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Die Schneeprinzessin




Es war ein kalter Wintertag im Dezember. Schon seit dem Morgengrauen war der Schnee in dicken, flauschigen Flocken vom Himmel gefallen und hatte sich federgleich auf den Hausdächern, auf den Straßen und auf den Ästen der Bäumen niedergelassen. Alles war wie von einer weißen, dicken Decke zugedeckt, eine Decke, die nicht nur die Farben der Landschaft, sondern auch jegliche Geräusche verschluckte und zu dumpfen, leisen Klängen abdämpfte.
Es sah schön aus, wenn alles so weiß war, das fand zumindest Luis. Auch wenn es kalt war. Jene klirrende Kälte, die den Atem in weiße, geisterhafte Wölkchen verwandelte, die anmutig zum Himmel emporstiegen.
Luis mochte den Winter. Eigentlich. Wären da nur nicht die durchweichten, viel zu dünnen Stiefel gewesen, mit denen er sich nun mühsam durch den dichten Schnee die kaum befahrene Straße entlang kämpfte.
Bald schon hatte er die letzten Häuser der Dorfes hinter sich gelassen. Bäume säumten nun die Straße, jene hohen, dunklen Tannen des Talwaldes. Ihre immergrünen Zweige bogen sich unter der schweren Last des Schnees, das Grün wurde vom Weiß verschluckt. Seine Zehen spürte der Junge schon seit einer ganzen Weile nicht mehr. Und die Kälte kroch mit ihren eisigen Fingern die zerschlissenen Beine seiner Hose hinauf, bis unter die alte Strickjacke, die längst nicht mehr so wärmte, wie sie es einmal getan hatte.
Schon jetzt schlugen seine Zähne mit einem leisen, klickenden Geräusch aufeinander, und er würde noch eine Weile unterwegs sein. Was hatte er auch ausgerechnet heute den einzigen Bus verpassen müssen, der den weiten Weg vom Bahnhof in Schneidstetten bis ganz nach hinten ins Tal fuhr. Dort, im hintersten Winkel des Seetals, lag nämlich jene armselige Ansammlung von Häusern, die er sein Zuhause nannte – soweit man ein Waisenhaus eben als Zuhause bezeichnen konnte. Schon jetzt zählte er die Tage, die er dort noch würde verbringen müssen. Drei Jahre, bis er volljährig würde. Dann könnte er endlich in die Welt hinaus ziehen, sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, seine eigenen Regeln setzen.

Auch wenn er Jana vermissen würde. Das kleine Mädchen hing ihm am Rockzipfel wie eine kleine Klette, seit sie vor drei Jahren ihren Weg vor die Tore des Heimes gefunden hatte. Keiner wusste, woher sie gekommen war, geschweige denn, wer ihre Eltern waren, oder wie sie den versteckten Winkel des engen Tales überhaupt gefunden hatte. Sie hatte sich an nichts mehr erinnern können, mit Ausnahme ihres Namens und ihren Geburtstages.
Luis hatte sie anfangs mit Gleichgültigkeit, dann mit Mitleid betrachtet. Sie war ein zerbrechliches, kleines Mädchen, das hatte er vom ersten Blick an erkannt. Blonde Locken, blaue Augen, und ein so zierlicher Körper, dass er zu Anfang fast fürchtete, sie werde zerbrechen, wenn er sie nicht mit äußerster Vorsicht behandelte. Doch als sie ihm irgendwann nicht von der Seite gewichen war, war er ärgerlich geworden.
Recht unsanft hatte er ihr eines Tages zu verstehen gegeben, dass er die Einsamkeit vorzog und nicht von ungezogenen Gören belästigt zu werden wünschte. Noch heute zuckte er bei der Erinnerung an den Blick zusammen, der ihn daraufhin aus himmelblauen Augen getroffen hatte. Sie hatte nicht geweint, und dafür hatte er sie bewundert. Doch sie hatte ihn mit einem solchen Ausdruck tiefster Verzweiflung angesehen, dass er einen seltsamen, schmerzhaften Stich verspürt hatte, genau an der Stelle, an der andere Menschen normalerweise ihr Herz hatten. Er hatte nicht geglaubt, dass er noch fähig war, Schmerz zu empfinden, seelischen Schmerz. Die Augen des Mädchens hatten ihn eines Besseren belehrt. Widerwillig hatte er schließlich nachgegeben, ihre Anwesenheit akzeptiert. Und sie war mehr und mehr zu der kleinen Schwester geworden, die er nie gehabt hatte. Ja, er würde Jana vermissen. Mehr, als er selbst wahrhaben wollte.

Seufzend setzte Luis einen Schritt vor den anderen. Das Licht verblasste, anbrechende Dunkelheit senkte sich allmählich über das Tal. Es war mühsam, sich einen Weg durch den inzwischen gut kniehohen Schnee zu bahnen, und er kam nur sehr langsam voran. Zu langsam. Nacht bedeutete noch größere Kälte, etwas, dass er sich im Augenblick kaum noch vorzustellen vermochte. Der eisige Atem des Windes stach spitzen Nadeln gleich auf seinen bloßen Wangen, und jeder Atemzug brannte in seinen Lungen. Doch das war nicht der einzige Grund für seine Eile. Jana war der andere Grund.

Er wusste, dass sie sich vor der Nacht fürchtete. Weiß Gott, was das Mädchen alles erlebt hatte, als es alleine durch den Wald geirrt war. Jedenfalls schlich sie sich jede Nacht zu ihm ins Zimmer, und er rückte stets ein wenig zur Seite, damit sie sich neben ihn unter die Decke kuscheln konnte.
Er wusste, dass er damit ein Risiko einging. Es war nicht erlaubt, was sie da Nacht für Nacht taten. Die Jungen hatten einen eigenen Schlaftrakt, und sollte herauskommen, dass er mit einem Mädchen im selben Bett schlief, wäre das wohl seine letzte Nacht im Heim. Doch er brachte es einfach nicht übers Herz, sie abzuweisen.
Als sei es gestern gewesen, konnte er sich noch daran erinnern, wie er sie damals, vor gut zwei Jahren, in der Ecke des Flures gefunden hatte. Er war auf dem Weg zur Toilette gewesen, als ihn das leise Wimmern hatte herumfahren lassen. Wie ein Häufchen Elend hatte sie auf den kalten Fliesen gekauert, die Bettdecke über den Schultern gelegt wie eine Art Mantel, und hatte am ganzen Körper gebebt.
„Nein, nicht, lass ab von mir, ich will nicht! Ich will nicht mit dir mitkommen! Lass mich in Frieden!“, hatte sie geschluchzt. Sie war nicht einmal zusammengezuckt, als er leise ihren Namen gerufen hatte, so als habe sie ihn nicht gehört. Er nahm an, dass sie völlig in ihrer eigenen Welt versunken war, und dass es eine Welt der Albträume war, die sie gefangen hielt. Mit Albträumen kannte er sich ein wenig aus. Vielleicht lag es am Haus, doch manchmal hörte auch er sie, die leise flüsternden Stimmen, die des Nachts durch die leeren Flure hallten. Vorsichtig hatte er sich dem verängstigen Mädchen genähert, so wie einem verschreckten Rehkitz, und hatte dabei leise und beruhigend auf sie eingeredet. Irgendwann hatte sie sich tatsächlich beruhigt, und da hatte er sie einfach aufgehoben und in sein Bett getragen.
Es war die erste Nacht gewesen, die sie in seinem Bett verbracht hatte. Sie hatten aus der groben, braunen Decke eine kleine Höhle gebaut, und in der Sicherheit der Dunkelheit und der Wärme, die ihre beiden Körper ausgestrahlt hatten, hatte sie ihm irgendwann gestanden, was sie in den Flur getrieben hatte. Im Flüsterton hatte sie ihm von der Schneeprinzessin erzählt, jenem Wesen, das sie so sehr fürchtete.
„Sie lebt im Wald“, hatte sie gemeint und mit ernsten, großen Augen zu ihm aufgesehen. „Wenn der Wind pfeift, kannst du sie rufen hören. Wenn sie singt, ist ihre Stimme schöner als die Stimme eines Engels. Und wenn du auf sie hörst, wird sie dich in die Irre locken. Ihr Kleid ist weiß wie Schnee und es glitzert wie tausend Diamanten, doch wehe dem, der sich von ihrer Schönheit blenden lässt! Denn die Schneeprinzessin gibt niemanden mehr frei, den sie einmal eingefangen hat. Wenn du dich von ihr in den Schlaf singen lässt, erstarrst du zu Eis. Zu kaltem, totem Eis. Und dann nimmt sie dich mit in ihren Palast aus Eis, in dem du ihr dann für immer und ewig dienen musst. Sie kennt mich, Luis! Sie weiß, wer ich bin, sie weiß, wo ich schlafe. Sie sucht mich! Ich bin ihr einmal entkommen, und seither singt sie jede Nacht. Ich kann sie rufen hören!“
Er hatte sich zusammengenommen. Er hatte ihr nicht gesagt, dass das alles Unfug war, dass es keine Schneeprinzessin gab und dass sie deswegen keine Angst mehr haben müsse. Denn er hatte gewusst, dass sie das wohl schon oft genug gehört hatte, und dass ihr das nicht helfen würde. Ebensowenig, wie es ihm geholfen hatte, als man ihm gesagt hatte, er müsse keine Angst vor dem Wasser haben, er sei jetzt ein ausgezeichneter Schwimmer. Denn auch wenn er wusste, dass es unlogisch war, hatte er trotzdem noch so eine verdammte Angst vor dem flachen, flaschengrünen Flusswasser, dass er jedes Mal, wenn es ihm weiter als bis über den Bauchnabel reichte, hektisch nach Luft schnappte, das Gefühl, nach Atem ringen zu müssen und nichts als Wasser einzuatmen so real, als sei es erst gestern gewesen.
Nein, er hatte nichts dergleichen gesagt. Stattdessen hatte er einen Arm um die schmalen, zerbrechlichen Schultern gelegt und gesagt: „Aber hier kommt sie nicht hinein, deine Schneeprinzessin. Und wenn sie dich holen will, muss sie erst an mir vorbei. Ich pass auf dich auf, kleine Fee! Versprochen! Ich lasse nicht zu, dass sie dich holt!“
Und als sie erleichtert geseufzt hatte und mit diesen strahlenden, blauen Augen so vertrauensvoll zu ihm aufgeblickt hatte, da hatte er gewusst, dass er das Richtige getan hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl gehabt, etwas richtig gemacht zu haben.
Seit jener Nacht schlief sie immer bei ihm im Bett.
Und sie wartete jeden Abend vor der Tür auf ihn. Auf den breiten, steinernen Stufen, die zur Pforte des Heims hinaufführten, saß sie jeden Abend und wartete. Er wusste nicht, wie lange sie dort schon saß, wenn er zurückkam. Stunden? Oder nur Minuten? Und es reute ihn jedes Mal, wenn er sich verspätete, denn ihm gefiel der Gedanke nicht, dass sie dort ganz alleine in der Kälte saß. Nicht, dass er sich das hätte anmerken lassen, oder auch nur etwas gesagt hätte. Seiner Ansicht nach gab es schon genug Vorschriften in ihrer Welt, und er wollte dem Mädchen die wenige Freiheit, die es besaß, nicht auch noch nehmen. Und wenn sie sich erkältete, würde er sich um sie kümmern. So, wie er es immer tat. Nicht, dass sie jemals krank gewesen wäre. Ein Wunder, waren die Räume des alten Hauses doch nur sehr spärlich beheizt, und besonders im Winter zog es in allen Ecken und Enden.

So spät wie heute war er allerdings noch nie gewesen, dachte Luis, während er besorgt die letzten Sonnenstrahlen betrachtete, die hinter den dunkeln, mit dichtem Tannenwald bestandenen Hügeln zu verschwinden begannen. Der untergehende Feuerball tauchte den Schnee in blutrotes Licht. Die langen Schatten der Bäume reckten ihre dürren Klauen nach ihm, und der Wind pfiff leise durch das Geäst, erweckte die Schatten zum Leben. In wenigen Augenblicken würde die Sonne, deren Strahlen zu dieser Jahreszeit nur noch zur Mittagszeit ein wenig Wärme spendeten, endgültig hinter den Hügeln verschwinden.
Diese dunklen Hügel, die das Tal wie stumme Wächter betrachteten. Jana hatte immer gemeint, hinter ihnen läge das Reich der Schneeprinzessin, doch Luis wusste es besser.
Hinter den Hügeln lag das Moor, und hinter dem Moor die Stadt. Jeden Tag fuhr er mit dem Zug dort hin, in die Stadt, zur Jungenschule. Natürlich war Jana noch nie dort gewesen, denn Mädchen gingen nicht zur Schule.
Die endlose Weite des Sumpflandes hatte ihn schon immer beeindruckt. Solch karges, braunes Land, das sich bis zum Horizont erstreckte. Ein wenig konnte er Janas Ängste verstehen, auch wenn er das nie zugegeben hatte. Auch ihn schauderte Tag für Tag, wenn er durch die matten Scheiben des Zuges die graue Einöde vorbeiziehen sah. Leblos war es dort draußen, und einsam. Einsam, wie in dem überfüllten, grauen Steingebäude des Waisenhauses. Ein überfülltes Haus, dass trotzdem zu leise war. Die kalten Wände schienen das Gelächter der Kinder stets zu schlucken wie ein Schwamm, der sich mit Wasser vollsaugt. Gelächter und fröhliche Stimmen gab es nur in der kleinen, warmen Höhle unter seiner Decke, wenn Jana nachts zu ihm ins Bett kroch und ihre Geschichten erzählte. Das konnte sie gut. Und bis jetzt hatte sie es noch immer geschafft, am Ende eines jeden Tages ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern.
Nicht zum ersten Mal spielte Luis mit dem Gedanken, das Mädchen mit sich fort zu nehmen, wenn er erst volljährig war. Seine kleine Fee – so nannte er sie, weil es irgendwie zu passen schien. Sie war klein und anmutig wie eine Fee, und sie war ebenso unvermutet und überraschend in sein Leben getreten, als sei sie herbeigezaubert worden...oder als hätte sie seinen stillen Wunsch erhört. Doch das war natürlich Unsinn. Sicher, er war nicht gerade glücklich gewesen, aber doch noch lange nicht verzweifelt genug, um an alte Sagen und Märchen zu glauben! Eines jedoch war unbestreitbar: das Mädchen hatte seinem Leben einen Sinn gegeben. Sie brauchte ihn, aber er brauchte sie mindestens genauso sehr. Er wusste nicht, ob er es fertig bringen würde, sie zurückzulassen. Noch blieben ihm ein paar Jahre Zeit, noch musste er keine Entscheidung treffen.

Das leise Knirschen seiner Schritte im Schnee war das einzige Geräusch, das, abgesehen von dem pfeifenden, schneidenden Wind, jetzt an Luis` Ohren drang. Das erste Mal seit langer Zeit fühlte er sich alleine in dieser Stille. Er hatte sich zu sehr an das plappernde Mädchen gewöhnt.
Vielleicht lag es an der Kälte, oder an der Erschöpfung, die seine Glieder immer schwerer werden ließ, aber der Wind schien auf einmal heller zu pfeifen als zuvor, und er glaubte, eine weibliche Stimme zu hören. Eine Stimme, die sang. Zunächst schüttelte er den Gedanken als Unsinn ab, sagte sich, dass er Janas Geschichten wohl doch einmal zu oft gelauscht hatte. Und er hatte gehört, dass Kälte und große Erschöpfung einen Menschen Dinge sehen lassen können, die nicht da sind. Sicherlich galt das auch für Geräusche, die nicht vorhanden waren.
Doch dann wurde das Pfeifen des Windes zu einem wahren Brausen in seinen Ohren, und jetzt vernahm er es so deutlich, dass es zwecklos war, es zu leugnen. Da waren Stimmen im Wind. Weibliche Stimmen.
Die Schneeflocken, die zuvor noch vereinzelt zu Boden gesunken waren, wirbelten jetzt in dichten Wolken durch die Luft, nahmen ihm die Sicht. Es war, als versuche er, im dichten Nebel den Weg zu finden. Nur die orange gestrichenen Holzpfosten am Straßenrand wiesen ihm jetzt noch die Richtung an. Bald war ihm, als würde ihm der Atem fortgeblaßen, ehe er noch nach Luft schnappen konnte. Er keuchte, rang nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, und stöhnte dann leise auf, als die feuchte, eisige Luft in seinen Lungen brannte.
Die Stimmen im Wind schienen zu ihm zu sprechen, so, als wollten sie ihn locken. Es war ein wunderschöner, herzergreifender Gesang, dessen Magie er sich kaum entziehen konnte. Einzig das Bild des kleinen Mädchens vor seinem inneren Auge hielt ihn davon ab, der Verlockung der Stimmen zu folgen und die Straße zu verlassen, einfach in den endlosen Schnee hinauszustapfen und sich dann irgendwo in dem weichen, flauschigen Bett aus Eiskristallen niederzulassen.
„Luis, du darfst nicht auf sie hören! Halt dir die Hände vor die Ohren, und dann lauf! Sie wird dich in die Irre führen, wie schon so viele andere vor dir. Lauf! Und sieh dich nicht um!“, schien Janas Stimme ihm zuzuflüstern, und er gehorchte ihr ohne zu zögern. Seine schweren, steifen Beine pflügten durch die flockige Masse, Schnee stob in körnigen Wolken auf, verminderte seine Sicht noch mehr. Jeder Schritt schien mehr Kraft zu kosten als der vorangegangene, und mehr als einmal stolperte er. Seine Arme versanken jedes Mal tief im nassen, kalten Weiß, wenn er versuchte, seinen Sturz abzufangen. Bald war er bis auf die Haut durchnässt, und die Kälte reichte noch tiefer, schien bis zu seinen Knochen zu dringen.
Er wusste nicht, wieviel Zeit verstrichen war, es erschien ihm, als seien Stunden, wenn nicht gar Tage vergangen, es hätten aber auch genausogut wenige Augenblicke sein können. In der sich herabsenkenden Dämmerung und dem ewigen, grauen Weiß des Schnees währte jeder Wimpernschlag eine Ewigkeit. So, als wäre in der Kälte die ganze Welt erstarrt.
Aus seiner Flucht wurde ein rascher Gang, dann ein mühsames Voranschleppen. Irgendwann gab er die Hoffnung auf, entkommen zu können. Er wusste, dass er nicht mehr weit kommen würde, ehe ihn seine Kräfte vollständig verließen. Seltsamerweise erfüllte ihn ein merkwürdiger Frieden bei dem Gedanken daran, dass er wohl hier in der weißen Ewigkeit sterben würde. Auf einmal erschien alles so viel einfacher, so viel klarer. Es gab nichts, das er noch tun konnte. Er musste nur sein Schicksal akzeptieren. Aufgeben war soviel einfachr als der zähe Kampf gegen das Unvermeidliche. Einzig um Jana tat es ihn leid. Wer würde sich nun um das Mädchen kümmern? Und sie brauchte jemanden, der sie beschützte. Der für sie da war. Der Gedanke, dass er sie schutzlos zurücklassen würde, gab ihm die Kraft für ein paar letzte, verzweifelte Schritte. Dann umhüllte ihn der weiße Nebel vollständig.

Wärme umhüllte ihn, und da wusste, dass es jetzt nicht mehr lange dauern würde. Der Schnee war ein weißes Bett, daunenweich, federgleich. Und trotz des grauen Dämmerlichtes glaubte er auf einmal, in der Ferne ein helles Licht zu erkennen, das immer näher kam. Die Helligkeit nahm zu, bis sie beinahe schmerzhaft in seinen Augen stach. Geblendet blinzelte er, wollte den Arm heben, um seine Augen vor dem Licht abzuschirmen. Seine Muskeln verweigerten ihm den Dienst. Er konnte sich nicht von der Stelle rühren, so, als wäre er zu einer steinernen Statue erstarrt.
„Schsch“, drang eine helle, freundliche Stimme durch das gleißende Schneegestöber zu ihm durch. „Schsch, ganz ruhig, Junge. Versuch, dich zu entspannen. Du bist jetzt in Sicherheit. Dir kann nichts mehr geschehen...“
Er hatte erwartet, zu sterben. Er hatte erwartet, auf Janas imaginäre Schneeprinzessin zu treffen. Aber das, das ihn erwartete, hatte er sich nicht auch nur im Entferntesten vorstellen können. Er lag vor den Toren des Waisenhauses – doch es war nicht Winter. Die letzten Strahlen der Sonne blitzten golden auf dem bunt verfärbten Blätterdach. Und er lag in den Armen einer fremden Frau. Einer fremden Frau, die mit beruhigenden Worten auf ihn einredete.
Luis wollte aufspringen, doch ihre erstaunlich starken Arme hinderten ihn daran.
„Bleib schön liegen, Junge, du hast eine starke Unterkühlung. Wir müssen verhindern, dass das kalte Blut zu deinem Herzen gelangt – du darfst dich nur langsam und vorsichtig bewegen.“
„Was ist denn geschehen?“, krächzte der Junge verwirrt.
„Wir haben dich nur durch Zufall gefunden“, meldete sich nun eine andere Stimme zu seiner Rechten zu Wort, die tiefe Stimme eines Mannes. „Ich und meine Frau gehen gerne hier in der Nähe spazieren, obwohl ich, wie ich zugeben muss, diese alte Ruine schon immer ...nun ja, ein wenig gruselig fand. Wir wären fast an dir vorbeigegangen, du lagst halb unter den Blättern verborgen, doch dann glaubte meine Frau, ein kleines Mädchen mit weißem Haar zwischen den Bäumen stehen zu sehen, die sie herüberwinkte. Ich habe ihr gleich gesagt, dass das Unsinn ist, kein Mädchen würde alleine hier durch den Wald streifen. Aber was es auch war, es hat uns zu dir geführt...“
„Jana...“, flüsterte Luis erstickt. Dann verschwamm das Bild vor seinen Augen.
„Ist ja gut“, murmelte die Stimme der Frau an seiner Seite. „Ruh dich aus, Junge, wir kümmern uns um dich.“

***

„Wer bist du?“
Luis schlug langsam die Augen auf, sah in den sanften, flackernden Schein eines Kaminfeuers. Er lag auf einer schmalen Pritsche im Wohnzimmer eines kleinen Hauses. Der rote Teppich zu seinen Füßen und die flauschige Decke, die ihm bis knapp über das Kinn reichte, vermittelten ihm eine Behaglichkeit und eine Geborgenheit, wie er sie noch nie erlebt hatte. Warme, braune Augen blickten fragend auf ihn hinab. Langes, blondes Haar glänzte golden im Feuerschein. So hatte sich Luis stets seine Mutter vorgestellt, die Mutter, die er nie gehabt hatte. Die Frau lächelte ihn freundlich an. Außer Jana hatte ihn noch nie ein anderer Mensch so angesehen. So, als sehe sie ihn wirklich. Als sehe sie ihn, und als gefiele ihr, was sie sah.
„Luis“, meinte er leise.
„Hallo Luis“, meinte die Frau. „ Ich bin Marla, und das ist mein Mann, Jan.“ Sie musterte ihn trotz des freundlichen Blickes mit einer ungewohnten Schärfe. „Wie kommt es, dass du dich so weit in den Wald verirrt hattest, Luis?“
„Ich wollte zum Waisenhaus...ich war auf dem Rückweg aus der Schule...“
„Welches Waisenhaus?“, meldete sich nun der Mann aus der Richtung des Kamins zu Wort. Luis wandte den Kopf und sah, wie der rothaarige Hüne mit einem langem Holzscheit das Feuer schürte, ehe er sich umwandte und ihm einen scharfen Blick aus klaren, blauen Augen zuwarf.
„Na, das Waisenhaus eben. Ganz in der Nähe der Stelle, an der ihr mich gefunden hat, befindet sich das Waisenhaus...“, erwiderte Luis verwirrt.
„Die alte Ruine?“, fragte Marla langsam. „Die steht schon seit Jahren leer. Es heißt, dass es einen Geist gibt, der durch die alten Mauern spukt. Den Geist eines kleinen Mädchens, das dort starb.“
Die beiden Erwachsenen warfen sich einen bekümmerten Blick zu, als der Junge mit einem entsetzten, beinahe schon verzweifelten Stöhnen aufsprang, die Bettdecke von sich warf und hektisch nach seinen Schuhen zu suchen begann.
„Jana! Es tut mir so leid! Ich bin zu spät gekommen! Ich bin zu spät gekommen! Es tut mir so leid!“, flüsterte er leise vor sich hin.
„Hör zu, Junge, du kannst jetzt nicht da raus gehen!“, meinte Marla bestimmt. „ Es ist eisig kalt, und du bist noch immer sehr schwach. Ruh dich die Nacht über aus, dann bringen wir dich morgen zur Ruine. Obwohl du, fürchte ich, dein Mädchen dort nicht finden wirst.“
Schwarze Punkte tanzten in Luis` Blickfeld, und er verspürte ein seltsames Gefühlt der Schwäche in der Magengegend, als er versuchte, sich von der Bettkante zu erheben. Irgendwann gab er sich geschlagen. Es hatte keinen Sinn, bei Dunkelheit alleine durch den Wald zu irren. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand, und er war tatsächlich ein wenig schwach auf den Beinen.
„Ihr bringt mich morgen hin“, vergewisserte er sich schläftrig.
„Ich verspreche es dir“, murmelte Marla und fuhr ihm sanft durch das zerzauste Haar. Wäre der scharfe Stich des Verlustes nicht gewesen, er hätte glücklich sein können, dachte sich Luis, ehe ihn die dunklen Wellen des Schlafes umfingen. Hatte er sich nicht immer Eltern gewünscht, die sich um ihn sorgten? Hatte er sich nicht immer gewünscht, der kalten Gleichgültigkeit des Heimes entkommen zu können? Doch der Preis der Mädchens war zu hoch gewesen. Es schmerzte mehr, als er es für möglich gehalten hätte.

***

Ungläubig schritt Luis durch die kalten, mit Spinnenweben verhangenen Räume, die ihm so verdammt vertraut erschienen. Alles war so, wie er es in Erinnerung hatte. Doch Jahrzehnte schienen in der Zwischenzeit vergangen zu sein, und die eisige Leere schnitt ihm ins Herz, auch wenn er den Ort nie wirklich gemocht hatte. Er war für eine Weile sein Zuhause gewesen, das wusste er, tief in seinem Herzen.
Doch am meisten vermisste er die Nächte unter der braunen, zerschlissenen Decke des Waisenhausbettes. Die Nähe, das Gefühl, nicht alleine zu sein. Das Wissen, dass er ihr alles anvertrauen konnte, das ihm auf dem Herzen lag. Und er wusste, dass Jana irgendwo dort draußen war. Das Mädchen war nicht alleine seiner Phantasie entsprungen. Sie war da gewesen. Und sie brauchte ihn, wo immer sie jetzt war. So, wie er sie brauchte.
In der Ferne glaubte er, leises, helles Gelächter zu vernehmen. Das Gelächter eines Mädchens, das ihm nur zu bekannt war. Es schien ihn zu rufen, ihn zu locken. Oder war es nur der Wind, der durch die zerbrochenen Glasfenster pfiff?

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Texte: (c) by Schneeflocke
Tag der Veröffentlichung: 10.12.2010

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