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Prolog




Es war in jenen Tagen,
da es nur einen Clan gab
und unsere Welt noch nicht zersplittert war.
Es gab noch Handel zwischen den verschiedenen Völkern unserer Welt.
Doch unser Volk sah sich damals noch nicht als einen Teil dieser Welt.
Wir herrschten.
Wir waren die Welt.
Als die mächtigsten Wesen Derynjas
wähnten wir uns in Sicherheit.
Wie trügerisch diese Sicherheit war,
sollten wir nur zu bald schmerzlich erfahren.
Denn es gibt immer eine größere Macht,
und so wird es auch immer sein.
Die Gesetze des Universums streben das Gleichgewicht an.
Doch davon will ich heute nicht erzählen.
Das haben andere bereits vor mir getan.

Ich will die Geschichte meines Volkes erzählen.
Ich will von den Anfängen unseres Clanes schreiben,
meines Clanes.
Es ist hierbei wie mit vielen Geschichten dieser Welt,
Geschichten von Männern und Frauen, die viel verändert haben.
Eigentlich wollten wir nichts verändern.
Wir wollten nur leben.



(Cedric von Fynn, Die Chroniken des Nordclans)





1. Drei Brüder





Ich dachte, ich sei glücklich.
Vielleicht war ich das auch.
Was weiß man denn mit zwölf Sommern schon vom Leben?
Wie soll das eingesperrte Tier,
das niemals den blauen Himmel sah,
sich nach diesem sehnen?
Ich kannte Zufriedenheit.
Ich war zufrieden.
Ich lebte in meiner eigenen, kleinen Welt.
Sie war nicht perfekt, aber wessen Welt ist das schon?



(Cedric von Fynn, Die Chroniken des Nordclans)




Fynn Castle, zwanzig Sommer vor dem Jahr des Drachen (20 a.D.)




Mit einem hohen, metallischen Klirren trafen die beiden Schwerter aufeinander. Ich konnte die Vibration bis tief in meine Schulter hinein spüren, und ein unangenehmes Ziehen breitete sich in meinem gesamten Oberkörper aus. Es war ein heißer Tag, die Sonne brannte vom Himmel herab, und der Schweiß rann mir in Strömen den Rücken hinunter. Das dünne Leinenhemd klebte mir am Leib, und ich spürte, wie meine Kräfte allmählich nachließen. Ich wusste nicht, wie lange wir schon in der drückenden Hitze in der Mitte des Burghofes gegeneinander kämpften, doch es erschien mir wie eine Ewigkeit.
Das Schwert meines Vaters war schwerer als das Holzschwert, das ich gewohnt war, das Heft zu groß, als das ich es mit meinen schmalen Fingern hätte umfassen können, und so führte ich es mit beiden Händen, als sei es ein Breitschwert. Das schränkte meine Bewegungsfreiheit ein, und meine Wendigkeit war mein einziger Vorteil, den ich gegen meinen so viel stärkeren Gegner hatte.
Ich wusste, dass ich nicht mehr lange standhalten würde. Ich hatte von Anfang an gewusst, dass es sinnlos war, dass ich ihm hoffnungslos unterlegen war.
Carum drängte mich immer weiter zurück, und er schien noch so frisch und ausgeruht zu sein, als sei er gerade erst aus dem Bett gestiegen und nicht, als sei er soeben von einem Raubzug mit den anderen Kriegern meines Vaters zurückgekehrt. Das pechschwarze Haar hing ihm in wirren Strähnen in die Stirn und gab ihm das Aussehen eines wilden Tieres. Seine Züge hatten schon immer an einen Wolf erinnert, schwarf und kantig, die Grausamkeit schien bis in jede Faser seines Körpers gedrungen zu sein. Er war anders. Er war schon immer anders gewesen. In Momenten wie diesem vermochte ich keinerlei Ähnlichkeit zwischen uns auszumachen, auch wenn wir uns körperlich so sehr glichen.
Jeder Hieb war schwerer abzuwenden als der vorangegangene, und immer wieder drohte Carum, meine Deckung zu durchbrechen. Das mit Leder umwickelte Heft des Schwertes war inzwischen schweißgetränkt, meine Finger griffen nicht mehr so fest, wie sie sollten, und mehr als einmal war mir die Klinge beinahe entglitten.
Und dennoch verbot mir meine Ehre, eine Niederlage einfach hinzunehmen. Ich wusste, dass inzwischen alle anderen Knaben ihre Übungen unterbrochen hatten und gebannt zusahen. Und ich war entschlossen, mich zu beweisen. Dieses eine Mal würde ich nicht unterliegen.

Doch noch immer blieb das vertraute Brennen in meinen Augen aus, und der rote Schleier wollte sich nicht über mein Sichtfeld legen. Statt dessen schien mich das staubige Grau des Burghofes regelrecht zu verhöhnen. Carums Augen hingegen glühten schon lange in jenem blutfarbenen Burgunderton, dem typische Kennzeichen der Kampftrance, die unserer Art zueigen war. Sie half uns, ungeahnte Kräfte zu entfesseln und unterdrückte den Schmerz, was in einem Gefecht sehr nützlich sein konnte. Alle Sinne wurden dann vollständig auf den Kampf gelenkt, es gab kein Mitleid mehr, kein Bedauern, keine Gefühle außer dem unbändigen Drang, zu siegen.
Irgendwie hatte mir dieses Vorstellung nie so recht behagt. Es war ein beängstigendes Gefühl, einen so wichtigen Teil meiner Persönlichkeit einfach ausschalten zu können. Vielleicht war es dieses insgeheime, innere Widerstreben, das es mir jetzt unmöglich machte, jenen Zustand zu erreichen. Vielleicht hatte ich es aber auch einfach im Laufe der Zeit verlernt. Zu lange war der letzte Übungskampf mit Jaro bereits her, er hatte zu viele andere Aufgaben, und in letzter Zeit schien er noch häufiger aus der Burg zu verschwinden, als er mir gegenüber zugeben wollte. Ich war es einfach nicht mehr gewohnt, all meine Kräfte auf den Sieg zu konzentrieren, versuchte ich doch zumeist, ihn zu meiden.
Carum indes hatte noch nie große Schwierigkeiten damit gehabt, kühl und beherrscht vorzugehen, und sein Ehrgeiz kannte keine Grenzen – eine Eigenschaft, die mir augenscheinlich fehlte. Vielleicht war ich wirklich nicht zum Krieger bestimmt.
Und doch war genau das mein Platz. Ich war der jüngste Sohn meines Vaters, meine Aufgabe würde es sein, seine Armee anzuführen. Eines Tages würde der Kampf mein einziger Lebensinhalt sein. Eine Zukunft, der ich nicht gerade freudig entgegen sah.

Mit einer geschickten Drehung seines Handgelenkes verkantete Carum seine Klinge mit der meinen. Ein heftiger Ruck, und das Schwert wurde mir aus der Hand gerissen. Es trudelte in einem hohen, silberfarbenen Bogen durch die Luft und kam mit einem dumpfen Klirren am anderen Endes des Hofes auf. Einen Augenblick später fand ich mich auf dem Boden wieder, das Schwert meines großen Bruders an der Kehle.
Der Atem entwich mir mit einem hohen, pfeifenden Ton, als er mit dem Fuß auf meinen Brustkorb trat, und ich spürte die Kälte des steinernen Burghofes in meinem Rücken und das harte, unnachgiebige Leder der Stiefelsohle dicht über meinem Herzen. Bunte Sterne tanzten vor meinen Augen, meine Lungen schrieen nach Luft, und für einen Moment fürchtete ich, das Bewusstsein zu verlieren.
„Du bist besiegt, Kleiner“, erklärte Carum kühl. Er drückte einen unendlichen Augenblick noch ein wenig fester zu, ehe er den Fuß wieder herunternahm. Ich japste keuchend nach Luft, spürte, wie sich der vertraute, brennende Schmerz meine Kehle hinab fraß, als ich zu gierig einatmete.
Die Klinge verharrte regungslos an meiner Kehle. Das kühle Metall roch nach altem Blut und rostigem Eisen, und als Carum sich dicht über mich beugte, konnte ich mit ansehen, wie das rote Glühen allmählich zurückwich, bis seine Augen den gewohnten Farbton des hellen Brauns wieder angenommen hatten. Das kühle, berechnende Blitzen war jedoch nicht gewichen. Manchmal fragte ich mich, ob es für Carum überhaupt einen Unterschied bedeutete, ob er in Trance war oder nicht. Ich zweifelte daran, dass er Gefühle wie Mitleid überhaupt kannte. Er war der Sohn, den sich mein Vater immer gewünscht hatte, er würde das Reich nach seinem Tod mit derselben Härte und Unnachgiebigkeit führen.
„Du hast gewonnen“, brachte ich heraus, und Carum nickte zufrieden. Für einen Moment presste er die Klinge noch fester an meinen Hals, und ich spürte, wie ein kleines Rinnsal warmen Blutes hervortrat, ich roch das leicht salzige, metallische Aroma, das sich nun zu dem Gestank von Carums Schwert gesellte. Dann war der Druck verschwunden, und Carum trat einen Schritt zurück.
Mühsam setzte ich mich auf und hob meine linke Hand zum rituellen Gruß. Jeder einzelne Muskel meines Körpers schien zu schmerzen. Es war nur ein Übungskampf gewesen, und doch hatte er mich fast all meine Kräfte gekostet.
Carum schlug seine Hand gegen die meine, und es gelang mir nur mit Mühe, das Gesicht nicht schmerzvoll zu verziehen, als ich wieder ein unangenehmes Ziehen in meiner Schulter verspürte. Da wusste ich, dass ich mir heute zu viel abverlangt hatte, und dass ich in den kommenden Tagen dafür würde zahlen müssen. Das dumpfe Pochen zog sich inzwischen meinen gesamten oberen Rücken entlang, bis in den Ellbogen meines Schwertarmes hinein. Morgen würde ich eine Ausrede finden müssen, warum ich nicht am morgendlichen Kampftraining würde teilnehmen können.
Mein ältester Bruder senkte den Kopf zu einer knappen, spöttischen Verbeugung, dann wandte er sich ab und ging über den Burghof zurück ans andere Ende des Kampfplatzes und lies mich nicht aus den Augen. Ich wusste nicht, worauf er noch wartete. Wollte er Zeuge meiner Demütigung werden, wenn Lochan mich in die Finger bekam?
Es war mir gleich. In diesem Moment war mir alles gleich, so lange ich nur genug Luft in meine schmerzenden Lungen bekam.

Während ich noch nach Atem rang und dem Jubel der Knaben lauschte, die Carums Kampfeskunst lobten, hörte ich feste Schritte über den steinernen Burghof dröhnen. Dieses abgehackte, rhythmische Geräusch hätte ich überall wieder erkannt. Ein paar Lederstiefel traten in mein Blickfeld, und ich brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, wer sich dort vor mir aufgebaut hatte.
„Verdammt, Cedric, kannst du nicht ein einziges Mal dein Augenmerk ausschließlich auf deinen Kampfschleier richten? Du denkst zu viel, und du lässt dich zu leicht von deinen Befindlichkeiten ablenken! Wie oft muss ich es dir noch erklären, Junge? Wenn du nicht lernst, deine Gefühle auszublenden, wirst du niemals ein guter Kämpfer werden!“, schimpfte Lochan, der Kampfmeister meines Vaters. „Du musst siegen wollen, das ist der einzige Weg. Nur mit deiner Willenskraft kannst du die Kampftrance heraufbeschwören, du musst vollständig im Kampf aufgehen und alles andere hinter dir lassen!“
„Ich bin mir dessen bewusst, Lochan“, erwiderte ich müde. Ich war es so leid, mir wieder und wieder sagen zu lassen, dass ich nicht für den Kampf taugte. Konnte er es nicht einfach bei einem missbilligenden Kopfschütteln bewenden lassen?
„Ich bin wohl einfach nicht zum Krieger geboren“, fügte ich an.
Ehe ich mich versah, hatte mich eine starke Hand am Kragen gepackt und mich nach oben gerissen. Wutentbrannte, blaue Augen bohren sich in die meinen.
„Oh, doch, Junge, du bist sehr wohl zum Krieger bestimmt!“, zischte Lochan erbost. „Du willst nur nicht. Verdammt, jede deiner Bewegungen spricht für sich! Du bist ein Naturtalent! Aber du willst einfach nicht, das ist das Problem. Du hast keinen Funken Ehrgeiz in dir!
Ich werde einen Weg finden, dich zum kämpfen zu bewegen, das schwöre ich dir. Jeder hat einen wunden Punkt, und ich werde den deinen finden.“
Er schüttelte mich noch einmal, wie einen nassen Hund, und ließ mich dann fallen. Mühsam fing ich den Sturz mit meinen Händen ab, doch der Aufprall jagte erneut einen weissglühenden Schmerzenspfeil durch meinen Schwertarm hindurch. Ich biss entschlossen die Zähne zusammen. Niemand würde mir anmerken, wie ich litt, niemanden würde ich sehen lassen, wie sehr mich seine Worte verletzt hatten, oder wie sehr meine Schulter schmerzte. Manchmal ertappte ich mich dabei, die Frauen fast ein wenig zu beneiden. Niemand wäre jemals auf den Gedanken gekommen, ein Mädchen zu schelten, das weinte. Doch andererseits wurden die Mädchen auch selten überhaupt bemerkt. Sie waren nur dazu da, später einmal Kinder zu gebären, einen anderen Nutzen hatten sie nicht. Sie durften nicht sprechen, wenn sie nicht dazu aufgefordert worden waren, und sie bekamen erst zu essen, nachdem die Männer und die Jungen gespeist hatten. Nein, wenn ich es mir recht überlegte, war ich doch ganz froh, ein Junge zu sein.

Leise fluchend rieb ich meinen nun zusätzlich schmerzenden Schwertarm und blickte dem Waffenmeister meines Vaters hinterher, wie er raschen Schrittes den Burghof überquerte. Kurz hielt er inne, um einem anderen Jungen zu zeigen, wie er das Schwert richtig zu fassen hatte. Dann klopfte er meinem großen Bruder Carum auf die Schulter und steckte ihm einen blitzenden Dolch zu, wechselte dabei einen verschörerischen Blick mit ihm, und da verstand ich es auf einmal.
Ich begriff, weshalb er mich gegen Carum hatte kämpfen lassen, obwohl dieser eigentlich längst über das Alter hinaus war, sich mit den andern Knaben im Kampf zu messen. Ich begriff, warum wir die echten Klingen benutzt hatten und nicht die üblichen Holzschwerter.
Er hatte gehofft, mich aus der Reserve zu locken. Lochan hatte von der Feindschaft gewusst, die zwischen uns herrschte, so lange ich mich zurückerinnern konnte. Ich wusste nicht, warum mich mein großer Bruder so verachtete. Doch Zeit meines Lebens hatte Carum keine Gelegenheit verstreichen lassen, mich zu erniedrigen oder zu demütigen. Und Lochan hatte wohl gehofft, Hass würde mich dazu bringen, endlich einen ordentlichen Kampf abzuliefern.
Dabei hätte er doch wissen müssen, dass ich gegen Carum nicht gewinnen konnte. Er war bereits ein Krieger. Er war kampferprobt, ausdauernd und körperlich um ein Vielfaches stärker als ich, denn den Kriegern allein war es erlaubt, sich von menschlichem Blut zu ernähren.

Menschenblut war zu einem kostbaren Gut geworden, seit die Zahl der Menschen immer weiter zurückging. Wir waren in früheren Zeiten zu gierig gewesen, zu unbeherrscht. Mein Vater war es gewesen, der schließlich verfügt hatte, dass der Rest unseres Volkes sich mit Tierblut begnügen musste, um eine vollständige Ausrottung der menschlichen Rasse zu verhindern. Besondere Festtage stellten eine Ausnahme dar, doch da ich noch zu jung war, um mir einen Platz an der hohen Tafel zu erkämpfen, hatte ich auch an den Tagen der Winter- und der Sommersonnenwende stets wie all die anderen Knaben nur Tierblut getrunken.
Und seltsamerweise war ich beinahe froh darüber. Der Gedanke behagte mir nicht, für den Tod eines Menschen verantwortlich zu sein.
Sicher, die Menschen waren uns an Intellekt und körperlicher Kraft unterlegen. Sie waren die Beute, wir ihre Jäger, und es war nur natürlich, dass sie uns nährten. So war es schon immer gewesen, und es gab nichts, was ich daran ändern konnte. Und doch waren sie uns so ähnlich. Sowohl in ihrer Gestalt als auch in ihrem Lebenswandel. Sie lebten in Dörfern und in Familienverbänden, die den unseren nicht unähnlich waren. Sie gingen einen Ehebund ein und sorgten füreinander. Sie waren uns so unglaublich ähnlich, dass ich mich manchmal fragte, ob unsere Rassen nicht sehr viel enger verwandt waren, als man uns immer glauben machen wollte.
Das war mit ein weiterer Grund, weshalb es mir widerstrebte, ein Krieger zu werden. Denn die Krieger waren es, die die Menschen erbeuteten. Allein der Gedanke, dass ich eines Tages einer der Männer sein würde, die diese mitleiderregenden Gestalten zusammentrieben und hierher verschleppten, verursachte mir Übelkeit. Und ich wäre nicht nur einer dieser Männer. Mein Vater war der Herrscher dieses Landes. Nein, ich wäre ihr Anführer.

Ich wusste, dass das der Grund war, warum mich Lochan so erbarmungslos von einem Übungskampf in den nächsten jagte. Er wusste, dass ich eines Tages die Geschicke des Reiches mit bestimmen würde, dass ich dem Kriegern mit gutem Beispiel vorangehen musste. Ich würde sie in den Kampf führen. Ich würde eines Tages die Festung gegen die Angriffe der streunenden Wölfe verteidigen, die sich des Öfteren in den Wäldern zu Rudeln zusammenschlossen und schon ganze Menschendörfer dem Erdboden gleich gemacht hatten. Vielleicht würde ich auch den ein oder anderen Kampf mit einem der Menschenreiche ausfechten müssen, die immer noch nicht gelernt hatten, dass wir die stärkere Rasse waren. In früheren Zeiten hatten sie sich gar manchmal mit einem der Zauberer gegen uns verbündet, doch die waren schon lange in Vergessenheit geraten, es hieß, sie hätten die Gestade dieser Welt endgültig verlassen. Eigentlich konnte uns keine Macht Derynjas ernsthaften Schaden zufügen. Ich verstand nicht so recht, warum wir nach wie vor über eine zahlenmäßig so starke Kriegerelite verfügten, gegen wen sie uns verteidigen sollte. Aber selbst mir war bewusst, dass der Anführer immer der beste Kämpfer sein muss, um seine Stellung behaupten zu können. Ich verstand, weswegen Lochan so verbissen an meiner Kampfeskunst arbeitete und mich gnadenlos von einer Übung zur nächsten prügelte.
Doch das ändertes nichts daran, dass ich ihn dafür hasste.
Er wusste von dem Zwist zwischen mir und meinem Bruder. Er hatte gewusst, dass Carum niemals fair kämpfen würde, dass er mich binnen kürzester Zeit besiegt haben würde. Er hatte gewusst, dass ich am Ende meiner Kräfte war, hatte ich doch bereits seit dem Morgengrauen mit dem Schwert geübt. Er hatte es gewusst, und er hatte mich dennoch zu einem Kampf mit meinem ältesten Bruder herausgefordert.
Vielleicht hatte Lochan mir erneut vor Augen führen wollen, dass ich nicht gut genug kämpfte. Vielleicht hatte er aber auch insgeheim gehofft, dass eine weitere Niederlage den Hass in mir zusätzlich schüren würde. Als ob das möglich wäre!
Wie ich mich doch irrte an jenem Tag. Wie sehr ich mich doch irrte. Doch ich war noch jung und naiv, und wusste nichts von der Welt, in der ich lebte. Ich wusste noch nichts von wahrem Hass, wie er sich in das Herz hinein fressen kann, bis es nichts mehr gibt, bis man nur noch dafür lebt, dem Gegner denselben Schmerz zuzufügen, den man selbst erleidet. Nein, den wahren Hass sollte ich erst viel später kennenlernen.

„Gut gemacht, Kleiner! Sehr gut! Und das nächste Mal wird er es vielleicht nicht dabei bewenden lassen, dir nur das Schwert an die Kehle zu setzen!“, spottete eine nur zu bekannte Stimme hinter mir, und ich zuckte erschrocken zusammen. Wieder einmal war es ihm gelungen, mich zu überraschen. Wie er es fertigbrachte, sich stets so vollkommen lautlos anzuschleichen, war mir ein Rätsel.
„Jaro!“ Selbst in meinen eigenen Ohren klang meine Stimme seltsam hoch und schrill, und doch auch ein klein wenig erleichert. „Eines Tages wird mein Herz deinetwegen vor Schreck erstarren, und dann wirst du für meinen plötzlichen Tod verantwortlich sein. Denkst du, du könntest mit dieser Schuld leben?“
Sein Schatten schirmte mein Gesicht vor der grellen Sonne ab, als er vor mir in die Hocke ging. Moosgrüne Augen sahen forschend in die meinen, und dann strich er erstaunlich sanft mit dem Finger über die Wunde an meinem Hals.
„Ist es meine Schuld, dass du so außerordentlich unaufmerksam bist?“, neckte er mich.
Er war erst fünfzehn Sommer alt, und doch wirkten seine Züge schon so erwachsen. Auch wenn seine Wangen noch die leichten Rundungen der Kindheit aufwiesen, strahlte doch sein ganzes Wesen eine Ruhe und Entschlossenheit aus, die so sehr über seine Jahre hinausging. Vielleicht waren es auch seine Augen, die ihn älter wirkten ließen, als er war. Vielleicht lag es daran, dass sie schon so viel gesehen hatte, diese Augen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er schon so früh so viel Verantwortung trug. Meinetwegen.
Ich fragte nicht, warum er hier war. Ich konnte es mir denken. Jaro versäumte selten eine meiner Übungen, auch wenn ich meist der Einzige war, der von seiner Anwesenheit wusste. Mein Bruder war sehr geschickt darin, sich den Blicken anderer zu entziehen.
Er hatte also zugesehen. Und scheinbar war er auch heute wieder einmal Zeuge meiner Niederlage geworden. Das Gefühl der Scham war jedoch nicht so groß wie das der Erleichterung.
Wenn ich ehrlich sein sollte, war ich sogar sehr froh darüber, dass er bei mir war. Allein seine Anwesenheit schien das Gefühl der Hilflosigkeit, das sich in mir ausgebreitet hatte, das mit kalten Klauen aus dem steinernen Boden unter mir aufgestiegen zu sein schien, ein wenig zurückzudrängen. Bei Jaro war ich in Sicherheit. Er hatte mich Zeit meines Lebens beschützt.

„Was machst du nur, Junge?“ Für einen Moment schloss er resigniert die Augen, dann sah er mich scharf an.
Ich erwiderte nichts darauf. Was hätte ich auch zu meiner Verteidigung vorbringen können? Dass ich wusste, dass ich unbedacht gehandelt hatte? Jetzt war es für Reue zu spät.
Jaro schien diese Erkenntnis jedoch nicht zu bremsen. Ich sah, wie der Zorn das Grün seiner Augen verdunkelte, und wappnete mich innerlich. Vorwürfe aus seinem Mund waren immer so viel schwerer zu ertragen wie die Lochans.
„Das nächste Mal wird er vielleicht beschließen, dich ganz aus dem Weg zu schaffen“, begann mein älterer Bruder. Noch klang seine Stimme beherrscht, doch ich gewahrte, wie er sich mehr und mehr in Rage redete. „Unfälle geschehen auch bei Kampfübungen. Er wird nicht einmal zur Rechenschaft gezogen werden können, denn du hast den Kampf angenommen! Herrgott, Cedric, gebrauch deinen Verstand! Ich habe keine Lust, das nächste Mal deine Überreste vom Boden aufzukratzen!“
In diesem Moment ähnelte er Vater so sehr – nur die Augenfarbe war eine andere, und der Ausdruck in ihnen. Seltsam, wie verschieden die Beiden waren, waren sie sich doch äußerlich so ähnlich. Wenn Jaro mich so streng anblickte, vergaß ich manchmal, dass er nur drei Sommer älter war als ich. Er war mein Bruder, aber manchmal schien er mehr so etwas wie mein Vater zu sein. Den bekam ich ohnehin nicht so oft zu Gesicht. Von Carum hielt ich mich wohlweislich fern. Zumeist war ich demnach mit Jaro zusammen. Er war die einzige wirkliche Familie, die ich kannte. Doch irgendwie war es immer genug gewesen.
Er hatte mir alles beigebracht: wie man mit einem Dolch umgeht, wie man im Fluss schwimmt, wie man einen Verband anlegt, wie man kämpft.

Die grünen Augen bohrten sich ein paar endlose Herzschäge lang in die meinen, doch dann wurden sie weicher, als er mich genau musterte. Ich wusste nicht, welch einen Anblick ich bot, doch das Atmen fiel mir noch immer ein wenig schwer, und mein Gesicht war noch immer mit kaltem Schweiß bedeckt. Aus dem leichten Schwindelgefühl schloss ich, dass wohl auch sämtliche Farbe aus meinen Wangen gewichen war.
„Wie geht es dir, Cedric?“ Jaro klang auf einmal so sanft und besorgt, dass ich überrascht blinzelte.
„Es geht schon...ist halb so wild...“, wehrte ich hastig ab.
Doch natürlich entging ihm nicht, wie mühsam ich mich aufsetzte, wie schwer es mir fiel, keine Miene zu verziehen, während ich mich ein wenig unbeholfen aufrappelte. Er kannte mich zu gut.
„So schlimm also“, seufzte er, griff nach meinem Schildarm und zog mich mit einem Ruck auf die Beine. Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu, doch er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen.
„Du hättest den Kampf ablehnen können.“
Ich schnaubte verächtlich. „Sicherlich. Um dann als Schwächling angesehen zu werden.“
Das war die falsche Antwort gewesen. Ich konnte regelrecht spüren, wie eine erneute Welle des Zornes über meinem Bruder zusammenschlug. Die Hand, die nicht meinen Arm umfasst hielt, ballte sich an seiner Seite zu Faust.
„Wenn du mir nur ein einziges Mal zuhören würdest! Manchmal kann es klüger sein, wenn du deine wahre Stärke verbirgst! Wann begreifst du das endlich?“
Wieder traf mich einer dieser stählernen Blicke, dann wandte er sich ruckartig von mir ab und fuhr sich mit einer Hand durch das ohnehin bereits wirre, rabenschwarze Haar. Er hatte es heute nicht wie üblich zu einem Zopf gebunden, und so wehte ihm der Wind immer wieder eine Strähne ins Gesicht.
„Du wirst nie gut genug sein!“, fuhr Jaro etwas leiser fort. „Nicht in Lochans Augen. Und für Carum wirst du immer eine Bedrohung darstellen. Egal, wie du dich verhältst, du wirst dir immer Feinde machen. Das ist dein Schicksal. Darum musst du umso bedachter vorgehen. Zieh nicht zu viele Blicke auf dich. Lerne, unsichtbar zu werden, nur das wird dich letzten Endes retten können. Merk dir meine Worte, Cedric, merk sie dir gut! Eines Tages wirst du mir Recht geben – wenn du dann nicht bereits sechs Fuß unter der Erde liegst!“
„Werde ich nicht“, erklärte ich ruhig und sah unbeirrt zu ihm auf.
„Ach, meinst du, ja?“
„Ja. Du wirst auf mich aufpassen. Das hast du immer getan.“
Für einen Moment war er tatsächlich sprachlos. Dann schüttelte er ungläubig den Kopf.
„Ich werde auf dich aufpassen. Wie ich es immer getan habe. Aber manchmal könntest du mir ein klein wenig dabei helfen, Brüderchen“, seufzte er schließlich ergeben. Ich sah, wie der Zorn allmählich vollständig aus seinen Augen wich.
„Ich werde mir mehr Mühe geben – ich verspreche es.“
Jaro seufzte erneut und wuschelte mir dann etwas unbeholfen durch das Haar. „Ach, Kleiner, du raubst mir noch den letzten Nerv. Wenn ich vorzeitig ergraue, ist das allein deine Schuld!“
Ich lachte, erleichtert, dass er mir nicht länger böse war, und auch um seine Lippen spielte ein Lächeln, wenngleich er es zu unterdrücken versuchte. Es gelang ihm nicht, ich sah, wie seine Mundwinkel amüsiert zuckten.
„Komm“, meinte er dann schlicht. „Lochan sieht gerade nicht zu uns hinüber. Lass uns verschwinden. Für heute hast du genug geübt. Und ich will Elaine nach deinem Arm sehen lassen.“

***

Ich steckte das Schwert meines Vaters zurück in die reichverzierte Scheide an meinem Gürtel. Säubern brauchte ich sie nicht, denn sie hatte nicht einen einzigen Tropfen von Carums Blut gekostet. Einen Moment zögere ich, dann löste ich die schwere Eisenschnalle von meiner Hüfte. Ich konnte das Schwert nicht bei mir behalten, es war den Knaben nicht erlaubt, Waffen zu tragen. Doch irgendwie fühlte ich mich unbewaffnet stets so...bloß, so ausgeliefert. Ein letztes Mal ließ ich meine Finger andächtig über die eleganten Schutzrunen gleiten, die sich schlangengleich sowohl um die Scheide als auch um die Klinge des Schwertes wanden. Dann folgte ich Jaro in den kleinen Verschlag, der unsere Übungswaffen beherbergte.
Es war so dunkel in diesem kleinen, engen Raum. Durch die Holzlatten fiel nur spärliches Licht hinein, doch in den wenigen verirrten Sonnenstrahlen tanzten die Staubkörnchen anmutig durch die Luft. Es roch nach altem Schweiß und getrocknetem Blut, denn auch wenn die meisten Waffen nicht aus Eisen gefertigt waren, floss doch oft genug Blut bei den Übungen. Und auch der Aufprall eines Holzschwertes konnte verdammt schmerzhaft sein, das wusste ich aus eigener Erfahrung.
Das Schwertgehänge war auf einmal seltsam schwer in meinen Händen. Als ich mich reckte, um es auf die dafür vorgesehene Halterung zu hängen, jagte die Bewegung erneut einen Schmerzpfeil durch die Schulter meines Schwertarmes. Ich sog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein und zwang die Übelkeit zurück, die bei dem zu hektischen Atemzug erneut aufgeflammt war. Jaro hatte wie immer Recht behalten, es war wohl tatsächlich angebracht, die Heilerin aufzusuchen.
Und doch brauchte ich einen Moment, um mich von dem ungewohnten Anblick loszureissen. Das Schwert meines Vaters sah so seltsam verloren aus, dort zwischen all den Holzschwertern und –schilden. Es wirkte so fehl am Platz, wie ich mich manchmal fühlte. Als sich ein verirrter Sonnenstrahl auf dem blanken Metall der kunstvoll gearbeiteten Scheide brach, verbesserte ich mich in Gedanken. Nein, ich war nicht das schimmernde, eiserne Schwert in einer Kammer der Übungswaffen. Ich war das zerbrechliche Holzschwert in der königlichen Rüstkammer. Doch der Gedanke...gefiel mir. Ich entsprach nicht ihren Erwartungen, ich hatte sie wieder und wieder enttäuscht. Es war die einzige Möglichkeit, Widerstand zu leisten, das hatte Jaro mich gelehrt. Gegen dieses Leben aufzubegehren, das ich nie gewollt hatte. Es war der letzte Hauch, der letzte Atemzug Freiheit, der mir geblieben war. Mein Leben mochte jetzt schon bestimmt sein von den unzähligen Übungen und Scheinkämpfen, doch ich selbst bestimmte, ob ich verlor oder gewann. Und ich hatte mich jedes einzige Mal entschieden, zu verlieren. Zumindest in jenen Kämpfen, die sich vor den Augen des Waffenmeisters zugetragen hatten. Die heimlichen Kämpfe gegen Jaro gewann ich hingegen immer häufiger. So hatte ich erreicht, einen weiteren, wertvollen Sommer im Quartier der Knaben verbringen zu dürfen. Einen weiteren Sommer, den ich außerhalb von Carums Reichweite war.
Ich hatte mich entschieden, zu verlieren, wenn die Augen der anderen auf mir ruhten. Bis heute.
In gewisser Weise hatte ich heute tatsächlich verloren. Denn heute hatte ich tatsächlich versucht, zu siegen. Entgegen Lochans Annahme hatte ich es wirklich versucht. Und war das nicht die eigentliche Niederlage gewesen?

„Cedric, wo bleibst du denn nur?“, drang da Jaros ungeduldige Stimme durch die offene Tür der Waffenkammer. Ich war so in meine Gedanken versunken gewesen, dass ich nicht einmal bemerkt hatte, wie er die Kammer verlassen hatte. Innerlich schalt ich mich einen Narren für diese Nachlässigkeit. Ich konnte es mir nicht erlauben, so abwesend zu sein. Es war zu gefährlich.
„Ich bin gleich bei dir“, rief ich zurück. Ich warf einen letzten Blick zur Klinge meines Vaters hinüber, und dann kehrte ich dem dunklen Raum den Rücken.


Ist es das Blut, das eine Familie ausmacht?
Ist es die Geburt, die uns unseren Platz zuweist?
Es gibt wichtigere, tiefere Bande als die des Blutes.
Und den eigenen Platz muss man sich mühsam suchen
Ansonsten ist er wertlos
Ich hatte das Glück, beides zu finden.
Auch wenn ich einen Preis dafür zahlte.
Einen hohen Preis.


(Cedric von Fynn, Die Chroniken des Nordclans)



2. Familienbande



Fynn Castle, zwanzig Sommer vor dem Jahr des Drachen (20 a.D.)




Seite an Seite gingen wir durch den dunklen Flur. Jaro hatte längere Beine als ich, und er eilte so zügig voran, dass ich nur mühsam Schritt halten konnte. Die Schatten tanzten wild im Takt seiner Schritte, denn hier unten gab es keine brennenden Fackeln an den Wänden, die uns den Weg erhellten, und auch keine Fenster, die spärliches Tageslicht einließen, wie es im Wohnbereich der Burg üblich war. Jaro trug die kleine Laterne, die wir stets am Eingang des Ganges versteckt hielten, und sie war die einzige Lichtquelle, die wir hier unten hatten. Es hätte Verdacht erregt, würden wie sie in unserer Kammer bewahren, denn Laternen brauchten nur die Wächter, die des Nachts die Burg bewachten, und jene, denen der Zugang zu den Kellern gestattet war. Wo Jaro sie entwendet hatte, vermochte ich nicht zu sagen, und ich dachte mir im Stillen, dass es so wohl auch besser war. Manchmal war ich froh darüber, nicht alles zu wissen, da ich mir ansonsten wohl ständig Sorgen um ihn machen würde. Manchmal. Meist jedoch wünschte ich, mehr erfahren zu dürfen.
Jeder Atemzug brannte in meiner Lunge, doch kein Laut der Klage kam über meine Lippen. Ich wusste nicht, woher diese plötzliche Eile rührte, aber ich war im Stillen dankbar dafür, dass wir so rasch durch die Flure hasteten. Ich mochte diesen Flügel nicht, insgeheim hatte ich mich immer vor den dunklen Schatten gefürchtet, die hier selbst im hellsten Fackelschein überall in den unzähligen Winkeln und Erkern lebten. Dieser Teil der Burg schien um einiges älter zu sein als der Rest, die Wände waren aus grob behauenem grauen Granit errichtet, der jegliche Wärme regelrecht aufzusaugen schien. Die Gänge waren gewölbt und nieder, so dass es uns gerade noch möglich war, aufrecht zu gehen. Vielleicht kam darum nur selten jemand hier herunter. Manchmal glaubte ich fast, die Grenze zu einer anderen Welt zu überschreiten, wenn ich die alte, quietschende Türe öffnete, die hinter dem Gemälde eines unserer Vorfahren verborgen war. Als sei man von einem Augenblick auf den anderen in einer fremden Zeit gelandet, als würden hier unten andere Gesetze gelten als in den oberen Räumen, die im Gegensatz hierzu so hell und fröhlich wirkten. Obgleich sie das natürlich nicht waren. Es gab keinen Ort in diesem großen Bauwerk, den ich als fröhlich bezeichnet hätte, oder als einladend.
Doch zweifelsohne war es hier unten ruhiger. Stiller. Dunkler. Und so einsam, dass ich mich manchmal für einen kurzen Augenblick fragte, ob es hier noch irgend etwas andere gab als uns beide und unseren Atem. Selbst das leise Tappen der Ledersohlen unserer Stiefel auf dem blanken Steinboden schien von den Wänden regelrecht aufgesogen zu werden, so als sehnten sie sich ebenfalls nach Gesellschaft, so als könne selbst der Stein hier unten die dunkle, kalte Einsamkeit nicht länger ertragen.
Und diese Einsamkeit war es, die Jaro hier suchte. Er wollte nicht, dass uns jemand entdeckte. Er wollte nicht, dass allgemein bekannt wurde, wie oft wir jene Kammer am anderen Ende dieses Ganges aufsuchten. Er wollte sie schützen. Und da in der Burg manchmal selbst die Wände Ohren zu haben schienen, war es besser, nicht gesehen zu werden.

Manchmal schien es mir, als habe ein Teil des Mauerwerkes hier noch nie einen Lichtstrahl gesehen. Als ich noch kleiner gewesen war, hatte ich mir immer die schauerlichsten Gestalten ausgedacht, die in diesen dunklen Schatten lebten. Wesen, die sich von der Furcht der Kinder nährten, Wesen, die aus geronnener Schwärze bestanden, die mir ihren leuchtenden blauen Augen bis tief in meine Seele sehen konnten und versuchten, sie für sich zu vereinnahmen, mich für immer mit in die Schatten zu reißen und mich so zu einem ewigen Dasein in der Finsternis zu verdammen. Natürlich wusste ich heute, dass dies törichte Gedanken waren. Ich war alt genug, zu wissen, dass es diese Monster nicht gab. Und doch glaubte ich fast, ihre eisigen Finger zu spüren, die über meinen Nacken strichen, mich willkommen hießen, mich lockten.
Jaro warf mir einen raschen Blick zu, so als hätte er die kalte Berührung ebenfalls gespürt.
„Fürchtest du dich noch immer vor den Schatten?“, fragte er leise.
„Nur in diesem Teil der Burg“, murmelte ich, und spürte, wie sich die verlegene Röte meine Wangen hinauf schlich. Ich hasste es, wenn er mich durchschaute, wenn er so rasch hinter die Fassade blickte, die ich so mühsam aufrecht erhielt. Ich wusste, dass ich mich nicht fürchten durfte. Ich war ein Mann, verdammt! Doch seltsamerweise hatte es meinen großen Bruder nie gestört, wenn ich mich wieder einmal schwächer zeigte, als ich sein sollte. So lange ich mich von den anderen dabei nicht erwischen ließ, schien er mich so anzunehmen, wie ich war. Ich verstand nicht so recht, was er in mir sah. Warum es ihn nicht störte, dass ich irgendwie ein wenig anders war als die anderen.
„Ich kann es dir nicht verdenken.“ Jaro klang seltsam nachdenklich. „Manchmal glaube ich selbst, ihre Stimmen bis durch den Stein dringen zu hören.“
Ich blickte überrascht zu ihm auf. Er hatte die Stirn nachdenklich in Falten gezogen, und wenn es überhaupt möglich war, glaubte ich, dass er mit seinen langen Beinen nun tatsächlich noch rascher ausgriff als zuvor. Als wolle er den Gang so schnell wie nur irgend möglich hinter sich lassen. Als fürchte er sich ebenfalls – doch das war unmöglich. Ich kannte niemanden, der so mutig war wie Jaro. Und der Ausdruck in seinen Augen – es war keine Furcht, erkannte ich da. Es war etwas viel Schlimmeres. Grauen.
„Wessen Stimmen?“ Es war nur ein heiseres Wispern, mehr brachte ich nicht über die Lippen.
„Die der Gefangenen. Manchmal glaube ich, dass das ganze Elend, den der Stein hier über Jahrhunderte aufgesogen hat, noch immer in ihm wohnt. Dass die Schatten mit den Stimmen all derer flüstern, die hier gepeinigt worden sind. Oder all derer, die noch immer hier gequält werden.“ Auch Jaro hatte seine Stimme gesenkt. Sie klang seltsam dunkel, seltsam tief. So erwachsen. Beinahe war mir, als nähme der Stein jedes unserer Geräusche in sich auf, als würde jeder Laut hier zu einem Flüstern herabgesenkt.
„Es leben Gefangene in der Burg?“
Jaro sah zu mir hinab und hob erstaunt eine Augenbraue.
„Hast du dich nie gefragt, was mit all den Menschen geschieht, die die Krieger erbeuten?“
„Ich dachte, sie werden...getötet?“, brachte ich mühsam heraus. Allein der Gedanke daran verursachte mir Übelkeit.
Jaro schüttelte nur den Kopf. „Nein, das werden sie nicht. Jedenfalls nicht gleich...“ Sein Blick schien sich in der Ferne zu verlieren, und ich glaubte, zu sehen, wie er leise erschauerte. „Wenn es das doch nur wäre...“
„Aber was geschieht dann mit ihnen? Jaro?“ Zaghaft zog ich an seinem Ärmel, versuchte, ihn wieder zu mir zurück zu holen, denn irgendwie spürte ich, dass er nicht mehr bei mir war. Er war an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit. Jeder Muskel seines Körpers schien sich zu verkrampfen, ich glaubte gar, seine Kiefer knirschen zu hören, als er die Zähne fest aufeinanderpresste. Dann wurde sein Schritt unregelmäßig und abgehackt. Er stolperte, fing sich im letzten Moment und blieb dann reglos stehen.
„Jaro!“
Mein Bruder schüttelte den Kopf, rieb sich über die Stirn, so als habe er Kopfschmerzen, und dann sah er mich mit einem seltsam starren, toten Blick an, die mir beinahe noch mehr Angst machte als die Schatten mit den blauen Augen. Dann atmete er tief ein, und das Grün schien wieder wärmer zu werden, lebendiger. Er war wieder Jaro. Ich seufzte erleichtert.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, entfernte er sanft meine Finger von seinem Hemdärmel. Für einen Moment hielt er meine kleine Hand in seiner großen, und ich erschrak darüber, wie kalt seine Finger waren. Dann hoben sich seine Mundwinkel in einem schwachen Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, ehe er sich wieder von mir abwandte und weiter den Gang entlang schritt, als sei nichts gewesen. Ich beeilte mich, ihm zu folgen, um nichts in der Welt wollte ich hinter ihm zurückbleiben. Als ich schließlich zu ihm aufgeschossen hatte, sah er hastig zu mir hinüber, ehe er den Blick wieder senkte.
„Du bist noch zu jung dafür. Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Es tut mir leid.“
„Nein, ich will es wissen!“, beharrte ich. Doch er schüttelte nur den Kopf, die Augen geweitet, den Mund zu einem dünnen, blutleeren Strich zusammengepresst.
Allein dieser Anblick hätte mich eines Besseren belehren sollen. Noch nie zuvor hatte ich einen solchen Ausdruck abgrundtiefen Entsetzens auf dem Gesicht meines Bruders gesehen. Ich mochte mir nicht einmal ausmalen, welche Erinnerung dafür verantwortlich war. Und doch war da dieser unwiderstehliche Drang in mir, die Wahrheit zu erfahren. Endlich eines dieser Geheimnisse zu erfahren, von denen die Burg so viele zu verbergen schien. Manchmal hatte ich das Gefühl, nur ein Bild dieser Festung zu kennen, einen Schattenriss, farblos und leer, während sich hinter jeder Erhebung, hinter jeder Ecke ein Geheimnis verbarg. Ich war es so leid, im Dunkeln zu tappen. Ich war es so leid, immer nur wie ein Kind behandelt zu werden, das von nichts etwas wissen darf.
Und dieser Wissensdurst war es, der mich alle Vorsicht vergessen ließ. Auch wenn ich Jaro gut genug kannte, um zu erkennen, dass er meinem Drängen nicht nachgeben würde. Nicht, wenn er der Meinung war, mich vor der Wahrheit schützen zu müssen.

„Jaro, was geschieht mit den Gefangenen?“, bohrte ich weiter nach.
„Frag nicht!“, donnerte er auf einmal, und ich zuckte erschrocken zusammen. So hatte mein Bruder noch nie mit mir gesprochen. Da war eine Härte in ihm, die ich zuvor niemals wahrgenommen hatte. Ich fragte mich, wann mein Bruder angefangen hatte, einen Teil dieser Sanftheit anzulegen, die so unbeirrbar zu ihm gehörte wie die grünen Augen. War er erwachsen geworden? War es das? Aber mein Gefühl sagte mir, dass da noch sehr viel mehr war. Etwas war vorgefallen, das Jaro verändert hatte. Und es schmerzte mich, dass ich nicht einmal zu sagen vermocht hätte, wann es geschehen war. War ich so unaufmerksam gewesen? Zu sehr versunken in meiner eigenen Welt?
„Es tut mir leid, Cedric“, fügte er nach einer langen Weile an, und ich hörte die Reue in seiner Stimme. „Wirklich. Aber ich...ich kann nicht...du bist noch zu jung. Ich wünschte, ich könnte es vergessen, glaub mir. Du willst es nicht wissen.“
Wieder war er stehen geblieben, und dieses Mal waren die grünen Augen sehr lebendig. Eindringlich und beschwörend sah er mich an.
„Ich versuch nur, dich zu schützen, Kleiner. Du fürchtest dich doch bereits vor diesen Schatten! Glaub mir, wüsstest du, was ich weiß – du bekämest die Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Du wirst früh genug davon erfahren. Früher, als dir lieb sein wird...“, murmelte er, mehr zu sich selbst, und da beschloss ich, nicht weiter in ihn zu dringen.
Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück.

Manchmal frage ich mich, ob alles anders gekommen wäre, hätte mir mein Bruder damals die Wahrheit erzählt. Denn letztendlich war es meine Neugier gewesen, die mich an jenem schicksalhaften Tag ein paar Sommer später in jenen dunklen Kerker geführt hatte. Ob mein Leben einen anderen Verlauf genommen hätte, wäre mein Wissensdurst bereits früher gestillt worden. Aber es ist geschehen, und so war es wohl auch vorbestimmt. Ich möchte mir nicht einmal vorstellen, welch ein Leben ich heute führen würde, wäre alles anders gekommen. Ein friedlicheres, vielleicht, obgleich ich das nicht glaube. Ich hätte Zeit meines Lebens nichts als den Kampf gekannt. Und ich weiß nicht, ob ich das unbeschadet überstanden hätte, ohne einen Ort der Zuflucht, an dem ich ich sein konnte. Mein Leben wäre so viel leerer gewesen, so viel bedeutungsloser. Ich hätte nie wirkliches Glück kennengelernt. Und der Schmerz war das Glück letzten Endes wert. Denn trotz allem werde ich es nie bereuen.

***

Schließlich waren wir am Ende des Ganges angelangt. Es hätte nicht Jaros erhobenem Zeigefingers bedurft, ich wusste auch so, dass ich jetzt keinen Laut mehr von mir geben durfte. Einen Atemzug später verlosch der glimmende Span in der Laterne, und dann umgab mich ewige Dunkelheit. Für einen Moment war mir, als sei ich gefangen in einem kalten, steinernen Grab. Die Schatten hatten uns verschlungen.
Ich sah nicht, wie Jaro die Hand hob, doch ich vernahm sein leises, zögerndes Klopfen. Zweimal kurz, einmal lang. Es schien so seltsam gedämpft, als wäre die Luft hier unten so mit Feuchtigkeit geschwängert, dass der Laut mich nur zögernd erreichte. Doch ich wusste, dass das nur Illusion war, dass es hier niemals feucht war. Nebelähnliche Finger schienen über mein Hemd zu gleiten, und da war dieses Wispern, dieses lautlose Flüstern aus unsichtbaren Mündern. Ich erstarrte, drängte mich noch ein wenig dichter an Jaro heran. Seine Wärme drang durch die Stoffschichten zu mir durch, war mein einziger Anker in der schwebenden Finsternis.
„Schsch“, murmelte er, und dann spürte ich, wie seine große Hand die meine umfasste. Das Wispern wurde leiser, erschien mir auf einmal weniger bedrohlich. Ich war nicht allein.
Ich weiß nicht, wie lange wir so in der Dunkelheit warteten, aber mir schien es, als sei eine Ewigkeit vergangen.
Dann vernahm ich das vertraute, scharrende Geräusch, mit dem der Riegel von innen entfernt wurde. Die Angeln quietschten protestierend, und dann öffnete sich die schwere, eisenbeschlagene Türe. Jaro riss mich mit sich, doch auch dieser Geste hätte es nicht bedurft. Ich wusste, dass wir uns in den Schatten verbergen mussten.
Wir konnten nicht wissen, wer es war, der uns da öffnete. Ehe wir nicht mit Bestimmtheit zu sagen vermochten, dass sie alleine war, konnten wir uns nicht zu erkennen geben.

„Jaro, Cedric!“ Auch ihre Stimme klang seltsam hohl in der Dunkelheit. Aber sie klang weder angespannt noch ängstlich, sondern...erfreut?
Ich atmete erleichtert aus, und auch Jaro schien sich merklich zu entspannen.
„Was führt euch zu mir?“ Sie war also alleine – anderenfalls hätte sie zumindest Jaros Namen nicht genannt, dessen war ich mir gewiss.
Eine ganze Weile blinzelte ich in das scheinbar so grelle Licht, ehe ich das vertraute, herzförmiges Gesicht ausmachen konnte, das nun im Türrahmen erschien. Die Abendsonne schien durch das Fenster am anderen Ende der Kammer, und so war es fast, als trage sie einen flammenden Feuerkranz auf dem Kopf. Ihr rotes Haar sprühte regelrecht Funken, und jetzt verstand ich endlich, was Jaro damit gemeint hatte, als er einmal gesagt hatte, ihr Haar hätte die Farbe der Flammen. Es passte zu ihr. Sie hatte etwas Warmes an sich.
Elaine war die Heilerin des Clans – oder sie würde es eines Tages werden, wenn die alte Brea ihr Amt niederlegte. Doch als deren Gehilfin versorgte das Mädchen schon jetzt einen großen Teil der kleineren Wunden, oder die einfachen Verletzungen der Krieger. Eigentlich war es niemandem gestattet, ihre Kammern aufzusuchen, es sei denn, er hatte die Erlaubnis meines Vaters, oder es lag ein Notfall vor. Doch Jaro brachte mich immer unverzüglich zu ihr, wenn mir etwas fehlte. Aber auch sonst kamen wir oft hierher. Viel zu oft. Wir wussten alle, dass es ein Risiko war. Dass wir uns dadurch angreifbar machten. Verwundbar. Elaine war nur ein Mädchen. Durch ihren Status als Heilerin hatte sie gewisse Sicherheiten, aber dennoch war sie nur eine Frau. Und es war das Vorrecht des Herrschers, über alle Frauen im Reich zu verfügen. Er konnte sie jederzeit verheiraten, oder anderweitig loswerden, sollte ihm nicht gefallen, womit oder mit wem sie ihre Zeit verbrachte. Und ich hatte einen leisen Verdacht, dass mein Vater der Ansicht wäre, sie sei keine gute Gesellschaft für einen seiner Erben. Jaro wusste das nur zu gut. Dass er das Risiko dennoch einging, verriet mir einiges. Und ich war dankbar dafür. Ich mochte Elaine.
„Wo ist Brea?“, fragte Jaro jetzt leise. Wir waren noch immer halb in den Schatten verborgen, auch wenn ich mir sicher war, dass sie alleine in der kleinen Kammer war. Warum sonst hätte sie uns geöffnet? Doch Jaro war stets äußerst vorsichtig.
„Sie kümmert sich um den alten Halunken“, gab Elaine breitwillig Auskunft. „Seine Knochen schmerzen wieder einmal. Keine Sorge, der wird sie für eine Weile beschäftigen.“
Der alte Halunke war mein Vater. Ich kannte niemanden sonst, der es wagte, den Herrscher der Wälder mit diesem Namen zu titulieren. Irgendwie mochte ich sie gerade deswegen so sehr. Sie sagte ihre Meinung offen und ehrlich. Zumindest in unserer Gegenwart. Ich sah das schwache Grinsen, das sich bei ihrem gleichgültigen Tonfall auf Jaros Zügen ausbreitet. Er nahm es ihr nie übel, wenn sie so über Vater sprach. Ich nahm an, dass er wohl seine Gründe hatte.
Auch um Elaines Lippen spielte nun ein leises Lächeln, und einen Moment war mir, als sei die Zeit stehen geblieben. Die beiden verharrten, als würde ein Zauberbann sie fesseln, schweigend und wie erstarrt, in den Augen des anderen verloren. Ich räusperte mich, und das löste den Bann. Elaine schrak zusammen, und Jaro fuhr sich hastig durch das dunkle Haar, warf mir einen beinahe verlegenen Blick zu und trat dann über die Schwelle, meine Hand noch immer in der seinen haltend. Die Tür fiel mit einem dumpfen Laut hinter uns in Schloss.

Elaines Augen ruhten fragend auf meinem Bruder und glitten dann zu mir.
„Was ist geschehen?“
Ich kannte diesen forschenden Blick, dem nichts zu entgehen schien. Es war der Blick eines Heilers. Deswegen überraschte mich auch ihre Frage nicht. Hatte sie es an meiner Haltung erkannt? An der kleinen Falte zwischen meinen Augenbrauen, die immer dann dort erschien, wenn ich Schmerzen hatte?
Jaro schob mich wortlos ein wenig vor, in den hellen Lichtstrahl hinein, der durch das schmale Fenster im Mauerwerk fiel.
Die grauen Augen vor mir weiteten sich bestürzt.
„Cedric, bist du unter die Wölfe geraten?“
„Nein, das ist das Werk unseres verehrten Bruders“, erklärte Jaro leise, wobei er das Wort Bruder aussprach, als sei es ein Fluch. „Carum hat gegen ihn gekämpft – mit seinem richtigen Schwert, und Cedric musste Vaters Klinge führen. Du weißt, wie schwer das Eisen ist, viel zu schwer für den kleinen Kerl hier. Jedenfalls ist Cedric gefallen, und da hat ihm Carum den Stiefel auf die Brust gesetzt und ihm die Luft aus den Lungen gepresst. Ich denke, dabei hat er ihm wohl die ein oder andere Rippe gequetscht. Dann hat er ihm das Schwert an die Kehle gesetzt und ein wenig zu stark zugedrückt. Ach ja, und ich denke, unser Kleiner hat wieder einmal seine Schulter überlastet. Das sollte nicht verwundern, so viele Übungskämpfe, wie Lochan ihn ausfechten lässt. Ich bin ehrlich gesagt erstaunt, dass er das so lange ohne ein Wort der Klage ertragen hat. Doch das heute war dann wohl doch zu viel für ihn.“
Ich mochte es nicht, wenn er über mich sprach, als sei ich nicht anwesend. Ich mochte noch weniger, wenn er mich mit diesem schrecklichen Spitznamen bedachte. Ich war nicht klein – schon lange nicht mehr! Doch ich kam nicht dazu, zu protestieren, denn Elaine hatte mich bereits am Arm gefasst und mich auf eine der Pritschen gedrückt, die die eine Wandseite der Kammer säumten.
„Warum hast du gegen Carum gekämpft?“, fragte sie mich. Doch ehe ich darauf antworten konnte, hatte sie schon die Hände in die Hüften gestemmt und meinen Bruder fixiert, der sich auf einem Holzschemel in der Nähe der Tür niedergelassen hatte.
„Jaro, hättest du nicht besser auf ihn Acht geben können?“
Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Jaro aufsprang. Seine Kiefermuskeln waren seltsam angespannt, und da wusste ich, dass er sich nur mühsam beherrschte. Mein Blick huschte zwischen den beiden hin und her. Sie standen sich nun gegenüber wie zwei Wölfe, die einander lauernd umkreisten, ehe sie schließlich zum Angriff übergingen, er mit geblähten Nüstern, sie mit stolz gerecktem Kopf. Es war immer so...interessant, Elaine und Jaro beim Streiten zu beobachten. Ich mochte es eigentlich nicht, wenn sie sich uneins waren, ich mochte diese stille Spannung nicht, die dann stets in der Luft lag. Und schon gar nicht, wenn all das meinetwegen geschah. Doch ich wusste auch, dass sie nie lange böse aufeinander waren. Und dass sie sich im Grunde ihres Herzens wirklich mochten, das konnte ein Blinder erkennen.
Es war irgendwie rührend. Wie sich Jaro mühte, sein Temperament im Zaum zu halten, da er Elaine um nichts in der Welt verletzen wollte, und wie ihm Elaine dennoch erhobenen Hauptes die Meinung sagte. Das konnte sie erstaunlich gut für ein Mädchen. Und wundersamerweise schien es Jaro kein bisschen zu stören, sich mit einem Mädchen zu messen. Sie durfte ihn beschimpfen, wie sie wollte, er hätte ihr niemals den Mund verboten. Das war ein weiterer Grund, warum ich Jaro so mochte. Er behandelte uns wie Gleichgestellte – auch mich, der ich doch für alle anderen noch immer der kleine, dumme Junge war. Denn obwohl er mich nach wie vor „Kleiner“ nannte, wusste ich doch, dass dies eben seine Art war, seine Zuneigung zu mir auszudrücken.
„Er ist verdammt noch mal alt genug, auf sich selbst zu achten!“, presste Jaro jetzt zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich wusste, dass er es hasste, wenn sie ihm vorwarf, nicht auf mich geachtet zu haben. Er sah mich als sein Mündel an, und er nahm seine Verantwortung sehr ernst. „Ich gebe mein Bestes, das weißt du, aber ich kann nicht alles von ihm fernhalten. Und wenn der kleine Junge dumm genug ist, sich zu einem Kampf herausfordern zu lassen, dann sehe ich keine Möglichkeit, dies zu verhindern.“
Elaine warf ihm einen anklagenden Blick zu, und Jaro hob ergeben die Hände.
„Lochan hat es so gewünscht! Und Carum hat ihn herausgefordert. Sie wussten beide ganz genau, was sie taten. Und ich kann nicht überall zugleich sein, Elaine...“ Auf einmal sah er so unendlich müde aus. Ich wusste, dass Elaine ihm nicht lange gram sein konnte, wenn er die Augen niederschlug, so, wie er es jetzt tat.
„Es war nicht seine Schuld! Es war meine Entscheidung. Es war meine Schuld“, verteidigte ich meinen Bruder.
„Carum und Lochan. Wie sehr ich diese beiden Männer verabscheue!“, schimpfte Elaine leise vor sich hin, doch ich konnte sehen, dass ihr Zorn bereits gewichen war.
„Er ist ein guter Kämpfer, das muss man ihm lassen, und zumeist weiß er auch, was er tut. Zumeist. Was den Jungen betrifft, scheint dies allerdings immer seltener zuzutreffen“, murmelte Jaro aus der Richtung der Türe, doch ich gewahrte es nur am Rande. Denn Elaine schien sich daran erinnert zu haben, dass sie einen Patienten hatte, den es zu versorgen galt.
Mit wenigen Schritten hatte sie die Kammer durchmessen und setzte sich neben mich auf den Rand der schmalen Pritsche.
„Oh, Cedric, du hast mir einen Schrecken eingejagt“, seufzte sie und zeichnete dann die Wunde an meinem Hals nach, ohne sie tatsächlich zu berühren, ganz so, wie es Jaro zuvor getan hatte. Manchmal waren sie sich so ähnlich.
Sie legte besorgt die Stirn in Falten, und ihre Augen verdunkelten sich zu einem tieferen Grau, die Farbe des Himmels, ehe ein schwerer Sturm aufzieht. Mir war, als sähe sie nicht den schmalen Schnitt, sondern die Absicht, die dahinter stand. Dann schüttelte sie den Kopf, als wolle sie einen unwillkommenen Gedanken verjagen, und griff nach einem Baumwolltuch. Mit sicheren und zugleich vorsichtigen Bewegungen fuhr sie mit dem feuchten Stoffstück die Wundränder behutsam nach. Ihre Hände waren so sanft, dass ich keinen Schmerz spürte. Fast schien es mir, als ginge von ihren Handflächen eine lindernde Wärme aus, die mich durchströmte und einen Teil meiner verkrampften Muskeln lockerte.
„Das hier ist nicht weiter gefährlich – ein sauberer Schnitt, das Gewebe ist nicht gerissen“, bestätigte sie meine Vermutung, nachdem sie das Tuch beiseite gelegt hatte. „Das Schwert deines Bruders war scharf. Es wird rasch heilen, wenn du darauf achtest, die Wunde sauber zu halten.“
Ich wagte es nicht, zu nicken, da sie noch immer mit den Fingern die Wundränder inspizierte, doch Jaro antwortete ohnehin bereits schon für mich.
„Wir werden darauf achten.“

„Komm, Junge, zieh das Hemd aus, lass es mich ansehen.“ Das war keine Bitte, es war ein Befehl. Ich kannte diesen Tonfall nur zu gut und wusste, dass nun jeder Widerspruch sinnlos war. Außerdem schmerzte meine Brust inzwischen mehr, als ich zugeben mochte.

Seltsamerweise störte es mich nicht, dass mich Elaine „Junge“ nannte, obschon sie doch nur einen Sommer älter war. Wenn Jaro so etwas wie mein Ersatzvater war, dann war Elaine die Mutter, die ich niemals gehabt hatte. Die Frau meines Vaters war gestorben, als sie mich zur Welt gebracht hatte, und manchmal glaubte ich, dass das mit ein Grund dafür war, warum Carum mich so sehr hasste.
Seit ich mich zurückerinnern konnte, hatte ich immer zu Elaine kommen können, wenn ich etwas auf dem Herzen hatte. Natürlich war ich längst aus dem Alter heraus, in dem man sich bei einer Frau ausheult. Das letzte Mal hatte ich geweint, als ich fünf Sommer gezählt hatte und der kleine Vogel, den ich aus dem dunklen Gang zu Elaines Kammer gerettet hatte, in meinen Armen gestorben war. Schon damals hatte sie in der Kammer der Heilerin gewohnt. Sie hatte ihre Eltern verloren, kaum das sie das Licht der Welt erblickt hatte, und so war es die alte Brea gewesen, die sie aufgezogen hatte.

Elaine hatte dem kleinen Vogel nicht mehr zu helfen können, doch es war nicht das letzte Tier gewesen, das ich zu ihr gebracht hatte. Sie hatte mich immer mit diesem seltsamen, wehmütigen Blick angesehen, wenn ich wieder einmal mit einer halbtoten Maus oder einem verletzten Kätzchen bei ihr vor der Tür gestanden hatte, doch sie hatte sich meiner Schützlinge stets angenommen.
„Irgendwie scheinen sie immer zu dir zu finden“, hatte sie eines Tages gemeint und mit einem leichten Lächeln den Kopf geschüttelt.
Doch es war Jaro gewesen, der den Vogel mit mir begraben hatte. Wir hatten uns nachts durch das Fenster davongestohlen und mit den Händen ein Loch gegraben, direkt an der Burgmauer, an der Grenze zum Wald. Nahe genug, dass ich den kleinen Erdhügel von unserer Kammer aus sehen konnte.
Ich konnte mich nur noch bruchstückhaft an diesen Tag erinnern, aber an einiges konnte ich mich noch so gut erinnern, als sei es erst gestern geschehen. Wie klein der Vogelkörper gewesen war, und wie rasch er abgekühlt war. Wie er sich selbst im Tod noch in meine Handfläche geschmiegt hatte, als suche er die Wärme meiner Haut. Wie weich seine Federn gewesen waren, und wie diese schwarzen, runden Augen zu mir aufgesehen hatten, als er gestorben war. Ich hatte regelrecht spüren können, wie ihn das Leben verlassen hatte.
Es war Jaro gewesen, der mich getröstet hatte. Der mich wortlos in die Arme geschlossen hatte. Und als wir uns die Erde von den Händen geklopft hatten und wieder zurück in unsere Kammer geschlichen waren, hatte er mich lange von der Seite angesehen. Als wir in unseren Betten gelegen hatten, hatte er nur gemeint: „Cedric, du kannst nicht jedes Leben retten.“
Und ich hatte mir die letzten Tränen von den Wangen gestrichen und erwidert: „Aber ich kann es versuchen.“
Jaro hatte leise gelacht. Es war kein verächtliches Lachen gewesen, sondern ein warmes, verständnisvolles.
„Cedric, wir ernähren uns von den Tieren“, hatte er gemurmelt, und seine Stimme war so sanft gewesen, so behutsam, und doch hatte ich verstanden, was er mir damit sagen wollte. Ich tötete. Jeden Tag. Indem ich ihr Blut trank, war ich verantwortlich für den Tod so vieler Tiere. Auch wenn ich es nicht war, der ihnen das Leben nahm, war ich doch dafür verantwortlich.
Diese Erkenntnis hatte mich unendlich traurig gestimmt. Und doch war es nicht das letzte Mal gewesen, dass ich versucht hatte, ein Tier zu retten. Es waren mit den Jahren weniger geworden. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass ich sie nicht mehr sehen wollte, oder dass ich einfach weniger wahrnahm. Vielleicht war ich einfach nur erwachsen geworden. Doch dann und wann geschah es noch immer. Selbst heute noch. Im Gegensatz zu früher erfüllte es mich jedoch stets mit Wehmut, wenn wir wieder einmal ein Leben gerettet hatten. Denn ich wusste nun, dass ich niemals würde aufwiegen können, wie oft ich getötet hatte. Es störte mich nicht mehr so sehr wie früher. So war nun einmal der Lauf der Welt. Ich verstand, dass ich daran nichts zu ändern vermochte. Doch diese seltsame Traurigkeit schlich sich auch heute noch immer wieder ungebeten in mein Herz.

„Dein Brustkorb ist leicht geprellt, das wird noch ein paar Tage schmerzen“, riss mich Elaines Stimme aus meinen Gedanken. Augenscheinlich hatte sie auch diese Verletzung untersucht, während ich meinen Erinnerungen nachgehangen hatte. Jaro hatte seinen Posten neben der Türe aufgegeben, er stand jetzt neben der Pritsche und warf mir über die Schulter des Mädchens hinweg einen vorwurfsvollen Blick zu. Er hatte mich wiederholt gescholten, wenn ich wieder meinen Gedanken nachhing. Es brächte mich in Gefahr, wenn ich meine Umgebung so aus den Augen verlöre, hatte er mir stets gepredigt. Wenn ich mich in meinen Tagträumen verlor, entging mir zuviel. Und für einen Krieger konnte das tödlich sein.
„Es tut mir leid“, flüsterte ich tonlos, doch er hob nur eine Augenbraue an.
„Beweise es“, schien er mich lautlos herauszufordern. „Beweise es, indem du es von nun an nicht mehr geschehen lässt.“
„Die Schulter hingegen – die solltest du in nächster Zeit schonen“, fuhr Elaine unbeirrt fort. Sie hatte nichts von unserer lautlosen Unterhaltung mitbekommen.
„Wie lange?“ Wieder war es Jaro, der für mich sprach. Doch ich wusste es besser, als dass ich jetzt gegen ihn aufbegehrt hätte.
„Einen Mond.“
„Einen Mond? Das ist ganz und gar unmöglich!“, entfuhr es mir.
„Oh, glaub mir, Junge, nichts ist unmöglich!“
„Gut“, gab ich mich schließlich geschlagen. „Ich versuche es.“

„Warum hasst er dich nur so sehr?“, fragte Elaine, während sie nun vorsichtig einen lockeren Verband um meinen Brustkorb anlegte. „Bedeuten die Familienbande ihm denn gar nichts?“
„Cedric ist ein Konkurrent“, erklärte Jaro. „Vater hat ihn schon immer besonders gemocht, weil der Kleine seiner Mutter so sehr ähnelt. Carum hasst ihn dafür. Er ist der Ansicht, ihm als Erstgeborenem gebührt Vaters ganze Aufmerksamkeit. Er will nicht teilen. Und er wäre nur zu gerne zugleich Herrscher und Anführer der Kriegerelite. Er träumt davon, eines Tages das Amt des Herrschers mit dem des Kriegsherrn zu vereinen. Cedric steht diesen Plänen im Weg – so lange er lebt, ist es nach dem Gesetz sein Recht und seine Pflicht, den Kriegern vorzustehen.“
„Und warum hasst er dich dann nicht ebenfalls?“
Jaro lächelte. Es war ein bitteres, wölfisches Lächeln. „Was sollte er mir neiden? Wer bin ich schon? Ich bin ein Nichts. Der uneheliche zweitälteste Sohn. Ich bin hier bestenfalls geduldet, und glaub mir, ich bin mir dessen bewusst. Ich habe es schon immer verstanden, im Verborgenen zu leben. Die Wenigsten sind sich überhaupt meiner Existenz bewusst. Ich bin nur ein Schatten, und niemand ist auf einen Schatten eifersüchtig.“
„Du bist kein Schatten!“, widersprach ich. „Du bist mein Bruder und mein bester Freund.“
„Halbbruder“, korrigierte Jaro mich sanft.
„Bruder“, beharrte ich. „Du bist mir mehr Bruder als Carum es jemals sein könnte. Ich würde dir mein Leben anvertrauen. Ich würde mein Leben für dich geben.“
Das Lächeln wurde weicher, wärmer, erreichte die moosgrünen Augen. „Danke. Aber das würde ich niemals zulassen, und das weist du auch. Und es ändert nichts an den Tatsachen. Ich bin nun einmal ein Bastard.“
„Nicht für mich.“
„Aber für alle anderen.“
„Ohne dich wäre ich vielleicht schon nicht mehr am Leben“, erinnerte ich ihn.
„Das ist wahr – Bruder. Du bist einfach zu gutgläubig, und nicht geübt darin, deine Gefühle zu verbergen. Aber ich würde nicht wollen, dass du für mich stirbst. Und glaube mir – wenn wir in Schwierigkeiten geraten – und du scheinst diese regelrecht anzuziehen – dann werde es wieder ich sein, der dich rettet, nicht umgekehrt.“
Er bemerkte es nicht, aber als wir unsere Hände zum rituellen Gruß der Waffenbrüder ineinander verschränkten, sah ich, wie Elaines Augen auf ihm ruhten. Und da wusste ich, dass er sich noch in andere Hinsicht geirrt hatte. Er war nicht unsichtbar. Ich hatte ihn immer gesehen. Und zumindest Elaine sah ihn ebenfalls.


Fortsetzung folgt...
(c) by Schneeflocke

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.06.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle treuen Leser von "Mondstrahlen" : dies hier ist die Vorgeschichte...

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