Mit eisigem Schaudern habe ich früher im Geschichtsunterricht von Demonstrationen gehört, die vom Staat erbarmungslos niedergeprügelt wurden. Noch immer sehe ich die Bilder so deutlich vor meinen Augen, als sei es gestern gewesen. Menschen, von Panzern überrollt, erschossen, erschlagen oder schwer verletzt. Zum Schweigen gebracht, da sie es wagten, Kritik zu üben. Kritik an einem Staat. An ihrem Staat.
Totalitäre Staaten dulden keinen Widerspruch aus dem Volk, sie kämpfen gegen diejenigen, über die sie herrschen. Macht durch Unterdrückung, Macht durch Einschüchterung, Macht durch überzogene Gewalt, Macht durch Propaganda, Macht durch Verbreitung falscher Tatsachen und Schaffung eines Feindbildes.
Das Dritte Reich, Stalins Russland, Maos China, Frankos Spanien kommen einem da in den Sinn.
So etwas ist schon lange Geschichte, könnte man meinen. So etwas gab es früher mal, und vielleicht kommt es auch heute noch vor, aber nur in jenen Teilen der Welt, in denen es keine Demokratie gibt (oder nur eine scheinbare, wie in Russland), in jenen Teilen der Welt, in denen Bürgerrechte ein Fremdwort sind, in denen ein Menschenleben nichts wert ist.
Demonstrationen, die mit Knüppeln niedergeschlagen wurden, mit roher Gewalt, mit Hilfe eines verstärkten Polizeiaufgebots, und manchmal, wie 1989 auf dem Platz des himmlischen Friedens, auch mit Panzern und Soldaten. Geschichte. Vergangenheit. Eine andere Welt.
Wir leben in einer Demokratie. So etwas kann bei uns nicht passieren. Hier gibt es Menschenrechte, Bürgerrechte, und wir haben ein Recht auf freie Meinungsäußerung. Das kann uns niemand nehmen, es steht im Grundgesetz! Ein Grundgesetz, das geschrieben wurde, nachdem der Zweite Weltkrieg überdeutlich vor Augen geführt hatte, was geschehen kann, wenn der Staat seine Bürger unterdrückt und totalitäre Macht ausübt. Das Grundgesetz wurde geschrieben, damit so etwas nie wieder geschehen kann. Nicht hier bei uns. Nicht in Deutschland.
Und dann sehe ich mir diese Bilder an. Die Bilder, die eindeutig dokumentieren, was sich vor nur wenigen Tagen in Stuttgart abgespielt hat. Und seltsamerweise wird mir wieder kalt, wenn ich diese Bilder betrachte. Eiskalt.
Zuerst hieß es, es seien Pflastersteine geworfen worden. Dann waren es Flaschen. Dann Steine. Und schließlich musste man irgendwann zugeben, dass wohl die ein oder andere Kastanie geflogen sei. Kastanien sind natürlich unglaublich gemeingefährlich.
Polizisten, die mit Schlagstöcken auf friedliche Demonstranten einschlagen, mit Pfefferspray auf sie losgehen, mit Wasserwerfern. Und das nicht etwa, um den Frieden zu sichern, um die restlichen Bürger zu schützen – dann hätte man es vielleicht noch verstehen können. Nein, das alles nur, um ein Bauprojekt durchzuführen, um ein paar Bäume pünktlich und planmäßig fällen zu können.
Es waren keine Hooligans. Es war kein gewalttätiger schwarzer Block. Es waren Schüler, Rentner, normale Mittelständler. Mündige Staatsbürger, die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machten. Die vielleicht die ein oder andere Kastanie geworfen haben.
Verbreitung falscher Tatsachen, überzogene, staatliche Gewalt gegen Kinder und Alte, und eine Regierung, die mit Macht durchsetzen will, was sie gegen den Willen des Volkes entschieden hat.
Nein, so etwas kann bei uns nicht passieren. Nicht hier. Nicht in Deutschland. Wir leben in einer Demokratie.
Texte: (c) by Schneeflocke
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2010
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Widmung:
Für all die Menschen, die in Stuttgart auf die Straße gegangen sind