrottplatz einzubrechen. Was wird schon groß passieren? Wollen sie uns dafür einsperren?“ Ich lachte kurz auf. Es klang ein wenig zu hoch und zu schrill, das Lachen.
Flo seufzte. Auf einmal sah er uralt aus. Im weißen Licht des Mondes war sein Gesicht grau.
„Ja“, antwortete er leise. „Genau das werden sie tun.“
Ich blinzelte verständnislos. Das konnte nicht sein. Unmöglich. Das war nicht sein Ernst!
„Was...was meinst du damit?“
„Was ich damit meine?“ Jetzt war es Flo, der kurz und humorlos auflachte. Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. „Himmel, Ria, auf das hier...auf das hier steht eine Gefängnisstrafe. Niemand darf es jemals wissen!“
Ungläubig starrte ich ihn an.
„Gefängnis? Man könnte uns hierfür ins Gefängnis sperren?“
Mörder kamen ins Gefängnis, Vergewaltiger. Verbrecher. Waren wir verbrecherisch, nur, weil wir uns liebten?
Nach und nach sickerte die Erkenntnis in mein Bewusstsein. Das hier...der Kuss...alles...das war so verboten, dass wir dafür ins Gefängnis wandern konnten? Nach und nach begriff ich die Gefahr, in der wir schwebten. Mein Gott. Wir hatten uns auf offener Straße an den den Händen gehalten. Wir hatten uns geküsst, erst im Park und dann an der Bushaltestelle!
„Woher weißt du das?“, brachte ich irgendwann heraus. Meine Stimme klang so brüchig. Wie gesprungenes Glas. Über den Abgrund hinweg langte ich nach seiner Hand. Ich brauchte ihn jetzt. Unsere Finger verschränkten sich miteinander. Sein Daumen strich sanft über meine Fingerknöchel.
Flo räusperte sich. „Nachdem wir uns das erste Mal geküsst hatten – im Park – da habe ich ein wenig recherchiert...“, gestand er. „Man findet nicht wirklich viel dazu. Meist geht es um Missbrauch...aber...“, er atmete tief ein, „aber...es gibt da diesen Fall von einem Geschwisterpaar in Deutschland...“ Er hielt inne und biss sich auf die Unterlippe.
„Und...?“, bohrte ich nach. Allein der Gedanke, dass es Geschwister gab, denen es ähnlich ging, allein dieser Gedanke war seltsam ermutigend.
Flo schluckte und versteifte sich ein wenig.
„Er hat drei Jahre im Gefängnis gesessen...wir haben das Pech, im falschen Land zu leben.“
Sein Tonfall war so bitter.
„Was?“
Drei Jahre? Drei Jahre Gefängnis? Ich konnte es noch immer nicht glauben. Wollte es nicht glauben. Ich versuchte, es mir vorzustellen. Wie sie Flo abführten, in Handschellen, wie einen Schwerverbrecher. Drei Jahre. Drei Jahre ohne ihn. Drei Jahre, in denen er weiß Gott was erlebte. Es herrschte ein eigener Ehrenkodex hinter Gittern, hatte ich gehört. Mir wurde schlecht.
Das hatte er also gemeint. Das hatte er gemeint, als er gesagt hatte, der Preis wäre zu hoch. Das war der Preis, den wir würden zahlen müssen. Gefängnis. Oder ein ständiges Versteckspiel. Konnte ich damit leben? Hatte ich überhaupt eine Wahl?
Ich dachte an die grauen Tage, die verlorenen Tage, die ich in dieser kalten Wolke verbracht hatte. Ich dachte daran, wie es gewesen war, ihn zu verlieren.
Ich war bereit, den Preis zu zahlen. Aber es war etwas völlig anderes, wenn es um Flo ging.
„Dann wird es nie...anders sein?“, brachte ich irgendwann heraus. „Wir werden... niemals... wirklich zusammen sein dürfen? Selbst nicht, wenn wir beide erwachsen sind?“
„Nein. Niemals, Ria.“ Obwohl er so leise sprach, hallten die Worte doch durch das Zimmer wie ein Donnerschlag. Niemals. Keine Zukunft. Es gab keine Zukunft für uns. Es war ein Gefühl, als werde mir der Boden unter den Füßen weggezogen.
„Leben wir nicht in einem freien Land? In einer modernen Demokratie? In einer aufgeschlossenen Gesellschaft?“ Meine Stimme zitterte. Ich zitterte.
Flo lächelte gequält, ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Und dann langte er auch mit seiner anderen Hand über den Graben hinweg und zog mich an sich. Ich hielt mich an ihm fest, und er hielt sich an mir fest. Aber selbst hier fand ich keinen Trost. Er konnte mich nicht schützen. Nicht vor der ganzen Welt. Und ich konnte mich nicht für immer hier verstecken. Keine Zukunft. Es gab keine Zukunft für uns. Ich vergrub mein Gesicht in seinem T-Shirt und versuchte, den Moment festzuhalten. Jeder einzelne Moment mit Flo war auf einmal so unglaublich kostbar. Ich wusste, dass das hier irgendwann enden würde. Wir hatten keine Zukunft.
„Aber wir tun doch nichts Falsches! Wir schaden doch niemandem!“, flüsterte ich immer wieder in den weichen, warmen Baumwollstoff hinein.
„Die Menschen haben Angst vor allem, das sie nicht verstehen.“ Flos Hand strich über meine Haare. Ganz sanft, so als bestünde ich aus zerbrechlichem Glas. Ich fühlte mich auch so. Ich fühlte mich zerbrechlich. Wir waren nicht stark genug. Wir würden nie stark genug sein.
„Das ist so unfair!“
„Was ist schon fair, Ria?“, seufzte Flo.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte ich irgendwann. Ich hatte Angst vor der Antwort. Aber ich musste es wissen.
„Oh, Ria!“ Er hielt mich so fest. Er hielt mich so fest, als fürchte er, ich könnte mich jeden Moment in Luft auflösen. Und irgendwie war es ja auch so. Wir wussten nicht, wie viel Zeit uns noch blieb. Ob uns noch Zeit blieb. „Wenn ich das nur wüsste! Ich hab schon versucht, mich von dir fernzuhalten. Ich scheine außerstande zu sein. Wenn uns das nicht gelingt, werden wir es wohl irgendwie geheim halten müssen.“
„Den Rest unseres Lebens?“
Ich spürte, wie Flo den Kopf schüttelte. Sein Brustkorb hob sich unter meiner Wange, als er tief einatmete.
„So lange, bis uns irgendjemand entdeckt“, flüsterte er. Seine Stimme klang irgendwie leblos. Hoffnungslos. Erschöpft. „Und irgendwann wird uns jemand auf die Schliche kommen. Eher früher als später.“
Wie lange würden wir haben? Wie viele gemeinsame Monate oder Jahre würden wir erleben dürfen, ehe uns jemand entdeckte? Jeder Augenblick konnte der letzte sein. Ein Leben ohne Flo. Ich versuchte, es mir vorzustellen. Niemanden, der mich wirklich kannte, wie ich war. Niemanden, der mich verstand. Zu wissen, dass ich ihn nie wieder sehen würde, dass er genauso litt wie ich... Das war vielleicht sogar das Schlimmste. Zu wissen, dass er ebenso leiden würde wie ich. Ein kalter Hauch schien durch das Zimmer zu wehen. Ich presste mich noch ein wenig enger an Flo heran, atmete seinen Geruch ein.
„Ich...ich kann dich nicht verlieren, Flo! Ich kann es nicht!“
Flo atmete tief ein. Eine lange Weile blieb es still.
„Du hast doch gesagt, dass du mich aufgeben könntest“, sagte er vorsichtig. „Dass es nicht darum geht, für den Rest deines Lebens mit mir glücklich zu werden, sondern darum, mich so lange festzuhalten, wie es geht.“
Meine Worte. Meine Worte, und doch schienen sie aus einem anderen Leben zu stammen.
„Und du hast gesagt, dass der Preis zu hoch ist“, warf ich unsicher ein.
„Ich habe nachgedacht. Es ging mir darum, dich zu schützen. Was, wenn nur ich schuld bin? Wenn du unschuldig bist? Dann bin ich derjenige, der zahlen muss. Damit kann ich leben.“
„Nein!“
Und auf einmal war mir das alles zu viel. Ich konnte nicht mehr. Ich konnte einfach nicht mehr.
„Bitte, Flo, können wir ein andermal darüber sprechen? Können wir nicht...können wir nicht für ein paar Momente einfach nur glücklich sein? Können wir nicht für ein paar Momente einfach alles um uns herum vergessen? Ich will nicht mehr denken!“
Da war es wieder, dieses verräterische Glänzen in seinen Augen. Dieser verlorene Blick.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann“, flüsterte er.
„Versuch es. Für mich. Bitte!“
Er seufzte und nickte. Als ich meine Hände in seinen Haaren vergrub, stöhnte er leise und schloss kurz die Augen.
Dann lagen seine Lippen auf den meinen. Und es stellte sich heraus, dass er doch vergessen konnte. Wir vergaßen gemeinsam, und wir versuchten, die Momente festzuhalten. Für eine kleine Weile.
18. Alte Wunden
Florian
Der Mond schien heute besonders hell durchs Fenster herein. Wie silberne Funken tanzten die Lichtstrahlen über Rias Haare. Ich war es nicht gewohnt, dass es nachts so hell war. Ich zog für gewöhnlich die Vorhänge zu, wenn ich schlief. Irgendwie fühlte ich mich sicherer, wenn ich die Welt vor dem Fenster ausschließen konnte. Wenn ich mich der Illusion hingeben konnte, eine Grenze zwischen hier und dort draußen schaffen zu können, eine Grenze, die mir ermöglichte, nachts ruhig zu schlafen. Doch irgendwie fühlte ich mich nicht beobachtet. Ich fühlte mich seltsam – frei. Die Welt war größer geworden, und der Mondschein verlieh der dunklen Nacht eine ungewohnte Tiefe.
Eigentlich hätten mich Angst und Sorge zerbrechen lassen müssen. Wir hatten eine Grenze überschritten. Und jetzt wusste auch Ria, wie gefährlich das Spiel wirklich war, das wir da spielten. Und ja, ein Teil von mir zerriss sich innerlich vor Sorge. Aber irgendwie fühlte ich mich auch so viel leichter. Lag es daran, dass ich mit dem Wissen nicht mehr alleine war? Vielleicht war es aber auch einfach nur so, dass ich zu erschöpft war, mir länger Sorgen zu machen. Ich war jenseits eines Punktes angelangt, an dem ich Schmerz oder Furcht empfinden konnte. Vielleicht war das auch besser so. Vielleicht gab es ein gewisses Maß an Verzweiflung, das ein Mensch ertragen kann, ohne daran zu zerbrechen. Und ich war nahe daran gewesen, diese Grenze zu überschreiten. Ich wollte nicht wissen, was hinter dieser Grenze lag. Ich wollte nur hier liegen und Ria ansehen und in diesem ruhigen Augenblick leben.
Sie sah so friedlich aus, wenn sie schlief. Die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen war verschwunden. Sie sah so friedlich aus, und um ihre Lippen spielte sogar ein kleines Lächeln. Dass sie überhaupt noch lächeln konnte, nach allem, was geschehen war, war schon ein kleines Wunder für sich. Vielleicht stimmte es tatsächlich, was man so sagte. Dass man im Schlaf vergessen konnte. Ich konnte es jedenfalls nicht. Nicht dann, wenn es wichtig gewesen wäre. Deswegen hatte ich es gar nicht erst versucht.
Und dann waren sie wieder da, die Gedanken, die mir keine Ruhe ließen. Ich atmete tief ein und aus, schloss die Augen und versuchte, zu jenem seltsamen Zustand der Ruhe zurückzufinden. Vergebens.
Ich hatte es geahnt. Von dem Moment an, als wir Patrick das erste Mal gegenübergestanden hatten, hatte ich gewusst, dass er eine Gefahr war. Dass früher oder später der Augenblick kommen würde, an dem ich mich mit dem Problem Patrick würde befassen müssen.Wäre es nur um mich gegangen – ich hatte schon früh die Patricks dieser Welt kennengelernt. Ich hatte gelernt, wie man ihnen am Besten aus dem Weg ging, und dass es oft besser war, einfach zu tun, was sie verlangten. Ria war Gott sei Dank zu klein, um sich an Walter zu erinnern. Oder an Frank. Wenn es nur um mich gegangen wäre, wäre ich schon irgendwie zurecht gekommen– aber es ging nicht nur um mich. Es ging um Ria.
Ria...
Und doch war das momentan nur unser zweitgrößtes Problem.
Da waren sie wieder, die Worte, die mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollten. Jene Überschrift, die vor meinem inneren Auge auf und ab tanzte. Schwarz auf Weiß. Ich war im Internet auf die Geschichte gestoßen. Auf die Geschichte dieses Geschwisterpaars. Ich hatte alles über die beiden gelesen, das mir in die Finger gekommen war. Wie sie sich gegenseitig über den Tod der Mutter hinweggetröstet hatten. Wie sie sich ineinander verliebt hatten. Wie es aufgeflogen war. Wie er ins Gefängnis kam. Wie er gekämpft hatte, um nicht erneut von ihr getrennt zu werden. Wie er vor Gericht gezogen war, von Instanz zu Instanz, bis der Fall letztlich sogar vor den Europäischen Gerichtshof gekommen war. Ich hatte gehofft. Ich hatte gehofft und gebangt, denn ich wusste, dass jenes Urteil über mein Leben entscheiden würde. Über Rias Leben. Es hatte eine winzige Chance gegeben...doch dann, vor ein paar Tagen, war ich über eine neue Überschrift im Internet gestoßen:
„Urteil: Inzest weiter unter Strafe verboten“.
Und damit war auch die letzte Hoffnung dahin gewesen. Ich bewunderte diesen Mann, der bis vor den Europäischen Gerichtshof gezogen war, um für seine Liebe zu kämpfen. Seine Niederlage war mir wie ein Wink des Schicksals erschienen. Es gab keinen Platz für mich und Ria. Nicht hier. Niemand würde uns verstehen.
Es war verboten, sie zu lieben.
Wie weich ihr Haar unter meinen Händen war. Sie war so warm, so beruhigend lebendig. Sie lag mehr auf mir als neben mir, und ich wusste, dass es falsch war, dass ich nicht fühlen durfte, was ihre Nähe in mir auslöste. Aber es fühlte sich so richtig an, wie sie halb auf mir lag, den Kopf an meine Schulter gekuschelt. Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Nacken und atmete tief ein. Sie roch nach Wärme. Nach Zuhause. Nach Frieden.
Ich hätte alles für sie getan.
Ich hätte alles für sie getan, sie vor allem und jedem beschützt, egal, was es mich kosten würde. Ich konnte versuchen, sie vor Patrick zu beschützen, und vielleicht würde ich mit viel Glück auch einen Weg finden. Ob mir das gelingen würde, war allerdings fraglich.
Und die allergrößte Gefahr für sie war nicht Patrick. Die größte Gefahr für Ria war ich selbst. Konnte ich sie vor mir schützen? Gegen ihren Willen?
Ich hatte es versucht, und uns damit beide an den Rand des Abgrunds getrieben. Ich wusste, was es mich kosten würde, sie zu verlieren. Ich war bereit, den Preis zu zahlen, solange sie glücklich war. Aber sie würde nicht glücklich sein. Ich hatte es gesehen, ich hatte diesen leeren Ausdruck in ihren Augen gesehen, als sie auf die Straße getreten war. Ich würde ihn nie vergessen können. Es war der Blick eines Menschen gewesen, der nichts mehr zu verlieren hat. Der innerlich bereits gestorben ist. Er hatte etwas in mir zerbrochen, dieser Blick. Nachdem ich schon geglaubt hatte, dass alles in mir zerbrochen war. Nein, das konnte ich nicht noch einmal riskieren. Nie wieder wollte ich diese Leere in ihren Augen sehen.
Was sollten wir also tun? Darauf hoffen, dass uns niemand entdecken würde? Vor den Augen der Welt verborgen leben? Ich wusste, dass wir keine Chance hatten. Dass wir eines Tages auffliegen würden. Dass man uns eines Tages auseinander reißen würde. Es sei denn...es sei denn wir sprangen gemeinsam. Vor meinem inneren Auge sah ich Ria neben mir auf der Brücke stehen. Hand in Hand standen wir dort und sahen uns an, während der Verkehr unter uns auf der Straße vorbei rauschte. Ein scharfer Schmerz durchfuhr mich. Hastig schob ich den Gedanken beiseite. Ria...nein! Das konnte, das würde ich nicht zulassen. Sie würde leben. Es war mir egal, was mit mir geschah, aber sie würde leben.
Ich lag noch lange wach in dieser Nacht. Ich lag lange wach und überlegte hin und her, schmiedete Pläne und verwarf sie wieder. Und als es vor dem Fenster langsam heller wurde und die ersten Vögel zwitscherten, hatte ich immer noch keine Lösung gefunden. Vielleicht gab es keine Lösung. Irgendwann schloss ich resigniert die Augen und schloss die Arme noch ein wenig fester um meine schlafende Schwester. Vielleicht hatte sie recht gehabt. Vielleicht war es besser, einfach für ein paar Momente zu vergessen. Für ein paar Momente nur hier bei ihr zu sein. Und ich fand tatsächlich so etwas wie Frieden, während mich ihre sanften Atemzüge langsam in einen leichten Schlaf lullten.
***
Das schrille Geräusch eines Weckers riss mich aus dem Schlaf. Ich hörte Ria neben mir leise und verärgert grummeln, dann hallte ein leises Klatschen durch das Zimmer, und der nervtötende Ton verstummte.
„Bravo, Krümelchen. Hast du ihn umgebracht? Oder atmete er noch? Schau lieber nochmal nach...“, nuschelte ich verschlafen in das Kissen hinein.
Ria lachte. Es ging mir durch und durch, dieses Lachen. Es klang so hell und unbeschwert. Sie lachte viel zu selten.
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich hab ihn ermordet. Der rührt sich nicht mehr!“, bemerkte sie stolz. Ich schnaubte amüsiert in das Kissen hinein.
„Aber du solltest dich trotzdem langsam aus der Decke schälen, Schlafmütze.“ Sie klang immer noch belustigt, aber da war ein angespannter Unterton, der mir nicht entging.
Resigniert stemmte ich mich in eine sitzende Position und blinzelte mir den Schlaf aus den Augen. Ein bis zwei Stunden Ruhe reichten einfach nicht aus, und ich fühlte mich, als wäre ein Laster über mich hinweggebraust. Wenn ich Glück hatte, konnte ich in der Geschichtsstunde ein wenig vor mich hin dösen. Bleierne Müdigkeit war nicht unbedingt gut, wenn es galt, eine Lösung für das Patrick-Problem zu finden. Ich hatte beschlossen, ein Problem nach dem anderen zu lösen. Wenn Patrick keine Gefahr mehr darstellte, konnte ich mich mit der Zukunft befassen.
„Wie geht es dir?“, fragte Ria leise. Sie klang so unsicher, beinahe schüchtern. Mit offenem Mund starrte ich sie an. Sie fragte mich...? Ich schüttelte den Kopf.
„Eigentlich sollte ich dich das fragen.“
„Oh...“, machte sie nur und neigte den Kopf ein wenig zur Seite. „Das...das geht schon. Ich wollte eigentlich wissen, wie es dir...na ja, nachdem ich gestern praktisch über dich hergefallen bin...und...na ja...“
Sie wandte den Blick ab und wurde rot. Es war kein leichtes Erröten. Ihr Gesicht nahm tatsächlich die Farbe einer reifen Tomate an. Fassungslos starrte ich sie an.
„Ich glaube, meine Reaktion gestern war recht deutlich“, brachte ich schließlich heraus.
Sie sah mich immer noch nicht an.
„Hey, was ist los?“
Sie sah zur Seite, aber ihre Hand tastete nach der meinen. Ihre Finger schlossen sich so fest um die meinen, dass es schon beinahe schmerzhaft war.
„Ich werde nicht weggehen. Nie wieder. Das hab ich dir versprochen, und ich hab es auch so gemeint. Hey, schau mich an!“
Vorsichtig legte ich einen Finger unter ihr Kinn und drehte ihr Gesicht zu mir herüber. Dann neigte ich den Kopf und küsste sie sanft auf den Mund. Es war nur ein flüchtiger Kuss, und doch fuhr die Berührung wie ein leichter Stromschlag durch mich hindurch. Ria seufzte leise und schloss kurz die Augen. Mühsam riss ich mich wieder von ihr los. Aber jetzt sah sie mich an.
„Ich liebe dich“, flüsterte ich eindringlich. „Ich hab das ernst gemeint. Du bist nicht allein, und wir werden eine Lösung finden.“ Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie die aussehen soll, fügte ich in Gedanken an.
Sie sah mich mit diesen großen, blauen Augen an. Diese Augen, die mich so sehr an das kleine Mädchen erinnerten, das sie schon lange nicht mehr war. Sie sahen so viel, diese Augen. Schließlich nickte sie. Sie wirkte nicht wirklich überzeugt, und ich war mir sicher, dass sie wusste, wie unsere Chancen standen. Ich war sehr deutlich gewesen, gestern. Aber Ria hatte schon immer etwas besessen, das mir völlig fehlte: den Glauben, dass alles irgendwie gut werden würde. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit. Das erste Mal sah ich das nicht als Schwäche. Das erste Mal beneidete ich sie darum. Es machte vieles einfacher, wenn die Lage so aussichtslos war wie die unsere.
Lange sahen wir uns an. Ich wünschte, wir könnten für immer hier bleiben. Ich wünschte, ich könnte die Welt ausschließen. Ich wünschte, es würde nur noch uns beide geben, und niemanden, der über uns urteilte. Ich wünschte, es gäbe keinen Patrick im Zimmer nebenan, und kein Frühstück, das gemacht werden musste, und keine Zeit, die unbarmherzig voranschritt und mich von Rias Seite reißen würde.
„Ich muss dann los“, meinte ich irgendwann entschuldigend. „Es ist schon spät, und ich muss mich noch umziehen, und...“
„Ja, sicher. Ich wollte dich...nicht aufhalten.“ Sie schluckte.
„Ich brauch nicht lange. Ich werd noch vor dir in der Küche sein. Ich versprech es.“
„Ich komm schon klar.“
„Sicher?“, hakte ich nach. Ihre Hände knautschten die Bettdecke unruhig zusammen, und ihr ganzer Körper schien sich zu versteifen. Ich kannte sie. Fragend zog ich eine Augenbraue nach oben. Sie atmete tief ein.
„Ich hab Angst“, gestand sie mir schließlich nach einer langen Weile. Dann schlug sie die Augen nieder.
Verdammt! Ich wünschte, ich hätte gewusst, wie ich ihr die bevorstehende Begegnung mit Patrick abnehmen sollte. Früher oder später würde sie ihm gegenübertreten müssen. Und ich wusste aus Erfahrung, dass es nur schlimmer wurde, je länger man so etwas hinauszögerte. Trotzdem brachte es mich fast um, die Panik in ihrer Stimme zu hören.
„Ich weiß. Ich hab auch Angst. Aber wir bekommen das irgendwie hin. Ich werd nicht zulassen, dass er dir irgendetwas antut. Ich schwöre es.“
Ria nickte nur, sah zögernd zu mir auf und schenkte mir ein tapferes, bebendes Lächeln. Etwas in meinem Inneren krampfte sich beinahe schmerzhaft zusammen. Nie war es mir schwerer gefallen, sie alleine zu lassen.
***
Ich hielt Wort. In Rekordzeit hatte ich mich umgezogen und war bereits dabei, das Öl in der Pfanne zu erhitzen, als Ria mit gesenktem Kopf auf ihren Platz schlich. Selbst das leise „Hallo“ klang ein wenig zittrig. Angst legte sich wie eine harte Klammer um meinen Magen. So ging das nicht. Sie war schon jetzt in die Opferrolle geschlüpft. Sie lud ihn regelrecht dazu ein, weiter auf ihr herumzutrampeln. Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr, kam zu dem Schluss, dass es so oder so keine Rolle mehr spielte, schaltete dann kurz entschlossen die Herdplatte ab und war mit wenigen Schritten neben Ria angelangt.
„Was machst du?“, flüsterte sie geschockt. „Patricks Eier...“
„Die können warten.“
Ich setzte mich auf den Stuhl neben den ihren, strich ihr das Haar aus dem Gesicht und umfasste es dann sanft mit beiden Händen. Ich wollte, dass sie mich ansah. Dass sie mir zuhörte. Da war so viel Angst in ihren Augen. Angst und so etwas wie...Akzeptanz. Ich zwang mich zur Ruhe.
„Er hat schon gewonnen“, flüsterte ich.
„Was?“
„Er hat schon gewonnen, wenn du so auf ihn wartest. Das ist es doch, was er erreichen wollte. Wenn er dich so sieht, denkt er, er hat gewonnen. Wenn du so auf ihn wartest, hat er es auch. Willst du das zulassen? Dass er dich in der Hand hat? Dass er mit dir machen kann, was er will?“
„Was soll ich denn tun?“ Sie klang so resigniert. So...verloren.
„Lass dir nichts anmerken. Sei stark!“
Sie senkte den Kopf und schluckte. Ich hasste es, wenn sie mir auswich.
„Ich bin nicht stark“, murmelte sie nach einer langen Weile. „Ich war noch nie stark.“
Ungläubig starrte ich sie an.
„Ria, du bist das stärkste Mädchen, das ich kenne.“
Sie lachte. Es war kein freudiges Lachen. Es war ein verächtliches. Sie glaubte mir nicht.
„Wie kannst du nur daran zweifeln...“, begann ich. Da hob sie den Kopf. Endlich war wieder so etwas wie Leben in ihren Augen. Das Blau blitzte mich an. Es war mir egal, dass sich die aufkeimende Wut nun gegen mich richtete. Alles war besser als Resignation.
„Nur deinetwegen! Du warst doch immer für mich da! Deinetwegen habe ich das alles irgendwie durchgestanden! Alleine bin ich so verdammt hilflos, dass ich mich selbst dafür hasse. Alleine bin ich… nichts...“, presste sie mühsam hervor. So, als koste es sie große Kraft, das einzugestehen.
„Nein!“, unterbrach ich sie heftig. „Du weißt genau, dass das nicht stimmt! So viele Jahre, und wir haben alles gemeinsam durchgestanden! Ohne dich wären wir nie so weit gekommen. Ohne dich...ohne dich hätte ich doch schon lange aufgegeben! Du bist es, die mir immer wieder Mut macht, die mir die Kraft gibt, irgendwie weiterzumachen! Willst du jetzt zulassen, dass dieser Mann alles zerstört? Willst du zulassen, dass er dich zerstört? Dass er uns zerstört?“
Die Wut verblasste. Ihre Hände, die sich auf dem Tisch zu kleinen Fäusten geballt hatten, entspannten sich. Der Ausdruck in ihren Augen wurde weich. Weich und irgendwie warm. Sie atmete tief ein, und dann schlang sie auf einmal die Arme um meine Schultern.
Es war unbequem, dort auf dem kalten Fliesenboden zu knien und sie festzuhalten. Doch das nahm ich nur am Rande wahr. Ich hätte ewig so verharrten können. Aber wir hatten keine Ewigkeit. Wir hatten nur noch wenige Minuten, wenn überhaupt.
„Was soll ich denn tun?“, flüsterte Ria an meiner Schulter. „Was soll ich denn verdammt nochmal tun? Er ist ein Mann, ein verdammt großer Mann!“
„Zeig ihm nicht, dass du Angst hast“, murmelte ich in das weiche, warme Haar hinein. „Wenn du ihm deine Angst zeigst, weiß er sofort, dass er gewonnen hat. Männer wie er geilen sich an der Angst auf. Gib ihm nicht, was er will! Und ich bin auch noch da, ja? Notfalls ziehe ich ihm die Pfanne über den Schädel. Ich weiß auch nicht, aber uns wird schon was einfallen. Wir haben doch bisher auch immer alles hinbekommen. Vertrau mir. Vertrau uns.“
Ich spürte, wie sich ihr Kopf bewegte, als sie langsam nickte. Dann löste sie sich von mir und richtete sich auf. Unsere Augen trafen sich, hielten einander fest.
„Du kannst das. Ich weiß, dass du das kannst.“
Und eben, als ich glaubte, so etwas wie zögernde Hoffnung in ihr aufsteigen zu sehen, hörte ich das leise Knacken der Dielen vor der Küchentür. Hastig sprang ich auf. Ich sah für einen Moment unschlüssig zum Herd, aber es war so oder so zu spät. Also blieb ich genau dort, wo ich war, und schirmte Ria mit meinem Körper ab.
Es schien allmählich zur Gewohnheit zu werden. Patrick betrat den Raum, und für einen kurzen Moment schien die Zeit stehen zu bleiben. Ich konnte regelrecht spüren, wie sich Ria hinter meinem Rücken versteifte. Auch meine Muskeln spannten sich an. Mein Puls raste. Ich fühlte mich so verdammt hilflos. Ich wollte sie in Watte packen, sie vor allem Bösen in der Welt schützen, und doch brachte ich es nicht einmal fertig, sie in ihrem eigenen Zuhause zu schützen. Manchmal fühlte ich mich einfach nur so verdammt nutzlos. So verdammt hilflos.
Patrick sagte kein Wort. Sein Blick blieb ein wenig länger als sonst an mir hängen.
„Mein Frühstück?“, fragte er leise. Er war so ruhig. Er wirkte so gelassen, als er sich schwer auf den Stuhl neben Ria fallen ließ. Ich traute dem Frieden nicht. Da lag diese beinahe greifbare Spannung in der Luft. Es kostete mich viel, mich von Ria abzuwenden. Aber ich wollte ihn nicht provozieren. Nicht, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.
„Kommt sofort“, murmelte ich deswegen hastig und verließ dann widerwillig den Esstisch.
Immer wieder warf ich über die Schulter einen hastigen Blick zu Ria hinüber. Sie saß völlig verkrampft auf ihrem Stuhl. Aber sie sank nicht in sich zusammen, wie ich es befürchtet hatte. Sie malte mit dem Finger kleine Kreise auf die Tischdecke und sah nicht ein einziges Mal auf, aber sie schrak auch nicht bei jedem Geräusch zusammen. Und was mich am meisten erstaunte: Patrick machte keine Anstalten, sie anzusprechen oder ihr näher zu rücken. Er schien in seine eigenen Gedanken versunken zu sein. Lässig lümmelte er in seinem Stuhl, die Arme verschränkt und die Beine überkreuzt. Er würdigte uns beide keines weiteren Blickes, und er wirkte fast...zufrieden.
Es war ein schweigsames Frühstück. Ria nippte wortlos an ihrem Kaffee, während ich Patrick das Ei servierte und dann nach meiner eigenen Tasse griff. Ich hatte keinen Appetit, nicht, wenn er hier mit uns in diesem Raum war, in diesem Raum, der nun nicht nur positive Erinnerungen weckte. Ich glaubte nicht, dass ich jemals wieder vergessen können, was hier geschehen war. Aber es blieb bei den Erinnerungen. Ich atmete erleichtert ein, als ich die Küchentüre endlich hinter uns schließen konnte.
„Was war denn heute los?“, murmelte ich verwundert und streifte mir hastig die Jacke über. Ria zuckte die Achseln.
„Keine Ahnung“, flüsterte sie. „Aber ich bin froh, dass er so...ruhig war.“
Eine warme Welle rann durch mich hindurch. Stolz. Ich war so verdammt stolz auf mein Mädchen. Sie war stärker, als sie es selbst glaubte. Sie war nicht zusammen gebrochen. Sie hatte das Frühstück dort drinnen durchgestanden, in diesem Raum, mit diesem Mann.
„Ich hab dir doch gesagt, dass du das schaffst“, lächelte ich.
„Das war nicht mein Verdienst.“
„Doch, Ria, es war auch dein Verdienst. Er war ruhig, ja. Aber du...du hast es tatsächlich geschafft, neben ihm zu sitzen und in Ruhe deinen Kaffee zu trinken. Ich bin stolz auf dich!“
„Wirklich?“
„Wirklich, Ria.“
Da lächelte sie. Es war ein schwaches Lächeln, aber es erreichte ihre Augen.
„Na komm“, murmelte ich. Ich wollte nur noch fort aus diesem Haus, auch wenn oder vielleicht gerade weil heute alles dem Anschein nach so friedlich war. Ich griff bereits nach der Klinke der Wohnungstüre...
In dem Moment öffnete sich die Tür zum Schlafzimmer. Ich hielt überrascht inne. Es war selten, das Mutter so früh schon auf den Beinen war. Ich wusste nicht, was es bedeutete. Hatte sie endlich beschlossen, aus ihrem Loch heraus zu kriechen und sich etwas mehr um ihr Leben zu kümmern? Vielleicht gar, um nach einem Job zu suchen? Ich kannte sie zu lange, und eigentlich wusste ich, dass diese Hoffnung vergebens war, aber dennoch...
Langsam wandte ich mich um. Es war mehr die Neugierde als alles andere.
Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit gewesen. Eigentlich hätte ich gewappnet sein müssen. Eigentlich hätte ich es wissen müssen. Der Anblick überraschte mich trotzdem. Es tat weh. Es tat weh, sie so zu sehen. Ich hatte nicht gewusst, dass ich noch Mitleid mit ihr empfinden konnte. Vielleicht lag es einfach daran, dass mir jeder Mensch leid getan hätte, der so aussah wie sie im Moment. Die eine Seite ihres Gesichtes schimmerte in allen Farben, blau und grün und schwarz und gelb, und ihre Wange war so angeschwollen, dass sie kaum etwas aus dem rechten Auge sehen konnte. Sie blinzelte uns überrascht an, soweit es mir möglich war, ihren Gesichtsausdruck unter der Schwellung richtig zu lesen. Dann wich das letzte bisschen Farbe aus ihrer linken Wange. Sie hatte nicht erwartet, uns noch hier anzutreffen, wurde mir in dem Moment klar. Sie hatte das hier vor uns verbergen wollen. Warum auch immer. Früher oder später hätten wir es so oder so erfahren. So etwas ließ sich nicht für immer verheimlichen.
Ria schnappte hörbar nach Luft.
„Was...was ist denn mit dir passiert?“, brachte ich irgendwann heraus. Obwohl ich genau wusste, was geschehen war. Und sie wusste, dass ich es wusste.
„Ach das...das sieht schlimmer aus, als es ist. Ich bin gestolpert“, wehrte sie ab, vielleicht um Rias Willen. „Kein Grund zur Sorge, das wird schon wieder.“ Und dann lächelte sie. Oder sie versuchte es. Was dabei herauskam, war eine Grimasse. Eine Grimasse, die mir einen kalten Schauder über den Rücken jagte.
„Mutter...“, begann Ria sichtlich geschockt, doch die hob nur die Hand, und ihre Augen waren kalt. So kalt. Ich kannte diese Kälte. Nur zu gut.
„Lass es!“, zischte sie aufgebracht. „Das geht euch nichts an! Haltet euch da raus, alle beide.“
„Aber Mutter...“, warf Ria ein.
„Lass es“, wiederholte Mutter, auch wenn ihre Stimme schon ein wenig weicher klang als zuvor. „Geh mit Florian zu Schule. Ihr seid schon spät dran.“
Ich nahm Rias Hand fest in die meine und zog sie hinter mir zur Türe hinaus. Es hatte keinen Sinn, mit Mutter zu diskutieren. Nicht, wenn sie nicht sehen wollte, was direkt vor ihren Augen war.
„Das war es! Das war der Grund! Darum war er so ruhig! Er hat seine...Frustration...an ihr ausgelassen! Er hat sie geschlagen!“, meinte Ria entsetzt, nachdem die Haustüre hinter uns ins Schloss gefallen war. „Hast du das gesehen? Hast du ihr Gesicht gesehen? Oh Gott...“
Sie schauderte.
„Es wird nicht das erste Mal gewesen sein“, murmelte ich düster, griff dann wieder nach ihrer Hand und zog sie mit mir in Richtung Bushaltestelle. „Und sie hatte recht. Wir sind spät dran.“
Es frustrierte mich, dass sich die Vergangenheit wieder und wieder zu wiederholen schien. Dass alles wieder von vorne anfing. Ich war machtlos dagegen, und Sie war blind. Und diesmal riss Sie Ria mit in die Sache hinein. Das war es, was das mit Patrick so unverzeihlich machte. Dass Sie Ria in Gefahr gebracht hatte. Am liebsten hätte ich auf irgendetwas eingeschlagen. Warum nur, warum nur fiel mir keine Lösung ein, kein Ausweg? Warum brachte Sie mich immer wieder in diese Situation?
„Flo!“
Mit einer heftigen Bewegung riss sich Ria von mir los. Wir waren inzwischen an der Bushaltestelle angekommen, und ich konnte die neugierigen Blicke der anderen Wartenden regelrecht in meinem Rücken spüren. Genau das hatte ich jetzt noch gebraucht. Zuhörer.
„Flo! Was zum Teufel ist mit dir...?“
„Nicht so laut, Herrgott! Willst du, dass es die ganze Nachbarschaft hört?“, fuhr ich ihr aufgebracht ins Wort. Erkannte sie nicht, wie gefährlich es war, so etwas außerhalb unserer eigenen vier Wände zu diskutieren?
Ria zuckte erschrocken zurück. Ich hatte sie noch nie zuvor so unwirsch angefahren. Etwas wie Bedauern sickerte durch die Mauer der Wut zu mir durch. Es war nicht ihre Schuld. Nichts davon war ihre Schuld.
„Ich wollte dich nicht anschreien. Es tut mir leid“, fügte ich ein wenig sanfter hinzu.
„Ist schon gut. Du bist wütend auf Patrick. Das kann ich verstehen. Oh Gott, wenn ich nur daran denke...“
Wenigstens hatte sie ihre Stimme zu einem Flüstern gesenkt, und wir waren weit genug von den anderen Wartenden entfernt.
„Ich bin nicht wütend auf Patrick“, erklärte ich. „Ich...ich bin nur so verdammt wütend auf Mutter! Wie kann sie das nur zulassen?“
„Auf Mutter? Aber sie … hast du nicht gesehen, was er mit ihr gemacht hat? Ihr armes Gesicht...wie konnte er nur? Hast du denn kein Mitleid mit ihr?“
„Sie ist doch selbst schuld! Sie hat ihn in unser Leben gebracht! Und sie ist alt genug, um es besser zu wissen! Sie kann ihn jederzeit aus der Wohnung werfen. Sie ist erwachsen, Herrgott! Alt genug, um es besser zu wissen!“
Ria starrte mich ungläubig an. „Aber Flo...sie ist unsere Mutter...“
„Ja, und als solche sollte sie endlich anfangen, Verantwortung zu zeigen“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Eigentlich sollte sie sich um uns sorgen, und nicht umgekehrt! Sie sollte uns beschützen, und nicht wir sie!“
„Wie kannst du nur so kalt sein? Wie kann sie dir nur so egal sein?“
Ich war kalt? Irgendwie brachten diese Worte das Fass zum überlaufen. Ich musste mich wirklich, wirklich beherrschen, um leise zu bleiben. Ich wollte nicht auf uns aufmerksam machen. Und ich wollte Ria nicht anschreien. Aber verdammt, das war einfach so unfair...ich war nicht kalt. Sie war kalt! Diese Frau, die eigentlich all das hätte verhindern können, mit dem wir uns gerade herumschlagen mussten!
„Sie ist mir nicht egal!“, zischte ich. „Sie war mir nie egal! Aber ich habe früh genug gelernt, dass es sinnlos ist, wenn ich versuche, sie vor sich selbst zu schützen!“
Diesmal zuckte Ria nicht zurück. Sie sah mich nur lange an mit diesen blauen, blauen Augen, die durch alle meine Mauern dringen konnten. Sie sah mich lange an, und dann hob sie die Hand und legte sie sanft an meine Wange. Warm. Sie war so warm. Alle Wut floss aus mir heraus, und auf einmal war ich nur noch müde. Müde und irgendwie leer. Ich lehnte mein Gesicht in ihre Hand hinein und schloss die Augen.
„Was meinst du damit?“, flüsterte Ria irgendwann in die Stille hinein. Sie war so nah, dass ich ihren Atem schmecken konnte. Süß. So süß.
„Nichts“, wehrte ich leise ab.
„Flo!“
Beinahe wiederwillig öffnete ich meine Augen. Sie sah mich so durchdringend an...mit diesem Blick...ich schluckte. Sie wusste genau, dass ich ihr nichts abschlagen konnte. Nicht, wenn sie mich so ansah.
„Nicht hier. Nicht jetzt. Später“, brachte ich mühsam heraus. Sie nickte langsam.
„In Ordnung. Später“, willigte sie ein.
Ria verlor kein Wort mehr über unseren Streit, oder darüber, was wir in der Wohnung gesehen hatten, oder über mein Versprechen, ihr meine Reaktion zu erklären. Ich war ihr unendlich dankbar dafür. Zu viele Erinnerungen waren geweckt worden heute morgen, Erinnerungen, die ich am Liebsten für immer vergessen hätte. Ich wollte sie nicht mit Ria teilen. Ich wollte nicht riskieren, dass sie sich wieder erinnerte. Sie hatte vieles vergessen, und ich war froh darüber. Es reichte, wenn einer von uns diese Last trug.
Als der Bus kam, löste sie ihre Hand aus der meinen. Widerstrebend ließ ich sie gehen. Es war besser so, ich wusste das. Vernünftiger. Trotzdem...ich vermisste sie, auch wenn sie direkt neben mir saß.
Es war ein langer Tag. Ich hatte gehofft, der Unterricht würde mich ablenken, aber ich schweifte immer wieder mit meinen Gedanken ab. Zu viel ging mir durch den Kopf. Zu viele Probleme, die nach einer Lösung verlangten. Ich fand keine. Keine einzige. Vielleicht gab es keine Lösungen. Vielleicht war ich dazu verdammt, dabei zuzusehen, wie wir uns immer mehr in unser Verderben hineinritten.
Mit dem letzten Klingen schoss ich von meinem Stuhl auf und war aus der Tür, ehe auch nur einer meiner Mitschüler seine Schultasche geschultert hatte.
Fast glaubte ich, Ria habe unser Gespräch an der Bushaltestelle vergessen. Sie begrüßte mich mit einem warmen Lächeln und erzählte mir dann von ihrem Schultag, während wir uns auf den Weg nach Hause machten. Aber ich sah sie, die Falte zwischen ihrer Stirn. Die Sorgenfalte. Ich wusste nicht, wem sie galt – mir oder Mutter oder Patrick oder unserer Situation im Allgemeinen.
Ich kochte. Ria hängte die Wäsche auf und deckte den Tisch. Wir aßen gemeinsam, am Wohnzimmertisch, als wir auch zwei Stunden nach der üblichen Abendbrotzeit noch alleine waren. Keine Spur von Patrick oder Mutter. Ich war so froh darüber. Ein paar Momente Frieden. Ein paar kostbare Momente Frieden, die ich mit Ria alleine verbringen konnte. Es war himmlisch. Und natürlich schneller vorbei, als mir lieb war. Denn sie hatte nicht vergessen. Ich hätte es wissen müssen.
„Was hast du damit gemeint, dass du früh genug gelernt hast, dass es sinnlos ist, sie vor sich selbst zu schützen?“, fragte sie, als wir uns irgendwann in mein Zimmer zurückzogen, nachdem wir die Küche aufgeräumt und das übrige Essen in den Kühlschrank geräumt hatten. Ich weiß nicht, warum wir gerade in meinem Zimmer landeten. Aber jetzt saßen wir dort eng beieinander, und Ria baumelte mit ihren Füßen in der Luft und sah mich erwartungsvoll an.
Ich seufzte resigniert und ergab mich dann in mein Schicksal.
„Erinnerst du dich an Frank?“
„Frank?“ Sie zog nachdenklich die Stirn in Falten.
„Rotblonde, lange Haare, Lederjacke, hat wie ein Schlot geraucht?“, half ich ein wenig nach.
„Am Rande...“, meinte Ria zögernd.
Es war verständlich, sie war noch jung gewesen. Und vielleicht wollte sie sich nicht erinnern. Ich konnte es ihr nicht verdenken.
„Du warst noch sehr klein – du warst vier, und ich war sechs. Ich war gerade in die Schule gekommen.“
„Ah, jetzt. Der Typ, der ständig geraucht hat. Ja, ich kann mich erinnern. Verschwommen. Sie war nicht wirklich lang mit ihm zusammen.“
„Ja, Gott sei Dank...“
Und dann erzählte ich ihr die Geschichte. Diese eine Geschichte, von der ich mir immer geschworen hatte, dass sie sie nicht erfahren würde. Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Vielleicht musste sie wissen, was damals geschehen war, um zu begreifen, wie die Männer meiner Mutter sein konnten – und dass sie sich niemals ändern würde.
„Hallo, Ria, ich bin daheim!“, brüllte ich in die Wohnung hinein, während ich meine Jacke auf den Garderobenhaken hing und meine Schuhe an ihren üblichen Platz stellte. Mir fiel auf, dass Franks Schuhe fehlten, und ich atmete erleichtert auf. Ich mochte ihn nicht. Ich hatte ihn von Anfang an nicht gemocht. Er war irgendwie...dunkel. Er erinnerte mich an den schwarzen Mann, den ich als kleiner Junge immer unter meinem Kleiderschrank vermutet hatte.
„Hallo, Flo!“, drang Rias Stimme aus dem Wohnzimmer in den Flur. Ich grinste – das erste Mal an diesem Tag. Irgendwie war alles so viel heller und so viel freundlicher, wenn Ria bei mir war. Und dann ging die Wohnzimmertüre auf, und ein braunhaariger Wirbelwind warf mich beinahe um.
„Wo warst du denn so lange? Ich finde diese Schulule doof! Warum bist du da immer so lange? Es ist so langweilig, wenn du nicht da bist...ich mag es nicht, wenn du nicht da bist!“
Lachend fing ich sie auf und Poldi, den Stofflöwen gleich mit. Sie trug ihn immer bei sich, wenn ich nicht zu Hause war. Sie behauptete immer, dass er sich doch einsam fühlen würde ohne mich, aber ich hatte so den Verdacht, dass es eher anders herum war.
„Schule, es heißt Schule, Ria“, verbesserte ich sie. „Und die ist wichtig, damit ich lesen und schreiben und rechnen lernen kann. Dann kann ich dir vielleicht einmal die Geschichten aus dem Märchenbuch von Oma vorlesen und muss nicht immer eigene erfinden...“
„Ich mag deine Geschichten. Die sind viel besser als die Märchen von Oma.“
Ich grinste. Ich mochte meine eigenen Geschichten auch mehr als die von anderen.
„Und, was hast du den ganzen Tag gemacht, Krümel?“, fragte ich, während ich mich aus ihrer Umarmung befreite und ins Wohnzimmer trat. Ria folgte mir auf dem Fuß, den Löwen noch immer fest im Arm. Vielleicht würde ich ihn ihr diese Nacht wieder überlassen, damit sie besser schlafen konnte. Seit Frank meist über Nacht blieb, brauchte sie ihn öfter als früher.
„Ich hab ein bisschen mit den Murmeln gespielt. Und ich hab mich gelangweilt. Ich hab Poldi die Geschichte erzählt, die du dir gestern ausgedacht hast. Und dann hab ich versucht, nicht in die Küche zu gehen. Aber es riecht einfach so gut, Flo, und ich hab solchen Hunger...“ Bittend sah sie mich an.
Ich schluckte und zwang mich, diesem Blick zu widerstehen. Ich durfte nicht nachgeben. Aber es war so schwer. Ich hatte ja selbst Hunger...
Auf dem Herd stand das Mittagessen, das Oma uns gekocht hatte. Sie hatte Ria vom Kindergarten abgeholt und war dann selbst zur Arbeit gefahren, wie fast jeden Tag. Es roch gut – nach Pfannenkuchen. Ich liebte Pfannenkuchen, besonders die von Oma. Niemand kochte so gut wie Oma.
Am liebsten wäre ich gleich mit Ria im Schlepptau in die Küche gestürmt, doch ich hielt mich zurück. Ich wusste, dass es Ärger geben würde, wenn wir es wagten, dass Essen auch nur anzurühren, bevor Frank zu Hause war. Und wir konnten von Glück sagen, wenn er uns etwas übrig ließ. Ich wusste jetzt schon, dass ich diese Nacht wohl wieder heimlich in die Vorratskammer schleichen würde, wenn alle schliefen. Frank mochte Omas Pfannenkuchen auch...
Ich sollte recht behalten. Als Frank nach Hause kam, fiel er wie ein hungriger Wolf über das Essen her. Ria und ich saßen brav am Tisch, wie es von uns erwartet wurde, und sagten kein Wort. Auch Mutter schweig. Ihr Teller war noch genauso leer wie der unsere. Ich fragte mich, warum sie nichts sagte. Warum sie einfach zusah, wie er vor unseren Augen das gute Essen vernichtete. Warum sie nicht eingriff. Sie war doch unsere Mutter! Wollte sie, dass wir hungrig ins Bett gingen? Hatten wir sie irgendwie verärgert? Ich wusste, dass ich nicht gut genug war, dass sie immer wieder mit mir schimpfen musste. Ich wusste, dass ich schuld daran war, dass sie jetzt alleine mit uns war, dass ich daran schuld war, dass sie immer wieder nach einem Mann suchen musste, der für uns sorgte. Aber erkannte sie nicht, dass Frank kein Mann war, der für uns sorgen würde? Erkannte sie nicht, dass alles irgendwie schlimmer geworden war, seit er praktisch bei uns wohnte?
Als Frank sich schließlich den letzten Pfannenkuchen auf den Teller schaufelte, hätte ich am liebsten geweint. Ich wusste, dass ich zu alt dazu war, und dass Jungen nicht heulten. Aber ich war einfach so wütend. So wütend und so...verzweifelt. Da war nicht mehr viel in der Speisekammer. Ich wusste nicht, ob es reichen würde, um mich und Ria satt zu bekommen. Und ich hatte keine Lust, den ganzen Abend hungrig im Bett zu liegen und irgendwann mitten in der Nacht auf alten Toastbrot herumzukauen, wenn ich wusste, dass ich Pfannenkuchen hätte haben können.
Vielleicht war es diese verzweifelte Wut, vielleicht war es aber auch einfach nur Rias enttäuschter, verlorener Gesichtsausdruck, der in mir einen Mut weckte, den ich noch nie zuvor aufgebracht hatte. Frank ignorierte uns zumeist – und darüber war ich insgeheim froh. Wie gesagt, er jagte mir eine unbestimmte Angst ein. Doch in diesem Moment war mir das egal.
„Frank“, murmelte ich leise. „Ria und ich...wir haben Hunger. Könntest du vielleicht...könnten wir vielleicht...den letzten Pfannenkuchen haben?“
Ganz langsam wandte sich der rothaarige Schopf mir zu. Überrrascht sah er mich an. So, als habe er vollkommen vergessen, dass ich überhaupt existierte.
„Was hast du da gesagt, Kleiner?“, fragte er leise. Leise und vollkommen ruhig. Das hätte mir eine Warnung sein müssen.
„Ich habe gefragt, ob Ria und ich uns den letzten Pfannenkuchen teilen können.“
„Und wie kommst du dazu?“, fragte er, beinahe ungläubig.
„Oma hat sie für uns gemacht“, flüsterte ich.
„Sag das noch einmal!“
„Oma hat sie für uns gemacht!“, rief ich trotzig.
„Warte!“, unterbrach mich Ria. Sie war kreidebleich. „Daran erinnere ich mich! Daran kann ich mich erinnern!“
Sie griff nach meiner linken Hand und drehte sie sanft um. Vorsichtig strich sie über die kreisrunde Narbe auf meinem Handteller. Dann senkte sie den Kopf und hauchte einen Kuss darauf. Ich schnappte erstickt nach Luft. Ihre Lippen waren so weich und warm...die kurze Berührung ging mir durch und durch. Für einen Moment vergaß ich alles um uns herum. Für einen Moment versank ich in den tiefen, blauen Augen, die zu mir aufsahen. Sie schwammen ein wenig, ihre Augen. Waren das Tränen?
„Bitte, wein nicht“, flüsterte ich. „Es ist schon lange her...“ Ich konnte es nicht ertragen, wenn sie weinte. Es tat weh, sie weinen zu sehen. Vorsichtig strich ich ihr mit dem Zeigefinger die Nässe von den Wangen, als ein paar der Tränen überquollen.
„Du hast das für mich getan“, murmelte sie ergriffen. „Du hast immer alles nur für mich getan.“
„Nicht alles – und es war nicht immer nur für dich, Ria. Es war für uns beide.“ Und für Mutter, fügte ich in Gedanken hinzu. Bis...ja, bis zu diesem Tag.
„Ich sollte dir die ganze Geschichte erzählen. Ich war noch nicht fertig.“
Ria atmete tief ein, dann nickte sie.
„In Ordnung.“ Aber sie ließ meine Hand nicht mehr los. Ich war dankbar dafür. Irgendwie...irgendwie war es einfacher, mich zu erinnern, wenn sie mich berührte. Leichter zu ertragen. Die Dunkelheit wurde heller, wenn sie bei mir war. Ich hielt mich mehr an ihr fest als umgekehrt.
Frank sah mich für einen Moment tatsächlich irgendwie erstaunt an. Dann lachte er. Es war ein Lachen, dass ich nie vergessen würde. Es klang irgendwie...rostig. Dunkel. So, als habe er vergessen, wie man wirklich lacht. Es war drohend. Drohend und kalt. Genauso kalt wie seine Augen.
„Kleiner Scheißer!“, knurrte er. „Spricht man so mit einem Erwachsenen, hm? Hat dir deine Mami nicht beigebracht, dass man sich zu benehmen hat, wenn ein Erwachsener im Raum ist? Sieht so aus, als wäre da noch eine Lektion fällig...“
Er warf Mutter einen kurzen, wütenden Blick zu. Und ich hoffte so sehr, dass sie eingreifen würde. Dass sie mir helfen würde. Nur dieses eine Mal. Ich brauchte sie. Nur dieses eine Mal. Konnte sie mir nicht ein einziges Mal helfen?
Aber sie half mir nicht. Ria war es, die ich wie aus weiter Ferne meinen Namen rufen hörte, die Frank bat, mich in Ruhe zu lassen. Die leise schluchzte, als er mich aus meinem Stuhl riss und gegen die Wand neben dem Herd schleuderte. Aber er schien sie gar nicht zu hören. Er war so damit beschäftigt, mich gegen die Wand zu drücken. Er hielt mich am Hals fest, und ich rang verzweifelt nach Atem. Ich bekam keine Luft mehr! Die Welt verschwamm vor meinen Augen, bekam einen schwarzen Rand, der unruhig flackerte. Übelkeit stieg in mir auf. Ich wollte nicht so sterben! Wer sollte sich um Ria kümmern, wenn ich nicht mehr da war? Ich wehrte mich heftig, versuchte, um mich zu schlagen, mich irgendwie zu befreien, aber es war sinnlos. Meine Kraft verließ mich, und Frank war soviel stärker als ich. Und dann waren da Flammen. Heiße Flammen, die mich verbrannten. Die meine linke Hand verbrannten. Und dann spürte ich nichts mehr, und die kalte, dumpfe Dunkelheit verschlang mich.
„Flo! Flo, bitte, komm zurück, lass mich nicht allein! Flo!“, drang irgendwann eine hohe, verängstigte Stimme durch den grauen Nebel, der mich umfing. Ria! Das war Ria, und sie brauchte mich ganz offensichtlich. Ich konnte sie nicht alleine lassen, wenn sie Angst hatte. Ich konnte sie nicht alleine lassen, nicht, wenn Frank...Frank! Mühsam kämpfte ich mich durch den Schleier der Benommenheit hindurch. Langsam wurde das Bild vor meinen Augen klarer. Es war dunkel. Es musste wohl schon spät am Abend sein. Es war dunkel, nur das Mondlicht schien. Ich lag noch immer auf dem Küchenboden. Es war kalt und hart und unbequem, und mein Hals tat weh. Und da war sie, meine Ria. Mit weit aufgerissenen Augen kniete sie über mir und rüttelte mich an der Schulter.
„Ria“, brachte ich schließlich hervor, mit einer Stimme, die irgendwie gar nicht nach meiner klang. Sie war so rau, und es schmerzte, zu sprechen.
„Oh, Flo!“, rief Ria und warf sich in meine Arme. Ich richtete mich mühsam auf und war froh, dass ich von irgendwoher noch die Kraft hernahm, sie aufzufangen. Sie zitterte. Sie war so warm, aber sie zitterte.
„Oh, Flo, ich hatte solche Angst. Du hast dich nicht bewegt, du hast nur ganz still dagelegen, und der Boden ist doch so kalt, und Frank hat so böse gegrinst, und Mama war ganz bleich im Gesicht, und ich hatte solche Angst...“
„Ist ja gut, ich bin ja wieder da“, versuchte ich, sie zu beruhigen, aber es kam nur ein heiseres Flüstern heraus, ein Flüstern, das irgendwie schmerzte.
„Dein Hals“, meinte Ria mit großen, besorgten Augen. „Du musst Tee trinken, das sagt Oma doch immer, wenn der Hals so weh tut, aber ich weiß nicht, wie man Tee macht, und ich komm doch nicht hoch zum Regal, und...“
„Hey, ist ja gut“, versuchte ich sie, zu beruhigen, doch als ich meine Hand heben wollte, um ihr übers Haar zu fahren, da spürte ich dieses schreckliche Brennen auf meiner Handfläche.
„Und deine arme Hand!“, jammerte Ria, während ich das nasse Handtuch begutachtete, das darum geschlungen war und mich fragte, ob ich den Mut aufbringen würde, nachzusehen, was sich darunter verbarg.
„Wie bist du denn an das Handtuch gekommen?“, fragte ich, mehr, um mich selbst abzulenken.
„Das...das war nicht ich“, wisperte Ria. „Das war Mutter...“
An diesem Abend war es Ria, die ein paar Scheiben Toastbrot aus der Speisekammer stahl. Wir schlichen leise in mein Zimmer, und sie schlief in meinen Armen ein. Wir fühlten uns beide sicherer so. Es war richtig, bei ihr zu sein. Ich fühlte mich stärker, wenn ich bei ihr war.
Und am nächsten Morgen machte Mutter Frühstück. Ich war so verblüfft, als ich sie am Herd stehen sah, dass ich beinahe wieder rückwärts durch die Türe zurückgestolpert wäre.
„Guten Morgen, Florian“, meinte sie, noch immer über den Topf gebeugt, in dem etwas sehr Süßes vor sich hinköchelte. Etwas, das nach Milchreis oder Grießbrei roch. Mutter hatte noch nie gekocht. Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie es konnte.
„Wie geht es deiner Hand?“, fragte sie. Und dann drehte sie sich zu mir um. Ich keuchte. Ihr Auge...Ihr rechtes Auge war fast vollkommen zugeschwollen. Und es war so blau, das es schon fast schwarz war.
„War er das?“, würgte ich hervor. „War das Frank?“
Sie sagte nichts. Sie presste ihre Lippen zu einem dünnen, blassen Strich zusammen und sagte nichts. Es war auch nicht nötig. Wer hätte es sonst sein sollen?
„Warum lässt du ihn das tun?“, fragte ich leise. Das erste Mal hatte ich das Gefühl, mit ihr reden zu können, wirklich mit ihr reden zu können. Sie hatte für uns gekocht. Sie wollte wissen, wie es mir ging. Sie interessierte sich! So etwas wie zögernde, vorsichtige Hoffnung keimte in mir auf. In der vom Morgenlicht durchfluteten Küche schien auf einmal so viel möglich zu sein. Es war noch nicht zu spät...vielleicht hatte sie endlich erkannt, dass sie eine richtige Mutter sein konnte...
„Es war meine Schuld“, murmelte sie beinahe bedauernd. Etwas tief in meinem Inneren wurde warm. Es tat ihr leid...ich war ihr nicht egal...
„Ist nicht so schlimm. Das verheilt wieder“, versuchte ich, sie zu beruhigen.
Sie lachte. Es war ein kurzes, überraschtes Lachen.
„Das habe ich nicht gemeint. An der Brandwunde auf deiner Hand bist du selbst schuld. Du hast ihn provoziert. Nein, ich meine, das mit dem blauen Auge. Das war meine Schuld. Ich hätte euch besser erziehen sollen. Euch eher klar machen müssen, wie die Dinge hier von jetzt an laufen werden.“
„Dann wirst du ihn nicht rauswerfen?“
„Ihn rauswerfen?“ Sie sah mich mit großen Augen an. „Warum, weil du keine Manieren hast? Weil er dir gezeigt hat, wer der Mann im Haus ist? Du bist zu lange ohne Vater aufgewachsen, dass du schon gar nicht mehr weißt, was Autorität bedeutet. Nein, ich werde ihn nicht rauswerfen. Er sorgt für uns, Flo. Ich brauche ihn. Wir brauchen ihn.“
„Nein! Ganz bestimmt nicht! Warum brauchen wir einen Mann, der dir ein blaues Auge verpasst und mich erst fast erwürgt? Der jeden Abend vor unseren Augen alles Essen vernichtet?“
Beißender Schmerz durchfuhr mich, und es klatschte laut, als sie mir die heftigste Ohrfeige verpasste, die ich jemals bekommen hatte. Sie war vollkommen bleich, und ihre Lippen zitterten. „Geh auf dein Zimmer, Flo! Geh, und komm nicht mehr zurück. Heute nicht mehr. Geh!“
Und ich ging. Wortlos und mit hängenden Schultern schlich ich in mein Zimmer zurück. Seltsamerweise schmerzte die Ohrfeige weitaus mehr als mein immer noch wunder Hals oder die Brandwunde an meiner Hand.
„Das war es also! Das ist damals in der Küche passiert! Und ich hab immer gedacht, dass es an deiner Hand lag, und an Frank, und...oh Gott, Flo!“
Auf einmal war sie da. Auf einmal war sie so nahe. Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Haar, und sie legte ihren Kopf auf meine Schulter, während sich ihre Arme um mich schlossen, als wollte sie mich nie wieder loslassen
„Ist schon gut. Es ist lange her.“ Ich wusste nicht, ob ich versuchte, sie oder mich selbst zu beruhigen.
„Ich hab mich so gewundert, warum du nicht am Tisch gesessen hast“, flüsterte sie in meinen Nacken hinein. „An dem einzigen Tag, an dem Mutter Essen gekocht hatte, bist du nicht aufgetaucht. Ich dachte, du würdest noch schlafen. Ich wollte dich nicht wecken...aber ich hab dir dann am Mittag heimlich etwas von dem Grießbrei in dein Zimmer gebracht...“
Sie klang so bedrückt und so schuldbewusst. Ich fuhr sanft durch die weichen Strähnen, die wie ein dunkelbrauner Wasserfall über ihren Rücken flossen.
„Du konntest es nicht wissen. Ich wollte nicht, dass du es weißt. Es war besser so. Und es hat mir die Welt bedeutet, dass du zu mir gekommen bist. Alleine, dass du da warst, hat so vieles wettgemacht...“
„Ich hab mich immer gefragt, warum sie mein Zimmer nicht abgeschlossen hat. Aber vielleicht hat sie es einfach nicht für möglich gehalten, dass du zu mir gehen würdest“, fügte ich nach einer kleinen Weile nachdenklich an.
„Warum sollte sie? Sie hat es mir verboten. Und eigentlich...eigentlich hab ich immer getan, was mir gesagt wurde.“
„Nicht, wenn es um mich ging.“ Ich lächelte.
„Nein, nicht wenn es um dich ging. Aber das war doch bei dir genauso. Du warst immer die Ausnahme von der Regel.“ Sie lachte leise.
„Was ist?“
„Ich habe nur gerade gedacht – immer wieder haben wir gegen die Regel verstoßen, die andere für uns aufgestellt haben, oder? Irgendwie haben wir doch schon immer füreinander gegen alle Regeln verstoßen.“
Unsere Augen trafen sich. Trafen sich und ließen einander nicht mehr los. Sie lachte nicht mehr. Da war kein Platz mehr für Humor. Fast gegen meinen Willen strichen meine Hände erneut durch ihr Haar. Durch diese lange, weiche Haar. Sie seufzte leise und rutschte noch ein wenig näher an mich heran. Sie war so warm. So warm und so verdammt nah, und die Erinnerungen waren noch so lebendig, machten mich irgendwie...verletzlicher. Ich brauchte sie. Ich hatte sie schon immer gebraucht. Wir brauchten einander.
Es war so natürlich, dass sich meine Lippen sanft auf die ihren legten. Und als sich ihre Hände um meine Schultern schlangen und mich noch näher an sie zogen und sich ihre Lippen unter den meinen öffneten, war ich im Himmel.
Und ich vergaß. Ich vergaß die Welt und alle Menschen in ihr. Es gab nur uns beide, und die Wärme, und die Nähe, und die Geborgenheit, und diesen Kuss, der heiße Funken durch mein Innerstes schickte. Und da wusste ich, dass ich kämpfen würde. Dass ich kämpfen musste. Auch wenn es sinnlos war. Auch wenn es zum Scheitern verurteilt war. Auf einmal verstand ich, was diesen Mann angetrieben hatte. Diesen Mann, der von Gericht zu Gericht gezogen war. Wenn ich nicht kämpfte, wenn wir nicht kämpften – dann hatten wir doch jetzt schon verloren.
19. Funken
Anna-Maria
Irgendetwas hatte sich verändert. Flo hatte sich verändert. Da war etwas in seinen Augen – so ein seltsames Funkeln. Er wirkte entschlossener. Es war, als wäre er über Nacht ein Stück älter geworden.
Ich war noch immer geschockt von seiner Entdeckung. Ich hatte immer gewusst, dass es verboten war, den eigenen Bruder zu lieben. Ich hatte nicht gewusst, dass man dafür ins Gefängnis kommen konnte. Dass sie mir alles wegnehmen konnten, das mein Leben ausmachte. Allein der Gedanke daran...nein, daran konnte ich nicht denken. Daran wollte ich nicht denken.
Ich hatte erwartet, dass nach dieser Offenbarung nichts mehr sein würde wie zuvor. Ich hatte erwartet, dass ich von nun an jede kleine Geste, jede Berührung, jeden Kuss fürchten würde. Dass ich da immer den Gedanken im Hinterkopf haben würde, wie verboten das doch war, wie falsch das doch war. Aber so war es nicht.
Flo war immer noch mein Rettungsanker. Mein Lichtstrahl in der Dunkelheit. Und diese kleinen Gesten – wie er mich an der Hand nahm, wenn es niemand sah, wie er mir übers Haar fuhr, wie er mich in den Arm nahm, wenn wir in einem unserer Zimmer waren, oder sogar in der Küche, vor dem Frühstück, wenn wir alleine waren – nichts davon fühlte sich irgendwie falsch an. Und ich wusste, dass ich ohne diese kleinen Berührungen nicht überlebt hätte. Sie waren alles, das ich hatte. Alles, das mich davon abhielt, innerlich zu zerbrechen oder schlichtweg verrückt zu werden.
Am meisten überraschte mich Flos Haltung. Irgendwie hatte ich erwartet, dass er sich wieder von mir entfernen würde. Dass er mir erneut vor Augen führen würde, wie gefährlich es doch war, und dass er es nicht riskieren konnte, mir länger so nahe zu sein. Ich hatte erwartet, dass er sich zurückziehen würde, und das fürchtete ich mehr als alles andere. Ich wusste, dass ich damit nicht zurechtkommen würde. Zu gut konnte ich mich noch daran erinnern, wie es gewesen war, ohne ihn zu sein.
Doch er ging nicht. Er hielt sein Versprechen. Und ich begriff, dass er es im Gegensatz zu mir schon von Anfang an gewusst hatte. Er war mit diesem Wissen zu mir zurückgekehrt. Er hatte gewusst, was er riskierte, als er mich damals hinter der Bushaltestelle geküsst hatte. Und es war ihm egal gewesen. Irgendwie...irgendwie liebte ich ihn dafür noch ein wenig mehr.
Wir waren vorsichtiger geworden. Vor allem, wenn wir uns außerhalb der Wohnung befanden. Wir hielten Abstand und versuchten, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich fühlte mich beobachtet. Hinter jeder Ecke vermutete ich Augen. Augen, die uns genau beobachteten. Die nur darauf warteten, dass wir einen Fehler machten. Jedes Mal, wenn es an der Wohnungstüre klingelte, erwartete ich, dort einer ganze Einheit blau gekleideter Männer mit Schlagstöcken in der Hand und dem Schriftzug „Polizei“ auf der Brust gegenüber zu stehen. Ich gewöhnte mich daran – irgendwie. Ich gewöhnte mich daran, ständig von dieser Angst begleitet zu werden, so, wie ich mich daran gewöhnt hatte, meinen Teil der Hausarbeit zu übernehmen, seit Mutter mehr und mehr in ihrer eigenen Welt verschwunden war. So, wie ich mich daran gewöhnt hatte, dass immer wieder fremde Männer bei uns ein- und ausgingen und sich manchmal, wie in Patricks Fall, sogar häuslich hier einrichteten. Es gefiel mir nicht, aber es wurde zu einem Teil meines Alltags. Zu einem Teil der Routine.
Patrick war in letzter Zeit erstaunlicherweise ruhiger geworden. Er sah mich immer noch ab und zu mit diesem Blick an, der mir einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Mit diesem dunklen, wissenden Jägerblick. Mit diesem Blick, der mir sagte, dass er ein Mann war, dass er stärker war als ich, und dass ich keine Chance gegen ihn hatte. Dass ich ihm ausgeliefert war. Diesen Blicken hielt ich nur stand, weil Flo unter dem Tisch meine Hand hielt, und weil ich wusste, dass er alles für mich tun würde. Dass er alles tun würde, um mich zu schützen. Dass er da war. Dass er immer da sein würde. So lange es in seiner Macht stand. So lange er bei mir sein durfte. So lange niemand davon erfuhr, wie wir wirklich füreinander empfanden.
Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf. Dann sah ich zu ihm hinüber, wie er neben mir schlief, auf der rechten Seite, den linken Arm unter dem Kopf verschränkt, während der rechte beschützend um meine Taille geschlungen war, das Gesicht mir zugewandt. Er sah so friedlich aus, so jung. Und mir wurde so warm, wenn ich ihn ansah und daran dachte, warum er so schlief. Auf der rechten Seite des Bettes. Wie ein lebendiger Schutzschild zwischen mir und der Tür. Zwischen mir und Patrick. Zwischen mir und der Welt dort draußen, die niemals verstehen würde, was zwischen uns war. In diesen stillen Augenblicken hörte ich sie leise ticken. Die Uhr. Die Uhr, die unsere Zeit zählte. Ich wusste, dass sie irgendwann ablaufen würde, diese Zeit. Doch je mehr ich versuchte, jeden einzelnen Moment mit ihm in mein Gedächtnis zu brennen und für immer festzuhalten, desto schneller schienen sie mir durch die Finger zu rinnen.
***
Es war mittlerweile tiefster Winter. Manchmal fielen die Temperaturen in den zweistelligen Minusbereich, und ich hatte mir angewöhnt, zwei Pullover übereinander zu tragen, da der dünne Mantel kein Hindernis für den eisigen Wind darstellte, der durch die Häuserschluchten pfiff. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es jemals so kalt gewesen war, aber wahrscheinlich dachte ich das jeden Winter. Wahrscheinlich verdrängte ich jeden Sommer, dass es so etwas wie wirkliche Kälte tatsächlich gab.
Da es so kalt war und wir bei unserer Kleidung improvisieren mussten, so gut es eben ging, und da Patricks gelbe Klebezettel am Kühlschrank, auf denen er die zu erledigenden Hausarbeiten notierte, uns stets auf Trab hielten, verbrachten wir den größten Teil unserer Zeit zumeist in der Schule oder zu Hause. Bei Flo standen im April die Abschlussprüfungen an, und wenn er nicht zu Hause zu tun hatte, vergrub er sich in einem seiner Bücher. Umso erstaunter war ich, dass er an diesem klirrend kalten Dezembermittag nicht in Richtung der Bushaltestelle ging, als die breiten Flügeltüren des Schulgebäudes hinter uns ins Schloss fielen.
„Was hast du vor?“, fragte ich überrascht und schlug dann den Kragen meines Mantels noch ein wenig höher. Ich war jetzt schon durchgefroren, und wir waren noch keine Minute hier draußen.
Flo sah mich aus einigen Schritt Entfernung nachdenklich an. „Lass uns heute zu Fuß nach Hause gehen“, sagte er schlicht. Dann wandte er sich um und stapfte ohne ein weiteres Wort durch den hart gefrorenen Schnee in die aufziehende Dämmerung hinein. Ich beeilte mich, ihm zu folgen.
Flo wartete noch immer jeden Nachmittag vor meinem Klassenzimmer auf mich. Er schenkte mir immer noch dieses irgendwie scheue, zögernde Lächeln, das nur mir gehörte. Aber in letzter Zeit achtete er besonders darauf, Abstand zu halten, so lange wir in Sichtweite der Schule waren. Vielleicht wusste er es schon länger als ich, aber unser Gespräch in jener Nacht hatte wohl auch ihm unsere Situation noch einmal in aller Deutlichkeit vor Augen geführt.
Eine Weile gingen wir stumm nebeneinander her. Doch irgendwann konnte ich meine Neugierde nicht länger im Zaum halten.
„Warum willst du zu Fuß gehen? Es ist so verdammt kalt...“ Verwundert sah ich zu ihm auf.
„Ich wollte...ich wollte nach freien Stellen suchen. Ich wollte beim Tageskurier vorbeischauen, du weißt doch, mittwochs kommt der Anzeigenteil im Wochenblatt, und ich dachte...“
„Du möchtest wieder arbeiten gehen?“
Flo atmete tief ein. Er sah sehr ernst aus.
„Ich habe lange darüber nachgedacht. Und ich sehe keine andere Möglichkeit, Ria.“
Wir würden noch mehr dieser kostbaren Zeit miteinander verlieren. Und...zu gut erinnerte ich mich, wie schrecklich es gewesen war, ihn gehen zu lassen und zu wissen, dass er es nicht gerne tat. Dass er litt. Dass er meinetwegen, unseretwegen litt.
„Aber Patrick...Patrick kauft doch jetzt ein. Und er wird dich dein Geld nicht behalten lassen“, wandte ich ein.
„Er muss es ja nicht erfahren.“
Skeptisch runzelte ich die Stirn. „Meinst du, du kannst das geheim halten?“
Flo schnaubte beinahe amüsiert. „Ich bin schon größere Risiken eingegangen, meinst du nicht? Wir sind schon größere Risiken eingegangen.“
„Aber...wozu?“
„Wozu?“ Flo blieb stehen und drehte sich zu mir um. Die Fußgängerampel zeigte Rot, aber das fiel mir nur am Rande auf. Mit einem lauten, hydraulischen Stöhnen zwängte sich ein großer LKW um die enge Kurve und zischte dann wenige Fußbreit vor uns durch den grau verfärbten Schnee. Das Motorengeräusch dröhnte mir in den Ohren, doch ich hörte Flos Worte trotz des Lärms sehr deutlich. Vielleicht, weil er so nahe bei mir stand. Vielleicht, weil ich nicht hören wollte, was er zu sagen hatte. Weil er so verdammt recht hatte.
„Wozu? Ria, wir sind vollkommen abhängig von den beiden! Was, wenn wir...wenn wir Geld brauchen? Was, wenn wir...“ Er schüttelte den Kopf und fuhr sich dann mit der linken Hand durch das ohnehin vom Wind zerzauste Haar.
„Mit ein paar Rücklagen hätten wir wenigstens eine Chance, uns alleine durchzuschlagen“, fuhr er dann sehr viel leiser fort. Auf einmal war es merkwürdig still.
Ich brauchte ein Weile, um zu verstehen, was er mir damit sagen wollte.
„Willst du...willst du durchbrennen?“, flüsterte ich. Allein bei dem Gedanken daran begann mein Herz, aufgeregt gegen meinen Brustkorb zu pochen. Ich wusste nicht, ob mich die Vorstellung ängstigte, oder ob sie mir Mut machte.
„Ich weiß es nicht, Ria. Ich weiß es nicht. Aber ich bin bald volljährig, und Patrick ist unberechenbar...und...vielleicht haben wir keine andere Wahl...“ Seine Augen wurden dunkel. Das Grün verschmolz zu einem undefinierbaren Grau, während er mich ansah, und die Sorgenfalten auf seiner Stirn vertieften sich.
Übelkeit stieg in mir auf. Ich wusste, worauf er anspielte. Was er nicht aussprechen wollte. Alleine der Gedanke daran ließ ungebetene Bilder vor meinem inneren Auge entstehen. Bilder, die ich schon so lange verdrängte. Die ich nicht sehen wollte.
„Du meinst, wenn er...wenn er mir wieder...zu nahe kommt...“, brachte ich irgendwie heraus. Der Wind wehte die Worte davon, zerpflückte die kleine, weiße Wolke, die mein Atem hinterlassen hatte. Aber Flo hatte mich trotzdem verstanden. Vielleicht hätte er es auch verstanden, wenn ich es nicht ausgesprochen hätte.
„Oder wenn er etwas bemerkt“, führte er meinen Gedanken fort. „Wenn er uns die Polizei auf den Hals hetzt. Ich bin lieber vorbereitet, Ria, als Hals über Kopf fliehen zu müssen, ohne einen Cent in der Tasche.“
„Du würdest mit mir abhauen...“
„Natürlich würde ich das, Krümel“, murmelte er. Da war so viel Wärme in seinen Augen. Lange standen wir so an der Kreuzung und sahen uns an. Er war bereit, alles hinter sich zu lassen. Er war bereit, alles aufzugeben. So viele Chancen, die sich auftaten. Das erste Mal spürte ich etwas wie zögernde Hoffnung in mir aufkeimen. Vielleicht war es sogar möglich, dass wir irgendwo, irgendwann doch so etwas wie eine Zukunft hatten. Vielleicht konnten wir anderswo ein neues Leben beginnen. Ein gemeinsames Leben.
Aber es war nicht nur Wärme, die ich in Flos Augen las. Es war auch Verzweiflung. Und noch ehe die Hoffnung in mir wachsen konnte, wusste ich, dass das wohl für immer ein Wunschtraum bleiben würde. Wohin sollten wir denn fliehen? Unseren Namen, unserer Herkunft konnten wir nicht entkommen. Flucht war die letzte aller Möglichkeiten. Wir waren noch lange nicht in Sicherheit, wenn wir davonliefen. Im Gegenteil, durch eine Flucht machten wir doch erst recht auf uns aufmerksam. Durch eine Flucht riskierten wir, was wir bislang so sorgsam vermieden – dass irgendjemand auf irgendeinem Amt genauer hinsah. Durch eine Flucht riskierten wir, entdeckt zu werden. Aber es konnte durchaus der Tag kommen, an dem wir keine andere Möglichkeit haben würden. Wenn die Situation mit Patrick sich weiter zuspitzte. Wenn jemand entdeckte, dass Flo für mich so viel mehr war als nur mein Bruder.
Natürlich würde ich das, hatte er gesagt. Für mich würde er es tun. Gab es etwas, das er nicht für mich tun würde? Gab es etwas, das ich nicht für ihn tun würde?
Oh, Flo, ich liebe dich, sagten meine Augen.
Ich liebe dich auch, Krümel, antworteten die seinen.
Wir berührten uns nicht, wir hielten den in der Öffentlichkeit nötigen Abstand, und doch hatte ich das Gefühl, dass es so offensichtlich war. Dass es jeder sehen musste.
Irgendwann schüttelte Flo wie abwesend den Kopf und wandte sich zur Straße um. Mittlerweile war die Ampel wieder auf Rot gesprungen. Ich fragte mich, wie lange wir dort gestanden hatten. Wie viele Grünphasen wir wohl verpasst hatten.
„Aber was hat das damit zu tun...was hat das damit zu tun, dass du volljährig wirst?“, brach ich irgendwann die Stille.
„Ich würde dich nicht im Stich lassen. Glaub mir, du brauchst keine Angst haben, dass ich auf und davon bin, sobald ich 18 geworden bin, und dich mit den beiden alleine lasse. Aber irgendwie...“ Flo biss sich auf die Lippe. „Irgendwie ist mehr möglich, wenn ich für mich selbst verantwortlich sein darf. Und es wird zugleich so viel gefährlicher...“
„Was meinst du damit?“
Wurde nicht alles so viel einfacher, wenn Mutter nicht mehr das Sorgerecht für ihn hatte? Wenn er nicht mehr schulpflichtig war und es den Behörden so ziemlich egal war, ob er seinen Abschluss machte oder nicht, ob er regelmäßig am Unterricht teilnahm oder nicht? Wenn er selbst Verträge abschließen konnte, wenn er sich um all diese Dinge kümmern konnte, für die wir jetzt immer noch Mutters Unterschrift fälschen mussten? Ich hatte immer geglaubt, es würde einen großen Teil unserer Probleme lösen.
Flo warf einen hastigen Blick über die Schulter, als wolle er sich vergewissern, dass wir alleine waren, dass niemand hören würde, was er mir nun sagen würde. Dann senkte er die Stimme zu einem leisen Flüstern. Ich konnte ihn gerade noch verstehen. Sein Atem war ein warmer Hauch an meinem Ohr, als er sich zu mir herunter beugte. Er sandte heiße und kalte Schauer durch mich hindurch.
„Wenn ich 18 bin, Ria, dann bin ich volljährig. Und du nicht.“ Er schluckte. „Das heißt, wenn...wenn sie uns erwischen, dann ist es nicht nur Inzest...sondern auch Verführung Minderjähriger, für die sie mich einsperren könnten.“
Mit weit aufgerissenen Augen sah ich zu ihm auf. Er hatte den Kopf gesenkt und betrachtete interessiert seine Schuhspitzen, die sich im harten Schnee vergruben, doch ich bemerkte trotzdem, wie sich die Röte über sein Gesicht und sogar seinen Nacken ausbreitete. Flo wurde nie rot.
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Lange starrte ich ihn einfach nur an und suchte nach Worten. Als die Ampel wieder zu Grün wechselte, überquerten wir die Straße.
Schweigend gingen wir weiter nebeneinander an der Hauptverkehrsstraße entlang in Richtung Innenstadt. Ich brauchte eine Weile, um das zu verarbeiten. So weit hatte er schon gedacht. Es hätte mich nicht verwundern sollen. Er war Flo. Flo dachte immer alles so viel weiter, als ich es tat, spielte sämtliche Möglichkeiten in seinem Kopf durch, ehe er eine Entscheidung traf. Aber irgendwie hatte ich trotzdem nicht erwartet, dass er...dass er...so etwas...in Erwägung ziehen würde. Mir wurde erst heiß, dann kalt. Mühsam unterdrückte ich die Bilder, die ungebeten in meinen Kopf drängten. Sie machten mir Angst – vielleicht, weil mir zu gut gefiel, was ich sah. Es war nicht richtig. Es war nicht erlaubt. Ich durfte das nicht wollen. Nichts war so sehr verboten wie das. Und doch...
„Ich wollte damit nicht sagen, dass ich in irgendeiner Weise vorhabe...oder dass ich erwarte, dass du...du weißt schon...“, murmelte er irgendwann unsicher. Er sah mich immer noch nicht an.
„Ja, ich weiß, Flo.“
„Es tut mir leid. Ich wollte nicht...“
„Nein. Ist schon gut. Wirklich. Aber können wir vielleicht...ein andermal...darüber reden?“ Das hier war nicht der richtige Ort. Und ich musste diese neuen Informationen jetzt erst einmal verdauen.
„Natürlich. Natürlich, Kleines.“ Er klang beinahe erleichtert. Seine Schritte waren auf einmal ein wenig leichter als zuvor.
„Meinst du wirklich, dass sich die Situation zu Hause so zuspitzen wird?“ Inzwischen hatten wir die Fußgängerzone erreicht und kämpften uns durch den knöchelhohen Schnee, der das Kopfsteinpflaster bedeckte. Ich versuchte, in die Fußstapfen zu treten, die andere Leute mit ihren Winterstiefeln hinterlassen hatten, aber es war sinnlos. Innerhalb kürzester Zeit waren meine billigen Stoffschuhe vollkommen durchnässt. Ich gewöhnte mich einfach nicht daran, ständig nasse Füße zu haben. Es war ein so unangenehmes Gefühl.
„Er hat mich in letzter Zeit in Ruhe gelassen. Patrick“, fügte ich auf Flos fragenden Blick hin an.
Flo schnaubte leise. „Das heißt nicht, dass das so bleibt. Und hast du dich auch schon einmal gefragt, warum das so ist? Warum er irgendwie ruhiger wirkt?“
Nein, das hatte ich nicht. Ich war zu sehr damit beschäftigt gewesen, mir über andere Dinge Gedanken zu machen. Ich war zu erleichtert gewesen, dass er mich in Ruhe ließ, als dass ich mir darüber den Kopf zerbrochen hatte, warum das wohl so war. Doch jetzt, da Flo es ansprach...
„Du glaubst doch nicht, dass...dass er sie immer noch...schlägt, oder?“
Mir wurde übel, als ich an die verfärbte, geschwollene Wange dachte. Als ich daran dachte, was da wohl hinter der geschlossenen Schlafzimmertüre vorgegangen sein mochte. Und fast gegen meinen Willen krampfte so etwas wie Mitleid mein Herz zusammen. Es war nicht richtig. Kein Mensch hatte es verdient, so behandelt zu werden. Und ich fühlte mich schuldig. Wenn Flo recht hatte, ließ er mich in Ruhe, weil sie litt. Mein Frieden war mit dem ihren erkauft.
Flo lachte. Es war ein dunkles, trauriges Lachen ohne einen Funken Humor. Es jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken, dieses Lachen.
„Menschen ändern sich nicht“, meinte er nur.
Und auf einmal waren da andere Bilder vor meinen Augen. Flo, wie er auf dem kalten Küchenboden lag, so leblos, dass ich für ein paar schreckliche Augenblicke fürchtete, er sei tot. Flo, wie er aufstöhnte, als Frank seine Zigarette gegen seine Hand presste, sie dort ausdrückte. Er hätte allen Grund gehabt, Mutter dafür zu hassen. Und doch...und doch war sie ihm nicht egal. Es war ihm immer noch wichtig, was sie von ihm dachte. Ich wusste, trotz allem, was er über sie gesagt hatte, war da noch ein Teil in ihm, der sie irgendwie liebte. Vielleicht war es einfach nicht möglich, so etwas zu verhindern. Vielleicht waren Kinder auf irgendeine Art und Weise gezwungen, ihre Eltern zu lieben. Denn es hatte ihn getroffen, wie sie ihn abgewiesen hatte, damals, als er mitten in der Nacht in den Park geflüchtet war. Sie hatte nach wie vor die Macht, uns zu verletzen. Sie war noch immer unsere Mutter. Und sie tat mir leid. Es war nicht richtig, wie sie von Patrick behandelt wurde.
„Mir ist nichts aufgefallen...“, setzte ich vorsichtig an.
„Ich denke, er weiß sehr gut, wie er zuschlagen muss, damit man nichts sieht“, murmelte Flo düster. Und da war er wieder. Dieser unergründliche Blick, der sich irgendwo in der Ferne verlor. Etwas in mir verkrampfte sich.
„Oh, Flo!“
Ich warf einen Blick über die Schulter. Wir waren alleine. Niemand ging bei diesem Wetter freiwillig aus dem Haus. Kurz nur, ganz kurz hob ich die Hand und strich vorsichtig über seine Wange. Er blieb stehen und atmete tief ein, so als schöpfe er Kraft aus der Berührung. Dann sah er mich an und lächelte flüchtig.
Du bist nicht alleine, flüsterten meine Augen. Vergiss das nicht. Wir sind beide nicht alleine.
Danke, antworteten die seinen.
Dann löste er sich sanft von mir und trat wieder einen Schritt zurück. Nahm den Abstand ein, der notwendig war. Es tat weh. Es tat weh, dass er notwendig war, der Abstand.
„Ist schon gut, Ria“, murmelte er. „Wir finden einen Weg.“
Aber irgendwie wusste ich, dass dieser Weg Sie nicht mit einschließen würde. Es würde schon schwer genug sein, ihn für uns zu finden. All dem irgendwie zu entkommen. Wenn es überhaupt möglich war.
***
„Nicht eine einzige seriöse Stellenanzeige!“ Frustriert ballte Flo seinen Teil der Zeitung zu einem kleinen, harten Ball zusammen. Wir saßen nebeneinander auf einer der mit dunklem Leder bezogenen Bänke im Empfangsbereich der lokalen Zeitung und lasen uns durch die verschiedenen Anzeigen des Wochenblattes. „Das hat keinen Sinn. Ich hätte es wissen müssen. Warum habe ich auch geglaubt, ich könnte hier etwas finden? Für Telefonsex suchen sie jemanden“, meinte er mir ironisch hochgezogenen Augenbrauen und warf mir einen belustigten Blick zu.
„Na klar“, schnaubte ich. „Was für ein verlockendes Angebot. Warum leg ich mir nicht gleich eine dieser 666-Nummern zu.“
Wir lachten leise. Es tat so gut, gemeinsam zu lachen.
„Du könntest im Supermarkt Regale einräumen“, überlegte ich. „Manchmal hängen die doch ihre Stellenanzeigen in den Schaufenstern aus. Wir könnten ein wenig durch die Stadt bummeln und Ausschau halten.“ Auch wenn die Vorstellung bei den herrschenden Temperaturen alles andere als verlockend war.
„Ich weiß.“ Flo seufzte. „Ich habe auch schon mit dem Gedanken gespielt. Aber Ria...das mit dem Supermarkt wird nicht gehen. Ich habe tagsüber keine Zeit. Es ist zu riskant.“
Ganz langsam sank er in sich zusammen, dort neben mir auf der Bank, und sein Blick verlor sich irgendwo in der aufziehenden Dunkelheit hinter den Fensterscheiben. Und während ich ihn so betrachtete und mir wünschte, ich könnte es wagen, ein wenig näher zu ihm zu rücken, ihn in den Arm zu nehmen, irgendetwas zu tun, um diesen hoffnungslosen Ausdruck aus seinem Gesicht zu wischen – da begriff ich, was er damit meinte.
Er konnte nicht tagsüber arbeiten. Natürlich nicht – das wäre aufgefallen. Dann hätten wir Patrick gleich den Arbeitsvertrag auf den Tisch legen können. Aber wo fand man schon für die späten Abendstunden Arbeit?
„Nein, Flo, nein. Das kannst du nicht machen!“
Flo schüttelte nur den Kopf. Er sah mich immer noch nicht an.
„Ich wollte es zwar vermeiden, aber mir fällt wirklich nichts mehr ein. Ich werde es in den Cafés versuchen“, bestätigte er meine Vermutung.
„Du kannst nicht nachts arbeiten“, warf ich ein.
Jetzt wandte er sich doch zu mir um. Jetzt sah er mich an, und auf einmal wünschte ich mir fast, er hätte es nicht getan. Das Grün in seinen Augen war so matt. So matt, so resigniert.
„Du kannst nicht nachts arbeiten und dann morgens wieder in die Schule gehen“, beharrte ich. „Du kannst nicht wieder in einem Café anfangen.“
„Es muss nicht so sein wie das letzte Mal...“
Ich wusste, dass er das nur um meinetwillen sagte. Dass er es selbst nicht glaubte. Lange saßen wir so da, während ich fieberhaft nach einer Lösung suchte, auch wenn ich wusste, dass es keine gab. Flo hatte sich das genau überlegt, so, wie er es immer tat. Hätte es einen anderen Weg gegeben, er hätte ihn gefunden. Es sei denn...es sei denn...
Es war nicht perfekt. Aber es war besser, als ihn das alleine tun zu lassen, und jeden Abend zu Hause vor Sorge verrückt zu werden.
„In Ordnung“, sagte ich fest. „In Ordnung, unter einer Bedingung: wir teilen uns die Stelle.“
Mit einem Ruck richtete Flo sich auf. Auf einmal war er nicht mehr müde und nicht mehr resigniert. Grüne Augen blitzen mich an.
„Ria! Nein!“
Es war nicht einfach. Ich hatte nicht gewusst, dass es mir so schwer fallen würde, diesem Blick standzuhalten. Aber ich konnte es. Für ihn konnte ich es. Für uns. Immer war er es, der alles auf sich nahm. Der sich schützend vor mich stellte und alles auf sich nahm, um es von mir fernzuhalten. Es tat so weh, mit anzusehen, wie er darunter litt. Und ich würde es nicht länger zulassen. Wir waren ein Team! Wir waren zu zweit, und ich war kein kleines Mädchen mehr, auch wenn er das manchmal wohl noch so sah. Ich würde ihn nicht unser beider Sorgen alleine tragen lassen. Nicht mehr.
Ich richtete mich auf, reckte die Schultern und hielt dem Blick stand.
„Warum nicht? Früher habe ich die Zeitungen mit dir ausgetragen. Ich will dir helfen! Du bist nicht alleine, Flo.“
Ungläubig starrte er mich an. „Das hier ist etwas anderes als Zeitungen auszutragen!“
„Ich weiß! Verdammt, ich weiß das! Aber ich... es wäre eine Chance, zumindest für eine Weile aus Patricks Reichweite zu sein!“
Ich wusste, dass es unfair war, Patrick ins Spiel zu bringen. Aber es war meine letzte Chance. Und sein größter Schwachpunkt.
Die verschiedensten Emotionen flogen über sein Gesicht. Verwunderung, Unglaube, Verzweiflung, Angst, Sorge und ein schwaches Flackern, das Hoffnung sein konnte.
Er sah mich lange an. Dann nickte er.
„Gut. Wir versuchen es. Aber sei nicht enttäuscht, wenn es nicht funktioniert. Und du weißt, dass du jederzeit kündigen kannst. Du musst das nicht tun.“
Ich hätte ihn am liebsten geküsst. Genau dort, auf der Bank im Vorraum der Tageszeitung. Hinter der Fensterfront, die auf den Marktplatz hinausging. Am öffentlichsten Ort, den man sich vorstellen kann. Natürlich tat ich es nicht. Aber es war schwer. Es war so schwer. Ich begnügte mich damit, ihn anzusehen.
„Ich hab dich lieb, Flo“, flüsterte ich.
„Ich dich auch, Ria. Oh Gott, ich werde das noch bereuen. Ich weiß es jetzt schon, dass ich es bereuen werde.“ Doch er lächelte, als er das sagte. Und irgendwie schien es mir, als würde er ein wenig aufrechter sitzen. Als hätte ich einen winzigen Teil dieser unendlichen Last von seinen Schultern genommen. Egal, was auch kommen würde, das konnte ich nicht bereuen.
***
„Tigers“ stand in verblichenen, goldenen Lettern über dem Eingang. Und dort, gleich neben der Türe, hing ein Schild im Fenster. „Aushilfen gesucht. Bitte im Lokal melden.“
„Warum fragen wir nicht hier nach?“, schlug ich zögernd vor. Zugegeben, die Kneipe sah nicht wirklich einladend aus. Aber wir hatten uns schon gut eine Viertelstunde durch den immer dichter fallenden Schnee hierher gekämpft, meine Socken waren durchweicht, ich war müde, und mir war kalt.
„Ich weiß nicht...ich hab kein gutes Gefühl hier.“
„Flo! Es werden nicht unendlich viele Cafés nach Aushilfen suchen.“
Ich hätte es niemals zugegeben, aber ich verlor allmählich die Hoffnung.
„Du wärst überrascht...“, murmelte Flo. Der seltsame, bittere Tonfall, in dem er es sagte, ließ mich aufhorchen.
„Was meinst du damit?“
Flo zuckte die Achseln. „Die meisten Aushilfen bleiben nicht lange. Meist sind es Studenten, die für ein paar Semester einen Nebenjob suchen, oder Schüler, die ein wenig mehr Taschengeld brauchen. Niemand kann von einer solchen Arbeit auf Dauer leben. Und wenn der Chef dann auch noch sehr fordernd ist, dann wechselt die Belegschaft schneller, als du dir vorstellen kannst.“
„Und trotzdem gibt es immer genug, die als Aushilfe arbeiten.“
„Leute, die das Geld verzweifelt brauchen. Die vielleicht keine Ausbildung haben. Die kurzfristig irgendwie über die Runden kommen müssen. Alles ist besser, als mittellos auf der Straße zu sitzen.“
Er starrte noch immer unschlüssig auf den schwach beleuchteten Eingang. Irgendwie hatte seine Beschreibung besser auf uns gepasst, als mir lieb war. Wir brauchten das Geld wirklich, wenn vielleicht noch nicht verzweifelt. Aber der Tag mochte kommen, an dem wir es verzweifelt brauchten. Und den wollte ich nicht abwarten.
„Flo, bitte. Lass es uns wenigstens versuchen.“
„Na gut“, gab er sich schließlich geschlagen.
Die Luft, die uns entgegen schlug, war stickig und viel zu warm. Es roch nach Schweiß und abgestandenem Bier. Das Licht war so schummrig, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Aus irgendeinem Grund stellten sich meine Nackenhaare auf, und ich drängte mich instinktiv noch ein wenig dichter an Flo heran, so dicht, dass ich ihn gerade noch nicht berührte. Gemeinsam gingen wir auf die Theke zu, die sich in der hintersten Ecke der Bar befand. Es war ein klein wenig heller dort, und im Schein der gedimmten Strahler sah ich die Mädchen, die eifrig zwischen den Tischen hin und her sprangen und dabei gekonnt vollbeladene Tabletts auf ihren Handflächen balancierten.
Ich hielt inne, mehr verblüfft als geschockt. Sie waren so gut wie nackt, diese Bedienungen. Jetzt wurde mir auch klar, warum es hier drinnen so heiß war – ansonsten hätten sich die Mädchen sicherlich den Tod geholt. Sie trugen Röcke, die gerade so ein wenig länger waren als ein breiter Gürtel und die in einem unwirklichen, grellen Grün glitzerten. Die weißen Bikinioberteile bedeckten das Nötigste, mehr aber auch nicht. Ich schluckte. War es das, das mich erwartete? So schlimm hatte ich es mir dann doch nicht vorgestellt. Das konnte ich nicht. Ich war mir sicher, dass ich das nicht konnte.
Flo warf nur einen einzigen Blick auf die leicht bekleideten Bedienungen. Seine Augen weiteten sich überrascht.
„Nein“, meinte er entschieden, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort auf den Ausgang zu.
„Sollten wir es nicht zumindest versuchen?“, wandte ich zugegebenermaßen nicht sonderlich überzeugend ein, während ich mich mühte, mit ihm Schritt zu halten. Ich konnte die Blicke in meinem Rücken regelrecht spüren. Eisige Schauder jagten meinen Rücken hinab. Aber wenn das unsere einzige Chance sein sollte...
„Nein“, bestimmte Flo. Er sah kurz zu mir hinunter und bedeutete mir dann mit einer Handbewegung, dass ich vorgehen sollte. So schirmte er mich mit seinem Körper vor den Blicken der Männer ab, die mir noch immer zu folgen schienen. Oder vielleicht kam es mir auch nur so vor. Vielleicht reagierte ich einfach viel zu sensibel, seit das mit Patrick geschehen war.
„Nicht das, Ria. Hast du gesehen, wie diese Männer die Bedienungen angestarrt haben? Was meinst du, wofür sie ihr Trinkgeld bekommen? Nein!“
Ich war zugegebenermaßen erleichtert, als sich die schwere Türe des Etablissements hinter uns schloss und den beißenden Rauchgeruch mit sich nahm.
„Es war nicht, was ich dachte, das es war, oder?“ Meine Stimme klang so klein. So unsicher. Ich atmete tief ein, versuchte, mich zu sammeln. So war ich Flo garantiert keine Hilfe. So würde ich ihn bestimmt nicht davon überzeugen können, ebenfalls arbeiten zu gehen.
„Nein, es war kein Puff, und auch keine Tabledance-Bar. Ansonsten hätten die uns bestimmt nicht ohne Ausweis hineingelassen. Aber der Schuppen war übel genug. Nichts, was ich gerne aus nächster Näher kennenlernen würde. Und garantiert nicht der richtige Ort für dich.“
Ich konnte nur nicken. Das erste Mal verstand ich die Bedeutung dieses Satzes.
„Keine dunklen Spelunken mehr“, meinte Flo, als wir uns weiter durch den Schnee in Richtung Marktplatz vorarbeiteten und dabei nach einem weiteren Café Ausschau hielten. Ich verstand jetzt, was er damit gemeint hatte, als er sagte, es sei nur zu meinem Schutz.
„Das da...das da sieht doch gut aus“, meinte ich dann und wies auf ein Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in dem hinter der gläsernen Wand eines Wintergartens ein paar alte Leute friedlich Cappuccino schlürften. Es sah freundlich aus, dieses Café, dessen Namen ich aus der Entfernung und durch den fallenden Schnee hindurch nicht lesen konnte. Hell.
„Ja, das wäre sicher besser“, meinte Flo bedauernd. „Aber...das geht nicht, Ria.“
„Warum denn nicht?“
„Weil das hier wirklich nur ein Café ist. Die Leute trinken Kaffee und essen Kuchen, und das wars. Es gibt garantiert keine Abendschicht hier. Die machen den Laden zu, wenn keine Kundschaft mehr kommt. Und ich wette mit dir, dass das weit vor Mitternacht ist.“
Meine Schultern sanken herab. Irgendwie hatte ich mir das alles einfacher vorgestellt.
„Sollen wir nach Hause gehen?“, fragte Flo sanft. „Es ist schon spät, und dir ist kalt.“
Ich hörte auch, was er nicht aussprach. Dass Patricks gelbe Zettel auf uns warteten. Dass wir großen Ärger riskierten, wenn wir jetzt nicht nach Hause gingen. Aber ich schüttelte trotzdem den Kopf, auch wenn meine Lippen vor Kälte bebten und ich meine Zehen schon seit geraumer Zeit nicht mehr spürte. Ich war noch nicht bereit, aufzugeben. Es stand zu viel auf dem Spiel.
Flo zog die Augenbrauen nach oben, enthielt sich aber jeden Kommentars.
Nach einer halben Ewigkeit langten wir schließlich vor einer weiteren Kneipe an.
Eine schmiedeeiserne Krone schwang im Wind hin und her. Das leise Quietschen der Scharniere klang gespenstisch.
„Hier suchen sie eine Bedienung“, rief mir Flo über die Schulter hinweg zu. „Es ist die letzte Kneipe, die mir einfällt.“
„Dann lass es uns versuchen.“
„In Ordnung. Ich gehe vor. Bleib dicht bei mir“, bestimmte Flo.
„Hmm.“ Hinter seinem Rücken verdrehte ich die Augen. Das war so typisch Flo.
Als hätte er es gesehen, drehte er sich zu mir um. „Ich mein das ernst.“
„Ja, ich weiß. Ist gut, Flo.“
„Hm“, machte er nur, sah mich dann ein letztes Mal eindringlich an, bevor er die schwere, gläserne Türe aufstieß. Er atmete tief ein, und dann trat er über die Schwelle. Und in diesem kurzen Moment verwandelte er sich vollkommen. Seine Schultern reckten sich, und er ging sehr aufrecht und sehr selbstbewusst, was ihn noch ein wenig größer als sonst erscheinen ließ. Seine Schritte waren so lang, dass ich Mühe hatte, mit ihm mitzuhalten. Hinter seinem breiten Rücken verschwand ich fast vollständig. Ich war mir sicher, dass er das beabsichtigte.
Das erste, das mir auffiel, war, dass es laut war. Stimmengewirr empfing uns, teilweise überlagert von der Heavy Metall-Musik, die aus den Lautsprechern über der Theke dröhnte. Hin und wieder huschte eine Bedienung durch die Masse der Menschen, die sich an der Bar drängten. Ich stellte erleichtert fest, dass sie normal bekleidet waren. Nur die grüne Schürze und die großen, kreisrunden Tabletts wiesen die Kellnerinnen als das aus, das sie waren.
Und die Klientel, wenn auch vermehrt mit langen Haaren und Piercings und Tattoos an allen möglichen und unmöglichen Stellen, schien relativ normal zu sein.
„Wie kann ich euch helfen?“, fragte ein etwas untersetzter, rundlicher Mann mit schulterlangen schwarzen Haaren, der hinter der Bar stand und gerade Bier zapfte.
„Wir haben draußen gelesen, dass Sie eine Bedienung suchen“, begann Flo.
Der Mann sah von Flo zu mir und wieder zurück.
„Ich hab nur eine Stelle frei.“ Trotz der barschen Worte wirkte er fast freundlich, als er das sagte. So, als glaubte er nicht so recht, dass wir wirklich an dem Job interessiert waren. Als könne er nicht ganz verstehen, was uns in diese Kneipe hier verschlagen hatte.
„Wir würden uns die Stelle teilen“, erklärte Flo.
„Lena, Tisch 6, bitte!“, brüllte der Mann über den wummernden Bass hinweg einem der Mädchen zu, ehe er sich wieder uns zuwandte.
„Wie alt ist denn die Kleine?“
„Ich bin 18“, meldete ich mich zu Wort.
Der Mann an der Bar stellte langsam ein fertig gezapfte Bier auf den Tresen und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Er glaubte mir nicht. Ich war mir sicher, dass er mir nicht glaubte. Ob es daran lag, dass ich einfach noch zu jung aussah, oder ob ich schlichtweg eine schlechte Lügnerin war, das wusste ich nicht. Wahrscheinlich war er es einfach gewohnt, dass man ihn anlog. Wahrscheinlich kamen oft Jüngere an die Bar und fragten nach Alkohol.
Ich versuchte, ruhig zu bleiben, als er mich von Kopf bis Fuß musterte. Ich mochte es einfach nicht, wenn mich ein Mann so genau ansah. Es verursachte mir Gänsehaut. Mein Herz raste. Erst, als ich Flos Hand in meinem Rücken spürte, die in beruhigenden Kreisen über meine Schulterblätter strich, erst da entspannte ich mich einigermaßen.
Der Mann nickte und sah dann wieder zu Flo.
„Wenn ich das recht verstanden habe, meld ich nur einen von euch an.“
Flo nickte. „Es sind keine zwei Lohnsteuerkarten nötig, wenn wir uns nur eine Stelle teilen.“
Der Schwarzhaarige runzelte nachdenklich die Stirn. Wieder streifte mich ein abschätzender Blick. Es war kein unfreundlicher Blick, und kein bedrohlicher. Er musterte mich nur. Seltsamerweise hatte ich keine Angst vor ihm.
„Das bedeutet, dass sie hier offiziell nicht arbeitet. Was erzähl ich dem Amt, wenn die zu einer Kontrolle kommen und sie alleine hier ist?“
„Das wird nicht vorkommen“, versicherte Flo ihm rasch.
Der Mann angelte nach einem neuen Bierglas und begann, ein weiteres Weizen zu zapfen. „Erwartet nicht, dass ich euch deswegen mehr zahle.“
„Aber wir dürfen das Trinkgeld behalten“, entgegnete Flo.
„Das wird am Schichtende unter allen Bedienungen aufgeteilt.“
„In Ordnung.“
„Gut. Dann könnt Ihr morgen anfangen, wenn ihr wollt. Marten wird euch einarbeiten. So gegen 19:00 Uhr? Sagt ihm, Reinhold hat euch geschickt.“
Flo nickte. „Vielen Dank. Dann bis morgen.“
Er lächelte, als er sich zu mir umwandte. Es war ein Lächeln voller Hoffnung. Und irgendwie begriff ich, dass es nicht die Arbeit an sich war, die er gefürchtet hatte. Vielleicht würde doch alles gut werden.
„Du wusstest, dass er nur dich anmeldet! Du wusstest, dass er mich dann nicht alleine arbeiten lässt!“ Ich warf Flo einen vorwurfsvollen Blick zu, den er natürlich nicht sah, weil er damit beschäftigt war, den Riegel in die Metallösen an seiner Zimmertüre einzufädeln. Das Abendessen war wieder erstaunlich ruhig verlaufen. Patrick hatte nicht einmal bemerkt, dass die Wäsche nicht gewaschen war, oder das wir den verlangten Einkauf noch nicht erledigt hatten. Wir hatten mehr Glück gehabt, als ich es jemals zu hoffen gewagt hatte. Aber irgendwie hatte ich so das Gefühl, dass es nur die Ruhe vor dem Sturm war. Für den Moment gab ich mich damit zufrieden. Für den Moment war ich froh, dass wir ein wenig Frieden finden konnten.
„Ja“, antwortete Flo schlicht. Dann tappte er die beiden Schritte zu seinem Bett hinüber und setzte sich neben mir auf die Kante.
„Du hast mich reingelegt!“, beschwerte ich mich. Da hatte ich geglaubt, ihm eine Hilfe sein zu können, ihm Arbeit abzunehmen...
„Ich habe dir nur ein paar Informationen vorenthalten. Und du hast nicht nachgefragt.“ Er klang beinahe amüsiert. Wütend starrte ich ihn an.
„Verdammt, ich bin kein Kleinkind mehr!“
„Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich alleine arbeiten lassen?“
Hatte ich das wirklich? Meine Schultern sanken herab.
„Ich hätte es mir denken können.“
„Ja, das hättest du“, grinste er. Er wirkte sah so viel jünger aus, wenn er grinste. So unbeschwert. Ich konnte ihm nicht lange böse sein, wenn er so grinste. Ich konnte ihm nie lange böse sein.
„Oh, Flo, du bist...unverbesserlich.“
„Aber du liebst mich trotzdem.“
Es war keine Frage, doch er sah irgendwie so unsicher aus. Unsicher und seltsam verletzlich.
„Oh, Flo. Immer. Ich werde dich immer lieben. Das weißt du.“
„Es ist immer noch so schwer zu verstehen. So schwer zu begreifen.“
Weil es verboten war. Weil es nicht sein durfte. Weil es falsch sein sollte. Aber es war noch nie falsch gewesen. Das zwischen uns hatte sich noch nie falsch angefühlt. Es war auch jetzt nicht falsch. Nur gefährlich...
„Es ist mir egal, was andere denken könnten. Das hier, wir, das ist alles, das zählt. Alles, das mich aufrecht hält. Ich liebe dich, Flo.“
„Ich dich auch...Schwester.“
Seine Augen waren noch immer so dunkel. Er lächelte nicht. Er sah sehr ernst aus, als er sich langsam zu mir beugte. Ganz sanft strich ich ihm die Strähne hinters Ohr zurück, die tief in seine Stirn hing. Sein Haar war lang geworden. Ich würde es wieder einmal schneiden müssen. Er seufzte und lehnte seine Wange in meine Hand hinein. Und dann fühlte ich sie. Seine Finger, die sanft das Gummi aus meinen Haaren lösten.
„Ich mag es, wenn du deine Haare offen trägst“, flüsterte er.
Ich nickte nur wortlos. Ich brachte keinen Ton heraus. Nicht, wenn er mich so ansah. Nicht, wenn da wieder diese Funken zwischen uns zu tanzen schienen. Minutenlang verharrten wir so. Sahen uns nur an und atmeten schwer. Etwas blitzte in seinen Augen. Seine Hand vergrub sich in meinen Haaren, zog mich zu ihm. Er wandte nicht viel Kraft auf. Ich hätte mich jederzeit von ihm losmachen können. Er ging immer so behutsam mit mir um. Er ließ mir immer die Wahl. Doch ich wollte das hier mindestens ebenso sehr wie er. Ich brauchte es mindestens ebenso sehr wie er.
Ich schloss die Augen, als ich seinen Atem über meine Lippen streichen spürte. So nah. Er war so nah und doch nicht nah genug...
„Ria“, hauchte er an meinem Mund. Und dann küsste er mich.
Meine Finger vergruben sich in seinen Haaren, zogen ihn noch näher, immer näher, bis ich ihn am ganzen Körper spürte. Zu viel Stoff. Da war zu viel Stoff zwischen uns. Ich löste mich von ihm, zog mir hastig den Pullover über den Kopf und griff dann nach dem Saum des seinen.
Er sah mich unschlüssig an und biss sich auf die Unterlippe.
„Bitte“, flüsterte ich. „Nur den Pullover. Bitte.“
Flo nickte. Seine Finger legten sich neben die meinen, rissen beinahe ungeduldig an dem dicken Kleidungsstück. Wir lachten beide, als er sich in dem engen Rollkragen verfing und ich ihn vorsichtig befreien musste. Doch dann trafen sich unsere Blicke, und ich konnte nicht mehr lachen.
Das hier, das hier war neu. Ich hatte ihn schon oft im T-Shirt gesehen, wir waren zusammen schwimmen gewesen, da war er weit weniger bekleidet gewesen. Aber ich war es gewesen, die ihm den Pullover ausgezogen hatte. Irgendwie hatte das mehr Bedeutung. Irgendwie war dadurch alles anders. Etwas hatte sich verändert. Flo schien es auch zu spüren.
Die Zeit stand still, während wir uns so gegenüber saßen. Meine Hände krallten sich in den dicken Wollstoff, der noch immer so warm war. Warm von seiner Haut. Ich wagte es kaum, mich zu bewegen. Auf einmal hatte ich das Gefühl, kaum Luft zu bekommen. Auch Flo atmete schwer. Ich sah, wie sich sein Brustkorb immer schneller hob und senkte, sah, wie die Ader an seinem Hals immer schneller pulsierte.
Ich weiß nicht, warum ich es tat. Was mir den Mut gab, diesen Graben, der sich so plötzlich zwischen uns aufgetan hatte, zu überbrücken. Vielleicht fühlte ich mich einsam, vielleicht wollte ich ihn einfach nur spüren, wollte fühlen, dass ich nicht alleine war. Es fühlte sich einfach nicht richtig an, ihn nicht zu berühren. Und so griff ich nach seiner Hand, verflocht meine Finger mit den seinen.
Flo seufzte. Sein rechter Arm schloss sich um meine Schultern, zog mich fest an ihn. Er war so warm. Er roch so gut. Und irgendwie konnte ich nicht widerstehen.
Ich küsste mich seinen nun nackten Hals hinauf. Er stöhnte leise. Seine Hand fuhr in mein Haar hinein, hob sanft meinen Kopf an und dirigierte meinen Mund wieder auf den seinen.
Warm. Er war so warm ohne die dicken Schichten zweier Pullover, die uns trennten. Ich konnte sein Herz gegen das meine schlagen hören. Es raste. Da war wieder dieses Kribbeln. Es fing dort an, wo sich unsere Lippen berührte, und breitete sich in meinem ganzen Körper aus.
Wir küssten uns lange in dieser Nacht. Wieder und wieder, mal sanft, dann mit jener verzweifelten Wildheit, die so sehr zu uns gehörte. Weil wir versuchten, die Minuten festzuhalten, die uns entglitten.
Wie von selbst wanderten meine Hände unter sein T-Shirt, strichen über die warme Haut seines Rückens. Flo schnappte überrascht nach Luft. Zögernd tasteten sich seine Finger über den freien Streifen Haut zwischen meiner Hose und meinem Shirt. Jetzt war ich es, die aufstöhnte. Instinktiv drängte ich mich noch näher an ihn heran. Seine Hände bebten, und für einen kurzen Moment glaubte ich, sie würden ein Stück höher rutschen, nur ein bisschen höher...
„Stopp“, keuchte er, während er ein Stück vor mir zurückwich. „Stopp. Ich brauche...ich kann nicht...“
Er musste es nicht aussprechen. Ich wusste genau, was er mir sagen wollte. Das hier waren die Momente, die wirklich gefährlich waren. Wenn es nicht mehr länger darum ging, einander Trost zu spenden oder den anderen einfach nur zu fühlen, sondern um so viel mehr. Ich wollte mehr. Ich wusste, dass Flo mehr wollte. Ich sah es an dem dunklen Glitzern im Grün seiner Augen, an der Art, wie er die Hände in seinem Schoß nun zu Fäusten ballte.
„Oh, Gott, Ria“, hauchte er. „Das war knapp. Oh, verdammt, war das knapp!“
Und ich wusste, dass er recht hatte. Nur ein wenig länger, und ich wäre nicht mehr in der Lage gewesen, aufzuhören. Mich irgendwie wieder von ihm loszureißen. Es war wie ein Rausch, wenn wir so beieinander waren. Wir vergaßen die Welt um uns herum. Wir verloren uns ineinander.
Er sah mich nicht an. Er vergrub den Kopf in den Händen. Sie zitterten noch immer, seine Hände. Ich fühlte mich selbst ein wenig zittrig.
„Was machen wir nur“, flüsterte er irgendwann in die Stille hinein.
„Ich weiß es nicht.“ Ich wusste nur, dass es wunderschön gewesen war. Dass ich nichts bereute. Und insgeheim fragte ich mich, was gewesen wäre, wenn er nicht stark genug gewesen wäre, rechtzeitig aufzuhören.
Es war alles so neu. Es war alles so neu und aufregend. Ich hatte nicht gewusst, dass sich etwas so gut anfühlen konnte. Und ich wusste nicht, jetzt, da ich es kennengelernt hatte, ob ich darauf verzichten wollte. Ob ich darauf verzichten konnte.
Er war stärker als ich. Er war stärker als ich, und für eine Weile mochte das noch ausreichen. Aber wie lange noch?
20. Weihnachten
Anna-Maria
Der November und auch der Dezember verging wie im Flug. Vielleicht lag es daran, dass wir so wenig Zeit hatten. Neben der Schule und dem Haushalt versuchten wir, so oft es ging eine Schicht im der Bar zu ergattern. Es war nicht einfach. Genauer gesagt, es war sogar so gut wie unmöglich, zur Schule zu gehen, den Haushalt zu erledigen und auch noch in der Bar zu arbeiten. Jeden Abend fielen wir völlig erschöpft ins Bett, und der nächste Morgen begann immer zu früh. Ich sah die dunkler werdenden Ringe unter Flos Augen, und ich wusste, dass die meinen nicht besser aussahen. Genauso, wie ich wusste, dass wir das so nicht lange durchhalten würden. Aber welche Wahl hatten wir denn?
Vielleicht war es ganz gut, dass ich nicht viel Zeit zum Nachdenken hatte. Ich hatte Angst vor der Zukunft. Noch nie hatte ich solche Angst vor der Zukunft gehabt. Mit dem neuen Jahr kam nicht nur Flos Abschluss auf uns zu. Er hatte im Januar Geburtstag. Am 31. Januar würde er offiziell erwachsen sein. Ich fürchtete dieses Datum, in gleicher Weise, wie ich ihm entgegen fieberte. Weil er dann sicher sein würde. Es spielte keine Rolle, was mit mir war, jedenfalls nicht in meinen Augen. So lange ich nur wusste, dass Flo die Möglichkeit hatte, dem allen hier zu entkommen...
Patrick hatte zwei Wochen Ferien über die Feiertage. Das bedeutete keine Schichten in der Bar. Es bedeutete, ihn zwei Wochen ununterbrochen hier im Haus zu haben, ohne eine Chance auf Entkommen. Und er würde an Weihnachten zu Hause sein.
Weihnachten war ein Fest, das mir etwas bedeutete. Ich verband schönen Erinnerungen damit. Aber Weihnachten war auch der Tag, an dem daran erinnert wurde, wie viel Glück andere hatten. An dem man daran erinnert wurde, dass es Familien gab, in denen sich die Eltern um ihre Kinder kümmerten, so, wie es sein sollte. Weihnachten war der Tag, an dem mir jedes Jahr überdeutlich bewusst wurde, was uns alles fehlte.
Meistens war Mutter über die Feiertage sturzbetrunken. Meistens kam sie entweder sehr spät oder überhaupt nicht nach Hause. Doch irgendwie wusste ich, dass das dieses Jahr anders sein würde. So, wie sich einfach alles verändert hatte, seit dieser Mann bei uns eingezogen war.
Vielleicht würde es bedeuten, dass Mutter dieses Jahr nicht über einer Schnapsflasche zusammenbrechen würde. Vielleicht würden wir tatsächlich so etwas wie ein kleines Weihnachtsfest feiern. Aber alleine bei dem Gedanken, mit Patrick irgendetwas zu feiern, zog sich meine Magen schmerzhaft zusammen. Er hatte mich in Ruhe gelassen, seit jenem Tag. Aber ich traute dem Frieden nicht. Wie er mich ansah – es reichte schon, zu sehen, wie er mich ansah, und ich wusste, dass es nur der Anschein von Frieden war. Er wartete. Er lauerte. Er wusste, dass ich ihm nicht entkommen konnte. Das hier war mein einziges Zuhause. Wohin sollte ich vor ihm fliehen? Wohin konnte ich schon fliehen?
Irgendwann hatte ich mich damit abgefunden, dass ich wohl niemals dieses Bilderbuchweihnachten haben würde. Das lag schon alleine daran, dass wir keine Bilderbuchfamilie hatten, mit der wir es feiern konnten. Aber alle meine schönen Erinnerungen an diesen Tag hatten eines gemeinsam: Flo spielte eine wichtige Rolle in ihnen. Und das war es, was dieses Weihnachten irgendwie so schlimm machte. Nicht, dass Patrick hier sein würde. Sondern die Tatsache, dass ich keine Ahnung hatte, ob wir das nächste Weihnachten noch gemeinsam würden feiern können. Manchmal kam es mir vor, als stünde ich vor einem gähnenden Abgrund. Mit jedem weiteren Tag, der verstrich, ging ich einen weiteren Schritt auf den Abgrund zu.
Ich konnte ihn nicht verlieren. Aber wie konnte ich ihn zu diesem Leben hier verdammen? Im Januar war er volljährig. Im Januar war er frei. Wie konnte ich ihn zwingen, noch länger hier zu bleiben?
Ich wusste, dass er bleiben würde. Meinetwegen. Und dass er damit nicht nur seine Freiheit, sondern auch sein Leben aufs Spiel setzte.
Es war alles so verdammt kompliziert. Manchmal wünschte ich, wir könnten ewig Kinder bleiben. Irgendwie...irgendwie war früher alles einfacher gewesen. Früher waren Entscheidungen so viel einfacher gewesen.
***
Und dann war er da, der erste Ferientag. Der 23. Dezember. Es würde der letzte Tag ohne Patrick sein. Irgendwie war ich froh darüber, dass wir heute keine Schicht mehr bekommen hatten. Wir hatten einen ganzen Tag frei. Einen ganzen Tag ohne Mutter, ohne Patrick. Nur für uns. Und ich war entschlossen, jede einzelne Minute auszukosten. Wir hatten beschlossen, dass Patrick nicht alles zerstören würde, was wir gehabt hatten. Wir würden Weihnachten feiern, wie wir es immer gefeiert hatten. Zu zweit.
Ich weiß nicht, was mich aufgeweckt hatte. 7:15 leuchtete mir die rote Digitalanzeige von Flos Wecker entgegen. Irgendwann hatten wir es aufgegeben, getrennt voneinander zu schlafen. Natürlich war es riskant. Aber in letzter Zeit war alles irgendwie riskant. Und es war einfach zu schön, jeden Abend neben ihm einzuschlafen und jeden Morgen neben ihm aufzuwachen. Ich fühlte mich sicher bei ihm. Geborgen. Zu Hause. Doch das war nicht der einzige Grund. Ich gestand es mir nur mühsam ein, aber ich wollte keinen Moment ungenutzt verstreichen lassen. Unsere Zeit lief ab, das spürte ich, und ich wollte sie nicht verschwenden. Ich wollte so oft wie nur möglich bei ihm sein.
Der rote Schein der Ziffern war die einzige Lichtquelle im Zimmer. Trotzdem war es nicht dunkel. Durch das Fenster drang jenes blasse Zwielicht, das von Schnee kündete. Schnee. Es hatte also wirklich noch geschneit? Ich hatte nicht mehr daran geglaubt, dieses Jahr weiße Weihnachten zu haben. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Aber irgendwie war es doch wichtig. Es war wie ein Zeichen.
Flo brummelte etwas Unverständliches und drehte sich, noch immer im Tiefschlaf, auf die andere Seite, während ich an eines dieser vielen Weihnachtsfeste dachte, die ich mit Flo gefeiert hatte. Es war eines der ersten gewesen, an dem wir alleine gewesen waren. Eines der ersten nach Omas Tod, und doch war die Erinnerung daran, wie es davor gewesen war, schon so verblasst, dass ich mich nur mühsam erinnern konnte. Vielleicht lag es daran, dass ich so klein gewesen war. Für ein Kind kann ein Jahr eine Ewigkeit bedeuten.
„Warum sind alle so aufgeregt? Warum freuen sich alle so?“, fragte ich Flo, als wir am letzten Schultag vor den Ferien gemeinsam im Schneegestöber auf den Bus warteten. Es war mein erstes Jahr in der Schule.
Flo sah zu Boden und malte mit seiner Schuhspitze einen Kreis in den Schnee.
„Sie freuen sich auf Weihnachten.“
„Aber wieso?“
Ich dachte an Mutter, die über einem Glas Schnaps in sich zusammensank, ihr Haar eine wirre Wolke auf dem mit dreckigem Geschirr übersäten Küchentisch. Ich dachte an Abende alleine in dem leeren Wohnzimmer, an Oma, die so sehr fehlte, dass es wehtat. Ich dachte daran, wie sie uns früher immer Plätzchen und Lebkuchen gebracht hatte, und wie es immer nach Zimt und Zucker gerochen hatte, wenn sie da war. Ich dachte an einen Tannenbaum, den ich vor langer Zeit einmal mit ihr geschmückt hatte. War das Weihnachten gewesen? Der Baum und die Plätzchen und die Geschenke?
Flo warf mir einen traurigen Blick zu. Fast so, als hätte er meine Gedanken gesehen. Vielleicht hatte er das auch. Vielleicht war es wirklich so leicht, in meinem Gesicht zu lesen.
„Weil in anderen Familien Weihnachten anders gefeiert wird als bei uns. Da gibt es Geschenke, und alle essen zusammen ein großes Festessen, und es gibt einen Tannenbaum und Lieder und Plätzchen.“
„Wie in den Filmen?“
„Ja, vielleicht ein bisschen wie in den Filmen.“
Oder wie früher, als Oma noch da war. Aber das sagte er nicht. Er brauchte es nicht zu sagen.
„Warum ist bei uns alles immer so anders als bei anderen?“
Flo fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Auf einmal sah er sehr müde aus. Müde und irgendwie alt, und so traurig. Es war nicht richtig, dass er so traurig war. Es tat mir weh, ihn so zu sehen.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, Kleines.“
„Das ist so unfair.“
„Ja, das ist es.“
Flo seufzte. Lange stand er so neben mir und malte weiter Kreise in den Schnee. Es waren keine schönen Kreise. Sie waren irgendwie zackig. Sie sahen aus wie Spiralen. Wie Löcher, die uns verschlingen würden. Fast bekam ich ein wenig Angst vor ihnen.
Ich nahm den Fensterplatz im Bus. Die ganze Fahrt über suchte ich in der Dunkelheit nach den hell erleuchteten Fenstern der Häuserfronten. Versuchte, einen Blick in die Wohnungen zu erhaschen. Einen Blick in diese andere Welt, in der alles schön und heil war wie in den Filmen. Ich hätte nicht gedacht, dass es so etwas wirklich gab. Filme waren wie die Märchen, die Flo erzählte. Eine andere Welt. Nicht wirklich. Gab es wirklich Kinder, die so lebten? Die Eltern hatten, die an Weihnachten nicht betrunken waren? Eltern, die an Weihnachten Geschenke verteilten, und Plätzchen und Punsch, die Lieder sangen und Kerzen am Weihnachtsbaum anzündeten?
Aber Flo schien recht zu haben. Es musste ja auch einen Grund geben, weswegen die Kinder in der Schule sich auf Weihnachten freuten.
Irgendwie machte es das schlimmer. Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich war, aber zu wissen, dass es noch etwas anderes gab, dass es anders sein könnte – das machte alles so viel schlimmer.
„Ria, ist alles in Ordnung?“, drang Flos leise Stimme durch meine Gedanken.
„Ja“, brachte ich mühsam hervor, das Gesicht noch immer zum Fenster gewandt, obwohl ich nicht mehr viel sah durch den verschwommenen Tränenschleier vor meinen Augen.
Nichts war in Ordnung, und das wusste er auch.
„Sieh mich an, Ria.“
„Nein.“ Ich konnte ihn jetzt nicht ansehen. Ich wollte nicht, dass er mich so sah. Ich wollte nicht, dass er meinetwegen auch traurig war.
Auf einmal lagen zwei warme Finger unter meinem Kinn. Zwei warme Finger, die meinen Kopf sanft, aber bestimmt zu ihm herumdrehten. Ich blickte zu meinen Füßen hinunter und hoffte, dass er zumindest die Tränen nicht sah. Natürlich sah er sie. Vorsichtig strichen seine Finger über meine Wangen, wischten die Nässe fort.
„Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass bei uns alles anders ist. Es tut mir leid, dass du kein Weihnachten haben kannst wie andere Kinder. Es tut mir so leid.“
Seine Augen waren so traurig. Er war meinetwegen traurig, und das war nicht richtig.
„Du kannst doch nichts dafür“, flüsterte ich.
Er schüttelte nur kurz und heftig den Kopf und sah dann aus dem Fenster, so wie ich es zuvor getan hatte. Sah den Lichtern in den Häusern hinterher, den Lichtern hinter den Fenstern, die irgendwie zu einer anderen Welt gehörten.
„Wir können es doch versuchen.“
Auf einmal klang er entschlossen. Da war fast so etwas wie Hoffnung in seiner Stimme. Vorfreude.
„Was versuchen?“
„Ein richtiges Weihnachten zu feiern. Vielleicht nicht mit einem Baum – ich denke, das wird zu schwierig, und zu teuer...aber wir können doch trotzdem Weihnachten feiern. Nur wir beide.“
Und so kam es dann, dass wir das erste Mal gemeinsam Weihachten feierten. Flo fand irgendwo in einer Schublade die Kerzen, die Oma auf den letzten Adventskranz gesteckt hatte. Sie waren fast heruntergebrannt, aber für einen Abend würde es reichen. Mit dem letzten Rest Mehl und den letzten beiden Eiern versuchten wir, ein paar Plätzchen zu backen. Wir hatten keine Ausstechformen mussten darum die Sterne und Tannenbäume mit den Händen formen. Flos Plätzchen sahen tatsächlich ein wenig nach Sternen aus, meine hingegen waren beinahe rund und erinnerten mehr an stachelige Bälle. Es störte uns nicht. Sie waren essbar, und sie schmeckten süß und nach Weihnachten, und das war alles, das zählte.
Wir brauchten mehr als einen halben Tag, um die Küche nach dem Backdesaster wieder in den Urzustand zurück zu versetzen. Gott sei Dank war Mutter nicht zu Hause, da sie momentan auf der Suche nach dem nächsten Mann um die Häuser zog, und wir waren beide froh, ein wenig unsere Ruhe zu haben.
Weihnachten kam, und es war ein Tag wie jeder andere. Mutter war noch immer nicht zu Hause. Ich wachte auf und blieb ein wenig länger als sonst im Bett liegen. Irgendwie war da ein Teil von mir, der immer noch hoffte, dass es dieses Jahr anders war. Dass sie dieses Jahr an Weihnachten nach Hause kommen würde, beladen mit Geschenken. Irgendwie hoffte ich noch immer, dass sie auf einmal einfach wieder da war, dass sie sich dafür entschuldigte, uns allein gelassen zu haben, und uns versprach, dass es nie wieder vorkommen würde. Und dann würden wir für immer glücklich zusammen leben. Mutter würde sich wieder um das Essen kümmern, würde uns Kleider besorgen, wenn wir aus den alten herausgewachsen waren. Sie würde uns sagen, dass sie uns lieb hatte.
Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie das jemals gesagt hatte. Die Mütter in den Filmen taten das immer. Flo war der einzige, der sagte, dass er mich lieb hatte. Flo...
Flo war es auch, der mich schließlich aus meinem Zimmer holte. Der leise an meine Türe klopfte und dann besorgt den Kopf zu mir hereinsteckte.
„Ist alles in Ordnung, Kleine?“, fragte er vorsichtig, als er mich mit offenen Augen im Bett liegen sah.
Nein, irgendwie war nichts wirklich in Ordnung. Schon lange nicht mehr. Aber ich wollte ihm das nicht sagen. Nicht, nachdem er sich solche Mühe gegeben hatte, unser Weihnachtsfest vorzubereiten. Ich wollte nicht, dass er wieder so traurig war wie damals im Bus. Es reichte, wenn ich traurig war.
Also schüttelte ich den Kopf. Ich schüttelte den Kopf und stieg aus dem Bett und versuchte zu vergessen, was ich doch nicht vergessen konnte.
Aber irgendwie merkte er wohl trotzdem, dass etwas anders war. Er war seltsam still, als wir gemeinsam in der Küche saßen und unser Frühstück aßen. Er war seltsam still, und er lachte nicht ein einziges Mal. Dabei hatte er in den letzten Tagen so viel gelacht. Ich mochte es, wenn er lachte.
„Wünschst du dir manchmal, jemand anderer zu sein?“, platzte es irgendwann aus mir heraus. Ich konnte sie nicht mehr ertragen, diese schreckliche Stille, die über uns hing.
„Wie meinst du das?“
Flo, der gerade dabei war, die Kerzen auf dem Wohnzimmertisch anzuordnen, sah fragend zu mir auf.
„Wünschst du dir manchmal, ein anderer Junge zu sein? Wie Paul oder Thomas. Jemand, der eine richtige Familie hat.“
„Ich weiß es nicht, Krümel. Darüber hab ich noch nie nachgedacht. Wünschst du es dir manchmal?“
„Nein.“
„Nicht? Warum nicht?“
„Wenn ich jemand anders wäre – dann wäre ich nicht Ria. Und wenn ich nicht Ria wäre, dann hätte ich dich nicht.“
Flo sagte nichts. Er sah mich nur lange, lange an. Und dann lächelte er. Es war nicht das falsche Lächeln, mit dem er vorher in der Küche gelächelt hatte. Es war ein richtiges Lächeln. Mir wurde ein bisschen wärmer, als ich es sah. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, Weihnachten nur mit Flo zu feiern. Vielleicht war es sogar schöner als jedes andere Weihnachten, das gerade gefeiert wurde. Weil es echt war. Weil dieses Weihnachten nur uns gehörte. Es war anders als alle anderen Weihnachten. Es war unser Weihnachten.
Es waren nur vier Kerzen, die das Wohnzimmer erhellten. Draußen war es schon dunkel geworden, und die vier Kerzen waren lange nicht so hell wie die Weihnachtsbäume, die in anderen Wohnzimmern standen. Es gab nur unsere unförmigen Plätzchen, kein Festessen wir anderswo, und wir hatten keinen Berg Geschenke bekommen. Aber wir hatten uns etwas geschenkt.
Flo hatte mir einen neuen Pullover geschenkt – ich wusste nicht, wo er ihn aufgetrieben hatte, und er war nicht ganz neu, sondern schon ein wenig abgetragen, aber er war rot, dunkelrot. Ich hatte noch nie einen roten Pullover gehabt, und er war so warm, und er roch ein wenig nach Flo, ich nahm an, weil er ihn in seinem eigenen Kleiderschrank versteckt hatte.
Ich hatte Flo ein paar Handschuhe geschenkt, die ich der alten Dame vom Fundbüro abgeschwarzt hatte. Ich hatte es nicht mehr mit ansehen können, wie er jeden Morgen seine klammen, blau gefrorenen Finger rieb und verzweifelt versuchte, sie in den Taschen seiner dünnen Windjacke irgendwie warmzuhalten.
Jetzt saßen wir gemütlich nebeneinander auf der Couch, sahen den Kerzen dabei zu, wie sie langsam herunterbrannten, und vernichteten gemeinsam die letzten Plätzchen.
„Erzählst du mir eine Geschichte?“, fragte ich irgendwann. Denn irgendwie spürte ich, dass das jetzt noch fehlte, um den Abend irgendwie perfekt zu machen – soweit er bei uns eben perfekt sein konnte.
„Was für eine Geschichte willst du denn hören?“
„Eine Weihnachtsgeschichte.“
„Na gut...“
Und er erzählte mir eine. Eine Geschichte von einem Mädchen, das Dinge sah, die sonst niemand sah, und von einem Jungen, der manchmal ein Fuchs war. Eine Geschichte von zweien, die einsam waren, bis sie einander fanden. Eine Weihnachtsgeschichte. Auch wenn es keine wirkliche Weihnachtsgeschichte war. Sie begann wie ein Märchen, aber sie war auch irgendwie traurig. Alle Geschichten, die Flo in letzter Zeit erzählte, waren irgendwie traurig. Es war eine verborgene Traurigkeit. Eine alte Traurigkeit, die sich hinter den Worten verbarg.
Aber ich mochte die Geschichte trotzdem. Oder vielleicht gerade deswegen. Weil sie irgendwie war wie dieses Weihnachten, das ich allein mit Flo verbrachte.
Flo erzählte seine Geschichten nie ein zweites Mal. So war es auch mit dieser. Ich bin mir sicher, ich hatte schon viele seiner Geschichten vergessen. Diese hier nicht. Diese hier würde ich nie vergessen. Warum sie so wichtig war, konnte ich nicht sagen. Vielleicht verstand ich sie einfach noch nicht richtig. Aber ich spürte, dass sie wichtig war. Dass sie etwas bedeutete. Dass Flo mir damit etwas gesagt hatte. Etwas, das sich hinter den Worten verbarg.
„Irgendwie ist es doch keine richtige Weihnachtsgeschichte geworden“, sagte Flo. „Und irgendwie...war sie auch ziemlich traurig. Das wollte ich nicht. Es sollte eine fröhliche Geschichte werden. Es tut mir leid.“
Es störte mich nicht, dass es keine Weihnachtsgeschichte geworden war. Ich wusste, dass Flo nicht immer die Geschichten erzählen konnte, die er erzählen wollte. Dass die Geschichten manchmal besser wussten, wie sie erzählt werden wollten.
„Aber es war eine schöne Geschichte. Danke.“ Und irgendwie war es doch eine Weihnachtsgeschichte. Weil er sie mir an Weihnachten erzählt hatte. Weil es das schönste Weihnachtsgeschenk gewesen war, das ich heute bekommen hatte.
„Gern geschehen, Krümel.“
Flo lächelte. Es war einer dieser Momente, die sich für immer in mein Gedächtnis einbrannten. Wie er mich anlächelte. Wie wir eng aneinander gekuschelt auf der Couch saßen und den Kerzen dabei zusahen, wie sie herunterbrannten. Wie sich der weiche Lichtschein in seinen grünen Augen spiegelte und sie zum Leuchten brachte. Wie seine Worte in der Stille der Nacht widerhallten und mir von einem Mädchen und einem Jungen erzählten, die nicht mehr länger einsam waren, weil sie einander hatten. Ich fühlte mich geborgen, dort in seinen Armen. Die Welt war in Ordnung, wenn er mich nur so hielt. Und ich begriff, dass auch ich niemals einsam sein würde, so lange ich nur Flo hatte.
„Woran denkst du, Ria?“, fragte Flo, während wir ins Wohnzimmer traten.
Beinahe widerwillig tauchte ich aus den Erinnerungen auf. Weihnachten war für mich immer ein Fest der Erinnerungen gewesen.
Der Tag war viel zu schnell verflogen. Wir hatten gemeinsam Plätzchen gebacken, weil davor einfach keine Zeit gewesen war. Für einen Tag war es so gewesen, als sei nichts geschehen. Für ein paar Stunden hatte ich fast vergessen, dass sich so vieles verändert hatte. Unser Weihnachten war noch immer unser Weihnachten. Auch wenn wir es heute feierten. Auch wenn wir wahrscheinlich die beiden einzigen Menschen auf der Welt waren, die Weihnachten einen Tag zu früh feierten. Es störte mich nicht. Vielleicht war es deswegen besonders.
Es gab viele Gründe, weswegen dieser Tag besonders war. An die anderen mochte ich lieber nicht denken.
Ich hatte den Teig geknetet, wie ich es immer getan hatte, und Flo hatte ihn auf dem mehlbestäubten Küchentisch ausgerollt. Dann hatten wir versucht, Sterne zu formen. Sterne und Tannenbäume. Und als es draußen allmählich dunkler geworden war, hatten wir uns ins Wohnzimmer zurückgezogen. Im Gegensatz zu den letzten Jahren hatten wir heute allerdings weniger Zeit für die Kerzen und die Geschenke. Weil Patrick irgendwann nach Hause kommen würde, und dann durfte nichts mehr darauf hindeuten, wie wir den heutigen Tag verbracht hatten.
„An die vielen Weihnachtstage, die wir gemeinsam hier verbracht haben“, antwortete ich, Und daran, dass dieses hier das letzte sein könnte, fügte ich in Gedanken hinzu. Aber das sagte ich nicht laut. Ich wollte nicht, dass es zu real wurde. Irgendwie fürchtete ich, dass meine Angst wahr werden könnte, wenn ich sie laut aussprach. Flo schien sie trotzdem gehört zu haben, die Worte, die ich nicht gesagt hatte. Oder er fürchtete das selbe. Er lächelte, aber seine Augen blieben dunkel.
Dann zog er die Türe hinter sich zu, und ich suchte die vier Kerzen aus der untersten Schublade des Wohnzimmerschrankes heraus. Dort, wo sie den Rest des Jahres vergesssen in der Dunkelheit verbracht hatten. Vorsichtig pustete ich den Staub herunter und langte nach der Schachtel Streichhölzer, die darunter verborgen lag.
Wir hatten nie einen Weihnachtsbaum gehabt, jedenfalls konnte ich mich an keinen erinnern, seit Oma gestorben war. Es hatte immer nur diese vier Kerzen gegeben, die einmal auf einem Adventskranz gesteckt hatten, den Oma für uns gemacht hatte. Damals, in jenem Jahr, als wir das letzte Weihnachten mit ihr gefeiert hatten. Damals war Weihnachten anders gewesen. Es hatte nach selbstgebackenen Lebkuchen geduftet, nach Zimt und nach frischen Tannennadeln. Und nach Orangen. Oma hatte an Weihnachten immer Orangen auf dem Tisch liegen gehabt. Orangen und Nüsse.
Wir hatten keinen Adventskranz. Ich wusste nicht, wie man einen machte, und die gekauften waren einfach zu teuer. Seit Oma nicht mehr da war, waren es immer nur Flo und ich und die Kerzen gewesen. Manchmal hatten wir ein paar Lieder gesungen, doch mehr als die erste Strophe kannten wir beide nicht.
Flo zog die Vorhänge zu, und ich breitete eine der alten Weihnachtsservietten auf dem Couchtisch aus. Langsam und mit Bedacht zündete ich eine Kerze nach der anderen an. Es war immer meine Aufgabe gewesen, die Kerzen anzuzünden. Es war ein Ritual. Irgendwie war es fast ein wenig magisch.
„Ich hab etwas für dich...“
Er zog fragend die Augenbrauen hoch. Wir hatten ausgemacht, uns nichts zu schenken. Weil Geschenke immer Geld kosteten, und wir wirklich sparen mussten.
„Es hat nichts gekostet. Oder jedenfalls nicht viel...“
Zögernd reichte ich ihm das kleine Päckchen. Auf einmal war ich nervös. Was, wenn er es kindisch fand? Albern? Es war eine dumme Idee gewesen.
Vorsichtig fuhr Flo mit dem Fingernagel unter das Klebeband. Er war ging immer so sorgsam mit dem selbst bemalten Papier um. Irgendwie berührte mich das.
Sein Gesicht war seltsam ausdruckslos, als er die beiden Armbänder betrachtete, die vor ihm auf dem Papier lagen. Lange saß er reglos da, und mir wurde immer unwohler.
„Das sind...das sind Freundschaftsbänder“, erklärte ich. „Ich kann eines tragen, und du das andere. Natürlich nur, wenn du magst. Du musst nicht...vielleicht war es eine dumme Idee...“
Es war eine dumme Idee gewesen. Kindisch. Fast wollte ich nach den Armbändern greifen, sie irgendwo verstecken und so tun, als habe es diesen Augenblick nie gegeben. Doch gerade, als die Scham wie eine eisige Welle über mir zusammenbrach, griff Flo nach dem größeren der beiden Armbänder. Schweigend band er es um seinen rechten Arm. Dann erst wandte er sich zu mir um. Ich hatte alles erwartet – alles, nur nicht das. Seine Augen schimmerten. Im sanften Licht der Kerzen schimmerten seine Augen wie grünes Glas.
„Danke“, flüsterte er in die Stille hinein. Dann griff er nach dem zweiten Armband. Vorsichtig, beinahe andächtig knotete er es um mein linkes Handgelenk.
Und irgendwie war das genug. Ich wusste, dass er verstanden hatte. Dass er verstanden hatte, was ich nicht hatte sagen können.
„Ich habe auch etwas für dich...“
„Vielleicht sollten wir in Zukunft keine Abmachungen mehr treffen, wenn wir uns ohnehin nicht daran halten.“
Flo grinste. Dann griff er nach einem flachen, rechteckigen Gegenstand, der sehr unbeholfen in weißes Papier gehüllt worden war. Flo hatte nie meine Vorliebe für buntes Geschenkpapier geteilt. Vielleicht bemalte er es einfach nur nicht gerne. Vielleicht lag es auch daran, dass Geschenke einpacken zu einem der wenigen Dinge gehörte, die Flo wirklich nicht konnte. Er verbrauchte meist mehr Klebeband als Papier. Ich schmunzelte, als ich das Päckchen entgegennahm. Es war so typisch Flo. Irgendwie wäre es kein Geschenk von Flo gewesen, wenn es ordentlich verpackt gewesen wäre.
Ich war nicht so vorsichtig wie er. Ich fuhr nicht mit dem Fingernagel unter das Klebeband. Es wäre auch eine Aufgabe für die Ewigkeit gewesen, das Päckchen so zu öffnen. Und ich war schon immer ungeduldiger gewesen. Ich zerrte und zog und nahm dann auch noch die Schere zu Hilfe, die Flo wohlweißlich aus der Küche geholt hatte. Und dann lag es vor mir auf meinen Knien. Es war ein Buch. Oder mehr ein Heft mit festem Einband. Ich warf einen fragenden Blick in Flos Richtung.
„Na los“, murmelte der ein bisschen unsicher. „Mach es schon auf.“
Vorsichtig schlug ich das Buch auf, blätterte mich zur ersten Seite vor.
Es war einmal ein Mädchen... stand dort in einer geschwungenen, seltsam ordentlichen Schrift. Ich kannte diese Schrift. Ich kannte diese Geschichte.
„Du...du hast sie aufgeschrieben? Du hast meine Weihnachtsgeschichte...aufgeschrieben?“
Wie ein Donnerschlag schienen meine Worte in der darauffolgenden Stille nachzuhallen.
Flo nickte. Auf einmal wirkte er sichtlich nervös. Er wandte den Blick ab, sah zu den leise flackernden Kerzen hinüber.
„Aber ich dachte...ich dachte, du kannst keine Märchen mehr erzählen.“
Ganz allmählich wurde mir die wirkliche Bedeutung dieses Geschenkes bewusst. So lange schon hatte er sich von seinen Geschichten ferngehalten. Ich hatte nie ganz verstanden, was dafür verantwortlich war, dass Flo nicht mehr erzählt hatte. Dass er nicht mehr erzählen konnte, wie er es mir selbst einmal erklärt hatte. Ich hatte nie genauer nachgefragt. Irgendwie hatte ich immer gewusst, dass das zu viel gewesen wäre. Dass es so schon schwer genug für ihn war.
„Nein. Das hab ich auch nicht getan. Ich hab eine alte Geschichte aufgeschrieben. Das ist nicht dasselbe, Ria.“
Es war nicht dasselbe. Aber es war ein erster Schritt. Mit Tränen in den Augen fuhr ich über den geschwungenen Schriftzug des Titels. Er hatte sich sehr viel Mühe damit gegeben. Sie war fast ein kleines Kunstwerk, die Überschrift.
„Danke“, hauchte ich.
Flo nickte nur. Aber seine Schultern sanken ein wenig herab, und alles an ihm schien sich ein wenig zu entspannen. Lange saßen wir so nebeneinander im Kerzenschein und sahen uns an. Versuchten, die Momente festzuhalten. Ich wollte mich immer an dieses Weihnachten erinnern, das eigentlich gar kein Weihnachten war, weil wir doch einen Tag zu früh feierten.
Flo war es, der irgendwann die Stille brach.
„Lies. Es ist deine Geschichte, und sie sollte an Weihnachten gelesen werden. Sie sollte jetzt gelesen werden.“
Und ich wusste, dass er recht hatte. Ich hatte nie vergessen, aber an den genauen Wortlaut konnte ich mich nicht mehr erinnern. Andächtig schlug ich das kleine Buch auf und verlor mich in den geschriebenen Worten. In Flos Worten.
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„Es war einmal ein Mädchen namens Marie. Marie lebte ganz alleine in einer Holzhütte im Wald. Ihre Eltern waren im letzten Winter gestorben, und seither hatte sie niemanden mehr. Ab und zu brachten ein paar der Frauen aus dem nahen Dorf ein paar Holzscheite vorbei, und der ein oder andere Bauer versorgte sie mit Kartoffeln und Gemüse, aber ansonsten war Marie ganz auf sich gestellt.
Sie vermisste ihre Eltern. Sie wünschte sich jemanden, mit dem sie sprechen konnte. Es war so schrecklich still, abends in der Hütte. Es gab niemandem, dem sie erzählen konnte, was sie den Tag über getan hatte, niemanden, der sich Sorgen machte, wenn sie zu lange im Wald blieb, niemanden, der sie vermissen würde, wenn sie sich verirrte. Und es gab niemanden, dem sie von den kleinen Gestalten erzählen konnte, die in den Bäumen lebten. Gnome hatte ihre Mutter sie genannt. Sie hatte ihr eingeschärft, niemandem aus dem Dorf von den kleinen Männchen zu erzählen, die zwischen den Wurzeln der hohen Tannen wohnten. „Sie würden es nicht verstehen, Kleines“, hatte Mutter gemeint. „Sie sehen nicht. Sie haben verlernt, zu sehen, was sie nicht sehen wollen. Weil es einfacher ist, in einer Welt zu leben, die man sich erklären kann. Sie würden es nicht verstehen. Sie würden dich davonjagen, oder schlimmer noch, dich als Hexe bezichtigen. Erzähl niemandem davon.“
Und so war es immer ihr Geheimnis geblieben. Nicht, dass sie viel Gelegenheit gehabt hätte, mit den Menschen aus dem Dorf zu sprechen. Sie hielten sich die meiste Zeit von der kleinen Blockhütte im Wald fern. So als wüssten sie, dass der Wald mehr Geheimnisse barg als ihnen lieb war.
Als Marie an diesem Tag durch den Wald ging, um ein wenig Feuerholz zu sammeln, spürte sie, dass irgendetwas anders war. Die Gnome ließen sich nicht blicken, sie erspähte nicht eine einzige, dunkelrote Zipfelmütze im Dickicht unter den Wurzeln. Es war ungewöhnlich still. Sogar die wenigen Vögel, die über den Winter geblieben waren, waren verstummt. Vielleicht lag es an der dicken Schneedecke, die den Waldboden bedeckte. Vielleicht schluckte der Schnee die Geräusche. Doch Marie fühlte tief in ihrem Inneren, dass das nicht alles war. Der ganze Wald schien den Atem anzuhalten.
Und dann sah sie ihn. Den Jungen im Schnee. Den Jungen, der gleichzeitig ein Fuchs war.
Sie blinzelte, rieb sich heftig über die Augen, doch das Bild, das sich ihren ungläubigen Augen bot, blieb dasselbe. Ein Fuchs, der sich seines Felles entledigte. Ein Fuchs, der sich in einen Jungen verwandelte. Eine Gestalt, die zu flackern schien, ehe sie endgültig die Form eines Jungen annahm.
Einen Moment erstarrte sie erschrocken, die Hand vor den Mund gepresst. Einen Moment dachte sie, er sei tot, so reglos lag er dort im Schnee, so bleich war seine Haut.
Doch dann zuckte seine rechte Hand und ballte sich langsam zur Faust. Etwas, das wie ein leises Wimmern klang, drang aus seinem geöffneten Mund und hinterließ eine kleine weiße Atemwolke.
Er sah so klein aus, wie er dort im Schnee lag. So klein und verloren und so jung. Er hatte sich zusammengerollt, als suche er Schutz. Als versuche er, die wenige Wärme, die noch in ihm war, zu halten. Hastig schälte sich Marie aus ihrem dicken Wintermantel und legte ihn um die Schultern des Jungen. Am liebsten hätte sie ihn aufgehoben und nach Hause getragen und ihn vor das offene Feuer in der Küche gelegt. Aber sie war nicht stark genug, und auch wenn er so zerbrechlich aussah, wusste sie doch, dass er zu schwer für sie sein würde.
Es war nicht richtig, dass er so völlig nackt und hilflos dort lag. Es war nicht richtig, dass er fror. Und als sie noch versuchte, ihn mit dem Kleidungsstück zuzudecken, da öffnete er die Augen.
Jeder andere wäre wahrscheinlich vor ihnen zurückgezuckt. Vor diesen Augen, die gleichzeitig jung und uralt waren. Sie wollten nicht so recht zu seinem Körper passen, diese Augen. Die Farbe allein war so ungewöhnlich. Eine seltsame Mischung aus gold und hellbraun, und die Pupillen – die Pupillen waren ganz leicht oval. Wie die einer Katze. Oder die eine Fuchses...
Und dann schlossen sich die Augen wieder. Der Junge bebte vor Kälte. Sein Lippen waren blau. Marie wusste, dass ihm die Zeit davonlief.
Sie konnte nicht länger mit ansehen, wie er so zitterte. Wie er so zitterte und bebte und sich selbst umschlungen hielt. Kurz entschlossen beugte sie sich zu ihm hinunter.
„Kannst du aufstehen?“, murmelte sie ihm leise zu, um ihn nicht zu erschrecken. Der Junge antwortete nicht. Das Zittern wurde ein wenig schwächer. Marie konnte sich erinnern, wie sie einmal mit ihrem Vater durch den kalten Winterwald gegangen war. Sie waren in dicke Felle gehüllt gewesen, und trotzdem war es bitterkalt gewesen. Sie war so müde gewesen, dass ihr immer wieder die Augen zugefallen waren. Damals hatte Vater ihr eingeschärft, dass man nicht einschlafen durfte, wenn es so kalt war. Dass der Körper irgendwann Kälte nicht mehr von Wärme unterscheiden konnte, und dass man im Schnee erfror, ohne es zu bemerken. Er hatte ihr auch erklärt, dass man irgendwann aufhörte zu zittern. Weil es zuviel Kraft kostete. Und darum wusste sie, dass jetzt Eile geboten war. Sie würde diesem seltsamen, fremden Jungen nicht hier erfrieren lassen.
Kurz entschlossen fasste sie ihn unter den Achseln und begann, ihn vorsichtig durch den Schnee in Richtung ihrer Hütte zu ziehen. Der Junge wimmerte leise, und der Laut fuhr durch sie hindurch und berührte irgendetwas in ihrem Inneren, das lange geschlafen hatte. Es tat ihr leid, und sie wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, ihm das hier zu ersparen. Wenigstens hatte er ihren Mantel, der seine bloße Haut ein wenig vor der kalten Schneedecke schützte.
Ihren viel zu weiten Mantel, der einmal ihrem Vater gehört hatte. In einem anderen Leben war das gewesen.
Der Junge rührte sich nicht, als sie ihn auf die Felle vor dem Kamin legte und ein Feuer entzündete. Sie hätte ihn für tot gehalten, hätte sie nicht gesehen, wie sich sein Brustkorb ganz leicht hob und senkte. Marie suchte eine der dicken Winterdecken aus der Truhe unter dem Fenster heraus und deckte ihn damit zu, und dann legte sie seinen Kopf vorsichtig auf eines der mit Stroh gefüllten Kissen. Er fing wieder an zu zittern, aber sie nahm das als gutes Zeichen. Er hatte noch die Kraft, sich selbst zu wärmen.
Lange saß sie so neben ihm und bewachte seinen Schlaf. Lange saß sie dort neben ihm vor dem Kamin und beobachtete den blonden Schopf auf dem dunklen Stoff des Kissens, die bleichen Wangen, die Lippen, die von der Kälte aufgesprungen und rissig waren. Wie lange hatte er wohl dort im Schnee gelegen? Wie lange war es her, dass er zuletzt ein Mensch gewesen war?
Sie fragte sich, ob er sich wohl wieder verwandeln würde, und was sie tun würde, wenn er wieder zum Fuchs wurde. Ob sie überhaupt etwas tun konnte. Füchse waren scheue Tiere.
Und dann, nach einer langen Weile, regte er sich. Es war kein langsames Erwachen. Er blinzelte nicht, er reckte sich nicht. Von einem Moment auf den nächsten sprangen seine Augen auf. Sie erschrak beinahe über den klaren, wachen Blick, der sie traf. Reflexartig sprang er auf. Sein Haltung war wachsam, jeder Muskel seines Körpers angespannt. Misstrauisch erfassten seine Augen den kärglich eingerichteten Innenraum der Hütte, ehe sie zu ihr zurückkehrten.
„Was ist geschehen?“
Seine Stimme wollte nicht so recht zu ihm passen. Sie klang so tief und so ernst und erwachsen. Als hätte er schon zu viel gesehen, um noch an das Gute in der Welt zu glauben.
„Ich habe dich im Wald gefunden. Du lagst im Schnee und hast dich nicht gerührt. Ich hatte Angst, dass du dort draußen erfrierst, wenn es erst Nacht wird. Deswegen habe ich dich mitgenommen“, erklärte Marie und versuchte, nicht in diese seltsamen, goldenen Augen zu sehen. Sie verwirrten sie und machten ihr ein klein wenig Angst. Sie waren so anders. Sie sahen zu viel.
Der Junge schwieg lange. Er hüllte sich in die Decke wie in einen Mantel. Es schien ihn nicht zu stören, dass er keine Kleider trug. Es war, als sei er es gewohnt, ohne Kleider zu sein. Er sah sie an, und sie sah in die Flammen, die im Kamin vor sich hin knisterten. Es war eine beinahe friedliche Stille. Es war irgendwie schöner, gemeinsam zu schweigen.
„Wessen Behausung ist das hier?“, fragte er irgendwann. Er hatte sich auf eines der Felle neben sie gesetzt. So als habe er entschieden, ihr zu vertrauen.
„Die meine.“
„Du wohnst allein?“
„Ja.“
Diesmal war das Schweigen ungläubig und erfüllt von vielen Gedanken. Sie wusste, dass es seltsam erscheinen musste, dass sie hier ganz alleine war. Dass es niemanden mehr gab, der für sie sorgte. Es war ungewöhnlich, dass sie überlebt hatte. Vielleicht hatte sie das auch nicht. Manchmal war sie sich nicht sicher, ob sie nicht vielleicht doch nur ein Geist war. Der Geist eines Mädchens, das vergessen hatte, dass es gestorben war. Doch als sie ihn aus dem Schnee gezogen hatte, als sie seine kühle Haut auf der ihren gespürt hatte, da war sie sich das erste Mal seit langer Zeit wieder sicher gewesen, dass sie lebte. Er hatte sich so wirklich angefühlt.
Das Knistern des Feuers füllte die Stille. Irgendwann drehte sie sich doch zu ihm um. Um sich zu vergewissern, dass sie ihn nicht nur geträumt hatte. Dass er wirklich da war.
Sie hatte sich geirrt. Er saß nicht neben ihr am Feuer. Er lag dort, auf dem dunklen Fell, in sich zusammengerollt, und sein Haar war nicht mehr hell, sondern rot wir das eines Fuchses. Und seine Augen – seine Augen waren die eines Fuchses. Wie hatte sie jemals Menschenaugen in seinem Gesicht sehen können? Diese Augen hatten nichts mit denen eines Menschen gemein. Es gefiel ihr, irgendwie. Sie waren unschuldig, diese Augen. Ohne Berechnung. Sie lebten. Das war mehr, als sie von ihren eigenen Augen behaupten konnte.
„Wer bist du?“, fragte Marie.
Der Junge, der mehr war als nur ein Junge, setzte sich überrascht auf. Sein Haar war wieder blond. Hatten ihr die flackernden Flammen einen Streich gespielt? Sie glaubte nicht daran.
„Hast du keine Angst vor mir?“
„Warum sollte ich Angst vor dir haben?“ Sie hatte schon lange keine Angst mehr. Wovor sollte sie sich fürchten? Es gab niemanden mehr, den sie verlieren konnte.
„Ich bin anders als die anderen. Ich bin kein normaler Junge. Ich verwandle mich in einen Fuchs.“
„Ich bin auch anders als die anderen. Ich bin alleine hier. Ich sehe Dinge, die sonst keiner sieht. Und ich mag Füchse.“
Da lächelte der Junge. Seine Augen veränderten sich, als er so lächelte. Sie wurden ein wenig heller, menschenähnlicher.
„Warum warst du ein Fuchs? Vorhin?“
„Warum bist du ein Mädchen? Ich weiß es nicht. Aber es ist einfacher, ein Fuchs zu sein.“
Und in diesem Moment sah sie es. Sie sah die Dunkelheit hinter dem hellen Gelb seiner Augen, sie sah sie, weil eine ähnliche Dunkelheit in ihr wohnte. Sicher war es einfacher, ein Tier zu sein. Ein Tier, das nichts von Vergangenheit und Zukunft wusste. Tiere konnten im Jetzt leben. Sie beneidete ihn, diesen seltsamen Jungen, der neben ihr auf den Fellen saß und wieder ins Feuer sah.
„Das tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich getan habe, damit du jetzt ein Mensch bist.“
„Nein, jetzt stört es mich nicht. Hier ist es anders. Hier...bei dir...“
Seine Stimme war jetzt leise. Leise und fast ein wenig unsicher. Als sei er es nicht gewohnt, unter Menschen zu sein. Zu sprechen. Zu denken. Sie fragte sich, wie lange er wohl ein Fuchs gewesen war. Ob er überhaupt noch wusste, wer er davor gewesen war.
„Du bist das“, sagte sie ebenso leise. Sie war es auch nicht gewohnt, ihre eigene Stimme zu hören. Sie war es nicht gewohnt, am Feuer zu sitzen und nicht alleine zu sein. „Du bist das, der alles anders macht. Seit du hier bist, ist die Stille weniger schwer. Sie fühlt sich irgendwie leichter an. Alles ist irgendwie...leichter.“
Wahrscheinlich hielt er sie jetzt für verrückt. Wahrscheinlich ergaben ihre Worte keinerlei Sinn für ihn. Sie erwartete diesen Blick, den Blick, an den sie schon so gewöhnt war, dass er kaum mehr schmerzte. Sie erwartete, dass er sie ansah, als sei sie etwas Widernatürliches. Eine Laune der Natur, die es eigentlich nicht geben durfte. Ein Gespenst. Ein Geist. Eine Fee aus der Märchenwelt, die sich verirrt hatte. Eine Absonderlichkeit, die man in ihrer Hütte im Wald vergessen hatte. Die man vergessen wollte.
Doch er sah sie anders an. Er sah sie an, als würde er sie sehen. Als wollte er sie sehen.
„Du hast keine Angst“, stellte er irgendwann überrascht fest. „Du siehst mich, nicht das Ungeheuer.“ Das Gold seiner Augen war warm im Flammenschein. Er hatte auch keine Angst vor ihr. Das machte ihn so besonders.
„Du bist nicht mehr Ungeheuer, als ich eines bin. Und du hast mir immer noch nicht verraten, wie du heißt.“
„Luka.“
„Ich bin Marie. Schön, dich kennenzulernen.“
„Gleichfalls.“
Und da lächelte er. Es war ein zögerndes Lächeln, das seinen Mund nur streifte. Aber sie las es in seinen Augen. Und ihr wurde warm, als sie es sah. Zum ersten Mal seit vielen Jahren wollte sie ebenfalls lächeln. Ihre Lippen hatten verlernt, zu lächeln. Aber sie hoffte, dass sie es wieder lernen konnten. Irgendwann. Wenn er blieb.
Sie verstanden sich gut, der Junge, der manchmal ein Fuchs war, und das Mädchen, das Dinge sah, die sonst niemand sah. Sie erzählte ihm von den Gnomen, die unter den Wurzeln der Bäume lebten, und er erzählte ihr davon, wie es war, ein Fuchs zu sein, durch den Wald zu streifen, frei zu sein und nur das Jetzt zu kennen, kein Vorher und kein Später. Nur das Jetzt und die Waldluft um ihn herum und der Gesang der Vögel über ihm und der weiche, moosige Boden unter seinen Pfoten.
Wenn er kein Fuchs war, half er ihr, Feuerholz zu hacken oder Beeren zu sammeln, und manchmal fing er ein wenig Wild, einen Hasen oder einen Fasan oder ein Eichhörnchen, das in einer seiner Fallen gelandet war.
Doch er war und blieb seltsam stumm. Manchmal saßen sie bis spät in die Nacht hinein vor dem Feuer und starrten in die Flammen, ohne dass ein Wort zwischen ihnen fiel. Marie spürte, dass es das war, was er brauchte. Die Stille. Er war sie gewohnt. Vielleicht hatte dort, wo er herkam, niemand mit ihm gesprochen. Oft fragte sie sich, wo er wohl herkam. Wie es kam, dass er so leicht in das Leben mit ihr hineingefunden hatte. Wie es kam, dass er nichts und niemanden zu vermissen schien. Fast kam es ihr vor, als sei er in dem Moment, in dem sie ihn gefunden hatte, in dieses Leben hier hineingeboren worden. Als hätte er niemals etwas anderes gekannt. Als habe er keine Vergangenheit. Aber er musste eine haben. Jeder hatte eine Vergangenheit. Und eines Tages, als die Nacht besonders dunkel war und sie die Stille nicht länger ertragen konnte, eines Tages fragte sie ihn dann doch.
„Woher kommst du, Luka? Gibt es niemanden, der dich vermisst?“
Von einem Moment zum nächsten wurde es kälter. Eine Kälte, die aus seinem Inneren kam. Sein Gesicht, zuvor ruhig und entspannt, schien einzufrieren. Doch das Schlimmste waren seine Augen. Sie waren auf einmal so hart. So hart und kalt und fremd.
„Nein“, antwortete er steif. „Nein, da ist niemand mehr. Ich weiß nicht, ob da jemals jemand war. Wenn, dann ist es lange her. Sehr lange.“
Sie spürte, dass da mehr war. Sehr viel mehr. Schmerzhaftes. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn darauf anzusprechen. Vielleicht war es zu früh gewesen.
Und so erzählte sie ihm statt dessen von ihrer Vergangenheit. Wie sie hier in dieser Hütte mit ihren Eltern gelebt hatte. Wie ihre Mutter ein zweites Kind bekommen hatte. Wie die Hebamme aus dem Dorf gekommen war und besorgt die Stirn gerunzelt hatte, dass das Kind sich so lange Zeit ließ. Wie die Schreie ihrer Mutter bis in den Wald hinein geklungen waren. Wie sie sich die Ohren zugehalten und sich unter dem Tisch versteckt hatte. Wie bleich das Gesicht ihres Vaters gewesen war. Wie er neben ihrer Mutter gesessen und ihre Hand gehalten hatte, obwohl ihn die alte Frau hatte wegschicken wollen, weil das Frauenarbeit sei, wie sie sagte.
Wie die Schreie ihrer Mutter immer schwächer und immer leiser geworden waren, bis sie keine Kraft mehr gehabt hatte. Bis sie nur noch leise gewimmert hatte.
Das Kind war tot geboren worden. Es war ein kleiner Junge gewesen, so klein, dass sich Marie nicht vorstellen konnte, wie er hätte leben können. Sie hatten ihn unter der großen Tanne hinter dem Haus begraben, in den Armen seiner Mutter.
Marie weinte, als sie davon erzählte. Sie weinte, weil es immer noch wehtat. Luka räusperte sich leise. Nie zuvor hatte sie diesen Ausdruck in seinen Augen gesehen. Er wirkte irgendwie sehr unsicher.
„Marie“, murmelte er. „Es tut mir so leid. Sag mir...sag mir, was ich tun soll. Wie ich dir helfen kann.“
„Kannst du mich...würdest du mich in den Arm nehmen?“
Er sah sie mit großen Augen an. Da war noch mehr Unsicherheit in seinen Augen, aber keine Ablehnung. Dann öffnete er zögernd seine Arme.
Es war so lange her, seit sie das letzte Mal gehalten worden war. Damals, unter der Tanne, hatte Vater sie umarmt. Doch das war lange her. Und irgendwie war es anders, von Luka gehalten zu werden.
„Mache ich das richtig?“, fragte er irgendwann leise. Sein Atem war warm in ihrem Haar. Eine Hand strich vorsichtig über ihren Rücken. So vorsichtig, als habe er Angst, sie zu zerbrechen. Als habe er Angst, irgendetwas falsch zu machen. Und in dem Moment begriff Marie, dass ihm das vollkommen fremd war. Vielleicht war er nie in den Arm genommen worden. Vielleicht war er nie zuvor einem anderen Menschen so nahe gewesen.
Sie kuschelte sich noch ein wenig enger an ihn. Vergrub ihr Gesicht im warmen Stoff seines Hemdes und versuchte, genau hier zu sein, im Jetzt. Nie zuvor hatte sie sich so geborgen gefühlt.
„Ja. Du machst das genau richtig.“
Er fragte nicht nach ihrem Vater. Er fragte nicht, wie lange es her war, wie lange sie schon alleine gewesen war, bevor er gekommen war. Er fragte nicht, warum sie hier draußen im Wald gelebt hatten, so fern von anderen Menschen. Er hielt sie einfach nur, und das war genug.
„Ich war wie du“, murmelte er irgendwann in ihr Haar hinein. „Ich war allein. Es gibt einen Grund, weswegen ich ein Fuchs geworden bin. Es war einfacher. Es war...besser. Ich konnte vergessen, wenn ich ein Fuchs war. Ich wollte vergessen.“
Sie wollte noch mehr fragen. So viel mehr. Die Worte brannten ihr auf der Zunge, und es war sehr schwer, sie nicht auszusprechen. Aber sie wusste auch, dass es besser war, manche Dinge nicht auszusprechen. Weil es zu sehr weh tat. Und so fragte sie nicht, und er sagte nichts weiter, und sie dachte sich, dass er darüber reden würde, wenn er dazu bereit war. Wenn er jemals dazu bereit war.
Es dauerte lange, aber Marie war geübt in Geduld.
Und eines Tages, als sie nach einem langen Marsch durch den Wald vor dem prasselnden Feuer in der Küche saßen, in ein Nest aus dicken Wolldecken eingehüllt, da erzählte er das erste Mal von seiner Vergangenheit. Von dem Davor.
Davor.
Davor war Luka ein normaler Junge gewesen. Sein Vater hatte im Bergwerk gearbeitet. An seine Mutter konnte er sich nicht mehr erinnern. Sie war gestorben, als er noch klein gewesen war. So klein, dass es nicht weh tat, daran zu denken. Es gab andere Dinge, die weh taten. Die neue Frau, die eingezogen war, und die Art, wie sie Luka nicht zu sehen schien. Das hatte weh getan. Die Schläge mit dem Lederriemen, die sie ihm verpasste, wenn sie unzufrieden damit war, wie er die Bettlaken zum Trocknen aufgehangen hatte, oder weil nicht genug Salz im Essen war (obwohl nie genug Salz im Haus war). Die hatten auch wehgetan.
Marie hörte nur zu. Sie hörte zu und dachte, dass er sehr allein gewesen war. Dass er vielleicht einsamer gewesen war als sie, nachdem ihre Eltern gestorben waren. Denn irgendwie war es schlimmer, einsam zu sein, wenn man mit anderen Menschen zusammen lebte. Wenn man sah, was sein könnte, aber nie sein würde.
„Irgendwann hatte ich einfach genug“, flüsterte er mit einer Stimme, die so leblos war, dass es sich anhörte, als würde er vom Grund eines Grabes sprechen. Maries Arme überzogen sich mit Gänsehaut.
„Ich wollte nur noch...fort. Es war mir egal, wo dieses Fort war. Es war mir egal, was mit mir geschah, so lange ich dieses Haus, diese Menschen nie wieder sehen musste. Und so schlich ich mich in der Nacht davon. Ich ging in Richtung Wald, weil ich dachte, dass man mich dort nicht finden würde. Obgleich ich wusste, dass niemand nach mir suchen würde. Wer sollte mich vermissen? Wen würde es kümmern, wenn ich fort war?
Es war kalt, dort im Wald. Ich weiß noch, dass ein wenig Schnee fiel, und ich sah den Flocken zu, wie sie durch die Luft tanzten. Es sah so leicht aus, wie sie fielen. So schwerelos. So schön. Ich ging so lange in den Wald hinein, bis ich zu müde war, um weiterzugehen. Und dann...und dann habe ich mich einfach in den Schnee gelegt und darauf gewartet, zu sterben. Ich weiß noch, dass ich in den dunklen Himmel gesehen habe, und den Schneeflocken dabei zugesehen habe, wie sie langsam herunterschwebten. Wie sie sich auf meine Kleider legten. Irgendwann bin ich dann eingeschlafen. Und als ich aufwachte, war ich nicht mehr ich, sondern der Fuchs.“
Sie sah es vor sich. Sie sah es vor sich, während er ihr davon erzählte. Und dann sah sie ihn an, wie er neben ihr saß und ins Feuer starrte und dieses Geschichte erzählte, mit einer Stimme, die wie das Innere eines Grabes klang. Wie er all das erzählen konnte, ohne dass sich etwas in seinem Gesicht rührte. Es tat weh, dass er all das erzählen konnte, ohne zu weinen. Vielleicht war das der Grund, warum ihre Augen auf einmal seltsam feucht waren.
Erst viel später verstand sie, dass es einfacher war, um einen anderen zu weinen, als um sich selbst.
Der Frühling wurde zum Sommer, der Sommer zum Herbst. Die Welt um die Holzhütte wandelte sich und blieb doch die gleiche. Die Blätter sprossen aus dem Waldboden, färbten sich bunt und fielen kurz vor dem ersten Frost. Der Winter kam schleichend, jede Nacht war ein wenig kälter. Trotzdem war Marie überrascht, als sie eines Morgens aus dem Fenster sah und die Welt im endlosen Weiß versank.
Es war Winter geworden. Es war Winter geworden, und Luka war immer noch da.
Natürlich hatte sie gewusst, dass es kalt werden würde. Sie hatten vorgesorgt, hatten Vorräte angelegt, Holz gesammelt, das Haus auf die kalte Jahreszeit vorbereitet. Und doch war sie überrascht, wie schnell die Zeit verstrichen war. Die Nächte waren nicht mehr so endlos wie früher. Sie saß nicht mehr allein vor den Flammen, gefangen im ewigen Kreis ihrer Gedanken. Wenn sie schwiegen, taten sie es zu zweit, und in letzter Zeit hatten sie immer weniger geschwiegen und immer mehr miteinander gesprochen. Sie hatte Luka von ihrem Vater erzählt, wie er eines Tages in den Wald gegangen und nicht mehr zurückgekommen war. Wie sie seinen Spuren gefolgt war, die sich im Wasser des Sees verloren hatten. Sie war nicht mehr am See gewesen seit jenem Tag. Sie glaubte, seine Augen darin zu sehen, die vom tiefen Grund aus zu ihr aufblickten, sie lockten, sie zu ihm riefen.
Auch an diesem Abend hatte Luka sie gehalten. Er wurde immer besser darin.
Luka lebte mehr im Jetzt. Vielleicht, weil er nicht immer ein Mensch war. Luka erzählte, was er im Wald gesehen hatte. Welche Tiere er entdeckt hatte. Welchen Spuren er gefolgt war. Wie das Lied der Vögel von der Weite des Himmels und der Welt hinter dem Wald erzählt hatte. Er sprach selten vom Davor. Vielleicht war er noch nicht soweit. Vielleicht war es nicht nötig.
Lächelnd schnürte Marie die dünnen Holzbohlen unter ihre Schuhe, die ihr helfen würden, durch den Schnee zu gehen. Irgendwie spürte sie, dass er heute zu ihr zurückkommen würde. Er mochte die Kälte nicht, selbst als Fuchs nicht. Er würde instinktiv die Wärme des Feuers suchen. Sie wollte ein wenig durch die Winterwelt gehen, nach den Fallen sehen, die Luka gestellt hatte, und die letzten Beeren von den Brombeersträuchern pflücken.
Sie war noch nicht lange unterwegs, als ihr auffiel, wie still es war. Selbst die Vögel waren verstummt. Etwas war anders. Etwas war im Wald.
Und dann sah sie ihn. Den toten Fuchs, der vor ihm im Schnee lag. Er lag dort, wo ein Jahr zuvor Luka gelegen hatte. War das wirklich erst ein Jahr her? Er gehörte inzwischen so sehr zu ihrem Leben hier, gehörte so sehr zu der Blockhütte im Wald wie sie selbst, und sie konnte sich nicht mehr vorstellen, ohne ihn zu leben. Der Fuchs lag genau dort, wo Luka gelegen hatte, aber sein Atem bildete keine Wölkchen mehr, und er regte sich nicht, und seine Augen blieben geschlossen. Er war als Fuchs gestorben, und Marie hätte nicht sagen können, ob er wirklich nur ein Fuchs gewesen war, oder ob er sich nicht manchmal auch in einen Menschen verwandelt hatte...
„Nein!“, flüsterte Marie. Das Weiß um sie herum schwankte, oder war sie das?
„Oh, nein, bitte nicht!“
Und dann waren da zwei Arme, die sie auffingen, und warmer Atem an ihrem Ohr. Sie kannte diese Arme.
„Luka...“
„Ich weiß, Marie. Ich weiß.“
Lange standen sie so im Schnee vor dem kalten Körper des fremden Fuchses, der Luka hätte sein können. Lange standen sie so da, dicht aneinandergedrängt, und versicherten sich gegenseitig, dass sie einander nicht verloren hatten. Das erste Mal war sich Marie nicht sicher, ob er sich nicht auch an ihr festhielt.
„Hast du ihn...gekannt?“, fragte sie ihn leise, als sie wieder vor dem Feuer saßen.
„Nein. Ich kenne niemanden, wenn ich ein Fuchs bin. Ich kann keine Erinnerungen mit mir nehmen, wenn ich...mich verwandle. Aber...“
Aber es hätte sein können. Es hätte der Fuchs sein können, der ihn zu dem gemacht hatte, der er war. Es hätte Luka sein können. Luka, der dort tot vor ihr im Schnee lag.
Es war das erste Mal, dass Marie ihn weinen sah. Lautlose, zögernde Tränen, die irgendwie schlimmer waren, als wenn er lauthals geschluchzt hätte. Es tat weh, ihn weinen zu sehen. Auch wenn sie wusste, dass es richtig war, dass er weinte. Dass es gut war. Dass es bedeutete, dass er fühlte. Dass er zuließ, zu fühlen. Dass er den Schmerz zuließ. Sie rückte ein wenig näher an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. Irgendwie spürte sie, dass sie ihn jetzt berühren musste. Dass er spüren musste, dass er nicht alleine war, und nicht länger einsam. Dass sie da war. Dass er nicht egal war. Dass es jemanden gab, der ihn suchen würde, wenn er sich verirrte. Dass es jemanden gab, der um ihn weinen würde, der ihn vermissen würde, wenn er eines Tages nicht mehr aus dem Wald zurückkam. Und auf einmal lag sein Kopf auf ihrem Bauch, und sie fuhr ihm durch das helle, halblange Haar. Wie weich es war. Wie warm.
Wie lebendig.
Sie war so froh, dass er nicht gestorben war. Dass er irgendwie den Weg zu ihr gefunden hatte. Dass er nicht mehr der kleine, traurige Junge sein musste, der so alleine war, dass es wehtat, daran zu denken.
Das Leben war nicht perfekt. Immer wieder verwandelte sich Luka in den Fuchs, und Marie fürchtete jedes Mal, er würde nicht zu ihr zurückkehren. Der Wald war voller Gefahren, und Füchse waren nicht die größten und auch nicht die gefährlichsten Raubtiere, die durch das Unterholz schlichen. Er konnte einem Bären begegnen. Er konnte einem Jäger vor die Flinte laufen. Es war möglich, dass er sich weit von hier entfernt verwandelte. Es war möglich, dass er vergaß, dass es irgendwo am Rande des Waldes Marie gab, die auf ihn wartete.
Aber er vergaß nicht. Und er kam jedes Mal wieder zu ihr zurück. Er konnte nicht anders. Sie war ein Teil von ihm geworden, und er ein Teil von ihr.
Und keiner von beiden war mehr alleine.
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Beinahe widerwillig löste ich mich von den geschwungenen, sorgfältig gezogenen Buchstaben. Tauchte auf aus der Märchenwelt, die keine Märchenwelt mehr war.
„Sie ist anders. Sie ist anders, die Geschichte. Du hast sie verändert.“
Sie war anders. Sie hatte eine Tiefe, die zuvor nicht dagewesen war. Wo ich zuvor die Traurigkeit nur erahnt hatte, war sie nun an die Oberfläche getreten. Wo ich zuvor die Schatten hinter Lukas Augen nur vermutet hatte, hatten sie nun Gestalt gewonnen.
Die Geschichte war düster geworden, hinter der weißen, reinen Schicht des Schnees, der auf der Märchenwelt lag.
„Wir haben uns verändert“, war seine einzige Antwort.
Flo lächelte. Es war ein echtes Lächeln, aber es war irgendwie traurig. Er brauchte mir nicht zu erklären, warum er die Geschichte aufgeschrieben hatte. Ich verstand auch so. Wir waren nicht länger die Kinder, die gemeinsam Weihnachten feierten. Wir waren erwachsen geworden. Wir sahen. Wir sahen so viel mehr als noch vor ein paar Jahren. Und das Sehen hatte uns verändert. Aber er wollte trotzdem nicht, dass wir vergaßen. Dass wir vergaßen, was gewesen war. Wer wir gewesen waren.
Er wusste, wie viel mir die Erinnerungen bedeuteten. Er wollte, dass ich mich erinnerte. Denn das hier – das hier war vielleicht unser letztes, gemeinsames Weihnachten.
Und dann lagen seine Arme um meine Schultern, und seine Wärme umgab mich. Ich schloss die Augen und vergrub mein Gesicht in seinem Pullover, atmete seinen Duft ein und versuchte mit aller Macht, den Moment festzuhalten. Ich wollte nie vergessen, wie es sich anfühlte, bei ihm zu sein. Zu spüren, wie sein Atem durch mein Haar strich. Wie sicher ich mich bei ihm fühlte. Ich war nicht alleine, wenn er bei mir war. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sein mochte, ohne ihn zu sein. Ich wollte es mir nicht vorstellen.
21. Wirklichkeit
Florian
Ich weiß nicht, wie lange wir so im Wohnzimmer vor den brennenden Kerzen saßen und einfach nur die Stille und den Frieden genossen. Niemals hatte ich mir so sehr gewünscht, einfach die Zeit anhalten zu können und ewig in diesem Augenblick zu leben. Ria war so warm in meinen Armen. So warm und so wirklich, so lebendig. Beinahe wie von selbst legte sich meine Wange auf ihren Kopf, und ich vergrub meine Nase in ihrem weichen, warmen Haar. Sie roch so vertraut. So sehr nach Ria und Zuhause und Geborgenheit, dass sich irgendetwas in meinem Inneren zusammenschnürte. Unwillkürlich schlossen sich meine Arme noch ein wenig fester um sie. Wenn ich nur selbst glauben könnte, dass ich stark genug war, sie bei mir zu behalten. Für immer mit ihr zusammen zu sein. Aber die Steine, die uns immer wieder in den Weg gelegt wurden, waren einfach zu groß. Irgendwann würden wir getrennt werden. Ich konnte nicht darauf hoffen, dass wir immer so viel Glück haben würden wie jetzt. Irgendwann würde irgendjemand misstrauisch werden. Es war verboten, mit ihr zusammen zu sein. Auch wenn das das einzige war, das meinem Leben irgendeinen Sinn gab. Bei ihr zu sein.
Als hätte sie dieselben Gedanken gehabt, kuschelte sich Ria noch ein wenig näher an mich heran, so dass sie nun beinahe auf meinem Schoß saß, die Beine angewinkelt, den Kopf an meiner Schulter vergraben.
„Oh, Flo“, seufzte sie leise. Ihre Hand fand irgendwie den Weg in meinen Nacken und strich sanft durch meine Haare. Ein leiser Schauer rieselte meinen Rücken hinab. Oh Gott, was sie mit der leisesten Berührung mit mir anstellen konnte...
„Was ist?“, flüsterte ich in ihr Haar hinein.
„Können wir für immer hier bleiben? Nur wir beide?“
Ich seufzte. Meine Hände strichen sanft über ihren Rücken, durch das weiche, dunkle Haar.
„Glaub mir, Krümel, wenn ich die Zeit anhalten könnte...nichts würde ich lieber tun.“
„Ich hab dich so lieb, Flo.“
Da war dieser Kloß in meinem Hals. Mühsam schluckte ich daran vorbei. Ich drückte einen Kuss auf ihr Haar, und fühlte, wie sie leicht in meinen Armen erzitterte. Es war nicht kalt. Es war auf einmal sogar sehr warm im Wohnzimmer.
„Ich dich auch. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr.“
„Flo...“
Sie löste sich ein wenig von mir, und ich ließ sie nur sehr widerwillig gehen. Doch sie wollte gar nicht fort. Blaue Augen blickten suchend in die meinen. Das Zittern ging auf mich über, als ich die Frage dort las.
Ich wusste, dass es gefährlich war. Aber verdammt, wir waren zu Hause, und Patrick würde noch ein wenig auf sich warten lassen. Und ich wollte es. Ich wollte es so sehr.
Ganz langsam kam sie näher. Die Hand, die noch immer in meinem Nacken lag, zog mich zu ihr herunter. Sie war nicht sehr stark, aber irgendwie doch stark genug.
Ich stöhnte leise, als sich unsere Lippen trafen. Heiße und kalte Wellen schlugen über mir zusammen, rissen mich mit sich fort. Weich. Ihre Lippen waren so weich unter meinen. So weich und warm, und sie schmeckten nach Ria...
Meine Hände ballten sich in ihren Haaren zu Fäusten, zogen sie noch fester an mich heran. Näher. Sie konnte nicht nahe genug sein. Auf einmal saß sie auf meinem Schoß. Heiß. Mir war so heiß. Sie wimmerte in meinem Mund. Der leise Laut löste einen Sturm in meinem Inneren aus, aber er brachte mich auch wieder zur Besinnung. Mühsam riss ich mich von ihr los und lehnte meine Stirn an die ihre. Es dauerte lange, bis sich mein Atem wieder beruhigt hatte.
Ria löste vorsichtig die Hände aus meinen Haaren. Ich atmete zischend ein, als sie sich auf meinem Schoss bewegte, und versuchte, ein wenig von ihr abzurücken. Sie sah mich überrascht an und setzte sich wieder neben mich. Es tat fast weh, dass da wieder dieser Abstand zwischen uns war. Aber es war besser so.
„Hab ich dir wehgetan? Das tut mir leid...“, murmelte Ria mit gesenktem Kopf.
Heiße Röte schoss mir ins Gesicht. „Nein, es geht mir gut. Es ist nur...“
„Was?“
Ihre Augen waren so blau. So fragend. So unbedarft. Hatte sie wirklich keine Ahnung, was sie in mir auslösen konnte?
Ich räusperte mich verlegen und wandte den Blick ab. Meine Wangen standen jetzt in Flammen. „Nichts“, flüsterte ich.
Ich sah sie nicht an, aber ich spürte den Blick, der auf mir ruhte. Sie musterte mich lange. Und dann schien sie irgendwie zu begreifen. Vielleicht lag es daran, dass ich noch immer ein wenig verkrampft auf der Couch saß.
„Oh. Oh! Das...entschuldige, ich wollte nicht...“
Ich vergrub das Gesicht in den Händen. „Es tut mir leid.“
„Nein, Flo. Nein. Ich...“ Sie rutschte wieder näher, ich spürte, wie sich die Couch unter mir ein wenig senkte. Und dann waren da ihre Hände, die die meinen sanft umfassten, sie von meinen Augen fortzogen.
„Das ist in Ordnung, Flo. Wirklich. Du...du hast auch eine gewisse Wirkung auf mich, weißt du?“ Ein leises Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Dann hat es dir also gefallen?“
„Oh, Ria!“, seufzte ich. „Wie kannst du daran zweifeln? War das nicht eindeutig? Natürlich hat es mir...gefallen...“
Da war es wieder. Dieses strahlende Lächeln, für das ich alles gegeben hätte. Wie von selbst hoben sich meine Mundwinkel ebenfalls. Ria lehnte den Kopf an meine Schulter und kuschelte sich wieder an mich, und mein Arm fand irgendwie den Weg um ihre Schulter.
Gemeinsam betrachteten wir die Kerzen, die langsam zu immer kleineren Stummeln herabbrannten.
Es sollten die letzten wirklich friedlichen Momente für lange Zeit sein. Etwas in der Art hatte ich geahnt, deswegen hatten wir beschlossen, Weihnachten einen Tag früher zu feiern. Ich hatte gedacht, ich wüsste ungefähr, was auf uns zukam. Ich hatte gedacht, zumindest im Ansatz vorbereitet zu sein. Wie sehr ich mich doch irrte.
Vielleicht war es ganz einfach so, dass man sich auf gewissen Geschehnisse einfach nicht vorbereiten kann. Vielleicht war da dieser letzte Rest in mir, der nach wie vor an das Gute im Menschen glaubte, obwohl ich doch allen Grund gehabt hätte, diese Hoffnung schon vor langer Zeit für immer zu begraben. Heute habe ich mich damit abgefunden, dass es schlichtweg Menschen gibt, in denen nicht ein Fünkchen Güte oder Mitgefühl zu finden ist. Damals wollte ich das noch nicht glauben.
Aber ich konnte die Zeit nicht anhalten. Ganz im Gegenteil, sie schien sogar noch sehr viel schneller zu vergehen als sonst. Die Zeiger meiner Armbanduhr schienen ein Wettrennen zu veranstalten, und ich konnte es kaum glauben, als ich nach einer kleinen Weile feststellen musste, dass unsere Zeit fast abgelaufen war.
„Krümel, ich sollte jetzt kochen. Patrick kommt bald nach Hause...“
Ria drückte mich noch ein wenig fester, ehe sie sich zögernd von mir löste und resigniert nickte.
„Ja, ich weiß“, seufzte sie.
Langsam standen wir auf, Ria schaltete das Licht an, und wir blinzelten beide wie zwei Eulen, die aus einem tiefen Schlaf erwacht sind. Dann beugte sich Ria über die vier Kerzen und pustete sie aus. Der Rauch hing wie eine dunkle Wolke über dem Wohnzimmertisch.
Sie packte die Stummel nicht zurück in die Schublade, in der wir seit Jahren immer unsere Weihnachtskerzen aufbewahrt hatten. Sie wickelte sie sorgfältig in Zeitungspapier und nahm sie dann mit in ihr Zimmer. Ich musste nicht fragen, warum sie das tat. Ich verstand auch so.
***
Ich nahm gerade den großen Topf aus dem Schrank, als hinter mir die Küchentüre geöffnet wurde. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen wandte ich mich um. Das Lächeln gefror, als ich erkannte, wer da den Raum betreten hatte.
„Hallo, Mutter“, begrüßte ich sie steif.
Sie nickte mir nur kurz zu und ließ sich dann schwer auf ihren Stuhl fallen. Ich wusste nicht, was sie von mir wollte, doch sie schien damit zufrieden, mir bei der Arbeit zuzusehen. Sie sah müde aus. Müde und alt. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, und die Falten um ihren Mund herum waren noch tiefer geworden. Ihre ganze Haltung drückte Resignation aus. Erst da fiel mir auf, dass ich sie nicht mehr hatte lachen sehen, seit Patrick eingezogen war. Überhaupt verzog sie kaum noch eine Miene, wenn wir gemeinsam am Tisch saßen. Fast so, als nähme sie die Welt um sie herum gar nicht mehr richtig wahr. Sie mischte sich nie in die spärlichen Unterhaltungen ein und verschwand wieder in ihrem Zimmer, sobald sie ihren Teller geleert hatte.
Es war lange her, dass ich mit ihr alleine in einem Raum gewesen war. Normalerweise verkroch sie sich in ihrem Zimmer, so lange Patrick nicht zu Hause war. Nicht, dass es mich gestört hätte. Unser Verhältnis war noch nie einfach gewesen, doch seit sie mir ins Gesicht geschleudert hatte, dass sie mich nie gewollt hatte, seither hatte ich versucht, einen weiten Bogen um sie zu machen. Es tat immer noch weh. Und was mich fast am Meisten daran störte, war, dass ich sie nicht hassen konnte. Ich wollte sie hassen. Ich wollte sie dafür hassen, dass sie Ria und mich so oft im Stich gelassen hatte, dass sie Patrick angeschleppt hatte, der alles nur noch schwieriger machte. Ich wollte sie dafür hassen, dass sie uns nie wirklich geliebt hatte, nicht so, wie andere Mütter ihre Kinder liebten. Aber ich konnte es nicht.
Ein Teil von mir konnte verstehen, warum sie getan hatte, was sie getan hatte. Vielleicht konnte sie uns auch einfach deswegen nicht lieben, weil sie unsere Väter nicht geliebt hatte. Sie war auch im Stich gelassen worden. Sie war oft alleine gewesen. Es gab niemanden, der uns geholfen hatte. Vielleicht hatte sie sich verlassen gefühlt. Ja, manchmal konnte ich sie fast verstehen.
Aber ich hatte Ria auch nie im Stich gelassen. Ich war immer für sie dagewesen, wenn sie mich gebraucht hatte, und umgekehrt war es genauso gewesen. Wenn zwei Kinder das fertigbringen, sollte ein Erwachsener nicht ebenso dazu in der Lage sein?
„Es tut mir leid, Florian.“
Überrascht fuhr ich zu ihr herum, den Kochlöffel noch in der Hand. Soße tropfte heiß über meinen Handrücken, aber das nahm ich nur am Rande wahr. Was hatte sie da soeben gesagt?
„Was tut dir leid?“, brachte ich irgendwann heraus, mit einer Stimme, die so gar nicht wie die meine klang.
„Dass ich das so gesagt habe. Dass ich es dir nicht besser erklären kann. Ich...ich war sehr jung, damals. Ich wollte nur ein wenig mehr Zeit für mich. Ich wollte frei sein. Und du...du kamst so völlig überraschend. Ich...ich denke, ich war noch nicht bereit, eine Mutter zu sein.
Aber ich habe dich nicht nur deswegen bekommen, weil ich kein Geld für die Abtreibung hatte. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ein Leben zu nehmen. Immerhin konntest du nichts für meine Fehler.“
Ich räusperte mich und wandte den Blick ab. Ich konnte sie jetzt nicht ansehen. Ich musste das erst einmal verdauen.
Nein, sie hatte verdammt recht. Ich konnte nichts für ihre Fehler. Wir konnten nichts für ihre Fehler. Und trotzdem hatten wir wieder und wieder darunter gelitten. Warum? Nur weil diese Frau nicht erwachsen werden konnte? Und sollte ich mich jetzt besser fühlen, wenn ich wusste, dass sie mich nicht umgebracht hatte, weil sie es nicht übers Herz gebracht hatte?
„Warum sagst du mir das jetzt? Warum gerade heute? Warum...“
„Ich weiß es nicht. Irgendwie...hatte ich das Gefühl, dass es heute sein muss. Und ich wollte dir nicht auch noch Weihnachten verderben.“
Mühsam schluckte ich eine Erwiderung hinunter. Sie hatte es doch schon verdorben! Patrick würde bald hier sein! Wir würden den ganzen Tag mit ihm hier eingesperrt sein, ich musste irgendein Festmahl auf den Tisch zaubern, und dann würden wir eine Weile lang heile Familie spielen, obwohl doch alle genau wussten, dass wir davon weit entfernt waren. Und wenn wir Glück hatten, würde er sein bohrenden Blicke und seine grapschenden Hände bei sich behalten.
Aber ich sagte nichts. Ich sagte nichts, weil ich wusste, dass es keinen Sinn hatte. Sie würde es nicht verstehen. Es würde sein, als versuchte ich, gegen eine Wand zu reden. Sie wollte es nicht wahrhaben, so, wie sie so vieles nicht wahrhaben wollte. Patrick sagte ihr, was sie zu tun und zu lassen, ja ich vermutete sogar, dass er ihr sagte, was sie zu denken hatte, und das war einfacher. Seit Patrick da war, war so vieles für sie einfacher.
Sie sah mich lange an, mit einem Blick, den ich nicht recht deuten konnte. Erwartete sie eine Antwort, eine Absolution? Dazu war ich nicht in der Lage.
Schließlich nickte sie müde und legte den Kopf auf die verschränkten Arme.
„Oh Gott, ich brauch jetzt einen Schluck. Florian, wo sind die Bierflaschen?“
Dort, wo sie immer waren. In der hintersten Ecke der Speisekammer. Sie waren abgezählt. Ich wusste genau, was uns blühte, wenn Patrick herausfand, dass eine fehlte.
„Florian, bitte. Ich hab mich schon entschuldigt, was willst du denn noch? Ich war eben nie dazu geboren, Mutter zu werden. Und ich hab es auch nicht sonderlich gut hinbekommen. Aber ich bin trotz allem deine Mutter! Kannst du nicht einmal...kannst du nicht einmal versuchen, ein bisschen entgegegenkommender zu sein?“ Ihre Stimme klang auf einmal so anders. So schmeichelnd und so...süßlich. Als spräche sie mit einem Kleinkind. Etwas in meinem Inneren verhärtete sich. Ich kannte diesen Tonfall. Sie schlug ihn immer an, wenn sie etwas wollte. Und die Fassade hielt nie lange an, wenn sie feststellte, dass sie so nicht ans Ziel kommen würde.
Und tatsächlich. Als ich keinerlei Anstalten machte, ihrem Wunsch nachzukommen, stand sie langsam auf und ging auf die Speisekammer zu. Ich sah, wie ihre Hände zitterten. Aber ihre Augen...ihre Augen waren das Schlimmste. Sie waren so...kalt. So kalt und so leer. Vollkommen auf ihr Ziel fixiert.
Jetzt kam ich doch in Bewegung. Mit einem langen Schritt zur Seite trat ich vor die Speisekammertür.
„Florian!“ Ich zuckte zusammen, als ihre Faust mit einem lauten, durchdringenden Knall auf dem Holz knapp neben meinem Kopf landete. „Florian, verdammt! Lass mich durch!“
Ich hielt den Kochlöffel noch immer fest umklammert und atmete langsam und tief ein und aus. Die Worte brodelten kurz unter der Oberfläche. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn nicht in diesem Moment die Küchentüre erneut aufgegangen wäre.
Tiefe, blaue Augen trafen auf meine. Ria sah so besorgt aus, als sie die Szene in der Küche erfasste. Mit drei großen Schritten war sie bei mir. Sie fasste Mutter, die inzwischen weinerlich vor sich hin murmelte, wieder zum Tisch zurück und redete beruhigend auf sie ein. Dann war sie auf einmal wieder bei mir. Vorsichtig wand sie den Kochlöffel aus meiner Hand und wischte dann sanft die Soße von meinem Handrücken. Ihre Finger waren so weich auf meiner Haut. So weich und warm. Für einen Moment sahen wir uns stumm an. Da war so viel Wärme in ihren Augen. So viel Verständnis. So viel Sorge.
„Flo, ist alles in Ordnung?“, flüsterte sie mir leise zu, als sie sich dem Herd zuwandte und sich um das Essen kümmerte, das ich vollkommen vergessen hatte.
„Ja. Es geht schon, Krümel. Später.“ Ich erstickte beinahe an den Worten.
„Hol ihr das Bier. Sie wird vorher keine Ruhe geben, das weißt du. Wenn Patrick sie so sieht, wird alles nur noch schlimmer. Na mach schon. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“
Ich konnte mich noch immer nicht rühren. Ich fürchtete, mich aufzulösen, wenn ich auch nur einen Schritt tat. Mühsam hielt ich mich zusammen. Selten hatte ich mich so zerbrechlich gefühlt. So verloren.
Kein Ton kam über meine Lippen, aber Ria schien trotzdem zu spüren, dass etwas nicht in Ordnung war. Ein letztes Mal rührte sie mit dem Kochlöffel durch die Soße, dann drehte sie sich wieder zu mir um. Ihre Augen huschten zu Mutter hinüber, doch die war inzwischen wieder in ihrer eigenen Welt versunken. Den Kopf auf den verschränkten Armen ruhend, wartete sie auf ihr Bier. Alles andere war ihr egal. Sie würdigte uns keines Blickes.
„Hey, Flo. Hey, sieh mich an.“
Auf einmal war Ria so nah. So nah, dass ihre Stirn an der meinen lag. Ihr Atem strich warm über mein Gesicht. Süß und so vertraut. Zuhause. Ria roch nach Zuhause.
„Es ist schon gut. Du weißt, wie sie ist. Sie ist es nicht wert, Flo. Sie hat dich nicht verdient.“
Fast wie von selbst schlossen sich meine Arme um sie, und ich legte den Kopf auf ihre Schulter. Erlaubte mir für einen kurzen Moment, schwach zu sein. Irgendwie fiel es so viel leichter, zu atmen, wenn ich sie so spüren konnte. Alles wurde leichter. Die Frau, die dort am Tisch saß, wurde zu einer fernen Erinnerung. Unbedeutend. Das hier, das hier war alles, das zählte.
„Schsch“, murmelte Ria an meinem Ohr.
„Oh, Ria, ich...“
„Ich weiß. Ich weiß. Und jetzt geh. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“
Es war so schwer, mich von ihr loszureißen. Aber es war notwendig. Ich seufzte und wünschte mir, das Essen schon hinter mir zu haben. Warum konnten wir nicht einen einzigen Tag Frieden haben? Es war so schön gewesen, mit Ria Weihnachten zu feiern. Warum hatten wir nicht wenigstens diesen einen, einzigen Tag für uns haben können?
Schweigend stellte ich die Bierflasche vor Mutter auf den Tisch. Dann half ich Ria dabei, das Essen zu verteilen. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass Patrick jetzt jederzeit durch die Tür treten konnte. Und Mutter hatte innerhalb weniger Augenblicke bereits die halbe Flasche geleert. Beinahe andächtig fuhren ihre Finger über das Etikett, als sie kurz absetzte, um Luft zu holen. Da war er wieder, dieser verklärte, glückliche Blick, der mir stets Übelkeit verursachte. Solange genug Alkohol da war, war für Mutter die Welt in Ordnung. Manchmal fragte ich mich, warum Patrick so dagegen war, dass sie trank. Es war so viel einfacher, mit ihr umzugehen, wenn sie mit dem Zeug ruhiggestellt worden war.
Aber vielleicht genoss er auch die Macht, die er damit über sie hatte.
„Mutter“, zischte Ria, während sie die abgegossenen Nudeln auf den Tisch stellte. „Mutter, beeil dich, verdammt noch mal! Er kann jeden Augenblick hier sein!“
Mutter zuckte zusammen und hätte beinahe den Rest der Flasche verschüttet. Ria verdrehte nur die Augen.
„Jetzt mach schon!“, raunte sie, und endlich schien die Gefahr zu Mutter durchzudringen. Mit einem beinahe ängstlichen Blick in Richtung Türe kippte sie das Bier voll hinunter und verschwand dann in der Speisekammer.
Durch die halboffene Türe drang gedämpftes Klirren. Mutter fluchte. Ria seufzte schwer.
„Ich seh nach ihr. Richtest du das Essen hin?“
Ich nickte nur. „Viel Glück“, murmelte ich, und für einen kurzen Moment huschte so etwas wie ein schwaches Lächeln über ihr Gesicht.
Wir schafften es gerade noch rechtzeitig. Ria hatte Mutter eben wieder auf ihren Stuhl geholfen, da hörten wir auch schon, wie sich der Schlüssel in der Wohnungstüre drehte.
Ich hoffte nur, die Frau würde schlau genug sein, den Mund zu halten. Normalerweise hatte sie eine hohe Alkoholtoleranz, aber sie hatte das Zeug verdammt schnell heruntergekippt, und das, wie ich vermutete, auch noch auf nüchternen Magen. Außerdem bestand immer die Gefahr, dass er etwas roch. Bier hatte, im Gegensatz zu Wodka oder Schnaps, einen markanten, säuerlichen Eigengeruch.
„Verdammter Schnee“, murrte Patrick, als er zur Tür hereinpolterte. „Das glaubt man einfach nicht, bekommen die von der Stadt das nicht einmal hin, die Straßen freizuräumen! Und wenn sie dann doch mal mit dem Schneeschieber durchfahren, haben die auch keine Augen im Kopf! Heute musste ich den Wagen aus dem Schnee ausbuddeln, den so ein blöder Heini aufgetürmt hat!“
Ich verteilte schweigend die Nudeln auf den Tellern, während er noch vor sich hin wetterte. Eigentlich konnten wir froh sein, dass sich seine Wut heute anderweitig konzentrierte. Aber ich wähnte uns noch lange nicht in Sicherheit. Der angestaute Zorn konnte sich auch ganz schnell anderweitig verlagern.
Und tatsächlich, kaum hatte er das Essen auf dem Teller, traf mich einer dieser lauernder, stahlblauen Blicke.
„Schon wieder Nudeln?“, knurrte er. Ich nickte. Zu mehr war einfach keine Zeit geblieben. Aber für den Augenblick schien Patrick zu hungrig zu sein, um sich weiter zu beschweren. Eine ungemütliche Stille senkte sich über den Tisch, während wir schweigend aßen.
Unter dem Tisch griff Ria mit ihrer Hand nach der meinen und drückte sie sanft. Wärme schoss durch mich hindurch. Wärme, die sich in meinem ganzen Körper ausbreitete. Ich warf ihr einen dankbaren Blick zu, und sie lächelte nur. Lächelte dieses Lächeln, für das ich alles getan hätte. Sie war mein Lichtblick. In einer Welt voller Dunkelheit war sie mein gleißender Lichtstrahl der Hoffnung.
„Ich hoffe, du hast dir für morgen etwas Besseres einfallen lassen als so eine Pampe“, meinte Patrick, während er den Teller von sich schob und lautstark rülpste.
Ich verkniff mir jeden Kommentar. Wir hatten eingekauft, ich und Ria. Es würde Rindsrouladen mit Kartoffelklößen und Rotkraut geben. Patrick wusste das. Er hatte sogar darauf bestanden, dass wir die Kartoffelklöße selbst machten, so, wie es seine verstorbene Mutter immer getan hatte. Aber ich sagte nichts. Ich wusste, wann es Sinn machte, ihm zu widersprechen, und wann nicht. Heute war ein solcher Tag, an dem man ihm wohl nichts recht machen konnte. Diese Tage wurden immer häufiger, und das war es, was mir solche Sorgen machte. Er wurde immer unberechenbarer, und die Blicke, die er Ria zuwarf...
Auch jetzt fixierte er sie wieder mit diesem lauernden Ausdruck in den Augen, und auch wenn sie den Kopf gesenkt hatte und mit Bedacht ihre Nudeln auf die Gabel rollte, wusste ich doch, dass sie es einfach spüren musste, wie er sie anstarrte. Sogar mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinab. Unter dem Tisch griff ich vorsichtig nach ihrem Knie und drückte es sanft.
Hinter gesenkten Wimpern warf sie mir einen kurzen, dankbaren Blick zu. Ich glaubte, zu sehen, wie sich ihre Schultern ein klein wenig senkten.
Ich wünschte so sehr, ich könnte sie von all dem hier fortholen. Sie an einen Ort bringen, an dem sie sicher vor ihm war. Aber das hier war auch unser einziges Zuhause. Wenn wir fortgingen, wären wir völlig uns selbst überlassen. Und ich wusste, dass es so gut wie unmöglich sein würde, weiter zur Schule zu gehen und zugleich genug Geld zu verdienen, dass wir beide davon leben konnten.
Und dann war da natürlich noch das Problem, dass Ria noch nicht volljährig war. Mutter war noch immer die einzige Sorgeberechtigte. Wir waren von ihr abhänging, in gewisser Weise.
„Ich hätte gern einen Teller mehr“, schnitt Patricks tiefe Stimme durch meine Gedanken. Ich unterdrückte eine Seufzen und hielt meinen Gesichtsausdruck sorgsam neutral. Doch als ich aufstand, um den Topf vom Herd zu holen, winkte er ab.
„Nein, bleib sitzen. Lass das mal die Kleine machen, die kann ruhig auch mal in der Küche helfen.“
Ich warf Ria einen besorgten Blick zu. Unsere Hände trafen sich kurz unter dem Tisch, und sich strich beruhigend über ihren Handrücken. Ich bin da, versuchte ich ihr mit der Berührung zu vermitteln. Du bist nicht alleine. Aber seit dem letzten Vorfall wussten wir beide, dass das vielleicht nicht ausreichen würde. Der Mann war stark, stärker als ich. Unsere einzige Hoffnung lag in unserer Schnelligkeit, und dann waren da noch die Riegel, von denen er nichts wusste. Es waren fünf Schritte bis zur Tür.
Anders als Mutter ließ Patrick uns beide nicht aus den Augen. So als wüsste er genau, dass ich mich jederzeit schützend vor Ria werfen würde, wenn nichts anderes mehr half. Er sah viel. Viel zu viel.
Ich war mir sicher, dass er auch sah, wie Rias Schultern ganz leicht bebten, als sie vom Tisch aufstand und zum Herd hinüberging. Sie hatte Angst. Natürlich hatte sie Angst, ich konnte sie so gut verstehen. Ich hatte auch Angst. Aber Menschen wie Patrick lebten von dieser Angst. Ich hoffte, dass es für heute genug wäre. Dass er sich für heute damit begnügen würde, seine Macht zu genießen.
Vielleicht wäre es genug gewesen. Wenn nicht ausgerechnet heute der Topf auf der falschen Herdplatte gestanden hätte. Sie dachte wohl, er stünde noch auf der heißen Platte, damit die Nudeln warm blieben. Normalerweise ließ ich ihn immer dort stehen. Aber heute war mir das irgendwie entgangen. Und Ria musste für diesen einen, kleinen Fehler zahlen.
Es geschah alles so schnell, und doch kam es mir so vor, als hätte ich unendlich viel Zeit, einzugreifen. Es zu verhindern. Aber meine Stimme wollte mir nicht gehorchen, mein Körper war viel zu träge. Ich wollte noch eine Warnung schreien, als ich sah, wie sie sich mit der rechten Hand auf der vorderen Platte abstützte. Doch da war es schon zu spät. Es zischte ganz leise, Ria fuhr zurück und barg wimmernd die verletzte Hand an ihrer Brust. Der Laut ging mir durch und durch. Schon war ich aufgesprungen, da traf mich ein warnender Blick aus Patricks Richtung.
Ich kannte es. Ich kannte dieses gefährliche Blitzen in seinen Augen. Ich hatte es zuvor schon einmal gesehen. Damals, als Frank...
Ein eisiger Schauer rann meinen Rücken hinab. Bitte nicht. Bitte nicht heute.
„Komm her, lass mich das ansehen“, forderte Patrick meine Schwester mit dieser ruhigen Stimme auf, die ich mehr als alles andere fürchtete. Ich setzte mich langsam auf die äußerste Kante meines Stuhls. Mein Blick huschte zwischen Patrick und Ria hin und her, während ich innerlich abwägte, welches Risiko größer war. Es zerriss mich fast, sie leiden zu sehen, aber ich wusste auch, dass ich alles nur noch schlimmer machen würde, wenn ich jetzt eingriff. Vielleicht hatten wir Glück. Vielleicht machte er sich wirklich nur Sorgen.
„Es geht schon“, wagte Ria vorsichtig einzuwenden, und da wusste ich, dass sie es auch gesehen hatte. Dass sie den Blick wiedererkannt hatte. Ihre Stimme zitterte ganz leicht.
„Komm!“
Sie zuckte zusammen und trat dann vorsichtig vom Herd zurück. Ganz langsam streckte sie ihm ihre Hand entgegen, so zaghaft, wie sie sich einem tollwütigen Tier nähern würde.
Zu meiner großen Erleichterung untersuchte er die Wunde tatsächlich.
„Florian, hol den Verbandskasten“, wieß er mich dann an, ohne von Rias Hand aufzusehen. Es widerstrebte mir, sie mit ihm alleine zu lassen, und wenn auch nur für einen Moment. Aber er schien damit beschäftigt zu sein, die unversehrte Haut um die Wunde herum abzutasten. Für den Moment sah ich ihn nicht als Gefahr.
Nie war ich so schnell ins Bad gerannt und wieder zurück. Wortlos reichte ich Patrick den kleinen Verbandskoffer, der noch von Oma stammte. Die Binden waren sicherlich schon seit Jahren abgelaufen, aber es war besser als nichts.
Patrick verarztete Rias Hand routiniert und sorgsam. Ich fragte mich kurz, woher er sich so gut mit Verbänden und Wunden auskannte, aber die möglichen Antworten, die ich darauf fand, gefielen mir nicht. Dennoch war ich froh, dass Rias Verletzung versorgt war.
Die Erleichterung war jedoch kurz. Denn er ließ Rias Hand nicht wieder los, nachdem er den Verband angelegt hatte. Statt dessen begann er, sie näher zu sich zu ziehen. Ria versuchte, sich geschickt aus seinem Griff zu winden, aber er war einfach zu kräftig. Ich sah, wie sich die Muskeln in seinen Unterarmen anspannten, als sich seine Hand noch fester um die ihre schloss. Mit der anderen Hand strich er beinahe sanft über die zarte Haut ihres Handgelenkes. Sie wanderte immer höher, diese Hand, schob den Ärmel ihres Pullovers nach oben. Ria zitterte.
„Bitte“, flüsterte sie. Sie klang so jung und so hilflos.
Patrick grinste nur.
Meine Selbstbeherrschung zerbröckelte. Ganz langsam ballten sich die Hände an meinen Seiten zu Fäusten. Das war genug.
Doch dann geschah etwas, mit dem keiner von uns gerechnet hatte.
„Lass sie in Ruhe!“, kam es leise, aber entschlossen von der anderen Seite des Tisches.
Drei Köpfe fuhren überrascht zu Mutter herum. Ich hatte fast vergessen, dass sie auch im Raum war. Sie war sehr still gewesen. Und das war auch wohl besser so. Selbst ich hörte, wie schleppend ihre Stimme klang.
Patrick zog überrascht die Augenbrauen hoch. Der stahlharte Blick fixierte sich jetzt auf Mutter.
„Du hast getrunken“, stellte er mit beinahe sanfter Stimme fest. Er wandte sich von Ria ab, die sich augenblicklich in meine Arme flüchtete. Ich beeilte mich, den Verbandskoffer auf dem Tisch abzustellen, und zog sie dann fest an mich. Sie zitterte am ganzen Körper.
Auf einmal war ich so unendlich froh, dass ich nicht auf meinen Platz zurückgegangen war, sondern mit dem Verbandskoffer hinter Patrick stehen geblieben war. So war der Weg zur Tür frei. Unser Fluchtweg führte nicht an Patrick dabei. Wir hatten eine Chance. Wenn wir schnell genug waren.
„Es tut mir leid“, flüsterte Mutter. Patricks Hand schlug mit einem lauten Klatschen auf den Tisch. Wir fuhren alle erschrocken zusammen, und ich warf Ria einen alarmierten Blick zu.
„Kannst du nicht einmal auf mich hören, Frau? Herrgott, warum bin ich nur immer von solchen Idioten umgeben!“
„Es tut mir leid“, versuchte es Mutter ein zweites Mal. Sie klang so hilflos, dass ich beinahe Mitleid mit ihr hatte. Mit weit aufgerissenen Augen sahen wir dabei zu, wie Patrick über den Tisch griff, seine breite Pranke in ihrem Haar vergrub, ihren Kopf zur Seite drückte und ihr eine schallende Ohrfeige verpasste. Mir wurde übel.
Etwas war anders. Da war so viel Rohheit in der Art, wie er sie ansah. So viel unterdrückte Gewalt, die ein Ventil suchte. Für den Moment hatte er uns vergessen. Für den Moment. Vielleicht würde er sich bald daran erinnern, dass wir dabeigewesen waren, als Mutter den Alkohol gefunden hatte. Vielleicht würde er auf die Idee kommen, dass es auch unsere Schuld war. Ich wollte nicht abwarten, bis es zu spät war. Jetzt war unsere Chance. Jetzt, wo er noch zu sehr in seinem Zorn auf Mutter gefangen war.
„Komm“, flüsterte ich Ria ins Ohr. „Lass uns verschwinden!“
„Aber Mutter...“
„Die hat sich das selbst eingebrockt. Verdammt, Ria, sie hat das auch getan, um dich zu schützen!“
Ihr Blick huschte von mir zu Mutter und wieder zurück. Sie war hin und hergerissen, aber ich sah auch die nackte Angst in ihren Augen. Sie spürte, dass das hier mehr war. Dass das hier gefährlich war. Und vor allem anderem wollte sie leben. Genauso wie ich.
Ganz langsam wandten wir uns ab. Ganz langsam schlichen wir in Richtung Tür.
Die wenigen Schritte waren mir noch nie so lange vorgekommen. Doch dann hatten wir sie erreicht.
„Du weißt, dass ich es nicht leiden kann, wenn du säufst!“, drang Patricks Gebrüll hinter uns durch die offene Küchentüre. Wieder klatschte es. Ich mühte mich, nicht daran zu denken, was folgen würde. Nur das Jetzt zählte. Ich musste Ria in Sicherheit bringen. Ich musste uns in Sicherheit bringen.
Ich griff nach ihrer Hand und zog sie hinter mir her, durch den kalten Flur und in die Sicherheit meines Zimmers. Mit einem leisen Poltern rastete der Riegel ein. Schwer atmend sahen wir uns in die Augen. Ria begann wieder zu zittern. Sie zitterte so sehr, dass ich Angst hatte, sie würde fallen. Ohne ein weiteres Wort nahm ich sie in die Arme. Sie wirkte so klein, als ich sie so an mich drückte. So klein und so zart und so zerbrechlich. Auf einmal wurden auch meine Knie weich. Langsam ließ ich mich mit dem Rücken gegen die Türe sinken. Der Eisenstab war kalt in meinem Nacken, aber das störte mich nicht. Irgendwie hielt mich die Kälte und die unbequeme Haltung im Hier und Jetzt. Es war wichtig, dass ich im Hier und Jetzt blieb. Ich musste einen klaren Kopf bewahren. Zu viel stand auf dem Spiel. Erst ganz allmählich wurde mir bewusst, was da soeben geschehen war. Was es bedeutete.
„Oh Gott, Flo, was...was machen wir nur?“, murmelte Ria in meinen Pullover hinein. Sie drückte sich so fest an mich, dass ich kaum noch Luft bekam. Ich verstand sie so gut. Wir mussten uns einfach spüren, uns vergewissern, dass der andere da war. Dass wir nicht alleine waren. Dass nichts passiert war. Dass wir in Sicherheit waren – für den Moment.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“
„Was macht er wohl mit ihr? Was macht er wohl jetzt mir ihr? Flo, wir müssen irgendetwas tun!“
„Und was? Wie sollen wir ihr jetzt helfen? Sollen wir die Polizei rufen?“
„Aber wir müssen...wir müssen ihr helfen!“
„Wenn wir die Türe hier aufmachen...weißt du, was wir dann riskieren? Wenn wir die Türe hier aufmachen, und er hat beschlossen, dass er vorerst mir ihr fertig ist und jetzt mir dir weitermachen will...“
„Sie ist unsere Mutter, Flo!“
„Ja, und sie ist selbst schuld, verdammt! Sie hat den Kerl hier angeschleppt! Ihretwegen müssen wir uns mit ihm herumschlagen!“
„Sie hat mich gerettet. Heute hat sie mich gerettet...“
Ria sah zu Boden. Lange standen wir so vor der Tür. Irgendwann hob sie den Kopf. Ihre Augen – ihre Augen waren auf einmal uralt.
„Sie hat mich heute gerettet...aber dich hat sie nicht gerettet...damals...“
Frank. Ich wollte nicht daran denken. Da war diese Dunkelheit in mir, an der ich nur sehr ungerne rührte. Jetzt war nicht die Zeit dafür. Manche Dinge wurde am Besten für immer vergessen. Auch wenn mir das nie so wirklich gelungen war.
„Das ist schon so lange her.“
„Ich hab es trotzdem nie vergessen. Wie könnte ich?“
Diese kalten, kalten Augen. Diese beinahe vergnügte Blitzen in ihnen. Ich wollte nicht daran denken.
„Ria, bitte. Nicht jetzt. Bitte, nicht jetzt!“
„Warum hat sie dich nie gemocht?“
„Ich weiß es nicht“, murmelte ich erschöpft. Wie oft hatte ich mir diese Frage schon selbst gestellt. „Vielleicht lag es an meinem Vater. Wer weiß, wie ich entstanden bin.“
Zeitgleich fuhren unsere Köpfe in Richtung der Tür. Ich wollte mir nicht vorstellen, was in diesem Moment am anderen Ende des Flurs geschah. Ich wollte es mir nicht vorstellen, aber mir wurde trotzdem übel. Ria war kreidebleich geworden.
„Wir können hier nicht bleiben.“
„Nein“, flüsterte ich. Aber wenn wir nicht hier bleiben konnten – wo sollten wir dann hin? Es gab niemanden mehr, der uns helfen konnte. Wir waren auf uns gestellt.
Auf einmal hatte ich Angst. Den ganzen Abend lang hatte ich sie unterdrückt, hatte versucht, sie beiseite zu schieben. Immer wieder hatte ich versucht, mir einzureden, dass schon wieder alles in Ordnung kommen würde, dass wir das irgendwie hinbekommen würden.
Aber das hier – das hier konnte ich einfach nicht ignorieren. Ria hatte recht. Wir konnten nicht hierbleiben.
Schon lange hatte ich mich nicht mehr so klein gefühlt. So hilflos und verloren. Noch nie hatte ich mir so gewünscht, einfach aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Dass Oma nicht gestorben war. Dass Patrick nicht eingezogen war.
Ich war der Ältere. Ich musste stark sein, schon Rias wegen. Ich musste einen Ausweg für uns beide finden. Sie vertraute darauf. Sie vertraute auf mich. So, wie sie es schon immer getan hatte.
„Flo. Hey, Flo, was hast du denn?“
Warme Hände legten sich an meine Wangen, und als ich die Augen öffnete, war sie so nahe. So nahe, dass sich unsere Stirnen beinahe berührten. So nahe, dass ihre Augen nur noch ein großer, verschwommener blauer Fleck waren. Ich atmete langsam aus.
„Ich weiß einfach nicht...ich weiß nicht mehr weiter, Ria!“, gestand ich ihr nach einer gefühlten Ewigkeit. Meine Stimme klang so anderes. So...zittrig und heiser.
„Ich weiß nicht...ich weiß einfach nicht, was wir tun sollen.“
Sie atmete tief ein. Dann trat sie einen Schritt zurück, griff nach meinen Händen und zog mich zum Bett hinüber. Sie setzte sich so dicht neben mich, dass ich sie mit jedem Atemzug spüren konnte. Ihre Hände umfassten nach wie vor die meinen. Auf einmal sah sie so viel älter aus.
„Wir gehen fort“, meinte sie dann mit fester Stimme. „Wir packen das Nötigste zusammen und gehen fort und blicken nie wieder zurück.“
Wie oft hatte ich dieses Szenario in Gedanken schon durchgespielt. Es waren immer die gleichen Fragen, die offen blieben.
„Und dann, Ria? Was machen wir, wenn wir auf der Straße stehen? Wo gehen wir hin?“
„Wir suchen uns eine Wohnung.“
„Das wird nicht so einfach sein. Wer wird uns beiden eine Wohnung vermieten? Wir sind beide noch minderjährig, verdammt, wir dürfen noch nicht einmal einen Mietvertrag unterschreiben. Wir haben kein festes, geregeltes Einkommen. Weißt du, wie teuer eine Wohnung ist? Hast du die Rechnungen gesehen, die hier jeden Monat ins Haus flattern?“
Eine steile Falte bildete sich auf Rias Stirn.
„Aber es muss doch eine Möglichkeit geben!“
Die gab es. Auch wenn sie uns beiden nicht gefiel.
„Wir müssen versuchen, so lang wie möglich hier zu bleiben“, brachte ich schließlich heraus. „Ich weiß, dass das schwer ist. Und glaub mir, ich würde alles dafür geben, dich nie wieder auch nur in die Nähe dieses Monsters lassen zu müssen. Aber...wir sollten warten, Ria. Wenn wir eine Chance haben wollen...dann müssen wir warten, so lange es geht. Es irgendwie ertragen. Und wenn ich dann Ende Januar volljährig bin – dann können wir versuchen, zu fliehen. Mit dem Geld, das wir bis dahin gespart haben, kommen wir vielleicht zurecht.“
Am anderen Ende des Flures knallte eine Tür. Wir fuhren beide zusammen und wechselten einen verzweifelten Blick.
„Ich kann das nicht“, murmelte sie und sah zu Boden. „Ich kann das nicht, Flo.“
„Doch, du kannst das. Du bist stark, Ria. Das warst du schon immer. Du kannst das.“
„Wenn ich dich habe...vielleicht...“
„Ich bin bei dir. Immer. Egal, was geschieht. Und wenn...wenn es nicht mehr geht...dann rennen wir einfach davon. Zum Teufel mit der Wohnung. Und wenn ich im tiefsten Winter mit dir unter einer Brücke schlafen muss...“
„Versprochen? Versprochen, dass du da bist? Dass...wir das irgendwie hinbekommen?“
Ich legte meine Hände an ihre Wangen und sah ihr ernst in die Augen.
„Versprochen.“
22. Ein letzter Blick
Anna-Maria
Das Weihnachtsfest war schrecklich. Angespannt und voller Angst, und ich konnte den Blick nicht von Mutters Auge nehmen. Diesem Auge, das so zugeschwollen war, dass sie kaum etwas damit sehen konnte. Ich brauchte nicht zu fragen, woher es stammte oder wer dafür verantwortlich war. Vielleicht war es gut, dass sie überhaupt mit uns am Tisch saß. Vielleicht sollte ich froh sein, dass es nur ein blaues Auge war – obwohl ich nicht wissen wollte, was sonst noch vorgefallen war, hinter der geschlossenen Türe. Aber sie war hier, und sie saß mit uns am Tisch. Vielleicht war sie mir doch nicht so egal, wie ich mir immer hatte einreden wollen.
Anscheinend war es genug gewesen. Denn Patrick ließ mich in Ruhe, einmal abgesehen von den lauernden Blicken, die mir noch immer kalte Schauer den Rücken hinabjagten. Er ließ mich in Ruhe, und Flo war da und hielt unter dem Tisch meine Hand. Alles in allem war es nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte.
Ich hätte es mehr zu schätzen wissen sollen. Es gab Schlimmeres. Aber man sieht immer nur das, was man direkt vor Augen hat, und das, was man hätte haben können. Warum erkennen wir oft erst im Nachhinein, wie viel man doch hatte? Warum erkannte ich erst so viel später, wie viel schlimmer diese Tage hätten sein können, und wie froh ich doch sein konnte, dass ich so viel hatte? Denn ich war nicht alleine. Ich hatte Flo, und wir hatten ein Dach über dem Kopf und genug zu Essen. Warum war ich nicht dankbarer dafür?
***
Dunkelheit umgab mich. Da war eine Hand auf meinem Mund. Eine andere Hand an meinem Hals, die mir die Luft abschnitt. Ich schlug wie wild um mich, doch die Hand drückte nur noch fester zu. Ich warf meinen Kopf hin und her, und die Hand auf meinem Mund verrutschte ein wenig. Nur ein wenig, aber es war genug, um meine Schneidezähne in einen der Finger zu graben. Und ich biss zu, so fest ich konnte. Es war ein merkwürdig ekeliges Gefühl, als die Haut unter meinen Zähnen nachgab, und dann füllte eine warme, metallische Flüssigkeit meinen Mund. Blut. Ich spuckte und würgte, und die Hand wurde mit einem gezischten Fluch zurückgezogen.
„Dummes Mädchen!“, knurrte eine Stimme, und diese Stimme kannte ich. Nur zu gut.
„Patrick?“ Nur mit Mühe brachte ich die Worte heraus. Mein Hals schmerzte, auch wenn ich wieder Luft bekam.
Und dann verschwand die Dunkelheit – oder vielleicht war es auch gar nicht dunkel gewesen. Vielleicht hatte mir nur irgendetwas die Sicht versperrt. Was es auch war, es war mir egal. Ich sah wieder, und was ich sah, ließ mich wünschen, für immer in der Dunkelheit leben zu können. Dann hätte ich nicht sehen müssen, was ich nie wieder vergessen würde.
Flo. Da war Flo. Er lag neben mir, und im ersten Moment war ich froh, dass er bei mir war, wo immer ich auch war. Dass ich nicht alleine war mit dem, was da geschah. Nach diesem ersten Moment hasste ich mich für diesen Gedanken. Wo immer ich war, es war nicht sicher. Wo immer ich war, ich schwebte in Gefahr, und er mit mir, wenn er bei mir war. Es war also nicht gut, dass er da war. Er sollte nicht hier sein.
Und nachdem dieser Moment verstrichen war, erkannte ich es erst. Dass er zu still war. Dass er sich nicht bewegte. Nicht einmal sein Brustkorb hob sich mit seinen Atemzügen. Er war zu still, und er war zu bleich.
„Flo!“ Meine Stimme war noch immer nicht mehr als ein heiseres Flüstern, doch in meinem Inneren schrie ich. In meinem Inneren stand ich am Rande eines Abgrundes. Und ich war vollkommen alleine. Ich würde für immer vollkommen alleine sein. Ich hatte alles verloren.
„Flo!“ Und auf einmal war es egal, was geschehen war. Ich wollte es nicht wissen. Es spielte so oder so keine Rolle mehr. Nichts würde mehr eine Rolle spielen.
„Flo!“ Meine Hand schien nicht zu mir selbst zu gehören, als sie sich langsam hob und ihm sanft, ganz sanft die Strähne aus der Stirn strich, die dort nicht hingehörte. Seine Haut war kühl unter meinen Fingern. Flo war nie kühl gewesen. Er war immer wärmer als ich gewesen.
Gewesen. All das war jetzt schon Vergangenheit.
„Oh Gott, Flo!“
Da waren Stimmen, die näher kamen. Wie durch eine dicke Decke nahm ich sie wahr. Sie waren egal. Alles war egal. Seltsam, wie unwichtig auf einmal alles war. Und das erste Mal fühlte ich mich vollkommen frei. Tränen rannen leise meine Wangen hinab, und ich schloss meine Hand fest um die meines Bruders. Fast kam es mir so vor, als würde ich aus der Ferne eine andere Ria beobachten, als ginge mich das alles nichts mehr an. Es war vorbei. Da war keine Angst mehr in mir. Zum allerersten Mal, seit ich mich zurückerinnern konnte, hatte ich keine Angst. Ich hatte nichts mehr zu verlieren.
Für eine Weile verstummten die Stimmen, und dann war es nur noch eine. Eine Stimme, die meinen Namen rief. Sie ließ einfach nicht locker, und ich kannte sie. Ich kannte diese Stimme! Es war...
...„Flo?“
Orientierungslos blinzelte ich in der Dunkelheit. Aber das hier war eine andere Dunkelheit, und ein anderer Ort. Bleiche Mondstrahlen drangen durch das Fenster auf der rechten Seite des Bettes, und neben mir...neben mir lag Flo! Eindeutig lebendig und mit besorgt gerunzelter Stirn über mich gebeugt.
„Hey, Ria, was ist los?“
Er war da! Flo war da! Mit einem leisen Schluchzen warf ich mich in seine Arme. Er war warm! Er war so warm, wie Flo immer war, und er roch so, wie Flo immer roch, und er hielt mich ebenso fest umklammert wie ich ihn, so als wüsste er genau, dass ich das jetzt brauchte.
„Ich habe...geträumt...“, brachte ich nach einer ganzen Weile heraus.
„Schsch, ist ja gut. Es ist alles in Ordnung. Es war nur ein Traum. Nur ein Traum. Du bist hier, bei mir. In Sicherheit.“
Natürlich wussten wir beide, dass das nicht stimmte. Schlagartig stand mir dieser Tag wieder vor Augen. Der Tag, an dem es so knapp gewesen war. An dem wir gerade noch entkommen waren – dank Mutter. Wir waren nicht in Sicherheit. Aber es war trotzdem schön, die Worte zu hören, die er mir leise ins Ohr flüsterte. Und für ein paar Momente gestattete ich mir, ihnen Glauben zu schenken. Hier, in der Dunkelheit, gab es nur ihn und mich. Hier, in der Dunkelheit, konnte ich mir vormachen, es sei tatsächlich alles in Ordnung. Es fühlte sich so richtig an. So gut. Seufzend drückte ich mich noch ein wenig fester an ihn.
Flo wand sich in meiner Umarmung.
„Ähm, Ria...“, murmelte er verlegen und versuchte, ein wenig von mir abzweichen.
Erst verstand ich es nicht.
Aber es war dunkel, und Flo war so warm, und sein Geruch umgab mich, hüllte mich ein. Fast wie von selbst vergruben sich meine Hände in seinem Haar, zogen ihn noch dichter an mich heran. Und dort, irgendwo in der Dunkelheit, trafen sich unsere Lippen.
Niemand unterbrach uns. Niemand sah uns.
Fast wie von selbst wanderte meine Hand unter sein T-Shirt, strich sanft über seinen warmen Rücken. Die Muskeln bebten unter meinen Fingern. Meine Fingerspitzen kribbelten.
„Oh Gott, Ria!“, stöhnte er an meinem Mund. Seine Lippen wanderten über meine Wangen, zogen eine Spur sanfter Küsse meinen Hals hinab. Ich schauderte. Meine Hände verkrallten sich in seinem Rücken, pressten ihn noch dichter an mich heran. Jede Berührung schickte einen Stromstoß durch meinen Körper. Ich brannte. Ich stand in Flammen.
Seine Lippen fanden wieder die meinen, und der Kuss war anders als alle anderen zuvor. Irgendwie wilder. Ich verlor mich in ihm. Flo war so nah, aber irgendwie war es nicht nah genug.
Meine Hand rutschte von seinem Rücken, tiefer und tiefer, und auf einmal war es wie ein Rausch. Ich konnte nicht genug von ihm spüren, und er war so warm, und er roch nach Flo. Meine Hand fuhr in sanften Kreisen über seinen Bauch, der sich mit seinen hektischen Atemzügen ruckartig hob und senkte. Und dann schlossen sich meine Finger um den Knopf an seinem Hosenbund.
„Nein!“ Mit einem heftigen Keuchen stieß er mich von sich. Er zitterte. Im Mondlicht war sein Gesicht totenbleich.
„Nein, Ria!“ Entsetzt starrte er mich an. „Oh Gott, Ria! Du weißt, dass das nicht geht. Es...wir können nicht...wir dürfen nicht!“
Ich war es leid. Ich war es so leid, ständig aufpassen zu müssen, ständig auf der Hut sein zu müssen. Ständig verstecken zu müssen, wie sehr ich ihn liebte. Ich war es leid, all die anderen Paare auf der Straße zu sehen, die sich küssen und sich an der Hand halten durften, ohne Angst haben zu müssen, ohne zu wissen, wie viel sie eigentlich hatten, wie wertvoll es war, und wie sehr es schmerzte, wenn es verboten war, den anderen auf offener Straße nicht einmal liebevoll anlächeln zu können.
Und nach dem Traum, nach diesem schrecklichen Traum wurde mir bewusst, dass es jeden Tag vorbei sein konnte. Jeder Tag konnte der letzte sein...und ich wollte nicht länger warten! Ich wollte nicht länger warten und daran denken, dass es gefährlich war.
„Das ist mir egal! Es ist mir egal, Flo! Wer weiß denn schon, wie lange...wie lange wir das hier durchstehen! Wir haben beide keine Ahnung, was uns erwartet. Morgen könnte es schon zu spät sein!“
Verstand er nicht? Das hier, das hier war das einzig Gute, das wir hatten. Wir hatten uns! Und ich hatte keine Ahnung, wie lange noch.
Flo war erschrocken zurückgezuckt, und erst jetzt bemerkte ich, wie laut meine Stimme geworden war. Eine kleine Weile sah er mich aufmerksam und fast ein wenig traurig an, ehe er vorsichtig wieder näher rutschte und seine Hand an meine Wange legte.
„Hey, Ria, ist ja gut. Ich weiß...glaub mir, ich weiß...aber...“
„Ist schon okay“, murmelte ich und wandte verlegen den Blick ab. „Du musst nicht...ich wollte nicht...wenn du nicht willst...es tut mir leid...“
Ich hörte, wie er überrascht nach Luft schnappte.
„Du glaubst, ich will dich nicht? Herrgott, Ria, ich...weißt du, wie schwer es ist...hast du eine Ahnung, wieviel Selbstbeherrschung es mich kostet...“ Er schüttelte den Kopf. Und da erst fiel es mir auf. Da erst erkannte ich es. Wie schwer sein Atem ging. Noch immer.
„Aber warum...“
„Es ist zu riskant! Ich will...ich kann dich nicht verlieren, Ria! Und wenn es bedeutet, dass wir niemals...dann bin ich dazu bereit, wenn ich dich dafür behalten darf!“
„Außerdem...außerdem möchte ich nicht riskieren...ich habe nichts hier, es wäre nicht sicher“, fügte er nach einer halben Ewigkeit leise hinzu.
Ich brauchte eine Weile, um aus den gestammelten Worten schlau zu werden.
„Oh...“ Daran hatte ich nicht einen einzigen Gedanken verschwendet. Natürlich war es Flo, der daran dachte. Flo, der immer an alles dachte.
„Vielleicht irgendwann einmal? Wenn wir...vorbereitet sind?“
Seine einzige Antwort war ein leises Stöhnen, ehe er seinen Kopf an meiner Halsbeuge vergrub.
***
Es geschah am 26. Dezember. Das war ein Tag, den ich niemals vergessen würde. Niemals, für den Rest meines Lebens. Es war der Tag, der alles veränderte.
Er fing ganz gewöhnlich an, wie es viele Tage tun, an denen sich alles ändert. Man wacht morgens auf und hat keine Ahnung von dem, was einen erwartet. Ich wusste nicht, dass ich niemals wieder in diesem Bett liegen würde. Dass ich niemals wieder aus diesem Fenster in den engen, dunklen Hinterhof sehen würde, in dem sich der Müll stapelte. Dass ich niemals wieder an diesem Tisch sitzen würde.
Dass ich Mutter nicht mehr sehen würde. Im Nachhinein bedauerte ich es, dass das unsere letzte Begegnung gewesen war, dort am Frühstückstisch, an dem keiner ein Wort verlor. Dass es niemals die Chance geben würde, mich richtig von ihr zu verabschieden. Ich hätte ihr soviel zu sagen gehabt. Und doch irgendwie nichts. Ich weiß noch immer nicht, ob ich ihr vergeben kann. Aber sie wird immer Mutter bleiben. Die einzige, die ich habe. Die einzige, die wir haben.
Ich wusste, dass es leichtsinnig war. Ich wusste, dass ich es nicht hätte tun sollen. Und doch hatte ich keine andere Wahl. Oder zumindest glaubte ich das.
Flo war zu dem kleinen Laden um die Ecke gegangen, der auch am Wochenende und an Feiertagen geöffnet hatte. Einer dieser schmuddeligen Läden, die vor allem Alkohol und Zigaretten und Hefte für Erwachsene verkauften. Ich hatte nicht einmal fragen müssen, was er besorgen sollte. Die Biervorräte waren wohl schneller zur Neige gegangen, als Patrick gedacht hatte. Obwohl Flo erst gestern Nachschub geholt hatte.
„Bleib einfach hier und warte auf mich.“ Flo hatte mir einen angespannten Blick über die Schulter zugeworfen, während er die abgetragene Jacke vom Regal über seinem Bett gezogen hatte, die wir vor langer Zeit einmal aus der Altkleidersammlung gefischt hatten. „Ich bin nicht lange fort, ich versprech`s. Es ist doch nur ein paar Häuser weiter. Du wirst sehen, du wirst es gar nicht merken, dass ich überhaupt fort war.“
„Was ist, wenn er mich ruft? Wenn ich das Mittagessen kochen soll, oder die Wäsche waschen, oder...“
Ich hatte auf der Bettkante gesessen und ihm besorgt dabei zugesehen, wie er sich den Schal um den Hals geschlungen hatte. Wir hatten schon vor ein paar Wochen unsere Jacken und unsere Mützen und überhaupt alles in unsere Zimmer geräumt. „Zur Sicherheit“, wie Flo gemeint hatte.
Mit zwei großen Schritten war er bei mir gewesen. Er war in die Knie gegangen, um auf gleicher Höhe mit mir zu sein, und hatte mir ernst in die Augen gesehen.
„Du bleibst hier. Du ignorierst ihn.“
„Meinst du nicht, dass das gefährlich ist? Ihn so herauszufordern?“
„Und du glaubst, dass es weniger gefährlich ist, wenn du mit ihm alleine bist? Du hast immer noch den Riegel, Ria. Du kannst dich hier einschließen. Du verbarrikadierst dich hier, bis ich wieder da bin. So lange hält ihn der Riegel auf jeden Fall draußen. Die Tür ist stabiler, als sie aussieht. Hier bist du sicher. Riskier es nicht, Ria. Wenn er wirklich etwas von dir verlangt, wenn er wirklich ausrastet, dann suchen wir gemeinsam nach einem Ausweg, wenn ich wieder da bin. Keine Alleingänge, Ria. Versprich es mir!“
Seine Hände hatten sich fest um die meinen geschlossen. Warm. Er war immer so warm. Dieses schreckliche Gefühl der Vorahnung war ein wenig von mir abgefallen.
„Ich versprech es.“
„Gut. Ich bin gleich wieder da. Ich hab dich lieb.“
„Ich dich auch, Flo.“
Er hatte mir einen letzten Blick zugeworfen, ein aufmunterndes Lächeln auf den Lippen, ehe er die Türe hinter sich schloss.
Eine lange Weile sah ich zum Fenster hinaus, sah den Schneeflocken dabei zu, wie sie langsam zur Erde taumelten. Ein paar blieben auf dem Fensterbrett liegen, ein paar landeten sogar auf der Scheibe, und ich beobachtete die kleinen, filigranen Eisgebilde, ehe sie langsam zu kleinen Wassertröpfchen schmolzen. Immer wieder blickte ich zur Uhr an meinem Handgelenk, sah dem roten Zeiger dabei zu, wie er seine Runden um das blaue Zifferblatt drehte. Ich wartete. Und wartete. Es dauerte zu lange. Es dauerte zu lange, und ich konnte es nicht länger hinauszögern.
Ich musste zur Toilette. Ich konnte nicht mehr länger warten. Es war jene Zeit im Monat, und ich konnten nicht länger warten.
Vorsichtig öffnete ich die Türe einen Spalt breit und spähte in den dunklen Flur hinaus. Stille. Nichts rührte sich. Auf Zehenspitzen huschte ich über die Schwelle. Wieder einmal verfluchte ich die Tatsache, dass das Badezimmer am anderen Ende des langen Flures war. Ich musste sowohl am Wohnzimmer als auch an der Küchentür vorbei.
Geschickt umging ich jedes knarrende Dielenbrett. Ich wagte kaum, zu atmen, als ich an der Wohnzimmertür vorbeischlich. Laute Schüsse hallten durch die Luft. Ich machte einen Satz zurück und hätte beinahe den Kleiderständer umgeworfen. Reflexartig schloss sich meine Hand um den dünnen Metallständer und stabilisierte ihn. Dann ertönte blechernes Gelächter, und ich begriff, reichlich spät, dass es nur der Fernseher war, der mich so aus der Fassung gebracht hatte. Ich atmete tief durch und schlich dann mit weichen Knien weiter. Als ich schließlich die Badezimmertür ohne einen weiteren Zwischenfall hinter mir schließen konnte, schloss ich für einen kurzen Moment dankbar die Augen.
Mein Gesicht war totenbleich. Das fiel mir erst auf, als ich mit bebenden Fingern nach der Tür des Spiegelschrankes griff.
Es ist alles in Ordnung, versuchte ich, mir einzureden. Flo ist bestimmt gleich wieder zurück, und Patrick sitzt vor dem Fernseher. Und du hast es doch fast geschafft.
Fast hätte ich es auch geschafft. Nachdem ich vorsichtig durch die halboffene Tür gespäht und mich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, huschte ich den Weg zurück, den ich gekommen war. Ich war schon beinahe am Wohnzimmer vorbei, als hinter meinem Rücken eine Türe aufging. Erst jetzt bemerkte ich, dass etwas Entscheidendes gefehlt hatte. Kein Pferdegetrappel und kein johlendes Lachen war mehr zu hören. Der Fernseher war verstummt. Oh, verdammt!
Ich erstarrte. Für einen winzigen Moment schienen meine Muskeln einzufrieren. Ich war nicht in der Lage, auch nur den kleinen Finger zu heben. Wie ein Reh im Scheinwerferkegel des heranbrausenden Wagens konnte ich nur mit aufgerissenen Augen zusehen. Für einen Sekundenbruchteil erstarrte die Welt. Und dann war ich wieder Herrin meiner Glieder.
Ich rannte. Ich rannte, wie ich noch nie zuvor gerannt war. Es war so knapp. Es war so verdammt knapp. Mit einem Satz flog ich über die Türschwelle...doch er war zu dicht hinter mir. Zu dicht, und er fing die Tür auf, als ich sie eben ins Schloss drücken wollte. Starke Hände packten meine Schultern, drückten mich gegen die Wand. Die Tür fiel ins Schloss, und ich war mit ihm alleine.
Ich wehrte mich. Das Zimmer war klein, und es war sinnlos, vor ihm davonzurennen, obwohl ich es natürlich trotzdem versuchte. Nach ein paar Augenblicken hatte er mich eingefangen. Seine Arme lagen wie Schraubzwingen um meinen Oberkörper und pressten mir die Arme an die Brust. Ich hatte nicht viel Bewegungsspielraum, aber ich wand mich wie wild.
Es war sinnlos. Das hatte ich von Anfang an gewusst. Das hatte ich von dem Moment an gewusst, als ich das leise Quietschen der Wohnzimmertüre gehört hatte.
Für einen Augenblick verspürte ich trotzdem so etwas wie leise Hoffnung. Wenn er mich so festhielt, hatte er keine Hand frei, um irgendetwas anderes zu tun. Aber natürlich wurde ihm das auch schnell klar.
Die Hände lösten sich von meinen Seiten, aber ehe ich reagieren konnte, hatte er mir schon einen Arm schmerzhaft auf den Rücken gedreht. Rote Punkte tanzten vor meinen Augen. Es tat so weh. Ich konnte mich nicht erinnern, dass jemals etwas so weh getan hatte.
„Rühr auch nur einen Finger, und ich brech dir den Arm.“
Er sagte das so ruhig, so ruhig und völlig gefasst. Er wusste genau, was er tat. Es kam mir nicht so vor, als würde er das hier zum ersten Mal tun. Wahrscheinlich tat er das auch nicht. Ich fragte mich, wie viele Mädchen wohl schon in seine Arme gelaufen waren. Sprang er mit Mutter genauso um? Oder war es mit Mutter anders?
„Was...was willst du von mir?“, stöhnte ich, als er mich langsam zu Boden drückte. Ich kniete jetzt genau vor dem Bett, die Wange auf die Bettdecke gepresst.
„Stell dich nicht blöder, als du bist, Mädchen!“ Sein Atem war heiß an meinem Ohr. „Du weißt genau, was ich von dir will. Und wenn du schön brav bist und die Beine breit machst, wird es auch gar nicht so schlimm sein. Vielleicht gefällt es dir sogar. Ja, wahrscheinlich gefällt es dir. Vielleicht willst du es auch so, hmm? Von einem richtigen Mann. Einer, der weiß, wie es geht.“
Mir wurde übel. Die Wände schienen auf einmal auf mich zuzukommen. Auf einmal war kaum noch genug Luft im Raum. Da war nicht genug Luft, und die raschen Atemzüge brannten in meinen Lungen.
Und während ich noch nach Luft rang, ließ der Druck auf meinem Arm nach. Doch im selben Moment spürte ich etwas wie eine Schnur über mein Handgelenk gleiten. Ehe ich mich versah, waren meine Hände an den Bettpfosten gefesselt. Da wusste ich, dass es vorbei war. Dass ich verloren hatte. Ich hatte schon von Anfang an verloren gehabt. Es war vorbei gewesen, als er die Türe hinter uns geschlossen hatte. Aber irgendwie hatte ich noch immer ein kleines bisschen Hoffnung gehabt.
Auf einmal erinnerte ich mich an jenen Morgen in der Küche, als ich auch Angst gehabt hatte.
Du bist stark, Ria. Du bist das stärkste Mädchen, das ich kenne. So deutlich stand dieser Moment vor meinen Augen, dass ich beinahe glaubte, er stünde neben mir. Flo hatte immer an mich geglaubt.
Und ich versuchte es. Für Flo versuchte ich es. Ich versuchte, mein Gesicht zu einer reglosen Maske erstarren zu lassen. Ich vergrub meine zitternden Hände unter der Bettdecke und hoffte, dass er die nackte Panik in meinen Augen nicht sehen würde.
Aber natürlich sah er es. Meine Angst war zu groß, als dass ich sie hätte verbergen können. Die kalten, grauen Augen blitzten. Weil er wusste, dass er gewonnen hatte. Dass ich ihm ausgeliefert war.
Ich rutschte so weit von ihm fort, wie es auf dem engen Bett nur möglich war. Aber Flos Zimmer war klein, und sein Bett war schmal...
Oh Gott! Das hier war Flos Bett! Das Bett, auf dem wir uns in den Armen gehalten, auf dem wir uns geküsst hatten. Es roch nach Flo. Es roch nach Geborgenheit. Ich hatte mich immer sicher gefühlt hier, hinter dem Riegel aus Eisen, eingehüllt in Flos Wärme.
Jetzt war mir nicht mehr warm. Es war eiskalt. Ich zitterte in meinem dünnen Shirt, und doch war so etwas wie Kälte vollkommen nebensächlich. Das konnte doch nur ein Traum sein. Das konnte doch nur ein Alptraum sein. So etwas geschah nicht im wirklichen Leben. Nicht mir, und schon gar nicht in Flos Zimmer. Das konnte nicht wahr sein!
Aber es war wahr. Denn der Schmerz, der sich pochend in meinen Handgelenken breit machte, war mehr als real. Er hatte die Fesseln zu fest gezogen. Sie schnürten mir das Blut ab.
„Bitte!“, flüsterte ich verzweifelt, als ich sah, wie er seinen Gürtel löste. „Bitte, Patrick, mach nicht alles kaputt! Bitte, lass mich in Ruhe, und ich schwöre dir, ich werde nie jemandem etwas davon erzählen! Nur, bitte, lass mich...tu es nicht...“
„Oh, aber es muss doch niemand erfahren“, murmelte er mir verschwörerisch zu. „Natürlich wird das hier unser kleines Geheimnis bleiben. Wenn du auch nur ein Wort erzählst, bring ich dich um. Mit meinen bloßen Händen. Und glaub nicht, dass ich leere Drohungen ausstoße, Mädchen.“
Noch nie hatte ein Lächeln so bedrohlich gewirkt wie das seine. Vielleicht war es gerade diese ruhige Stimme, die ihn so viel gefährlicher wirken ließ. Er war beherrscht und ruhig. Er hatte sich vollkommen im Griff. Er handelte nicht impulsiv. Er hatte das hier alles genau durchdacht. Er hatte das hier geplant.
Die ersten Sterne begannen, vor meinen Augen zu tanzen. Mein Brustkorb hob und senkte sich zu schnell, viel zu schnell, aber ich konnte mich nicht beruhigen. Ich war nicht stark genug. Flo hatte unrecht gehabt. Ich war nicht stark. Ich war nur ein kleines, verängstigtes Mädchen.
„Aber wenn du brav bist – wenn du tust, was ich dir sage, dann muss es nicht wehtun. Es kann schön sein, glaub mir. Dich wollte doch sowieso keiner haben. Du bist nicht einmal wirklich hübsch. Wie die Mutter, so die Tochter. Eigentlich tu ich dir sogar einen Gefallen. Oder wolltest du als alte Jungfrau sterben?“
„Nein“, wimmerte ich. „Lass mich nur in Ruhe. Bitte, lass mich in Ruhe! Bitte, bitte...“
Flo! Immer und immer wieder dachte ich daran, wie wir uns wieder und wieder zurückgehalten hatten. Hätte er doch nur zugelassen...ich wollte nicht, dass Patrick mir das nahm. Es war nicht richtig. Ich hatte immer nur zu Flo gehört.
Warum hatte ich ihn nicht ein letztes Mal geküsst? Warum hatte ich ihn nicht zum Abschied geküsst, bevor er gegangen war? Jetzt war es zu spät. Er würde mich nie wieder ansehen, wenn Patrick bekommen hatte, was er wollte. Niemand würde mich mehr ansehen wollen.
„Hör endlich auf, dich zu wehren, verdammt! Du weißt genau, dass es keinen Sinn macht! Willst du, dass ich dir wehtue? Willst du das wirklich?“, hörte ich Patricks wütende Stimme wie aus großer Entfernung.
Dumpf frage ich mich, ob er mich wohl umbringen würde, hinterher. Ob das von Anfang an sein Plan gewesen war. In diesem Moment hoffte ich es. Ich wünschte mir auf einmal, er würde mich gleich töten. Alles war besser, als mit solchen Erinnerungen leben zu müssen. Alles war besser, als Flo in die Augen zu sehen, und zu wissen, dass...nein, das konnte ich nicht.
Flo...
Und dann schloss ich die Augen und versuchte, mir einen Ort vorzustellen, an dem es keinen Schmerz gab. Vielleicht einen Ort in Flos Märchenwald, im selben Wald, in dem Marie mit ihrem Luka lebte. Vielleicht gab es im Märchenwald auch Platz für mich. Für eine alte Jungfrau, die dort mit ihren Katzen lebte und vergessen hatte, wer sie war und wo sie herkam. Eine alte Jungfrau, die alles hatte vergessen können, selbst ihren Namen...vielleicht konnte ich den Weg in den Märchenwald finden, wenn ich nur fest daran glaubte. Vielleicht war es wie mit Klaas, dem Kobold, den ich eines Tages wirklich hatte sehen können, weil ich fest genug daran geglaubt hatte.
Und auf einmal spürte ich, wie die Welt um mich herum begann zu verschwinden. Nebel senkte sich auf mich hinab, kalter, dichter Nebel. Und ich glaubte, in der Ferne Tannen zu sehen, Tannen, die von Schnee bedeckt waren. Bleiches Mondlicht brach sich glitzernd auf den weißen Flocken...
„Nein!“
Wie aus weiter Ferne drang der Schrei zu mir durch. Durch den dicken Nebel, der sich immer mehr verdichtete, mir die Sicht nahm. Er riss mich zurück aus dem Märchenwald, der Schrei.
„Nein!“
Ich kannte diese Stimme. Ich hätte sie überall wiedererkannt. Flo. Flo war gekommen. Flo war hier. Ich war nicht mehr alleine. Und das erste Mal seit langer, langer Zeit erlaubte ich mir so etwas wie Hoffnung.
Patrick fuhr herum. Ich kämpfte noch immer gegen den grauen Nebelschleier, gegen dieses seltsame Gefühl der Taubheit, das mich vereinnahmen wollte. Jetzt war er mir nicht mehr willkommen, der Nebel. Ich konnte nicht das Bewusstsein verlieren. Jetzt nicht mehr. Flo war hier. Flo war hier, aber ich war keine Hilfe, und Patrick war jetzt wirklich wütend.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Flo die Eisenstange hob. Die Eisenstange, die vergessen neben der Türe lag, die er damals vom Schrottplatz geklaut hatte, um mich vor Patrick zu schützen.
Jetzt waren es meine Lippen, die ein lautloses „Nein!“ formten. Doch er hörte es nicht, oder vielleicht war es ihm auch egal. Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Augen. Später versuchte ich, diesen Blick zu deuten. Da war so viel Schmerz, so viel Angst und Verzweiflung und...und Wut.
Ich schloss die Augen. Vielleicht, weil ich nicht sehen wollte, was geschah. Vielleicht, weil ich meine letzten Kraftreserven aufgebraucht hatte. Dumpf hörte ich die Geräusche eines Kampfes. Stöhnen und Grunzen und Knurren, und dann ein Poltern. Ich wagte es nicht, die Augen wieder zu öffnen. Ich wollte nichts sehen. Ich wollte nur noch im grauen Nebel verschwinden.
Und dann war er da. Ich spürte, wie sich sanfte Hände um meine Wangen schlossen, mir das zerzauste, verschwitzte Haar aus der Stirn strichen. Mich wieder ein wenig in die Wirklichkeit zurückrissen.
„Ria?“, flüsterte er. „Ria, bitte, sieh mich an! Ria, komm schon, bitte, Ria...“
Es war so mühsam. Es war so mühsam, fast als müsste ich gegen eine schwere Flüssigkeit anblinzeln, die mir die Lider verklebte. Aber es gelang mir mit fast übermenschlicher Anstrengung, die Augen zu öffnen.
„Oh, Ria, Gott sei Dank! Es tut mir so leid! Wo bist du verletzt? Tut es sehr weh? Was hat er...rede mit mir, Krümel! Bitte! Es tut mir so leid, oh Gott, es tut mir so leid...“
„Ich liebe dich“, war alles, das ich herausbrachte. Es erschien mir wichtig, es noch einmal zu sagen.
„Ich liebe dich auch“, kam die erstickte Antwort. Es klang fast, als ob er weinte. Und in diesem Moment wusste ich, dass ich Unrecht gehabt hatte. Ich wusste es. Es wäre ihm egal. Flo würde immer zu mir halten. Egal, was geschah. Er liebte mich. Er würde mich immer lieben. Niemals war ich mir einer Sache so sicher gewesen.
Dann war er wieder da, der graue Nebel, und diesmal verschlang er mich endgültig.
***
Es war noch immer kalt. Das war das erste, das mir auffiel. Wie kalt es noch immer war. Und dann kam der Schmerz. Ganz allmählich sickerte er zu mir durch. Ein unangenehmer Druck auf meinem rechten Oberarm, ein Ziehen in meiner linken Schulter, ein dumpfes Pochen in meinen Handgelenken, ein Stechen im Unterleib...wenigstens dieser Schmerz war vertraut. Er war vertraut, und er beruhigte mich – ein klein wenig.
Ich riss die Augen auf. Plötzlich war alles wieder da: wie Patrick mich in Flos Zimmer geschleift hatte, wie er über mich hergefallen war...und ich lag in einem Bett. Bedeutete das...hatte er...?
Aber dann bemerkte ich die Holzdecke über meinem Kopf. Das hier war mein eigenes Bett. Und da erinnerte ich mich wieder an Flos Stimme, die durch den Nebel gedrungen war.
„Flo...“
Der Kampf! Oh, Gott, der Kampf, und Flo hatte die Eisenstange in der Hand gehabt...war er verletzt? Ich riss die Augen auf und setzte mich hastig auf. Wimmernd fuhr ich zusammen und rieb mir die schmerzenden Handgelenke, aber all das war vergessen, als ich ihn sah. Er war da. Er saß neben mir, dort auf der Bettkante. Er saß neben mir, und bis auf ein blaues Auge und eine Schramme an der linken Wange schien er unverletzt zu sein.
„Hallo, Krümel“, flüsterte er.
Ohne ein weiteres Wort fiel ich ihm um den Hals. Seine Arme schlossen sich fest um mich, drückten mich an ihn. Es tat weh, aber ich beschwerte mich nicht. Er konnte mich nicht fest genug halten. Und der Schmerz bedeutete, dass ich am Leben war. Dass wir beide am Leben waren. Ich konnte sein Herz spürten, wie es heftig gegen meinen Brustkorb schlug. Sicherheit. Hier, bei ihm, fühlte ich mich endlich wieder sicher. Nichts und niemand konnte mich berühren, wenn er mich nur so hielt.
„Hat er...Oh Gott, Ria, hat er...?“
Übelkeit krampfte mir den Magen zusammen. Vorsichtig tastete ich unter der Bettdecke. Ich weinte beinahe vor Erleichterung, als sich meine Finger um den dünnen Faden zwischen meinen Beinen schlossen.
„N-nein. S-sieht nicht so aus. Ich glaube n-nicht. N-n-nein.“, hauchte ich in Flos Haar hinein. Seine Arme drückten mich noch ein wenig fester, so dass ich kaum noch Luft bekam.
„Danke! Oh Gott, danke!“
Ich weiß nicht, wie lange wir so auf meiner Bettkante saßen und uns am anderen festklammerten. Ich war so dankbar, noch am Leben zu sein. Ich war so dankbar, dass er da war. Alles andere war egal.
Dann löste er sich von mir. Es war zu früh. Selbst wenn er mich den Rest meines Lebens so gehalten hätte, wäre es zu früh gewesen.
„Schau mich an, Krümel.“ Als ich den Blick noch immer krampfhaft auf den Fußboden richtete, legte er mir sanft einen Finger unter das Kinn und hob meinen Kopf an, so dass ich gezwungen war, ihn anzusehen. Er sah alt aus. Auf einmal sah er unendlich alt aus, und unendlich traurig.
„Wo bist du verletzt? Was hat er...was hat er getan?“
Entsetzt wich ich ein Stück zurück. Wollte er wirklich...? Nein, nicht jetzt, nicht hier! Ich war noch nicht soweit! Ich wollte nur vergessen! Ich wollte doch nur vergessen, dass das im Zimmer nebenan jemals geschehen war! Warum konnte er mich nicht damit in Ruhe lassen?
„Ich will nicht...ich kann nicht...Flo, ich kann das jetzt nicht!“ Eng. Es war auf einmal so eng, und die Luft war so schwer, ich konnte sie kaum einatmen, konnte nur mühsam meine Lungen füllen. Da waren wieder diese roten Punkte, die alles bedeckten, die vor mir auf und ab tanzten, und dann legten sich zwei warme, warme Hände an meine Wangen und holten mich in die Wirklichkeit zurück. Das Gewicht auf meinem Brustkorb schien ein wenig leichter zu werden.
„Atme, Ria!“, flüsterte er mir beschwörend zu, und ich atmete. Und als ich wieder ruhiger war, als ich endlich wieder diese kalte Ruhe gefunden hatte, da sah er mich mit diesen traurigen, alten Augen an und versuchte sich an einem Lächeln, das schrecklich misslang.
„Ich weiß!“, sagte er irgendwann sehr sanft und sehr leise. „Ich weiß, Ria, aber ich muss...ich muss es wissen. Wenn du irgendwo ernsthaft verletzt bist, müssen wir das versorgen!“
„Es ist...nicht so wild“, murmelte ich und verbarg mein Gesicht an seiner Schulter, und diesmal ließ er es zu. Wieder zog er mich an sich, doch diesmal war er sehr viel vorsichtiger als zuvor. Beinahe zaghaft legte er die Arme um meine Taille.
„Blaue Flecken auf meinem Arm...vielleicht hat er mir die Schulter gezerrt – die rechte – und...und meine Handgelenke...die hat er zu fest gefesselt. Aber das hast du vermutlich schon gesehen.“
Er musste es gesehen haben. Er musste mich doch losgeschnitten haben.
„Ja, das hab ich gesehen. Die hab ich schon verarztet.“
Überrascht hob ich meine Hand an. Tatsächlich, da war ein sauberer, weißer Verband um das Gelenk gewickelt. Und jetzt, da er es sagte, spürte ich auch an der anderen Hand weichen Stoff.
„Schnittwunden und Blutungen unter der Haut, und du hast Glück gehabt, es sieht nicht aus, als ob er eine Sehne verletzt hätte“, meinte Flo leise. „Aber...aber ich kann dir nicht versprechen, dass es keine Narben geben wird. Dieser verdammte Drecksack...“
Seine Stimme klang erstickt. Ich klammerte mich noch ein wenig fester an ihn.
„Jetzt ist es vorbei“, murmelte ich, mehr, um mich selbst zu vergewissern. Es war vorbei und ich hatte überlebt. Irgendwie.
„Hast du ihn umgebracht?“
Irgendwann war Flo zu mir auf das Bett geklettert und saß nun neben mir. Aber meine Hand hielt er noch immer fest in der seinen, so fest, als wollte er sie nie wieder loslassen. Er sollte sie auch nicht loslassen. Er sollte sie nie wieder loslassen.
Es erstaunte mich selbst, wie ruhig ich diese Frage stellen konnte. Fast wünschte ich es mir. Ich hatte mich nie für einen grausamen Menschen gehalten, oder für einen rachsüchtigen. Aber in diesem Moment wünschte ich Patrick in die Hölle.
Flo schüttelte den Kopf. „Er ist bewusstlos. Und wahrscheinlich hab ich ihm eine Gehirnerschütterung verpasst. Vielleicht hab ich ihm auch den Arm gebrochen. Nein, ich hab ihn nicht umgebracht. Obwohl ich mir beinahe wünsche, es getan zu haben“, fügte er sehr viel leiser hinzu. Und dann erzählte er mir, was geschehen war, nachdem mich der Nebel verschluckt hatte. Immer wieder hielt er inne und sah zu mir hinüber, so als habe er Angst, dass ich zusammenbrach oder hysterisch wurde. Ich brach nicht zusammen. Ich hörte mir alles mit einer seltsamen Ruhe an, die ich nicht verstand. Warum war ich nicht hysterisch? Es wäre normal gewesen, wenn ich hysterisch geworden wäre. Aber ich fühlte nur diese merkwürdige, kalte Leere in mir. Mir war immer noch kalt. Alles war kalt. Alles war kalt, bis auf die Hand, die Flo fest umklammert hielt. Vielleicht würde mir nie wieder richtig warm sein.
Ich verstand Flo so gut. Ja, ich wünschte mir, er hätte Patrick mit der Eisenstange umgebracht. Aber es war besser, dass Patrick noch lebte. Ich wollte nicht, dass Flo meinetwegen zum Mörder wurde. Und alles wäre so viel komplizierter geworden, wenn Patrick tot wäre. Das hätte uns garantiert die Polizei auf den Hals gehetzt.
„Und was machen wir jetzt?“ Ewig konnten wir Patrick schließlich nicht in Flos Zimmer einsperren. Denn das war es, das Flo getan hatte, nachdem er ihn bewusstlos geschlagen und mich aus dem Raum getragen hatte. Er hatte die Tür verbarrikadiert, hatte sowohl den Flurschrank als auch diverse Stühle zwischen die Türe und die gegenüberliegende Flurwand geklemmt. Einen Schlüssel zu unseren Schlafzimmern hatte es noch nie gegeben, jedenfalls nicht, so lange ich mich zurückerinnern konnte.
Flo sah mich mit einem seltsam grimmigen, entschlossenen Gesichtsausdruck an.
„Wir verschwinden von hier. Jetzt. Sobald du aufstehen kannst.“
„Was?“, murmelte ich verständnislos. Das konnte nicht sein Ernst sein – oder?
„Ich hab schon alles gepackt. Viel können wir so oder so nicht mitnehmen. Nicht, dass wir jemals viel besessen hätten.“ Er lachte leise und ein wenig bitter. Aber das Lachen klang auch ein wenig unsicher, ein wenig nervös, und das sagte mir mehr als alles andere, dass es sein voller Ernst war. Auf einmal kam wieder Leben in mich. Wir würden davonlaufen! Flo würde mit mir zusammen davonlaufen! Ungläubig sah ich ihm dabei zu, wie er einen vollen Rucksack und einen dicken Beutel, der fast aus den Nähten platzte, unter meinem Bett hervorzog.
„Du hast das geplant!“
Flo nickte nur. Auf einmal sah er sehr blaß und sehr müde aus.
„Ich wollte – ich wollte mir alle Möglichkeiten offen halten.“
„Aber erst vorgestern hast du noch gesagt, dass wir hier bleiben müssen! Dass wir nicht genug Geld gespart haben, dass wir warten sollten, wenn wir eine Chance haben wollen.“
Er schenkte mir ein trauriges Lächeln.
„Ich habe auch gesagt, dass ich notfalls mit dir unter einer Brücke schlafen würde, oder?“
„Ja, das hast du.“ Unsere Blicke hielten einander fest.
„Vertraust du mir?“
„Immer, Flo. Mit meinem Leben.“
Ich hätte mit so etwas rechnen sollen. Es war Flo. Flo, der immer alles genau durchdachte, bevor er handelte. Und doch war diese Entscheidung trotzdem mehr als spontan. Ich bezweifelte, dass er mehr Vorbereitungen getroffen hatte, als den Rucksack und den Beutel zu packen. Wie er mir erst vorgestern erst klar gemacht hatte, bestand eine gute Möglichkeit, dass wir die nächste Nacht unter einer Brücke verbringen würden, mit nichts als unseren dünnen Mänteln, um uns vor der Kälte zu schützen. Wir wussten beide, dass Weglaufen ein Akt der Verzweiflung war. Ein letzter Ausweg, der wahrscheinlich gar keiner war. Aber alles war besser, als eines Tages wieder in diesem Zimmer zu landen, und zu erkennen, dass Flo mich dieses Mal vielleicht nicht mehr retten konnte.
„Wohin werden wir gehen?“, fragte ich, als ich mir die Schuhe anzog. Es war seltsam still im Flur. Fast so, als wären wir schon fort, und unsere Stimmen nichts weiter als Geister der Vergangenheit.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, Ria. Aber hier können wir nicht bleiben.“
„Na, komm schon. Schau nicht zurück. Schau nach vorn.“
Flo war schon fertig angezogen und wartete auf mich. Doch ich konnte nicht anders. Ich musste noch einen letzten Blick über meine Schulter zurückwerfen. Denn auch wenn viel geschehen war, war das hier immer noch mein Zuhause. Ich war hier aufgewachsen. Wir waren hier gemeinsam aufgewachsen.
So viele Erinnerungen. Ich sah uns durch den Flur jagen, lachend, und Flo verfolgte mich, weil ich Poldi, den Stofflöwen, entführt hatte. Ich sah uns gemeinsam am Küchentisch sitzen, und Flo versuchte vergebens, mir das Rechnen mit Funktionen und Gleichungen mit x beizubringen, nur um irgendwann resigniert den Kopf zu schütteln. Dann zauste er mir sanft durch das Haar, schlug die Bücher zu und half mir dabei, den Keksteig für die Weihnachtsplätzchen auszurollen. Ich sah uns auf dem Sofa, und das verdächtige Funkeln in seinen Augen, als ich ihm das Freundschaftsband um das Handgelenk knotete. Es stand für so viel mehr als nur für Freundschaft...
Aber ich würde nun auch immer andere Erinnerungen mit dieser Wohnung verknüpfen. Erinnerungen, in denen ich durch den Flur hetzte und vergeblich versuchte zu fliehen. Erinnerungen, in denen ich an ein Bett gepresst kämpfte und verlor. Erinnerungen, in denen Flo die Eisenstange hob, mit einem solch kalten Ausdruck in den Augen, dass mir übel wurde.
Aus Flos Zimmer drang jetzt gedämpftes Fluchen, und ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis Mutter aus ihren alkoholisierten Träumen aufwachen würde und ihn befreite. Ich hoffte, dass sie ewig schlafen würde. Ich wünschte, er würde dort drinnen verrotten.
„Ich habe Angst“, flüsterte ich, als wir so vor der Türe standen, Flo mit dem vollgepackten Rucksack auf dem Rücken und ich mit dem schweren Beutel, den ich mir über die Schultern geschlugen hatte.
„Ich auch.“
Flo lächelte. Es war ein zittriges, unsicheres Lächeln, und ich erwiderte es mit bebenden Lippen. Wir wussten beide nicht, was uns erwarten würde. Ob wir eine Chance hatten, oder ob wir in der Welt dort draußen untergehen würden. Aber alles war besser als das, was wir hier zurückließen. Und wir würden zusammen sein. Das war alles, das zählte. Ich war nicht alleine. Er war nicht alleine. Wir hatten einander.
Flo reichte mir die Hand. Seine Finger schlossen sich warm und sicher um die meinen.
Ich bin bei dir. Immer. Egal, was geschieht.
Gemeinsam traten wir über die Schwelle und in eine mehr als ungewisse Zukunft hinein.
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So, das ist das vorläufige Ende. Danke an alle treuen Leser, die nicht aufgegeben haben und mich bis hierher begleitet haben! Ich kann euch nicht sagen, wie sehr mich die lieben Rückmeldungen motiviert und bei der Stange gehalten haben!
Ein kleiner Blich in die Zukunft: Eine Fortsetzung ist geplant und wird wohl bald eingestellt. Ein paar ganz liebe Menschen haben mit dabei geholfen, das hier zu verwirklichen. Nach mehr als zwei Jahren konnte ich den letzten Satz schreiben! Und jetzt ist sogar jemand auf mich zugekommen, der mir bei der Veröffentlichung helfen will! Ich bin so gespannt! Dieses Buch hier wird in Kürze lektoriert und überarbeitet, und dann könnt ihr es hoffentlich bald als Taschenbuch (und zunächst als e-book bei Amazon) mit professionellem Cover und Layout käuflich erwerben, wenn alles gut geht. :)
Liebe Grüße und hoffentlich bis bald,
Flocke
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Texte: (c) by Vivien Winter
Tag der Veröffentlichung: 20.07.2011
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