Das Herz der Finsternis
Mit einem leisen, protestierenden Stöhnen legte sich der Zug in die Kurve, brachte das dunkle Schwarz der Nacht wieder genau in mein Blickfeld. Ein von beigem Plastik umrahmtes Bild unergründlicher Dunkelheit, die sich bewegte, die unruhig wogte wie das Wasser eines tiefen Sees, in den ein kleines Kind einen Stein geworfen hat.
Zum wiederholten Male fragte mich, weshalb ich gemeint hatte, bis zum Abend warten zu müssen, ehe ich das Haus verlassen hatte. Vielleicht lag es aber auch gerade daran, dass ich es eigentlich nie tat.
Vielleicht hatte ich die Nacht ein letztes Mal auf mich wirken lassen wollen. Vielleicht hatte ich insgeheim gehofft, dass die Schatten für mich erledigen würden, was ich nun schon seit über einem Monat plante. Es wäre so viel einfacher gewesen, mich ihnen zu überlassen. Doch irgendwie hatte ich immer gespürt, dass es genau das war, was sie wollten. Und ein letzter Rest Kampfgeist schien wohl noch in mir zu sein.
Vielleicht hatte ich ein letztes Mal die Nacht sehen wollen. Die Ruhe, die sich über eine schlafende Stadt legt, jenes ruhige Wirbeln der Dunkelheit, ehe sie Gestalt annimmt.
Hastig wandte ich den Blick ab, ehe die Formen vor dem Fenster zu greifbar wurden.
Das gleichmäßige, hohle Rattern des Zuges sollte eigentlich beruhigend wirken, ebenso wie das unterschwellige Summen der Elektrizität, das den meisten Menschen schon gar nicht mehr bewusst auffiel. Ich spürte es. Ich spürte die zurückgehaltene Kraft, die in diesem Summen lag. Es war eine gefährliche Kraft, mühsam gebändigt. Einmal entfesselt, könnte sie all die Menschen um mich herum in Sekundenbruchteilen töten.
Ich spürte sie, so, wie ich auch die Augen spürte, die auf mir lagen, mich abschätzend beobachteten. Diese blauen, lauernden Augen, die nur darauf warteten, dass ich einen Fehler beging.
Trotz der mich umgebenden Geräusche, die in einem überfüllten Zug nun einmal unvermeidlich sind, erschien es mir so seltsam still hier. Und auch wenn ich mich inmitten von Menschen befand, fühlte ich mich doch so einsam wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Diese Einsamkeit war es gewesen, die mich letztlich aus dem leeren Haus getrieben hatte. Ich hatte geglaubt, noch immer die Echos ihrer Stimmen in den Wänden zu hören. Und das Bewusstsein, dass ich sie für immer verloren hatte, dass ich nie wieder dem sanften, leisen Lachen meiner Mutter lauschen würde, nie wieder die tiefe Bassstimme meines Vaters durch den Flur würde dröhnen hören – das war mehr gewesen, als ich ertragen konnte.
Es war meine Schuld. Ganz allein meine Schuld. Sie waren meinetwegen gestorben.
Ich hatte schlichtweg nicht gewusst, dass ich sie in Gefahr bringen würde. Ich hatte es nicht gewusst! Aber das änderte nichts an meiner Schuld.
Der Mann neben mir hatte den Kopf in den Nacken gelegt und schnarchte leise. Für einen Moment fragte ich mich, warum ihm der Atem nicht in weißen, federgleichen Wölkchen entwich, erschien mir die Luft doch so kalt, dass sie kleinen Nadeln gleich in meinen Lungen stach. Doch niemand sonst bemerkte die eisige Kälte, die sich über die ganze Welt gelegt zu haben schien.
Ich beneidete den namenlosen Mann neben mir, der so friedlich schlafen konnte – Schlaf war für mich schon immer etwas Besonderes gewesen, etwas so gut wie Unereichbares. Es fiel mir nicht leicht, loszulassen, einen Moment die Gefahr zu vergessen. Im Schlaf war ich verwundbar, verletzlich.
Seufzend zog ich mir die Kapuze meiner Winterjacke tiefer ins Gesicht. Der schwache Duft nach Rosenblüten umfing mich, ein Hauch von Wärme, von Geborgenheit. So hatte meine Mutter immer gerochen. Der verwaschene, abgetragene Stoff war wie ein zerbrechlicher Schild, der mich für den Augenblick vergessen ließ, was geschehen war. Doch obwohl ich mich absurderweise nun ein wenig sicherer fühlte, schloss sich meine Hand trotzdem beinahe ängstlich um das beruhigend schwere, kalte Metall in meiner Jackentasche. Ich ging niemals unbewaffnet aus dem Haus. Auch wenn es in Anbetracht dessen, was ich heute zu tun gedachte, irgendwie überflüssig wirkte.
„Und dann hab ich meinen Alten gesagt, dass sie mich mal können, weiste?“, drang da die schleppende, fast gelangweilte Stimme eines der Jungen im Abteil gegen meinen Willen zu mir durch. Ich hasste diese Gespräche, die so oft lautstark in den Zügen geführt wurden. Sie offenbarten mir die ganze Belanglosigkeit, die ganze Sorglosigkeit, mit der so viele meiner Mitmenschen ihr Leben lebten. Sie wussten nicht, was sie hatten, sie wussten es nicht zu schätzen. Die Abfälligkeit, mit der sie all das betrachteten, das ihnen geschenkt worden war, widerte mich an.
Doch am Schlimmsten war die leise Stimme in meinem Inneren, die mir zuflüsterte, dass ich das Leben, das ich nun führte, vielleicht wirklich verdient hatte. Dass mein Herz vielleicht tatsächlich so schwarz war, wie die Schatten mich immer glauben machen wollten.
„Die sind so was von spießig...glaubste nich! Ich soll um zehn wieder zu Hause sein. Um zehn! Bin ich ein Baby oder was? Und da bin ich halt abgehauen. Durch das Fenster gestiegen. Mal sehen, was sie dazu sagen!“, frotzelte der Junge ungeniert weiter.
Seufzend tastete ich in meiner anderen Jackentasche nach dem MP3-Player. Ich wusste, dass ich nur so der Versuchung wiederstehen konnte, aufzuspringen, das Bürschchen an der Gurgel zu packen und ihm gehörig meine Meinung zu sagen. Ich wollte ihm ins Gesicht brüllen, dass er verdammtes Glück hatte, wenn sein einziges Problem ein nächtliches Ausgehlimit war. Dass er verdammt froh sein konnte, dass es jemanden gab, der sich um ihn sorgte.
Niemandem würde es auffallen, wenn ich heute Nacht nicht zurückkehren würde. Denn es gab niemanden mehr, der sich um mich sorgte. Jetzt war ich wirklich so alleine, wie ich mich insgeheim schon immer gefühlt hatte.
Nach einer scheinbar endlosen Zeitspanne spürte ich, wie der Zug langsam an Geschwindigkeit verlor, hörte über das Dröhnen des Basses aus den Ohrhörern hinweg das schrille Kreischen der Bremsen, als Metall über Metall rieb. Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen, als die Panik mich wieder einmal zu überwältigen drohte. Ich war an meinem Ziel angelangt. Nur noch ein paar Straßen weiter...
Ich schluckte, mein Mund war auf einmal seltsam trocken, und in meiner Kehle hatte sich ein eiserner Kloß breitgemacht, der mich am Atmen hinderte. Zu viele hinuntergeschluckte Tränen, zu viel Furcht, zu viel Schuld, zu viel Trauer, zu viel Einsamkeit. So viel, dass es für mehrere Leben gereicht hätte.
Mit zitternden Fingern verstaute ich meinen MP3-Player wieder in der Jackentasche und machte mich dann auf den Weg nach draußen.
Dunkelheit umfing mich, als ich auf den beinahe leeren Bahnsteig trat. Wogende, wabernde Dunkelheit. Die Schatten hießen mich willkommen wie einen lange verlorenen Sohn.
Seit ich denken konnte, lauerten sie in der Finsternis. Wisperten, raschelten, kicherten, starrten mich an mit ihren kalten, blauen Augen, die alles sahen, alles wussten.
Da waren sie wieder, die klauenartigen Finger, die nach mir griffen, die schwarzen Krallen, die auf mich zu schnellten, schlangengleich, unaufhaltsam, tödlich. Ich sah die Mordlust in den seelenlosen blauen Augen flackern.
Hastig riss ich die Taschenlampe aus meiner Jackentasche, mein Zeigefinger fand mit traumwandlerischer Sicherheit den Schalter, den ich schon unzählige Male betätigt hatte. Der helle, fokussierte Lichtstrahl schnitt durch die Gestalt, die direkt vor meinen Augen allmählich zu einer festen Form gerann.
Ein schmerzerfülltes Zischen, das nur für meine Ohren hörbar war, und der Schatten floss auseinander wie das Wachs einer zu weich gewordenen Kerze und wurde vom eisigen Winterwind verweht.
Ich atmete langsam aus, versuchte, mein rasendes Herz zu beruhigen. Suchend schweifte der Lichtstrahl durch die Dunkelheit, die sich wie eine schwarze Wand vor mir ausbreitete. In Wahrheit waren es nur wenige Schritte bis
zu den hellen Lichtkreisen der nächsten Straße. Und doch erschien es mir wie ein unendlich weiter Weg durch die Schatten. Ich umklammerte das kühle Metall meiner einzigen Waffe noch ein wenig fester, atmete einmal tief ein, straffte die Schultern und ließ mich von der Dunkelheit verschlucken.
Kälte. Eisige Kälte, die nach meiner Seele griff. Ich spürte die beinahe sanften, lockenden Hände, die über mein Haar strichen.
Verzweifelt beschleunigte ich meine Schritte und wusste doch, dass ich ihnen nicht entkommen konnte. Nicht wirklich. Ich hörte das leise Zischeln und Fauchen, das mich umgab, vernahm die gehässigen Stimmen, aber auch die gütigen, die mich in ihren Bann ziehen wollten, mich in Sicherheit wiegen wollten, bis ich mich unwiederbringlich in ihrem Netz verstrickt haben würde. Und es lockte mich so sehr. Die Aussicht, nicht länger alleine zu sein. Verstanden zu werden.
Egal, wohin ich auch ging, ich schien sie immer mit mir zu nehmen, die Stimmen aus den Schatten. Ich konnte mich nicht verstecken, ich konnte nicht fliehen, ich konnte sie nicht überlisten, denn sie waren mir immer einen Schritt voraus und folgten mir zugleich überall hin. Damit hatte ich mich irgendwann abfinden müssen.
Ich ertrug es, so, wie ich es immer tat. Schweigend.
Dann hatte ich endlich den ersten, orangefarbenen Lichtkreis der nächsten Straßenlaterne erreicht.
Es hatte eindeutig seine Vorteile, in einer Großstadt zu leben. Selbst bei Nacht waren die Straßen stets hell erleuchtet. Vor allem so nahe am Zentrum. Aus diesem Grund hatte ich auch diesen Teil der Stadt für mein nächtliches Vorhaben ausgewählt. Sie würden mich nicht aufhalten können. Nicht heute. Nicht mehr.
In Gedanken versunken fuhr ich mit dem Zeigefinger die schmale, gezackte Narbe auf meinem Handrücken nach, die mir geblieben war. Die Narbe, die mich immer daran erinnern würde, was meinetwegen geschehen war. Ich war mit diesem einen Kratzer davongekommen. Rein äußerlich war mir nicht mehr geschehen. Doch innerlich hatte mich die Kälte der Nacht bereits damals fast verschlungen, an jenem Tag, an dem meine Welt, so wie ich sie gekannt hatte, für immer geendet hatte.
Noch heute konnte ich das Kreischen der Bremsen hören, als sei es gestern gewesen. Das Grinsen der blauen Augen, als die Gestalt aus dem Nichts vor der Windschutzscheibe aufgetaucht war. Mitten auf der Autobahn. Ich konnte noch immer den entsetzten Aufschrei meines Vaters hören, als er erkannt hatte, dass er niemals rechtzeitig zum Stehen kommen würde. Das schrille Quietschen der Bremsen hallte noch heute in der Dunkelheit der Nacht nach, gespenstisch und wie aus weiter Ferne, und dennoch so herzzerreissend deutlich. Sie ließen es sich nicht nehmen, mich wieder und wieder daran zu erinnern.
Verzweifelt kniff ich die Augen zu. Doch den Bildern der Vergangenheit konnte ich nicht entkommen. Als seien die Gesetze der Zeit außer Kraft gesetzt worden, sah ich nun, wie im bleichen Scheinwerferkegel unseres Ford Focus der LKW erschienen. Der querstehende LKW, der später laut Polizeibericht die eigentliche Unfallursache gewesen war. Ich wusste es besser.
Wir hatten nie eine Chance gehabt. Sie hatten nie eine Chance gehabt. Es war töricht gewesen, zu glauben, dass ich so einfach die Stadt würde verlassen können.
Ich hatte doch nur fliehen wollen, irgendwohin, wo ich meine Ruhe hatte. Ernsthaft hatte ich geglaubt, dass es anderswo besser sein würde, dass sich der Fluch der Schatten nur auf unser Haus bezog, oder auf unsere Stadt; dass ich anderswo frei sein würde. Und irgenwann hatten meine Eltern schließlich meinem Wunsch nachgegeben, hatten mich sogar darin bestärkt, meiner „inneren Berufung“ zu folgen und ein Studium an der Universität in Hamburg aufzunehmen. Ich hatte gehofft, es würde helfen, so viele Kilometer zwischen mich und mein Elternhaus wie nur möglich zu bringen. Nach all den Jahren hätte ich es besser wissen sollen.
Die Schatten ließen mich nicht gehen. Das würden sie nie zulassen. Und meine Eltern hatten für diese Erkenntnis mit ihrem Leben gezahlt.
Nach dem Unfall hatte die Lebensversicherung meines Vaters mein Überleben gesichert und würde es auch noch für eine Weile tun. Wir hatten keine Verwandtschaft: Vater war in einem Waisenhaus aufgewachsen, und von Mutters Familie war nie gesprochen worden. Ich hatte immer nur die beiden gehabt, und es hatte mir gereicht. Doch nun, da sie fort waren, war ich auf einen Schlag vollkommen alleine.
Ich hatte gedacht, darauf vorbereitet zu sein. Ich hatte gedacht, irgendwie damit zurecht kommen zu können, hatte ich mich doch schon vor ihrem Tod so oft alleine gefühlt, isoliert vom Rest der Welt, da ich niemals erzählen konnte, was ja doch keiner glauben würde. Jahrelang hatte ich alleine mit meinen Alpträumen gelebt und war dadurch immer ein wenig anders gewesen als der Rest der Welt. Diese Andersartigkeit hatte mich zum Einzelgänger werden lassen. Ich hatte geglaubt, daran gewöhnt zu sein.
Doch die Einsamkeit, die mich nun umgeben hatte, war so viel mehr gewesen, als ich auf Dauer hatte ertragen können.
Ich hatte weitergelebt. Irgendwie. Ich war jeden Morgen aufgestanden, hatte mich auf den Weg in die Uni gemacht, hatte die Vorlesungen über mich ergehen lassen und war jeden Abend in ein leeres, zu stilles Haus zurückgekehrt.
Mit Einbruch der Dunkelheit hatte ich sämtliche Lichtschalter betätigt und war mit der Taschenlampe in der Hand in einen unruhigen Schlaf gefallen, während das stetiges Wispern und Rascheln nicht für einen Moment abgeebbt war und mich immer wieder hatte aufschrecken lassen.
Die Stimmen waren seit dem Unfall so viel gnadenloser geworden. Immer wieder hielten sie mir vor, wie schrecklich egoistisch ich doch gewesen war, meine Eltern so in Gefahr zu bringen. Was für ein erbärmliches Leben ich doch führte. Was ich doch für ein verdammter Feigling war.
Nicht, dass ich die Stimmen dazu gebraucht hätte, um mir darüber klar zu werden.
Ich hatte mich auch daran gewöhnt. Irgendwie. Doch dann war etwas geschehen, das alles verändert hatte. Ich hatte sie getroffen.
Nach der letzten Vorlesung war ich wie üblich an meinem Platz sitzen geblieben. Ich tat das für gewöhnlich immer. Ich mochte keine Menschenmengen, hatte mich vorzugsweise dem Gewühl ferngehalten. Vielleicht lag es daran, dass ich das Getuschel und Gewisper und Geraschel nicht mochte, weil es mich zu sehr an meine nächtlichen, sehr realen Alpträume erinnerte.
Und als ich mir dann endlich sicher gewesen war, alleine in dem großen Hörsaal zu sein, hatte ich aufgesehen –
und direkt in zwei warme, grüne Augen geblickt. Und für einen Moment hatte mir buchstäblich der Atem gestockt.
„Du hast doch jetzt auch Neue deutsche Literaturwissenschaft bei Heinzmann, oder?“, hatte sie leise gefragt, beinahe schüchtern. „Vielleicht können wir ja gemeinsam rübergehen...“
Ich hatte geschluckt und mühsam ein steifes Nicken zustande gebracht. Ich hatte mich fast davor gefürchtet, ihr zu antworten. So lange schon hatte ich mit niemandem mehr gesprochen, und auf einmal hegte ich den irrationalen Verdacht, dass ich es vielleicht verlernt haben könnte. Vielleicht waren es meine Stimmbänder einfach nicht mehr gewohnt, verständliche Laute zu produzieren. Und ich hatte sie nicht mit meiner rauen, rostigen Stimme verschrecken wollen. Es war so schön gewesen, wieder von einem anderen Menschen angesehen zu werden, wirklich und wahrhaftig gesehen und angesprochen zu werden. Ich hatte nicht gewusst, wie sehr ich das vermisst hatte.
Sie hatte mich einen kurzen Moment lang nachdenklich gemustert, dann hatte sie mir ihre Hand gereicht.
„Ich bin Jana...“
„Marco“, hatte ich geflüstert und zu meiner großen Erleichterung festgestellt, dass ich tatsächlich noch in der Lage war, mich verständlich zu artikulieren.
Ihre Hand war so warm gewesen. So warm und weich. Und sie hatte gelächelt. Wirklich gelächelt. Und da hatten sich meine Mundwinkel unwillkürlich ebenfalls gehoben.
Es war ein schwaches Lächeln gewesen, sicher. Aber doch eindeutig ein Lächeln. Es hatte sich so ungewohnt angefühlt. Und so gut.
Schweigend waren wir nebeneinander den leeren Flur entlang gegangen. Es war ein weiter Weg zur nächsten Veranstaltung, wir mussten dazu den halben Campus überqueren. Aber auf einmal hatte mich dieser Gedanke beinahe froh gestimmt. Es hatte bedeutet, dass ich noch mehr Zeit mit ihr verbringen konnte. Denn in diesem Augenblick war mir aufgefallen, wie angenehm alleine ihre Anwesenheit war. Sie hatte eine seltsame, ruhige Wärme ausgestrahlt, die bis in mein Innerstes gedrungen war.
In diesem Moment hatte ich es bemerkt. Dass sie seit einer langen Weile der erste Mensch gewesen war, der mir direkt in die Augen gesehen hatte. Der mich angesehen hatte. Der mich wahrgenommen hatte. Und der nicht sofort geflohen war, als wäre die Dunkelheit, die von mir ausging, beinahe greifbar.
Nein, sie war bei mir geblieben. Und für ein paar unbezahlbar kostbare Augenblicke hatte ich mir tatsächlich erlaubt, zu hoffen.
Doch dann hatten wir das Ende des Flures erreicht. Und mir war schlagartig klar geworden, dass ich sie auf keinen Fall über den Campus begleiten durfte. Denn es war bereits dunkel. Im Winter wurde es immer so verdammt früh dunkel. Und hinter den Glasscheiben des Foyers ballten sich die Schatten bereits zu schwarzen, bedrohlichen Gestalten zusammen.
Ich hatte gewusst, dass sie sie nicht sehen konnte. Aus diesem Grund war sie auch vor ihnen sicher. Ich war der Einzige, der sie sah. Und deswegen konnten sie mich angreifen, verletzen oder töten. Weil sie für mich real wurden. Nur für mich.
So lange sie in meiner Nähe war, schwebte sie in der selben Gefahr. Diese Erkenntnis war mit dem Leben meiner Eltern erkauft. Und ich würde um nichts in der Welt zulassen, dass sich so etwas noch einmal wiederholte.
Und da hatte ich es begriffen.
Ich würde nie wieder einem Menschen nahe kommen können. Meine bloße Anwesenheit war gefährlich genug, ich durfte niemals wieder zulassen, dass ein anderer das Schicksal meiner Eltern teilte.
Und so hatte ich mich zu dem Mädchen umgewandt. Ich hatte gespürt, wie die kalte Dunkelheit mein Herz umschlungen hatte, als ich ihr mit unbeteiligter Stimme zu verstehen gegeben hatte, dass ich kein Interesse daran hatte, Zeit mir ihr zu verbringen. Ich hatte die Traurigkeit in ihren Augen gelesen. Ich hatte beinahe körperlich gespürt, wie sehr meine Ablehnung sie verletzt hatte. Und in diesem Moment war etwas in mir für immer erstarrt.
In diesem Moment hatte ich es wirklich begriffen. Ich hatte begriffen, dass ich nun endgültig alleine war. Und dadurch war die Welt der Schatten irgendwie realer geworden als die meine. Denn in der meinen würde ich von nun an eher Zuschauer als Teilnehmer sein.
Von da an hatte ich ihnen wirklich nicht mehr entkommen können, denn sie waren irgendwie ein Teil von mir geworden. Ich spürte es, spürte die Kälte in mir, die nicht mehr nur von außen, sondern auch aus meinem Inneren zu kommen schien.
Vielleicht war es auch schon immer so gewesen.
Als ich dies endlich akzeptiert hatte, hatte ich gewusst, dass es für mich nur einen Weg gab, frei zu kommen.
Meine Schritte hallten unnatürlich laut in der Stille der Nacht, wurden von den Bürogebäuden auf beiden Seiten der Straße zu mir zurückgeworfen. Eine lange Zeit wurde die Ruhe der schlafenden Stadt nur vom Geräusch meiner Schritte und dem leisen Rascheln der Schatten gestört, die mich begleiteten.
Dann wichen die hohen Häusertürme zurück, als wären sie im Kampf gegen meine Ausdauer unterlegen, als räumten sie der Dunkelheit endlich das Feld. Leises, murmelndes Plätschern drang an meine Ohren, übertönte des stetige Geflüster in mir. Es war ein sanftes Geräusch, und das war mit ein Grund, warum ich mir diesen Ort hier ausgesucht
hatte. Er strahlte Ruhe und Frieden aus, Gefühle, an die ich mich kaum noch erinnern konnte.
Und doch wurde jetzt, in der Dunkelheit, das Wasser zu einem bodenlosen Abgrund, der sämtliches Licht zu schlucken schien wie ein schwarzes Loch.
Einen Augenblick zögerte ich, dann umklammerte ich die Taschenlampe in meiner Jackentasche noch fester als zuvor und betrat die Brücke. Es war eine schmale Fußgängerbrücke, aber für meine Zwecke reichte es. Sie war hoch genug, das Wasser darunter flach genug.
Das Rascheln wurde lauter, und jetzt glaubte ich auch, sie leise und boshaft zischeln zu hören. Sie schienen zu erkennen, was ich plante, und es gefiel ihnen nicht. Natürlich gefiel es ihnen nicht. Sie waren ein Teil von mir. Und auch mir gefiel der Gedanke nicht sonderlich. Doch es gab keine andere Möglichkeit.
Wenn ich vor mir selbst fliehen wollte, gab es nur einen Ausweg.
Ich trat den letzten Schritt an den Abgrund heran, wandte mich ein letztes Mal um und sah in die kalten, blauen Augen die mich jetzt fixierten. So kalt waren sie. Wie eisige, tastende Finger schienen sie bis in mein Innerstes zu dringen. Sie waren so kalt wie das schwarze Herz, das in meiner Brust schlug. Die Kälte kam nicht nur von außerhalb. Und es waren nicht nur die blauen Augen, die Schuld daran trugen. Sie weckten etwas in mir, das dort schon immer geschlummert hatte. Diese Kälte war in mir, und das war der Grund, aus dem ich gehen musste. Ich war zu dem geworden, das ich stets gefürchtet hatte.
„Bleib!“, schienen mir die Schatten lautlos zu befehlen.
Ich schüttelte ein letztes Mal den Kopf. Angst packte mich in ihrem eisernen Griff, schnürte mir die Luft ab, legte sich wie eine bleiernes Gewicht um meinen Brustkorb.
Ich spürte die Tränen, wie sie über meine Wangen rannen, heiß und hart. Das Schluchzen drängte ich mit aller Macht zurück, es wurde zu einem schwachen, klagenden Laut abgedämpft.
Ich weinte nicht um mich.
Ich weinte um all die ungenutzten Chancen, um etwas, das nun niemals sein würde. Um ein Leben, das ich niemals führen würde, um all die Ereignisse, die ich niemals erleben würde. Dieser eine Schritt war so endgültig, die Entscheidung absolut. Von hier gab es kein Zurück mehr. Aber gerade deswegen hatte ich mich so entschieden.
Ich wusste, dass ich mit dem Mädchen, mit Jana, vielleicht hätte glücklich werden können.
Ich hatte es gespürt. Die Möglichkeit, dass es mehr hätte sein können. Ihre Augen waren warm gewesen. So warm. Zu warm für die Kälte in meinem Inneren.
Ich war nie jemand gewesen, der rasch aufgab. Dass ich nach all dieser Zeit noch immer hier stand, war wohl Beweis genug dafür.
Doch mit der Hoffnung war der Teil von mir gestorben, der Teil, der gekämpft hatte.
Jetzt war nichts mehr in mir, das noch kämpfen wollte. Ich sehnte mich nach dem Frieden, den ich mir immer gewünscht, aber nie kennen gelernt hatte.
Ich sehnte mich danach, wie sich ein verdurstender Mann in der Wüste nach Wasser sehnt, obwohl er längst vergessen hat, wie es ist, nicht durstig zu sein, auch wenn er sich schon nicht mehr erinnern kann, wie Wasser schmeckt, wie es riecht, wie es sich anfühlt.
Entschlossen tat ich jenen letzten Schritt, und die Leere umarmte mich. Und das erste Mal war ich vollkommen alleine in der schattenlosen, gestaltlosen Dunkelheit.
Texte: (c) by Schneeflocke
Tag der Veröffentlichung: 17.07.2011
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