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Prolog


Jasin



Solange ich zurückdenken kann, habe ich mich vor der Dunkelheit gefürchtet. Denn Dunkelheit bedeutete, dass ich schlafen musste. Nicht, dass ich etwas gegen das Schlafen an sich gehabt hätte – ganz im Gegenteil. Es gab nichts, das ich mir sehnlicher wünschte als eine einzige Nacht erholsamen Schlafes. Ich habe nie eine erlebt.
Denn mit dem Schlaf kommen die Träume. Und mit den Träumen kommt der Schattenmann. Und das Schlimmste war, dass ich mir nie ganz sicher gewesen war, ob der Schattenmann wirklich nur in meinen Träumen lebte.
Was ich jedoch mit Gewissheit wusste, war, dass er mich verfolgte.
Als ich klein war, in dem Alter, in dem sich selbst normale Kinder noch vor dem Einschlafen fürchten, da war es nur ein Schemen. Ein dunkles Schemen, dunkler als der schwärzeste Schatten, die gestaltgewordene Nacht, und zwei seltsam helle, eng beieinander stehende, stechend blaue Augen, deren Blick mich zu bannen schien. Eiskalt waren sie, berechnend, und ich wusste, wenn ich zu lange hineinsah, würde ich nie wieder aufwachen. Irgendwie wusste ich schon damals, dass ich, wenn ich im Traum starb, nie wieder würde zurückkehren können.

Als wir in das neue Haus gezogen waren und ich ein Zimmer im oberen Stock bekam, war ich wie besinnungslos vor Glück gewesen. Ich hatte an dem großen, beinahe mannshohen Fenster gestanden, das nach Westen ging, und hatte in den Garten hinunter gesehen und geglaubt, dass der Schattenmann mich hier nicht würde finden können. Nie würde ich jenen Moment vergessen, als ich dort am Fenster stand und die Abendsonne das große, neue Zimmer in flammendes Licht tauchte. Als ich glaubte, endlich frei zu sein.
Es war die erste Nacht, in der ich mich nicht lautstark gegen das Zubettgehen weigerte, und meine Mutter war mir mit einem Lächeln durch das Haar gefahren und hatte gemeint, dass ich nun ein großer Junge sei, denn große Jungen fürchteten sich nicht vor den Schatten der Nacht. Zum allerersten Mal hatte ich freiwillig die Augen geschlossen, ohne zuvor die halbe Nacht wachzuliegen und mit geballten Fäusten gegen den Schlaf anzukämpfen, der mich dann doch jedes Mal wieder übermannte. Es war die erste Nacht, in der ich mich nicht leise in den Schlaf weinte. Ich hätte es besser wissen müssen.
Dem Schattenmann entkam man nicht so leicht.

Es war die erste Nacht, in der ich ihn wirklich sah. In meinem Traum stand ich wieder vor dem Fenster und sah zu, wie der orangefarbene Ball der Sonne langsam hinter dem westlichen Horizont verschwand, hinter den Maisfeldern, die sich damals noch viele Meilen weit gen Westen erstreckten. Ich sah zu, wie sich der Himmel verfärbte, wie das Licht allmählich verblasste. Und mit dem schwindenden Licht nahm die Dunkelheit zu. Mit dem schwindenden Licht wuchsen die Schatten. Schatten, die durch das schwache Licht des Mondes nur ein wenig in ihrer Intensität abmildert wurden. Doch ich war froh über das spärliche Licht, das die noch dünne Mondsichel warf, die weit oben am Himmel stand. Bei Neumond waren die Schatten dunkler, wenn nur das Licht der Sterne die Nacht erhellte. Bei Neumond war es immer am Schlimmsten.
Meine Finger krallten sich in das weiche Holz des Fensterbrettes, Schweiß trat mir in Perlen auf die Stirn. Denn die Schatten wuchsen nun, wurden dunkler und nahmen allmählich Gestalt an. Der große, weitläufige Garten des neuen Hauses war voller neuer, unbekannter Schatten. Da war der dünne, spinnennetzartige Schatten der Maisstauden, die auf den kurz gemähten Rasen fielen, da das Feld dicht an das Grundstück grenzte. Dieser Schatten schwankte und tanzte geisterhaft, wie dürre Knochenfinger, die nach mir zu greifen schienen, und ich fuhr unwillkürlich zusammen. Doch es waren nur die Stauden, die im leichten Wind hin- und herschwankten, noch regte sich nichts. Anders der tiefschwarze, kastenförmige Schatten des Gartenhäuschens. Dieser Schatten hätte sich eigentlich nicht bewegen dürfen. Und doch tat er es.
Er wogte und waberte, die Dunkelheit schien zu fließen wie Öl, das langsam in einer Pfanne erhitzt wird. Wie erstarrt vor Entsetzten sah ich mit an, wie sich eine mir nur zu bekannte Gestalt aus der wogenden Dunkelheit löste. Und zum ersten Mal sah ich ihn deutlich, er war nicht länger ein unscharfes Schemen. Denn zum ersten Mal löste er sich vollständig aus den Schatten, die ihn umgaben, und trat in das helle Mondlich hinaus und starrte reglos zu mir hinauf.
Er erinnerte mich ein wenig an das Männchen aus der Reifenwerbung, nur, dass er keineswegs so harmlos und freundlich wirkte, und nicht so plump. Er hatte Beine dick wie Baumstämme, und riesige, kräfige Pranken, so groß wie die Pastateller des Lieblingsgeschirrs meiner Mutter, die an beiden Seiten seines massigen Körpers herabhingen und sich rhythmisch zu Fäusten ballten. Er ging leicht gebeugt, doch nicht wie die alte Frau am anderen Ende der Straße, in der wir früher gewohnt hatten, nicht, als würde ihn die Last vieler Jahre zu Boden drücken wie ein unsichtbares Gewicht. Er ging gebeugt wie ein Raubtier, das zum Sprung bereit ist. Wie ein Raubtier, das Beute wittert.
Durch das geschlossene Fenster glaubte ich zu hören, wie er schnüffelnd die Luft einsog. Und dann sah er mir direkt ins Gesicht, und ich hätte schwören können, dass er mich boshaft angrinste, obwohl sein Gesicht doch nur aus tiefster Schwärze bestand – tiefste Schwärze und diese eiskalten, schneidenden blauen Augen.
„Du kannst nicht vor mir fliehen“, schienen diese Augen mir zuzuflüstern. „Ich werde dich überall finden. Ich werde dir überall hin folgen.“
Mein Atem ging nun stoßweise, der Schlafanzug klebte mir am Rücken, und ich krallte meine Finger noch fester in das weiche Holz der Fensterbank, so fest, dass ein nadelgleicher Schmerz meinen Arm hinaufschoss, doch das nahm ich nur am Rande wahr. Denn der Schattenmann kam nun auf mich zu.
Ganz langsam, geschmeidig wie eine Raubkatze, und die bleichen, blauen Augen ließen mich nicht auch nur für einen Augenblick los, nahmen mich gefangen. Wie gelähmt musste ich mit ansehen, wie der Schattenmann schließlich direkt unter meinem Fenster anlangte. Die blauen Augen flackerten wie Totenlichter, als er seine Hand nach mir ausstreckte. Dünne, schwarze Fäden schossen aus der nach oben gereckten Handfläche, rauchähnlich waberten sie empor, wie dicker, zäher Nebel. Doch noch ehe sie mich erreicht hatten, geschah etwas viel Schrecklicheres. Der Schattenmann glitt lautlos die Hauswand empor.

In diesem Moment erwachte ich aus meiner Starre. Mit einem Satz sprang ich vom Fenster zurück und eilte auf mein Bett zu, so schnell mich meine Beine trugen. Denn irgendwie wusste ich, dass mir der Schattenmann dort nichts würde anhaben können, dort, unter der dicken, warmen, schützenden Bettdecke. Irgendwie wusste ich, dass ich dort aufwachen würde, wenn ich erst einmal in Sicherheit war. Und so rannte ich um mein Leben, stolperte durch die Dunkelheit des noch unbekannten Zimmers. In meinem alten Zimmer wäre es nicht passiert. In meinem alten Zimmer kannte ich die Dunkelheit, dort hätte ich mich blind zurechtgefunden. Aber hier nicht. Und so geschah, was nicht hätte geschehen dürfen. Ich stolperte. Ich stolperte über die Spielzeugkiste, die ich in meiner Freude, endlich frei zu sein, völlig vergessen hatte, die ich deswegen nicht an ihren Platz unter dem Bett zurückgeschoben hatte. Auch das wäre mir in meinem alten Zimmer nie passiert. Dort war nie ein Hindernis gelegen, über das ich in der Nacht hätte stolpern können. Ich stieß mir heftig den Zeh an, so heftig, dass mir der Schmerz die Tränen in die Augen trieb, doch das wäre an sich nicht so schlimm gewesen. Wenn ich nicht das Gleichgewicht verloren hätte. Ich stolperte, schwankte und fiel dann zu Boden, im letzten Augenblick fing den Sturz mit den Händen ab.
In diesem Moment wusste ich, dass ich es nicht mehr rechtzeitig zum Bett schaffen würde. Ich wusste es, denn ich spürte den kalten, stechenden blauen Blick in meinem Rücken, er schien sich mir regelrecht zwischen die Schulterblätter zu bohren.
Ohne, dass ich mich umwenden musste, spürte ich, dass es der Schattenmann irgendwie durch das Fenster geschafft hatte. Die Dunkelheit um mich herum schien sich auf seltsame Weise zu verfestigen, streckte ihre eiskalten Klauen nach mir aus. Ich stieß einen hohen, gellenden Schrei aus, der an ein tödlich verwundetes, sterbendes Tier erinnerte, und der Schrei war so laut, dass ich daran erwachte.
Es war das erste Mal, dass es mir gelungen war, außerhalb der Sicherheit meines Bettes einen Traum zu verlassen, und das rettete mir das Leben.

Tränenüberströmt und zitternd zog ich mir die Bettdecke über den Kopf, um die Schatten der Nacht auszusperren, und so fanden mich meine Eltern schließlich, im hintersten Winkel meines Bettes kauernd und mit fest zusammengekniffenen Augen. Meine Mutter setzte sich zu mir, nahm mich fest in die Arme und wiegte mich beruhigend hin und her, während sie leise ein Schlaflied summte, und mein Vater wusste augenblicklich, was zu tun war. Helles, elektrisches Licht durchflutete das Zimmer, als er den Lichtschalter betätigte, und die Schatten flohen flüsternd in die Ecken zurück. Hier, in der Sicherheit der Arme meiner Mutter und im hellen,warmen Licht, spürte ich, wie allmählich die Anspannung von mir abfiel.
Schweigend ging mein Vater im Zimmer umher, öffnete sämtliche Schranktüren, ja, er sah sogar unter meinem Bett nach.
„Da ist nichts, Jasin“, meinte er schließlich müde und zauste mir zärtlich durch das schweißnasse Haar. Ich seufzte leise, doch es war kein erleichtertes Seufzen. Es war ein resigniertes. Ich wusste, dass sie da waren, sie waren immer da. Aber niemand außer mir schien sie zu sehen.
„Soll ich das Licht anlassen?“, fragte meine Mutter, nachdem sie die Bettdecke um mich herum festgesteckt hatte. Ich nickte schweigend und versuchte, eine tapfere Miene aufzusetzen. Ich wusste, dass es nichts helfen würde, so, wie ich wusste, dass meine Eltern mir nicht glauben würden, wenn ich ihnen die Wahrheit erzählte. Sie sahen die Schatten nicht. Doch es gab immer Schatten, egal, wie hell das Licht schien. Und ich wusste, ohne dass ich hinsehen musste, dass die blauen Augen noch immer auf mir ruhten. Lauernd, abwartend. Die Dunkelheit jenseits der Fensterscheibe war undurchdringlicher als je zuvor. Ich tat kein Auge mehr zu, bis am nächsten Morgen die Sonne aufging, und ich rührte mich nicht von der Stelle.

Doch das war nicht das Schlimmste an jener Nacht. Das Schlimmste waren die seltsam geraden, wie mit einem Lineal gezogenen Blutergüsse, die ich am nächsten Morgen auf meinen Handflächen entdeckte und die nur vom Fensterbrett stammen konnten, und der blau verfärbte Nagel meines linken großen Zehs. Denn beides bewies, dass es eben nicht nur ein gewöhnlicher Traum gewesen war. Beides bewies, was ich schon immer befürchtet hatte, dass es die Schatten tatsächlich gab, und dass ich andere Träume träumte. Träume, die Wunden hinterließen.


1. Dämmerlicht



Jasin




Es war einer jener Tage, an denen ich am Liebsten zu Hause geblieben wäre. Der Himmel war wolkenverhangen, es war kühl und ein wenig neblig, und es herrschte jenes trübe Dämmerlicht, das ich so sehr hasste. Es gab zu viele Schatten bei diesem Licht. Tagschatten waren bei Weitem nicht so gefährlich wie Nachtschatten, aber ich fühlte mich dennoch unwohl. Jetzt im Winter war es immer besonders schlimm. Im Winter waren die Nächte lang und dunkel.
Mit einem hastigen Griff in die ausgeleierte, zerschlissene Innentasche meiner dicken, hellgrauen Steppjacke vergewisserte ich mich, dass die Stirnlampe noch immer sicher verstaut war. Ich verließ niemals mein Zimmer ohne die kleine Lampe, die sich praktischerweise mit einem breiten Gummiband am Kopf befestigen ließ, so dass ich beide Hände frei hatte. Licht war die einzige Waffe, die in dieser Welt wirksam war, und im Laufe der Jahre hatte ich gelernt, mich zur Wehr zu setzen, mehr oder weniger erfolgreich. Immerhin lebte ich noch.
Denn das die Schatten mir auch in dieser Welt gefährlich werden konnten, das hatte ich auf schmerzhafte Weise lernen müssen. Beinahe schon unbewusst fuhr ich mit der Hand an meine linke Augenbraue und an die kleine Narbe, die sie in zwei Teile spaltete. Eine Narbe, die mich stets daran erinnern würde, was ich verloren hatte. Eine Narbe, die mich immer wieder daran erinnerte, dass ich gefährlich war. Gefährlich für alle, die mir nahe standen.

Mit hastigen Schritten eilte ich durch das Dämmerlicht, hielt mich dabei bewusst in der Mitte der Straße. Um diese Uhrzeit fuhr kaum ein Auto, und die Straße war um ein Vielfaches besser ausgeleuchtet als der Gehweg, den ich um diese Tageszeit so gut wie möglich mied.
Ich war spät dran, und ich wusste, dass ich es nicht mehr rechtzeitig bis zum Glockenläuten schaffen würde.
Dabei hatte ich es wirklich versucht. Ich hatte sogar den zweiten Wecker gestellt, und fast wäre es mir auch gelungen, gar nicht erst einzuschlafen. Doch irgendwann gegen fünf Uhr waren mir dann doch die Augen zugefallen. Natürlich hatte ich das nervtötende, elektronische Piepsen des Weckers nicht gehört. Wie denn auch, wenn ich gar nicht mehr in meinem Zimmer gewesen war, sondern irgendwo in den Tiefen der Traumwelt. Kein Geräusch aus dieser Welt drang dort hinüber.
Es war ein recht kurzer Ausflug gewesen, und ich hatte rasch meinen Weg zurückgefunden. Fast war es mir vorgekommen, als seien die Schatten anderweitig beschäftigt. In das leerstehende Haus auf der anderen Seite der Straße war eine Familie eingezogen – wenn man einen Mann und seine Tochter als Familie bezeichnen konnte – und seither schienen die Schatten noch unruhiger zu sein als zuvor, aber weniger auf mich fokussiert.
Es spielte keine Rolle, ich war froh, so glimpflich davongekommen zu sein. Dennoch war ich eine halbe Stunde zu spät aufgewacht. Gott sei Dank war der Weg zur Schule nicht weit, und so würde ich nur die ersten paar Minuten der ersten Stunde verpassen.
Es musste ja schließlich auch Vorteile haben, in einem so verdammt abgeschiedenen Kaff zu leben. Viele waren es nicht. Ich konnte immer noch nicht verstehen, warum es meine Eltern ausgerechnet hierher gezogen hatte. Das Wetter war die meiste Zeit des Jahres kalt und regnerisch, es gab nicht einmal einen anständigen Supermarkt in der Nähe, und Kneipen waren auch äußerst dünn gesät. Nicht, dass ich der Typ war, der seine Abende dort verbracht hätte. Ich hatte die Vorliebe meiner Mitschüler für die dunkle Spelunke schräg gegenüber der Schule nie nachvollziehen können. Gut, das Bier mochte billig sein, und niemand fragte nach einem Ausweis, wenn man härtere Sachen trinken wollte, aber es gab einfach zu viele Schatten in diesem stets überfüllten Schankraum.
Ein paar Straßen weiter, und die vertraute Silhouette des Schulgebäudes tauchte aus den wallenden Nebelschwaden vor mir auf. Seufzend überquerte ich die Straße, stieg die breite Sandsteintreppe empor und ignorierte gekonnte den kunstvoll aus dem hellen Stein gehauenen Gargoyle, der neben dem breiten Schultor platziert worden war, wie ein stummer Wächter aus einem schlechten Horrorfilm. Ich mochte ihn genausowenig, wie ich Horrorfilme mochte. Ich hatte genug Stoff für Albträume, dass es für ein Leben lang reichte, da brauchte ich mir nicht noch zusätzliche Inspiration verschaffen.
Der Geruch nach altem Holz, Staub und Tafelkreide empfing mich, als ich die schweren Türen aufstieß, und ein warmer Luftstrom schlug mir entgegen. Wenigstens war der alte Geizkragen von Hausmeister nicht zu knausrig, was die Heizkosten anging. Nach der Dunkelheit war die Kälte das, was ich am meisten fürchtete. In der Kälte waren auch die Schatten mächtiger.
Meine Schritte hallten von den Wänden des menschenleeren Flurs wieder, als ich mich geschickt zwischen den Schatten hindurchschlängelte. Es war so viel einfacher, wenn mir niemand dabei zusah, ich musste dann nicht verbergen, wie ich hastig von einem Lichtkreis in den nächsten huschte und dabei jede dunklere Ecke sorgsam umging.
Ich hasste das alte Schulhaus. Nicht, weil ich die Schule hasste, wie die meisten meiner Mitschüler. Es war mir egal, wo und wie ich meine Zeit verbrachte, und ab und an lenkte mich der Unterricht sogar ein wenig ab. Nein, es war das Gebäude.
Nun hätten die meisten das altehrwürdige Schulgebäude wohl eher als – nun ja, historisch bezeichnet. Es war nicht so, dass es baufällig war – es war vor ein paar Jahren erst von Grund auf renoviert worden. Doch es war alt, im Jugendstil errichtete, und das bedeutete, dass die Decken hoch waren, höher als in einem modernen Gebäude, und dass darum die Gänge in ein schummriges, dämmeriges Licht getaucht waren, selbst bei Tag. Und die Schatten, die hier wohnten, waren uralt, so alt wie das Gebäude selbst.

„Guten Morgen, Herr Cacciato, beehren Sie uns auch noch mit Ihrer Anwesenheit?“, begrüßte mich meine Mathematiklehrerin mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ich hab verschlafen“, nuschelte ich eine Entschuldigung und ging dann leise den Mittelgang entlang zu meinem Platz in der vorletzten Reihe. Ich wählte immer einen Platz in der Mitte des Raumes, da diese meist am Besten ausgeleuchtet war.
Frau Schneider warf mir noch einen missbilligenden Blick zu und fuhr dann ohne ein weiteres Wort mit dem Unterricht fort. Ich war volljährig, ich konnte meine eigenen Entschuldigungen schreiben. Und sie wusste, dass ich ein guter Schüler war, weswegen sie mir mein Zuspätkommen meist durchgehen ließ. Ich holte den verpassten Stoff immer nach, machte meine Hausaufgaben und schrieb stets gute Noten. Zeit hatte ich mehr als genug – der Schulstoff hielt mich wach und lenkte mich ab, und so verbrachte ich einen guten Teil meiner Nächte mit Schulaufgaben. Das war ein Grund, weswegen ich mir einiges erlauben konnte. Und ein Grund, weswegen ich nicht gerade zu den beliebtesten Schülern der Stufe zählte.
„Morgen, Jas“, empfing mich mein Nebensitzer Paul und räumte rasch seine Tasche zur Seite, um mir Platz zu machen. Er warf mir einen besorgten Blick zu – ich wusste, dass die Augenringe dunkler waren als noch am Tag zuvor, es lag daran, dass ich wieder einmal schlafen musste. Mehr als ein oder zwei Nächte ganz ohne Schlaf hielt ich selten durch, und diese Nacht waren es auch nur zwei Stunden gewesen.
„Morgen, Paul“, murmelte ich und legte dann den Kopf auf die verschränkten Arme. Mir war nicht nach einem Gespräch zu Mute, und er wusste, wann er mich besser in Ruhe lassen sollte.
Ich verstand nicht, warum er sich immer noch mit mir abgab. Sicher, ich hatte ihm damals die Haut gerettet, als die Schläger aus der Oberklasse auf ihn eingeprügelt hatten. Paul war für einen Jungen recht schmächtig, und zudem hatte er einen notorischen Ordnungsfimmel. Er hatte ein Inhaltsverzeichnis sämtlicher ausgeteilter Kopien und Blätter angelegt, die wir bis jetzt im Unterricht erhalten hatten, und ständig schleppte er mehrere Leitz-Ordner mit sich herum. Jeden Tag wurde das Inhaltsverzeichnis aktualisiert, da wir jeden Tag neue Kopien ausgeteilt bekamen. Natürlich bot er da eine große Angriffsfläche für Hänseleien, doch ich hatte mich ihm immer verbunden gefühlt. Ich wusste, wie es ist, anders zu sein als die anderen. Ich wusste, wie es ist, wenn man nicht verstanden wird. Und so war ich eingeschritten, als er wieder einmal Prügel bezogen hatte. Im Gegensatz zu Paul war ich nicht gerade das, was man als schmächtig bezeichnen würde. Ich hatte im Laufe der Jahre gelernt, zu kämpfen. Auch wenn ich gegen die Schatten mit Körperkraft nicht ankommen konnte, hatte es mir doch stets ein trügerisches Gefühl von Sicherheit vermittelt, über eben jene Körperkraft zu verfügen. Ich war ein guter Läufer, und ich trainierte jeden Tag mit den Hanteln meines Vaters. Einen positiven Nebeneffekt hatte es: ich wurde in Ruhe gelassen. Ich glaubte gar, dass mich ein paar meiner Mitschüler regelrecht fürchteten. Wie gesagt, es hatte seine Vorteile. Immerhin hatte ich Paul damals helfen können, und seitdem war er so etwas ähnliches wie mein einziger Freund in diesem verdammten Kaff am Rande der bewohnten Welt.
Ich wusste, dass ich oft kein guter Freund war, ich war launisch, reizbar und abweisend, was zum einen an der ständigen Müdigkeit, zum anderen aber auch an dem stets gegenwärtigen heiseren Geflüster und Geraschel der Schatten lag, die mich in einen Zustand ständiger Anspannung versetzten. Es war besser so. Es war besser, wenn mich niemand mochte. Wenn mir niemand zu nahe kam, konnte auch niemand meinetwegen verletzt werden.

Das schrille Läuten der Schulglocke riss mich aus meinen Überlegungen, und ich fuhr fast ein wenig erschrocken zusammen. Wer auch immer diesen verdammten Glockenton einprogrammiert hatte, musste so etwas wie einen unstillbaren Hass uns Schülern gegenüber empfinden. Es klang so unglaublich durchdringend und hoch, das Geräusch war ähnlich unangenehm wie das elektronische Fiepen meines Weckers. So früh am Morgen davon aufgeschreckt zu werden kam in meinen Augen schon fast einer Folter gleich. Ich hatte stark den Hausmeister im Verdacht. Unser Hausmeister schien generell eine Abneigung gegen Schüler zu hegen. Manchmal fragte ich mich, ob es ihm nicht lieber gewesen wäre, wir wären alle eines raschen Todes gestorben, damit niemand mehr seine kostbaren Böden verdreckte.
Und an besonders schlechten Tagen fragte ich mich, ob er deswegen so lange damit wartete, die kaputten Glühbirnen auszuwechseln, weil er hoffte, die Schatten würden diese Aufgabe für ihn erledigen. Natürlich konnte er nicht wissen, zu was diese Schatten fähig waren, denn er sah sie nicht. Und weil er sie nicht sah, konnten sie ihm nichts anhaben, so lange er sich nur von mir fernhielt.

„Hey, Jas, schläfst du noch? Wir sollten jetzt zu Englisch rübergehen, du weißt, wie die Black sich immer aufregt, wenn man zu spät kommt“, drang Pauls Stimme zu mir durch. Leise stöhnend rieb ich mir kurz über die Augen und griff dann nach meiner Schultasche. Er hatte recht – wie für gewöhnlich immer. Inzwischen hatte sich das Klassenzimmer schon fast geleert. Ich neigte dazu, gedanklich abzuschweifen, keine gute Eigenschaft, sie hatte mich schon öfter in Schwierigkeiten gebracht, als mir lieb war.
Schweigend machten wir uns auf den Weg zur zweiten Stunde. Ich war froh darüber, dass wir die letzten waren, die das Klassenzimmer verließen. So konnte ich wieder von Lichtkreis zu Lichtkreis huschen, ohne groß dabei angestarrt zu werden. Paul hatte diese Eigenheit schon lange akzeptiert, so, wie ich seine notorisch geführten Hefte und den Marker, den er ständig hinter dem Ohr klemmen hatte, akzeptierte. Es war einer der Gründe, weswegen ich ihn so mochte.

„Na. Cacci, noch immer Schiss vor der Dunkelheit? Weißt du, es leben wirklich keine Monster unter deinem Bett. Hat dir das deine Mami nie erklärt?“, feixte eine mir nur zu bekannte Stimme hinter mir. Wir waren wohl doch nicht die letzten gewesen, die das Zimmer verlassen hatten, und ich verfluchte mich für meine Unvorsichtigkeit. Ich hasste dieses Kräftemessen, diese Konfrontationen, die sich ab und an einfach nicht zu vermeiden lassen schienen, wollte ich in Ruhe gelassen werden. Für gewöhnlich versuchte ich, das leise Getuschel einfach zu ignorieren, doch Schleicher schien es diesmal wirklich ernst zu meinen. Vielleicht hatte er einfach auch nur zu viel gesoffen – der schwache Wodkageruch war mir nicht entgangen, der ihm entströmte. In der Plastikflasche, aus der er in Mathe hin und wieder getrunken hatte, schien also nicht nur Orangensaft gewesen zu sein. Ich fragte mich, warum es den Lehrern nicht auffiel, dass er nur äußerst selten völlig nüchtern war. Vielleicht war es ihnen aber auch einfach egal, so lange er keine Scherereien machte.
Heute schien er es jedoch auf Selbstmord abgesehen zu haben, denn die nächsten Worte aus seinem Mund brachten mich zur Weißglut. Und er wusste es. Ich sah das belustigte Grinsen, das um seine Mundwinkel spielte, als er mir den nächsten Satz vor die Füße warf wie einen Fehdehandschuh „Oder mag sie es vielleicht, dass du noch immer nachts zu ihr ins Bett krabbelst? Weil du doch keinen Papi mehr hast, der es ihr wärmt...“
Mit einem leisen, wütenden Knurren fuhr ich vollends zu ihm herum und ballte meine Hände zu Fäusten, so fest, dass mir die Nägel schmerzhaft in die Handinnenflächen schnitten.
„Pass blos auf, du kleine, mieße Ratte“, zischte ich gefährlich ruhig. „Wenn du an deinen Eiern hängst, würde ich an deiner Stelle jetzt ganz leise an mir vorbei schleichen. Am Besten mit eingekniffenen Schwanz und voller Demut. Und wenn dir dein Leben lieb ist, komm mir heute besser nicht mehr unter die Augen.“
Eine warme Hand legte sich auf meinen rechten Arm, versuchte, mir Einhalt zu gebieten. „Lass es, Jas, er ist es nicht wert“, flüsterte Paul mir eindringlich zu. Vielleicht hatte er den glühenden Hass in meinen Augen gesehen. Doch Schleicher war nicht ganz so blöd, wie er aussah. Er schien zu spüren, dass er eine Grenze überschritten hatte, die man besser nicht überschreiten sollte. Selbst in seinem alkoholgetränkten Gehirn schien die Selbstschutzfunktion noch vorhanden zu sein.
„Ist ja schon gut, Mann. Hab es nicht so gemeint. Musst ja nicht jedes Mal gleich so in die Luft gehen“, murmelte er und schob sich hastig an mir vorbei. Ich sah im regungslos hinterher, dieser großen, beinahe schlacksigen Gestalt mit dem sorgfältig gegeltem Haar, das die bereits erkennbaren Geheimratsecken nicht gänzlich verdecken konnte. Er hatte mir nicht engegenzusetzen. Ich war kräftiger und geschickter als er, in einem Kampf wäre er mir binnen kürzester Zeit unterlegen. Ich hätte ihn zu Brei schlagen können, wenn ich es gewollt hätte. Und das Verlangen danach puliserte noch immer durch mich hindurch, kroch durch meine Adern wie schleichendes Gift. Sämtliche Muskeln meines Körpers waren angespannt, und ich bebte vor Wut. Niemand, dem sein Leben lieb war, erwähnte meinen Vater in meiner Anwesenheit. Jeder wusste das, selbst so ein Schleimscheißer wie er sollte das inzwischen begriffen haben.

Die schrille Schulglocke riss mich erneut in die Gegenwart zurück, und zum ersten Mal war ich ihr beinahe dankbar dafür. Ich atmete einmal tief ein und wieder aus, sammelte mich, so gut es eben ging, und dann eilte ich mich, Paul einzuholen, der bereits vorausgegangen war. Wie gesagt, die Black mochte es nicht, wenn man zu spät kam.
In meiner Hast stürmte ich um die letzte Ecke des Flures, ohne recht auf meinen Weg zu achten, und prallte unsanft gegen etwas Weiches. Etwas Weiches, Warmes und Lebendiges, das einen überraschten Schrei ausstieß.


2. Spiegelbild



Jasin




Wer auch immer es war, in den ich da hinein gerannt war, er war klein und sehr zierlich, und ich hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Hastig schloss ich meine Hände um die Oberarme der Person, um zu verhindern, dass sie fiel, und vernahm ein beinahe schon schmerzerfülltes Keuchen. Es klang entsetzt, sehr hoch und sehr...weiblich. Ich hielt ein Mädchen in den Armen! Augenblicklich löste ich meinen Griff, der meines Wissens nicht so stark gewesen war, als dass es schmerzhaft hätte gewesen sein können. Andererseits war sie auch sehr schmal...ich hatte in meiner Überraschung wohl doch etwas zu fest zugepackt.
„Es tut mir leid“, murmelte ich entschuldigend, sowohl für den zu festen Griff als auch für die Tatsache, dass er überhaupt erst notwendig gewesen war.
Noch immer stand sie sehr dicht vor mir, wir hatten uns beide keinen Deut von der Stelle gerührt. Sie hatte sich vollkommen versteift, sämtliche Muskeln ihres Körpers schienen angespannt zu sein, und alles, was ich von ihr sah, was diese schwarze Haarpracht, die in sanften Wellen ihren schmalen Rücken hinabwallte, und ein dunkelviolettes, einfaches Shirt ohne Aufdruck. Es war nur ein kurzer Moment gewesen, und doch schien es mir, als könnte ich noch immer ihren Körper an meinen spüren, warm und weich...
Seltsam, wie rasch mein Zorn von zuvor verraucht zu sein schien. Normalerweise hatte ich mich nicht so schnell wieder unter Kontrolle. Ich war ihr nicht einmal böse, dass sie so nahe an der Ecke gestanden hatte, und ich wusste genau, wäre es Schleicher gewesen, gegen den ich gestoßen wäre, ich hätte ihn bei lebendigem Leib gehäutet. Oder so ähnlich. Doch dieser Gedanke verblasste, als hätte es ihn niemals gegeben, als das Mädchen schließlich zu mir aufblickte.
Ich sah in tiefe, braune Augen, die den meinen so sehr ähnelten, dass es mir schon beinahe unheimlich war, denn es war, als würde ich in einen Spiegel sehen. Dunkelbraune Augen, unter denen ganz ähnliche Schatten lagen wie unter den meinen. Augen, die sich jetzt in diesem Moment erschrocken weiteten.
„Verzeih, es war meine Schuld“, flüsterte sie kaum hörbar. Dann strich sie sich fast ein wenig abwesend und doch mit schmerzlich verzerrtem Gesicht noch einmal über die Arme und wandte sich um, stolperte beinahe in ihrer Hast, von mir fortzukommen. Es verletzte mich fast schon ein wenig, dass ich ihr augenscheinlich so abstoßend erschien, und auch das war ein sehr ungewohntes Gefühl. Es war lange her, dass mich das letzte Mal etwas verletzt hatte. Sicher, es bedurfte nicht allzu viel, mich in Rage zu bringen. Wut war eine Art von Schutz, meine Wut und mein Zorn verfestigten die Mauer, die ich zwischen mir und meinen Mitmenschen errichtet hatte. Eine Mauer, die bislang noch niemand vollständig durchbrochen hatte. Niemand, bis auf dieses Mädchen, deren Ablehnung mir näher ging, als ich es mir eingestehen wollte. Als ich es zulassen wollte.
Vier rasche Schritte, und sie war um die nächste Ecke verschwunden.
Fassungslos starrte ich ihr hinterher. Nicht nur, weil ihr Blick so seltsam...wissend gewesen war, und ich etwas in ihren Augen gelesen hatte, das von Schmerz sprach, von Angst. Nicht nur, weil sie genauso müde ausgesehen hatte wie ich, genauso erschöpft und resigniert und merkwürdig verloren. Sondern weil sie die dunkle Ecke genauso geschickt umgangen hatte wie ich. Kein einziger ihrer Schritte hatte auch nur den Rand jener Dunkelheit gestreift, und ich kannte diese Ecke. Jeder andere ging durch den Schatten hindurch, weil es eines zusätzlichen Schrittes bedurfte, ihn zu umgehen. Seit ich an dieser Schule war, war sie die erste gewesen, die den gleichen Weg gegangen war wie ich. Als hätten meine Schuhe unsichtbare Male auf dem Fußboden hinterlassen, war sie exakt deselben Weg gegangen, den ich gekommen war.
Und dann war da das Wispern der Schatten, das ihr zu folgen schien, wie es mir stets folgte, und die Art, wie die Dunkelheit sich in ihrer Richtung zu ballen schien. Wer, zum Teufel, war dieses Mädchen?

Den ganzen restlichen Tag wollte sie mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Fast wäre ich so weit gesunken und hätte mich bei Paul nach ihr erkundigt – ob er sie schon einmal hier gesehen hatte, denn ich war mir sicher, dass ich sie zum ersten Mal erblickt hatte, dass mir ihr Gesicht im Gedächtnis geblieben wäre, ebenso wie diese schwarzen, langen Locken, die ihr bis fast auf die Taille gereicht hatten. Oder ob er gar ihren Namen wusste. Und das hieß schon einiges, denn ich hatte mich noch nie nach einem Mädchen umgesehen, geschweige denn, mich nach ihrem Namen erkundigt. Es ließ mir einfach keine Ruhe, und das rechtfertigte dann schon einmal verzweifelte Maßnahmen.
Doch so weit musste ich gar nicht gehen. Und das Rätsel wurde teilweise – wenn auch nur teilweise - gelüftet, als sie nach der großen Pause das Klassenzimmer betrat, in dem sich unser Geschichtekurs zusammenfand.

Geschichte war schon immer eines meine Lieblingsfächer gewesen. Geschichte war ähnlich wie die Mathematik. Harte, klare Fakten, an denen es nichts zu rütteln gab. Natürlich konnten gewisse Geschehnisse unterschiedlich interpretiert werden. So, wie in der Mathematik ein und dieselbe Aufgabe auf mehreren Wegen und auf unterschiedliche Art und Weise gelöst werden konnte. Doch in Mathe gab es für jede Aufgabe eine Lösung, wenn man nur lange genug danach suchte, und in Geschichte wusste man bereits, wie sich die Dinge entwickelt hatten, weil es eben schon geschehen war. Das mochte ich. Ich mochte Struktur und Ordnung, und vielleicht war es auch das, was ich so an Paul mochte. Dass er versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen. Es gab genug Chaos in meinem Leben, genug Unsicherheiten. Genug Dinge, die ich nicht begriff, die sich meiner Vorstellungskraft entzogen und die ich einfach so hinnehmen musste, wie sie waren, wollte ich überleben. Den geringen Teil, den ich beeinflussen konnte, versuchte ich ebenso pedantisch zu ordnen wie Paul seine Kopien. Es gab mir das Gefühl, zumindest bis zu einem gewissen Grad selbst über mein Leben bestimmen zu können.

Das Mädchen war jemand, der diese Ordnung stören konnte. Das wusste ich in dem Moment, in dem sie dicht hinter Herr Bergmann den von flimmernden Leuchstoffröhren erhellten Raum im untersten Geschoss des Kellers betrat, den ich schon immer von Herzen verabscheut hatte, weil er so eng war, so voller Staub und so voller Schatten, die sich in den Ecken verfestigten, zusammenballten und dann wieder verschwanden, als wären sie niemals dagewesen. Ich wusste es, als Bergmann sie als unsere neue Mitschülerin vorstellte, die kürzlich erst mit ihrem Vater hierhergezogen war und nun zu Beginn des Halbjahres an unsere Schule gewechselt hatte. Ich wusste es, denn der einzige freie Platz war der neben mir, da Geschichte das einzige Fach war, das Paul nicht mit mir gemeinsam belegte.
Ihr Name war Leonie. Leonie Chassé. In diesem Moment wurde bestätigt, was ich bislang nur vermutet hatte. Und es war so offensichtlich, dass ich am Liebsten laut aufgelacht hatte. Denn mein Nachname trug dieselbe Bedeutung wie ihrer. Es spielte keine Rolle, dass der ihre französisch und der meine italienisch war, ebensowenig, wie es eine Rolle spielte, dass sie nicht im Geringsten französisch wirkte, so wenig, wie ich an einen Italiener erinnerte. Irgendwo in meiner langen Reihe männlicher Vorfahren war wohl vor vielen hundert Jahren einmal ein Italiener gewesen. Wer weiß, wie er zu seinem Namen gekommen war, vielleicht hatte es zu dieser Zeit mehr von unserer Sorte gegeben, wer wusste das schon. Das Wort bedeutete jedenfalls dasselbe, ob italienisch oder französisch. „Der Gejagte“. Oder „die Gejagte“, in ihrem Fall. Sie war wie ich.
Selbst unsere Namen stachen heraus in diesem kleinen Kaff. In diesem Kaff, in dem es schon etwas Besonderes war, wenn man nicht „Maier“ oder „Müller“ oder „Schuler“ hieß. Und dass es nicht nur der Name war, der das Mädchen – Leonie, verbesserte ich mich in Gedanken – von den anderen Schülern abhob, das erkannte ich spätestens, als sie sich mit gesenktem Kopf ihren Weg durch das enge Kellerzimmer bahnte. Alles an ihr war angespannt, so, als wäre sie jederzeit bereit zur Flucht – oder bereit, eine Waffe zu zücken, das konnte ich nicht so recht abschätzen. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, und ich sah, wie sie zusammenzuckte, als sie dem Schatten zu nahe kam, den der große Beamer warf, der über der ersten Reihe an der Decke hing und das Licht der Neonröhren verdeckte, da er nachträglich angebracht worden war. Und da sah ich es. Diese fließende Schwärze, die langsam zu einer Form gerann, sich verfestigte. Und ich wusste, dass wir beide die Einzigen im Raum waren, die es sahen. Es war so seltsam, so ungewohnt, nicht der Einzige zu sein, dem es auffiel. Es war seltsam, und doch fühlte es sich...gut an. Ich kam mir auf einmal ein bisschen weniger verrückt vor.
Doch das war nicht alles, was ich in diesem Moment empfand. Eisige Furcht griff nach meinem Herzen, denn ich wusste, was es bedeutete, wenn sich eine Gestalt aus dem Schatten löste. Ich wusste, dass wir uns beide in großer Gefahr befanden, und sie noch mehr als ich, denn dort, wo sie stand, konnte sie dem Schatten nicht ausweichen, sie war geradezu gefangen in dem schmalen Gang zwischen den Tischen, die hier sehr eng standen und ihr so keine Fluchtmöglichkeit ließen. Um zu mir zu gelangen, hätte sie an dem Schatten vorbei gemusst, und für einen Rückzug war es zu spät. Ein seltsamer Drang stieg auf einmal in mir auf, etwas, das ich bis jetzt nur gegenüber einem einzigen Menschen empfunden hatte – gegenüber meiner Mutter. Der Drang, jemanden zu beschützen. Und das Mädchen bedurfte meines Schutzes.
Ich fragte mich kurz, ob sie denn keinerlei Waffe besaß, doch dann sah ich das kleine Licht einer Taschenlampe in ihrer Hand aufblitzen. Ich wollte ihr einen anerkennenden Blick zuwerfen, denn sie hatte verdammt schnell reagiert, doch in diesem Augenblick geschahen zwei Dinge. Leonies Lichtstrahl streifte die dunkle Hand aus geronnener Schwärze, die sich aus dem Schatten erhob, ohne sie jedoch vollends zu zerstören, und im selben Moment stieg aus dem Schatten eine zweite, noch größere Hand empor, und die krallenbewehrten Finger, zu Klauen gekrümmt, zielten geradewegs auf die Augen des Mädchens.

Mit einer einzigen, geübten Handbewegung hatte ich die kleine Lampe aus meiner Jackentasche gezogen und sie auf den Schatten gerichtet, der dem Mädchen immer näher kam. Er schnappte nach ihr, verfehlte sie um Haaresbreite, da es Leonie trotz der beengten Verhältnisse irgendwie gelungen war, doch noch ein wenig zur Seite auszuweichen, und dann hatte mein Zeigefinger den kleinen, im Kunststoffgehäuse der Stirnlampe eingelassenen Knopf gefunden. Ein dünner, heller Lichtstrahl schoss daraus hervor und zerteilte den Schatten in der Mitte, fraß ein Loch in die beiden ausgestreckten Hände, die in sich zusammenfielen wie eine Staubwolke. Zischend und fauchend zog sich der Schatten zusammen und verschwand im hintersten Winkel des Klassenzimmers, in der Ecke hinter dem hohen Wandschrank.

Es waren nur wenige Sekunden gewesen, die der Kampf gedauert hatte, und doch fühlte ich mich erschöpft wie nach einer wilden Prügelei. Ich atmete erleichtert aus, ließ mich in den harten, unbequemen Plastikstuhl zurückfallen und verstaute dann die Stirnlampe wieder sicher an ihrem Platz in meiner Jackentasche.
Doch dann hörte ich es, das leise Gemurmel von Stimmen, und für einen Augenblick dachte ich, dass ich nun einmal mehr meinem Ruf gerecht geworden war, ein Sonderling zu sein – nur, dass es diesmal nicht ich war, dessen Verhalten aufgefallen war.
Den Schatten hatte niemand bemerkt. Aber Leonies aus Sicht der anderen seltsames Verhalten war durchaus dem ein oder anderen aufgefallen, und das leise Getuschel ebbte auch dann nicht ab, als sich Herr Bergmann demonstrativ räusperte und mit dem Unterricht begann. Auch er hatte ihr einen kurzen, verwirrten Blick zugeworfen, das Ganze dann aber mit einem Achselzucken abgetan. Die Erwachsenen waren für gewöhnliche noch blinder als meine Mitschüler; manchmal fragte ich mich, ob es vielleicht daran lag, dass sie einfach nichts sahen, was sie nicht sehen wollten.
Jetzt glaubte ich sogar, das Wort „Freak“ deutlich aus dem Getuschel herauszuhören, doch das war nichts Neues, ich war es gewohnt, so bezeichnet zu werden. Es störte mich erst, als ich sah, wie sich das Mädchen unwillkürlich versteifte und einen raschen Blick in die Richtung der tratschenden Weiberclique warf, die ich im Stillen mit dem Spitznamen „Hyänen“ bedacht hatte, weil sie meiner Meinung nach erstaunliche Ähnlichkeiten mit diesen hässlichen, gackernden Aasfressern aufwiesen. Fieses Grinsen eingeschlossen. Ich bedachte die Mädchenreihe nun mit einem sehr bösen Blick, den sie leider in ihrer aktuellen Aufregung übersahen, anderenfalls hätte ich sie sicherlich dazu gebracht, zu verstummen. Auch wenn sie hinter vorgehaltener Hand über mich tuschelten, ich wusste doch, dass sie mich insgeheim fürchteten.
Mit einem leisen Seufzen sanken Leonies Schultern herab, und ich sah, wie sie hastig etwas Goldenes zurück in ihre Tasche steckte. Dann setzte sie mit raschen Schritten ihren Weg fort, wobei sie die Schatten noch sorgsamer umging als zuvor. Mir fiel zum ersten Mal auf, wie leise ihre Schritte klangen. Normalerweise hatten die Mädchen doch alle diese schrecklich unbequem aussehenden Folterinstrumente an den Füßen, die sie als Schuhe bezeichneten, und das lauten Klick-Klack der Absätze hörte man dann schon von weitem. Leonie hingegen trug weiße Turnschuhe, die den meinen zum Verwechseln ähnlich sahen. Sie zog es also vor, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Es passte zu ihr – irgendwie.
Schließlich war sie neben mir angelangt, und ich beeilte mich, ihr hastig die eine Hälfte des Tisches freizuräumen und mit meinem Stuhl ein wenig zur Seite zu rücken. Ich dachte mir, dass sie diesen Tisch wohl ohnehin gewählt hätte, selbst wenn ein anderer Platz frei gewesen wäre, denn er lag, wie üblich, in der Mitte des Raumes. Keine Schatten.

Eine Weile lauschten wir schweigend Bergmanns Ausführungen über den Hitlerputsch, doch ich war nicht ganz bei der Sache. Immer wieder warf ich einen verstohlenen Blick zu dem Mädchen hinüber, das so still neben mir saß, dass ich mich manchmal fragte, ob ich mir nicht alles nur eingebildet hatte und der Platz neben mir nicht wie üblich frei war. Doch sie saß dort, eine Hand in der schwarzen, seidig schimmernden Lockenmähne vergraben, und schrieb emsig mit. Niemals hatte ich gesehen, dass jemand so schnell schrieb. Der Bleistift flog nur so über das Papier, und es wunderte mich fast, dass sie es in ihrer Hast nicht zerriss. Ich sah, wie sich die Muskeln in ihrem Unterarm anspannten, und ihre Finger hatten sich schraubstockartig um das dünne Schreibgerät geschlossen, so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Ich wusste nicht, warum ich es tat, doch fast schon gegen meinen Willen legte sich meine Hand sanft auf die ihre. Ihre Haut war so weich und warm unter der meinen, und es war ein so unbeschreiblich schönes Gefühl, einen anderen Menschen zu berühren. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie lange es her war, seit ich das letzte Mal jemanden absichtlich berührt hatte. War es nach dem Tod meines Vaters gewesen, als ich mich schluchzend in die Arme meiner Mutter geflüchtet hatte? Ich verbot mir diesen Gedanken, er war zu schmerzhaft. Statt dessen richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen neben mir, das unter meiner vorsichtigen Berührung regelrecht erstarrt war. Ich glaube, sie hörte sogar für einen kurzen Moment auf zu atmen.
„Vorsicht, du zerbrichst den Stift noch, wenn du dich weiter so an ihm festklammerst“, murmelte ich leise, ehe ich meine Hand langsam wieder von der ihren löste. Sie nickte nur stumm, und nach einer kleinen Weile hörte ich wieder dieses hastige Schaben, mit dem der Bleistift blitzschnell über das Papier huschte. Ich musste mir ein Schmunzeln verkneifen. Doch dann stockte der Stift. Und dann war sie es, die mich berührte. Nur ganz kurz legte sie ihre Hand über die meine und drückte sie leicht, doch diese kleine Geste war mehr, als ich erwartet hatte. Mehr, als ich mir erhofft hatte.
„Danke“, hörte ich sie leise flüstern. Beim Klang ihrer Stimme wandte ich mich zu ihr um, und ich fragte mich noch, warum sie wohl ständig flüsterte, wenn sie mit mir sprach. Das Getuschel der Hyänen war laut genug, um ein halblautes Gespräch mühelos zu übertönen, und dann war da ja noch Bergmann, der sich inzwischen wieder mit Begeisterung an dem Thema festgequatscht hatte. Seinen Unterricht bestritt er zum größten Teil ganz alleine, er hätte uns gar nicht dazu gebraucht, wir waren nur die Statisten auf seiner Bühne. Doch Leonie hatte trotzdem so leise gesprochen, dass ich mich zu ihr hinabbeugen musste, um sie überhaupt zu verstehen. Und zuvor, auf dem Flur, war sie so schnell davongehastet - hatte ich ihr etwa Angst eingejagt? Sah ich so furchteinflößend aus? Aber wenn sie den Mumm hatte, gegen die Schatten zu kämpfen, dann konnte sie wohl vor mir keine Angst haben.
Und dann trafen sich unsere Blicke. Es war nur ein kurzer Moment, aber ich las so unendlich viel in ihren Augen, und ich war sicher, dass in meinen etwas Ähnliches geschrieben stand. Erleichterung, dass wir den Schatten besiegt hatten – denn sie hatte, unbestritten, ihren Teil dazu beigetragen. Verständnis für die ganze Scheiße, die diese verdammten Dinger mit sich brachten, und das Wissen, dass es dem anderen ähnlich erging. Respekt dafür, dass wir beide so lange überlebt hatte. Und unendliche Neugierde, wie der andere es geschafft hatte.
„Gern geschehen, kleine Löwin“, murmelte ich, beinahe verlegen. Denn auch wenn sie einen schüchternen Eindruck auf mich gemacht hatte, als sie zuvor mit gesenktem Kopf vor der Klasse gestanden hatte, wusste ich doch, dass der Schein trog. Sie hatte gekämpft. Sie hatte nicht eine Sekunde gezögert, und sie hatte gewusst, was sie tat. In ihrem Herzen war sie eine Löwin, und seltsamerweise erschien mir der Name irgendwie passend.


3. Gesellschaft



Jasin



Der Rest der Stunde verlief wie gewöhnlich – Bergmann redete wie ein Wasserfall, teilte einen riesigen Stoß Kopien aus, der Paul in tiefste Verzweiflung gestürzt hätte, und beendete den Unterricht erst geschlagene vier Minuten nach dem Gong. Es war nichts Neues, und doch versetzte mich dies normalerweise in einen Zustand stiller, kochender Wut. Er wusste, dass wir genau fünf Minuten hatten, um das gesamte Schulgelände zu überqueren, und doch schien er sich keinen Deut darum zu scheren. Nicht, dass ich etwas dagegen einzuwenden gehabt hätte, zu spät zu Sport zu kommen. Jede Minute, die ich nicht in dieser düsteren, alten Halle verbringen musste, war ein Geschenk des Himmels. Es war seine völlige Ignoranz, die mich normalerweise so zur Weißglut brachte.
Doch heute wollte sich auch die mir so bekannte Wut nicht einstellen. Vielleicht lag es daran, dass mir noch immer dieser süße, frische Geruch nach gemähtem Gras und duftenden Blumen in der Nase hing. Vielleicht lag es daran, dass Leonie noch immer neben mir saß, schweigend und angespannt, und darauf wartete, dass die anderen den Raum verließen. Natürlich würde sie vermeiden wollen, erneut aufzufallen. Und es war schlichtweg nicht möglich, hier herauszukommen, ohne dem ein oder anderen Schatten auszuweichen. Sie hatte das ebenso rasch erkannt wie ich, als ich das erste Mal hier drinnen gewesen war.

Schließlich hatte auch Bergmann seine restlichen Blätter und Folien in die dicke, abgenutzte Aktentasche gestopft und nach einem letzten, neugierigen Blick in unsere Richtung den Raum verlassen.
„Löschen Sie das Licht, wenn Sie gehen, Cacciato“, warf er noch über die Schulter zurück, und dann fiel die Tür hinter ihm mit einem dumpfen Knall zu. Es war eine Feuerschutztüre, wie die meisten hier unten im Keller, und sie fiel immer von selbst zu.
„Was hast du jetzt?“, fragte ich Leonie, die bei dem lauten Geräusch sichtlich erschrocken zusammengefahren war. Der Schreck saß ihr wohl noch immer in den Gliedern – nicht, dass ich es nicht verstehen konnte.
„Sport“, murmelte sie leise, während sie in beinahe komischer Eile den Block und den Bleistift in ihrer Schultasche verstaute.
Sport. Natürlich, sie war in meiner Stufe, ihr Stundenplan ähnelte dem meinen. Fast tat sie mir leid, ich wusste, was sie erwartete. Auch wenn ich noch nie in der Mädchenumkleide gewesen war, bezweifelte ich doch, dass sie sich sehr von der unseren unterschied. Es gab dieses eine, kleine Kellerfenster direkt neben der Tür, ansonsten wurde der Raum nur von einer altersschwachen Glühbirne in Raummitte erhellt. Unter den alten Holzbänken, die die Wände säumten und die wohl schon zu Lebzeiten meines Großvaters dort gestanden hatten, unter diesen abgenutzten, wurmstichigen Bänken lebten unzählige Schatten, uralte Schatten, mächtige Schatten, und der Rote Hund geisterte des Öfteren durch das düstere Gemäuer. Wenn es eine Hölle auf Erden gab, dann war es für mich die alte Sporthalle am anderen Ende des Schulgeländes.
„Dann haben wir denselben Weg. Soll ich dich begleiten?“, bot ich leise an.
Wenn Leonie mir auch nur ein wenig glich, dann würde sie es ebenfalls vorziehen, nicht alleine dorthin zu gehen.
Sie nickte nur, ohne zu mir aufzusehen, doch ich glaubte, einen leisen Seufzer vernommen zu haben, und ihre Schultern schienen ein wenig herabzusinken, so, als hätte ihre Anspannung ein klein wenig nachgelassen. So, als wäre sie froh, noch ein wenig länger in meiner Nähe sein zu können. So, als fühle sie sich in bei mir sicherer? Und doch war sie zuvor, im Flur, vor mir davongelaufen. Würde ich das Mädchen jemals verstehen?

„In Ordnung“, murmelte ich leise, mehr zu mir selbst. Dann griff ich erneut nach meiner Lampe, schaltete sie ein und zog mir das schwarze Gummiband über den Kopf. Der helle Schein der LED-Birne tauchte den Raum in ein unwirkliches, kaltes, beinahe bläuliches Licht, doch die Schatten wichen augenblicklich zurück.
Leonies Kopf fuhr herum, die überrascht geweiteten Augen blieben an dem hellen Lichtpunkt über meinem Haaransatz hängen.
„Eine Stirnlampe“, flüsterte sie, beinahe ehrfürchtig.
Ich zuckte die Achseln. Natürlich hatte ich mir die beste Stirnlampe besorgt, die es auf dem Markt gab, und natürlich würde ihr das nicht entgehen. Ebensowenig, wie mir entgangen war, das ihre Taschenlampe eine kleine McLight war, solides Metall, fast unzerstörbar, lag gut in der Hand. Meine Schreibtischschublade war voll von ihnen, unter meinem Kopfkissen lag eine, und auch in der Außentasche meines Schulrucksackes hatte ich eine verstaut. Dennoch zog ich die Stirnlampe vor.
„Ich kann besser kämpfen, wenn ich die Hände frei habe“, erklärte ich, fast ein wenig defensiv. „Nicht, dass es in dieser Welt sehr viel nützen würde“, fügte ich düster an. Ich hasste es, dieses Gefühl der Hilflosigkeit, dieses Gefühl, ausgeliefert zu sein. Und doch war ich schwach hier, und es gab nichts, was ich tun konnte, etwas daran zu ändern. Hier konnte ich der Gefahr nur aus dem Weg gehen, statt mich ihr zu stellen.
Ich las Verständnis in den tiefen, braunen Augen, die wissend zu mir aufsahen, und eine Angst, die der meinen so ähnlich war. Fast hatte ich wieder das Gefühl, in einen Spiegel zu blicken.
„Ich kann sie auch nicht bekämpfen, nicht hier“, flüsterte Leonie. „Es ist ein schreckliches Gefühl, so ausgeliefert zu sein, so alleine.“
Mir stockte der Atem. Es war, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Verfügte sie über magische Kräfte? Aber das war nicht möglich. Hier gab es keine Magie, und die einzige Waffe, über die ich verfügte, war das elektrische Licht. Vielleicht war ich einfach zu leicht zu durchschauen – oder sie war ungewöhnlich aufmerksam. Merkwürdigerweise störte es mich jedoch kaum, dass sie hinter meine Fassade geblickt hatte, dass die Mauer, mit der ich mich umgeben hatte, in ihrer Nähe zu verblassen schien.
Ich brachte nur ein schwaches Nicken zustande und wandte dann für einen kurzen Moment den Blick ab, um ein wenig auf Abstand zu gehen. Sie war zu schnell zu mir durchgedrungen, ich war es nicht gewohnt, verstanden zu werden. Und ich wollte jetzt nicht riskieren, mich bloß zu stellen, nicht hier unten in diesem dunklen Kellerraum, nicht, wenn unzählige Schatten in den Ecken lauerten, wenn sie abwarteten, uns belauschten, Ränke schmiedeten.
„Ladies first“, meinte ich schließlich und wies mit einer kleinen Verbeugung in Richtung der Tür. Zum ersten Mal glaubte ich, ein kleines Lächeln um Leonies Mundwinkel spielen zu sehen, ein Lächeln, das sich in ihren Augen wiederspiegelte. Ein seltsames Gefühl der Wärme breitete sich in meinem Inneren aus, als ich ihr hinterherblickte, wie sie sich vorsichtig und mit gezückter Taschenlampe in Richtung Tür bewegte. Sie hatte ein wunderschönes Lächeln, und ihre Augen hatten für einen winzigen Moment regelrecht gestrahlt. Ich mochte das Lächeln. Und in diesem Augenblick beschloss ich, dass ich es öfters sehen wollte.

Sie hielt mir die Tür offen und deckte mir den Rücken, der helle, fokussierte Strahl ihrer McLight fraß sich in jeden Schatten, der mir zu nahe kam. Das zornige Zischeln und Fauchen schwoll an, erhob sich weit über die gewöhnliche Lautstärke. Selten hatte ich die Schatten in diesem Teil des Schulgebäudes so erbost erlebt. Mit einem erleichterten Seufzen huschte ich durch die breite Öffnung, und die schwere Stahltüre fiel hinter mir ins Schloss.
„Das war nicht nötig“, merkte ich an, warf ihr aber dennoch einen dankbaren Blick zu.
Leonie nickte nur und zuckte die Achseln.
„Sie waren aggressiver, als ich es gewohnt bin“, meinte sie leise. „Aufgebrachter. Wütender.“ Schaudernd zog sie ihre Jacke noch fester um sich – ein hellvioletter Mantel, wie ich amüsiert feststellte. Sie schien eine Vorliebe für violett zu haben.
„Wir haben sie aufgescheucht“, mutmaßte ich.

Gemeinsam ließen wir den ungeliebten Kellerraum hinter uns, und wie ich blieb auch Leonie stets in der Mitte des Flures, darauf bedacht, zu keiner Zeit aus den Lichtkreisen hinauszutreten. Es war seltsam, nicht mehr alleine zu sein. Aber es war auf eine angenehme Art seltsam.
Die nächste Stunde hatte bereits begonnen, weswegen es sehr still auf den Fluren war. Eine Stille, in der das Flüstern und Murmeln der Schatten so viel deutlicher zu vernehmen war als sonst. Vielleicht war es aber auch so, dass die Schatten lauter wurden, wenn wir zu zweit waren. Ich hatte keine Ahnung, ich war schließlich bis heute davon ausgegangen, dass ich der Einzige meiner Art war.
Als wir schließlich hinaus in den leichten Nieselregen traten und das allgegenwärtige Flüstern und Rascheln hinter uns ließen, seufzte ich erleichtert auf, auch wenn ich wusste, dass die Stille nur von kurzer Dauer sein würde. Nur zu bald würde uns die stickige Düsternis der Sporthalle verschlingen.
Leonie atmete ebenfalls tief ein, und unsere Blicke trafen sich erneut. Diesmal war ich es, der leise lächelte. Sie reckte ihr Gesicht den kalten Tropfen entgegen und schloss für einen kurzen Moment die Augen, in völliger Versunkenheit. In diesem Augenblick sah sie so unglaublich jung aus, so unschuldig. Es war ein friedliches Bild, doch dann schlug sie die Augen wieder auf, und ich sah die roten Verästelungen der geplatzten Adern im Weiß ihrer Augen, die dunklen Schatten, die darunter lagen. Sie war ebenso erschöpft wie ich, und ich fragte mich, wieviel Schlaf sie die letzte Nacht wohl bekommen hatte.
Ohne ein weiteres Wort gingen wir Seite an Seite über den verwaisten Schulhof, und trotz des Regens hatten wir beide keine Eile, unser Ziel zu erreichen. Wir würden ohnehin zu spät kommen, dafür hatte Bergmann gesorgt.

***

Es war, wie ich befürchtet hatte. Kaum dass ich die schwere Eichentüre aufgestoßen hatte, schlug uns der nur zu bekannte Geruch nach altem Schweiß, nassem Holz und uralten Geheimnissen entgegen. Und abgrundtiefer Hass. Manchmal fragte ich mich, was die Schatten dieses Gebäudes wohl schon gesehen haben mochten, um von so unstillbarem Hass erfüllt zu sein. Es jagte mir jedes Mal von neuem einen kalten Schauer den Rücken hinab, das boshafte Flüstern mitanzuhören, das hier so viel lauter, so viel aufdringlicher war als anderswo. Neben mir fuhr Leonie merklich zusammen.
„Gott, ist das hier immer so?“, stöhnte sie leise auf.
Ich lachte leise. Es war ein bitteres, unglückliches Lachen, das in dem hohen Flur beinahe hohl klang. Genau so hatte ich auch reagiert, als ich das Gebäude das erste Mal betreten hatte, auch wenn ich meine Gedanken damals nicht laut ausgesprochen hatte. Und der erste Eindruck hatte nicht getäuscht.
„Ja“, bestätigte ich jetzt dunkel. „Es ist die Hölle auf Erden.“

Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück. Unsere Schritte hallten von den Wänden wieder, ein unheimliches, leises Echo. In der Ferne vernahm ich das leise Quietschen von Gummisohlen, die über den PVC-Boden der Turnhalle schlitterten, und das Prellen eines Balles, der wiederholt auf dem Boden aufschlug, ein rhythmisches, dumpfes Schlagen, das in dem schattenvollen Flur geradezu gespenstisch klang, ähnlich einem schlagenden Herzen. Manchmal kam es mir tatsächlich so vor, als sei das Gebäude lebendig, als seien die Schatten die Stimme, mit der es von jahrhundertealtem Groll erzählte.

Vor der dunkel getäfelten Tür der Mädchenumkleide hielt ich schließlich inne und wandte mich zu Leonie um. Weiter konnte ich sie nicht begleiten, auch wenn ich mir auf einmal wünschte, es wäre anders.
„Gib gut Acht auf die Schatten unter den Bänken“, murmelte ich. „Sie sind sehr alt und sehr mächtig. Und halt dich um Himmels Willen vom Duschraum fern. Der Lichtschalter befindet sich in der Umkleide, und falls jemand versehentlich das Licht ausschaltet, während du noch da drinnen bist...“ Ich schauderte leise, als ich mich an einen Vorfall vor zwei Jahren erinnerte, den ich nur dank Pauls raschem Eingreifen und der Tatsache, dass ich eine meiner Taschenlampe stets bei mir trug, überlebt hatte.
„Ist schon gut, ich bin ein großes Mädchen“, meinte sie, und wieder glaubte ich, ein leises Lächeln um ihre Mundwinkel spielen zu sehen. „Aber danke für den Hinweis. Ich werde vorsichtig sein.“ Und mit einem letzten, beinahe scheuen Blick, der in so starkem Kontrast zu ihrem sicheren Tonfall stand, wandte sie sich um.

Ein ungewohntes Gefühl der Sorge machte sich in mir breit, als ich ihr hinterherblickte. Der Schatten zu meiner Rechten ballte sich in ihre Richtung, ähnlich einer Welle, die zu brechen droht, ehe er sich zischelnd und fauchend wieder zurückzog. Ich wollte sie nicht alleine lassen, nicht in diesem dunklen, alten Raum, der ihr kaum Schutz bieten würde. Nicht, wenn sie mit den Hyänen dort drinnen war. Und selbst das Wissen, dass sie kämpfen konnte, dass sie eine Lampe bei sich hatte, dass sie nicht so hilflos war, wie es auf den ersten Blick erschien, half dabei nicht.
Und während ich mit zusammengekniffenen Augen die geschlossene Tür der Mädchenumkleide betrachtete, hinter der sie soeben verschwunden war, stellte ich fest, dass es nicht nur Sorge war, die ich empfand. Ein kleiner Teil von mir wünschte sich, sie wäre hier an meiner Seite geblieben.


4. Wenn es regnet...




Leonie



Ich war es so leid. Ich war es so leid, ständig auf der Flucht zu sein, ich war es so leid, in Angst zu leben. Ich war es so leid, alleine zu sein.
All die Jahre hatte ich nie einen Ort gehabt, an dem ich mich sicher fühlen konnte. Geborgen. Beschützt. Geliebt. Ich wusste, dass diese Gefühle existierten. Ich wusste es, so wie ein Blinder weiß, dass es Farben gibt. Und ebensowenig, wie sich ein Blinder Farben vorstellen kann, konnte ich mir vorstellen, anders zu leben als bisher.

Ich hasste es, umzuziehen. Mein ganzes Leben lang war ich nie lange genug an einem Ort gewesen, als dass ich mich jemals hätte heimisch fühlen können. So gut, wie sich jemand in meiner Situation eben überhaupt heimisch fühlen kann.
Was hätte ich dafür gegeben, wenn sich mein Vater einfach dafür hätte entscheiden können, einmal länger als ein halbes Jahr an einem Ort zu verweilen. Ich wollte endlich ein Zimmer, das ich mein eigen nennen konnte, in dem ich mich im Dunkeln so gut zurecht fand wie im Hellen. Ein Zimmer, das ich möglichst schattensicher einrichten konnte.
Es wäre mir egal gewesen, wo sich dieser Ort befand, und wenn es der hinterste, menschenleerste Zipfel von Timbuktu gewesen wäre, ich wäre freudestrahlend mitgegangen. Selbst, wenn ich in einer Klasse voller hinterwäldlerischer Kleinstadtziegen gelandet wäre, die nichts lieber taten, als sich das Maul über mich zu zerreißen, da es sonst nichts gab, über das man hätte klatschen können – selbst das wäre besser, als ständig heimatlos durch die Weltgeschichte zu reisen.
Manchmal fragte ich mich, ob es dieser Gedanke gewesen war, dieser stille Wunsch, dem ich es zu verdanken hatte, dass wir schließlich hier gelandet waren. Hier, im absoluten Nirgendwo.

***

Es hatte mich bereits überrascht, dass das Kaff überhaupt in einer Karte verzeichnet war. Wenn auch nur auf der mit dem kleinsten Maßstab, aber immerhin. Es gab einen kartographischen Beweis, dass ich nicht in einem meiner Albträume gelandet war, sondern dass dies die Realität war.
Wirklich beruhigt hatte mich das allerdings nicht. Die Albträume waren mehr als genug – wenn man das, was ich Nacht für Nacht durchlebte, denn so bezeichnen konnte. Die menschliche Sprache sah solche...Phänomene eben nicht vor, und so musste ich mich mit den Worten begnügen, die mir zur Verfügung standen. Wie gesagt, die Albträume waren genug, musste ich nun auch noch im wachen Zustand etwas Ähnliches durchleiden?
Ich war der Ansicht, das Leben habe mich bereits genug bestraft. Doch jetzt das!

Das Haus an sich war schon schlimm genug. Als Vater den großen, weißen Lieferwagen, in dem wir unser sämtliches Hab und Gut verstaut hatten, vor diesem altehrwürdigen Herrenhaus am hintersten Ende der verlassensten, abgelegensten Straße des Dorfes angehalten hatte, war ich innerlich in Tränen ausgebrochen. Das konnte, das durfte einfach nicht wahr sein! Ich kannte nicht sehr viele Horrorfilme, ich mied sie, so gut ich nur konnte, da sie mich zu sehr an die Traumwelt erinnerten. Doch ich wusste auf den ersten Blick, dass mein neues Zuhause die ideale Kulisse für einen dieser Streifen abgegeben hätte.
Ein hohes, schmiedeeisernes Tor, von Efeuranken überwachsen, die im letzten Licht der Abendsonne beinahe blutrot schimmerten, und dahinter erhob sich ein Monstrum von einer Villa aus der Barockzeit - das nahm ich zumindest an. Meine Kenntnisse der Architekturgeschichte waren zugegebenermaßen recht bescheiden, doch das Haus war in jenem verschnörkelten, kunstvollen Überschwang erbaut worden, der mich an alte Kathedralen und Wasserspeier in Teufelsgestalt denken ließ. Mindestens drei Türmchen konnte ich von hier aus erkennen, da waren Erker und wahre Kunstwerke aus Stuck, und war das wirklich ein Wasserspeier dort auf dem Dach? Ein Wasserspeier in Form eines Drachen? Oh Gott!
Allein bei dem Gedanken, wie alt die Schatten in diesem Haus wohl sein mochten, wie mächtig, und welche Formen sie würde annehmen können, allein bei diesem Gedanken wurde mir schon übel. Ich war in meinem schlimmsten Albtraum gelandet.
Mein Vater stieg aus dem Wagen und öffnete das Tor – das rostige Quietschen der uralten Angeln fuhr mir durch Mark und Bein. Doch ich lies mir nichts von alldem anmerken, auch nicht, als ich den prüfenden Blick meines Vaters auf mir ruhen spürte. Ich glaubte, aus den Augenwinkeln zu sehen, das ein kleines Lächeln um seine Lippen spielte.
„Es ist doch ein wunderschönes Haus, Schätzchen, meinst du nicht?“, fragte er, und jetzt war ich mir sicher, dass es lächelte. Jenes geheime, stille Lächeln, das er stets trug, wenn er wusste, dass ich mich unwohl fühlte. Ich schwieg beharrlich.
„Verdammt, anworte mir, wenn ich dir eine Frage stelle, Mädchen!“, donnerte er, und ich zuckte zusammen. Es war also wieder einer dieser Tage... Ohne hinzusehen wusste ich, dass das Lächeln verschwunden war, dass in seinen Augen jetzt wieder diese kalte, mir nur zu bekannte Wut funkelte, die ich so fürchtete.
„Es ist ein wunderschönes Haus“, flüsterte ich mit gesenktem Blick.

Den Rest des Tages verkroch ich mich zur Sicherheit in meinem neuen Zimmer, dankbar dafür, dass es selbst in diesen verlassenen Winkel der Erde die Neuzeit Einzug gehalten hatte und es elektrischen Strom gab, und eine Lampe in Zimmermitte, die einen ausreichend hellen Lichtkreis warf, so dass es für das schmale Bett gerade ausreichte. Natürlich würde ich die Schatten nicht ganz verbannen können. Selbst mit ausreichend Strahlern hatte ich es noch nie zuwege gebracht, mein Zimmer völlig schattensicher zu bekommen. Und in diesem Zimmer, mit den beiden großen Erkern und der weitläufigen Fensterfront, war es wohl ganz und gar unmöglich.

***

Mitten in der Nacht schrak ich aus meinem unruhigen Halbschlaf. Das heisere Flüstern der Schatten hatte an Lautstärke zugenommen, und die Temperatur in meinem Zimmer schien merklich gesunken zu sein. Mit einer geübten Handbewegung griff ich nach der Taschenlampe unter meinem Kissen und schaltete sie durch eine rasche Drehung des Lampenkopfes ein. Der helle Lichtstrahl schnitt durch die bereits gestaltgewordenen Schatten am anderen Ende des Zimmers. Wütendes Zischeln und Rascheln ertönte, doch dann vernahm ich eine dunkle, tiefe Stimme, die so gar nicht zu den wogenden, wabernden Schatten passen wollte.
„Lass es, Mädchen, du verärgerst sie nur. Du kannst nichts gegen uns ausrichten, nicht hier, und das weißt du auch. Und wenn ich es ihnen befehle, werden sie sich auf dich stürzen. Einer von ihnen wird Erfolg haben, du bist nicht schnell genug für uns, und du kämpfst auf verlorenem Posten.“
Dort, in der hintersten Ecke des Zimmers, gerann ein Schatten. Ein Schatten, größer als jeder andere, den ich bis jetzt gesehen hatte. Ein Schatten, der die Form eines riesigen, wolfsähnlichen Hundes annahm, der dort in der Dunkelheit kauerte, lauernd, abwartend. Ich glaubte, für einen kurzen Moment weiße Zähne blitzen zu sehen, aber das konnte nicht sein. Schatten waren immer schwarz, schwarz wie die tiefste Nacht, schwarz wie die undurchdringliche Dunkelheit. Doch die Zähne, diese blitzenden, seltsam hellen Reißzähne, waren bei weitem nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren die glühenden, roten Augen, und das Feuer, das in ihnen zu brennen schien. Sie beobachteten mich, abwägend, berechnend. Es war seltsam still geworden in meinem Zimmer. Eine Stille, die so ungewohnt war, dass mir ein eisiger Schauer den Rücken hinabrann. So lange ich zurückdenken konnte hatte ich mit dem ständigen Rascheln und Flüstern gelebt. Die Stille jagte mir beinahe mehr Angst ein als das bedrohliche Schemen des riesigen Hundes, das sich nun allmählich aus seiner dunklen Ecke löste und noch mehr an Gestalt gewann. Wie erstarrt verharrte ich regungslos auf meinem Bett, die Finger so fest um den Griff der Taschenlampe gekrallt, dass ich sicher war, die feinen Rillen des Metalls würden sich auch morgen noch als rote Male auf meinem Handteller abzeichenen. Wenn ich diese Nacht überleben würde.
Mit jedem Augenblick, der verstrich, schien der Schatten dunkler zu werden, größer, bedrohlicher. Und er kam auf mich zu. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich ihm dabei zu – bis ich auf einmal wieder Herrin meiner Sinne war. Der helle Strahl meiner Taschenlampe fuhr herum und brannte sich durch das schwarze, zottelige Fell des Ungetüms. Ein leises, wütendes Zischen war die einzige Antwort, die ich erhielt, und dann war der Schatten fort – verschwunden, so, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Mit einem erleichterten Seufzen sackte ich in mich zusammen. Mein Herz raste, das Nachthemd klebte mir am Rücken, ich war schweißgebadet, wie nach einem langen, anstrengenden Dauerlauf. Es war leicht gewesen, viel zu leicht...
„Du kannst mich nicht besiegen, nicht mit diesem erbärmlichen kleinen Lämpchen, nicht an diesem Ort, Mädchen. Versuch es gar nicht erst“, knurrte er dicht neben meinem Ohr. Ich fuhr herum, doch dieses Mal wich er dem dünnen Lichtstrahl mit erstaunlicher Eleganz aus, verschwamm vor meinen Augen zu dunklem Nebel, ehe er in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmer wieder zu seiner wolfsähnlichen Gestalt gerann.
„Wer bist du?“, brachte ich mit bebender Stimme heraus. Die Schattengestalt bleckte die Reißzähne, und ich glaubte, so etwas wie ein spöttisches Funkeln in den glühenden, roten Augen zu erkennen.
„Ich habe keinen Namen.“ Die Stimme des Schattens klang erstaunlich tief und ruhig, ganz anders als das heisere Flüstern und das wuterfüllte Schnauben, an das ich gewöhnt war. Und doch glaubte ich, den unterschwelligen Hass zu spüren – er war besser verborgen, aber ich war mir sicher, dass auch dieses Wesen der Dunkelheit mich hasste. Ich hatte nie begriffen, was ich getan haben mochte, um diesen Hass zu verdienen.
„Und was willst du von mir?“, fragte ich, selbst ein wenig überrascht über meinen Mut.
„Ich will, dass du von hier verschwindest. Dies ist mein Gebiet, und du störst die Ruhe der Schatten. Das Unglück folgt dir auf dem Fuß. Wir wollen hier in Ruhe leben. Du bist nicht willkommen. Geh, und komm niemals wieder zurück. Wir wollen dich hier nicht haben.“
„Es liegt nicht an mir, das zu entscheiden“, flüsterte ich.
„Oh doch. Du hast immer die Wahl. Ich gebe dir eine Woche. Bist du bis dann nicht verschwunden, werden wir dich töten.“ Und mit diesen Worten verschwand der Wolf, als sei er niemals dagewesen, und das heisere Flüstern der Schatten erfüllte wieder einmal das noch so neue, unbekannte Zimmer.
Den Rest der Nacht bekam ich kein Auge mehr zu. Ich wusste, dass es für mich unmöglich war, das Kaff zu verlassen. Nicht, wenn wir gerade erst eingezogen waren, nicht, wenn mein Vater sich hier so offensichtlich wohl fühlte. Und er würde mich niemals gehen lassen...

***

Am nächsten Morgen tappte ich übermüdet und abgekämpft durch den viel zu hohen, viel zu dunklen Flur in die Küche und stellte zu meiner Erleichterung fest, dass Vater schon zur Arbeit gegangen war. Vielleicht hatte das Schicksal ein Einsehen mit mir, vielleicht hatte Gott, so es ihn denn gab, erkannt, dass ich nicht mehr ertragen konnte, dass ich genug Last auf meinen Schultern trug. Dankbar nahm ich die Kaffeedose aus dem Schrank und brühte mir einen wirklich starken Kaffee auf. Die Hälfte füllte ich in meine kleine Thermoskanne um, so, wie ich es jeden Morgen tat. Nicht, dass ich das Gebräu sonderlich gemocht hätte, ich hasste den bitteren Nachgeschmack, und so früh am Morgen hätte ich lieber eine Tasse heißen, süßen Tees getrunken, so, wie ihn mir meine Mutter früher immer gemacht hatte, als ich noch ein Kind gewesen war. Damals, in jenen sorglosen Jahren, in denen die Welt noch in Ordnung gewesen war...hastig wischte ich den Gedanken beiseite. Fest stand, dass ich seit Jahren keinen Tee mehr trank. Und der Kaffee half mir dabei, die langen, anstrengenden Schultage durchzustehen. Ich wusste, dass der heutige nicht einfach sein würde. Ich würde wieder einmal angegafft werden, und zweifellos würden sie wieder über mich lästern, hinter vorgehaltener Hand über mich tuscheln. Denn es war nur eine Frage der Zeit, bis auffallen würde, dass ich anders war. Es fiel immer auf.
Wenigstens konnte ich jetzt noch in Ruhe mein Früshstück verzehren, ehe ich mich auf den Weg machte. Ich liebte diese Zeit am frühen Morgen, wenn alles noch schlief, die Welt gerade dabei war, zu erwachen. Diese Ruhe, diese Stille, diese Einsamkeit, die nur diejenigen kennen lernen, die einmal mitten in der Nacht durch eine schlafende Stadt gegangen sind. Keine Menschen, kein Getuschel. Und ich musste mich nicht verstellen.
Ein hastiger Blick auf die Wanduhr verriet mir, dass ich mehr Zeit in der Küche verbracht hatte, als ich geplant hatte. Hastig verstaute ich noch einen Apfel in meiner Schultasche, dann zückte ich die Taschenlampe und verließ den Raum, ohne das Licht zu löschen. Ich wusste, dass das der Laune meines Vaters nicht zuträglich sein würde, dass ich es höchstwahrscheinlich spätestens heute abend bereuen würde, doch ich hatte zu großen Respekt vor den Schatten dieses Hauses, als dass ich dieses Risiko eingegangen wäre, einem dunklen Raum den Rücken zuzuwenden. Das Licht der Taschenlampe strahlte bei weitem nicht jeden Winkel der großen Küche aus, und ich wusste, dass die Schatten hier schneller waren, als ich es gewohnt war. Ich hatte die Drohung des Wolfes nicht vergessen, ebensowenig wie die glühenden, roten Augen. Und obwohl ich mir einigermaßen sicher war, dass er mich vor Ablauf der Frist, die er mir gestellt hatte, vorerst in Ruhe lassen würde, ging ich doch lieber auf Nummer sicher...
Eine Woche. Eine Woche, um mich auf einen Kampf vorzubereiten, von dem ich nicht wusste, ob ich ihn gewinnen konnte. Ob ich ihn gewinnen wollte. Seltsamerweise jagte mir der Gedanke nicht so viel Angst ein, wie ich erwartete hätte. Eine seltsame Ruhe überkam mich, als ich an den Tod dachte. Was machte es schon für einen Unterschied, ob ich heute starb oder in zwanzig Jahren, oder in dreißig? Wer würde um mich trauern? Seltsamerweise war das der Gedanke, der am meisten schmerzte: dass niemand um mich trauern würde. Und zum ersten Mal glaubte ich, im Ansatz verstehen zu können, was damals wohl in meiner Mutter vorgegangen sein mochte.

***

Meine Schritte hallten seltsam laut in der Dunkelheit des frühen Morgens. Noch war die Sonne noch nicht aufgegangen, und das Licht der Straßenlampen, die an dünnen Drahtseilen in Straßenmitte hingen, aufgereiht wie die Perlen an einer Schnur, dieses schwache, orangefarbene Licht reichte nicht ganz bis zum Gehweg, weswegen ich gezwungen war, genau auf dem weißen Mittelstreifen zu gehen und darauf zu hoffen, dass zu dieser unchristlichen Zeit noch kein Auto unterwegs sein würde. Ein weiterer Grund, dieses verdammte Kaff zu hassen...
Doch als ich schließlich in Ortsmitte ankam, dort, wo ich laut GoogleMaps die Schule erwartete, musste ich mühsam das hysterische Gekicher unterdrücken, das in mir aufzusteigen drohte. Natürlich! Das setzte dem Ganzen doch wirklich die Krone auf!
Ein Schulgebäude aus der Jugendstilzeit, bei dessen Anblick mir schon ein eisiger Schauer den Rücken hinab rann. Hohe Räume, unzureichende Beleuchtung, und unzählige Ecken und Winkel voller Schatten, die boshaft flüsterten.
Nicht, dass ich es nicht gewohnt war, den Schatten auszuweichen. Aber dort, wo ich das letzte halbe Jahr verbracht hatte, hatten wir wenigstens ein anständiges, modernes Schulgebäude gehabt. Ich hatte die riesigen Neonröhren geliebt, die jeden noch so kleinen Winkel des Klassenzimmers ausgeleuchtet hatten. Ich hatte mich auch nicht daran gestört, dass die Schule mehreren hundert Schülern Platz bot – in der Menge war es mir zumindest teilweise gelungen, unterzutauchen, unsichtbar zu werden. Und auch wenn es die meisten Eltern nicht gutgeheißen hatte, dass die Kriminalitätsrate außerordentlich hoch lag und jeden Tag ein oder zwei Mal die Polizei vorbeisah – für mich bedeutete das, dass ich nicht der einzige Freak war. Ich fiel nicht weiter auf, ich versuchte, so gut wie möglich unsichtbar zu werden. Natürlich war ich alleine gewesen, doch das war nichts Neues. So lange ich zurückdenken konnte, war ich immer alleine gewesen. Es war nicht unbedingt schön, und immer wieder ertappte ich mich dabei, den knutschenden Paaren, die sich in den Pausen in die Ecken des Schulhofes zurückzogen, neidische Blicke zuzuwerfen. Ich wusste, dass das etwas war, was ich wohl nie erleben würde. Ich konnte es einfach nicht riskieren. Nicht, wenn mein Vater ständig über alles Bescheid zu wissen schien, nicht, wenn wir ständig von einem Ort zum nächsten zogen, so als seien wir auf der Flucht vor irgendwem - oder vor irgendetwas. Und vor allem nicht, wenn meine bloße Anwesenheit Gefahr bedeutete.

Ich dachte, das Schulhaus sei schlimm genug. Doch ich hatte mich, wieder einmal, getäuscht. Ich wusste es, sobald ich das Klassenzimmer betrat und sah, dass nur noch ein einziger Platz frei war. Ein Platz, der zur Hälfte von einem großen Schatten eingenommen wurde, den die Säule in der Mitte des Raumes warf. Jawohl, eine Säule. In einem Klassenzimmer. So etwas gab es auch nur in einem verdammten Gebäude aus dem was-weiß-ich-wievielten Jahrhundert.
Es war kein richtiger Schatten. Es war ein Halbschatten. Er war nicht stark genug, um zu einer Form zu gerinnen, er war nicht stark genug, um mich zu töten. Doch er würde mich schwächen. Er würde mir die Kraft rauben, die ich an einem Ort wie diesem doch so bitter benötigte. Leise seufzend fügte ich mich in mein Schicksal und schlurfte durch den Mittelgang zu meinem neuen Sitzplatz.
Natürlich fing das Getuschel an, kaum das ich das Zimmer betreten hatte, und es wurde nicht besser, als ich mich schließlich setzte. Ich war dankbar, dass die Lehrerin mich wenigstens nicht gezwungen hatte, mich der Klasse vorzustellen. Nichts hasste ich mehr als das. Eigentlich hatte ich es schon so oft getan, dass ich mit den Jahren eine gewisse Routine hätte entwickeln sollen. Doch die wollte sich einfach nicht einstellen, und ich fühlte mich jedes Mal von Neuem bloßgestellt, ausgeliefert und hilflos, wenn ich vor der neuen Klasse stand und gerade einmal meinen Namen herausbrachte, ehe ich rot anlief wie eine Tomate und anfing zu stottern und zu stammeln. Vielleicht lag es daran, dass ich den Umgang mit Menschen im Allgemeinen nicht gewohnt war. Es war einfach der Mühe nicht wert, nach jedem Umzug einen neuen Freundeskreis aufzubauen, den ich dann unweigerlich wenige Monate später wieder würde zurücklassen müssen. Nach ein paar Jahren hatte ich es aufgegeben und hatte mich statt dessen in meinen Büchern vergraben, wenn andere Mädchen in meinem Alter Partys feierten und sich betranken oder mit ihren Freunden knutschten. Mein Vater war selten zu Hause, und wenn er dann doch einmal heimkam, zog ich es vor, ihm aus dem Weg zu gehen.
Während ich mich jetzt schweigend auf den weißen Plastikstuhl setzte, fragte ich mich unwillkürlich, wann ich eigentlich das letzte Mal mit einem anderen Menschen gesprochen hatte. Und ich meinte damit nicht das kurze Austauschen von Informationen, auf das die Gespräche mit meinem Vater stets hinausliefen. Ich meinte ein richtiges Gespräch, einen Dialog, der zwei aktiv beteiligte Gesprächspartner erforderte. Ich konnte mich nicht mehr erinnern. Der Gedanke hinterließ ein seltsam schales Gefühl in mir.

Das Getuschel um mich herum wurde leiser, als die Musiklehrerin, Frau Pfeiffer, mit dem Unterricht begann. Ich legte den Kopf auf die verschränkten Arme und kämpfte gegen die warmen Wellen des Schlafes an, die mich zu überwältigen drohten. Die letzte Nacht hatte an meinen Kräften gezehrt, und ich hatte nicht mehr als ein oder zwei Stunden Schlaf bekommen – wenn man es denn als Schlaf bezeichnen konnte. Nachdem der Schattenwolf gegangen war, hatte ich immer wieder die Taschenlampe zücken müssen, denn der Lichtkreis war doch ein wenig zu schmal gewesen, und die Schatten waren erschreckend nahe an mich heran gekommen. In den nächsten Tagen musste ich unbedingt den nächsten Baumarkt aufsuchen, um ein paar Strahler zu besorgen. Ob es in einem Kaff wie diesem überhaupt einen Baumarkt gab? Vielleicht hatten sie ja statt dessen einen kleinen Tante-Emma-Laden, bei dem es alles nur auf Bestellung gab? Ich schauderte bei dem Gedanken daran. Nein, selbst hier musste es irgendwo einen Baumarkt geben, irgendwo mussten die Landwirte schließlich die notwendigen Werkzeuge und Materialien einkaufen – es sei denn, man setzte hier immer noch auf Tauschhandel. In diesem Fall wäre ich aufgeschmissen...

„Fräulein Schasse, würden Sie mir gnädigerweise Ihre Aufmerksamkeit zuteil werden lassen? Buch Seite 24, bitteschön!“, riss mich die nasale Stimme meiner neuen Lehrerin aus meinen Gedanken. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn sie meinen schönen Namen so folterten und quälten! Was war schon so schwer daran, „Chassé“ richtig auszusprechen? Aber es gab immer wieder Lehrer, die es einfach nicht auf die Reihe bekamen, und ich musste mich dann ein halbes Jahr lang mit aller Macht davon abhalten, jedes Mal schmerzlich das Gesicht zu verziehen.
Mit einem leisen Seufzen schlug ich das neue Schulbuch auf der genannten Seite auf, und die ältere Dame nickte zufrieden, ehe sie sich auf dem Schemel vor dem Klavier niederließ und die ersten Töne von „Freude, schöner Götterfunken“ anschlug.

Als die Schulglocke mich schließlich erlöste, spürte ich bereits die ersten Tropfen kalten Schweißes auf meiner Stirn, mein Herz raste, mein Atem ging schwer, so, als wäre ich meilenweit gerannt und hätte nicht eine volle Schulstunde damit verbracht, mir völlig unbekannte, uralte Lieder zu singen. Kaum war der erste, schrille Ton erklungen, der das Ende der Stunde verkündete, da war ich auch schon aufgesprungen und hatte des Klassenzimmer in fliegender Hast verlassen. Ich glaubte, die fragenden Blicke meiner Klassenkameraden förmlich in meinem Rücken spüren zu können, und ich wusste, dass ich damit bereits mehr Aufmerksamkeit auf mich gezogen hatte, als mir eigentlich lieb war, doch ich war am Ende meiner Kräfte. Ich wusste, dass ich es nicht mehr lange ertragen hätte, dort im Schatten zu sitzen.
Hier, im sicheren Lichtkegel der Flurbeleuchtung, atmete ich einmal tief ein und aus und beschloss dann, dass ich, wenn auch nur für einen kurzen Moment, an die frische Luft musste. Die Wände schienen immer näher zu rücken, und das Getuschel und Gewisper der Schatten setzte mir zu wie noch nie zuvor. Nur ein paar Augenblicke des spärlichen, trüben Tageslichtes, sagte ich mir, mehr brauchte ich nicht. Nur ein paar Minuten, um meine Kräfte zu sammeln, wieder zur Ruhe zu kommen. Ich wusste, ich würde es dann niemals rechtzeitig zu meiner nächsten Stunde schaffen, doch in diesem Moment kümmerte mich das herzlich wenig. Ich war eine gute Schülerin, Französisch lag mir. Viele der uralten Bücher, die mein Vater auf dem Dachboden verwahrte, waren in dieser Sprache geschrieben, und deswegen hatte ich sie mir schon recht früh angeeignet. Ich war ausgesprochen neugierig, was die Vergangenheit betraf, vor allem die Vergangenheit meiner Familie, und deren Ahnentafeln und Familientagebücher waren ausschließlich französisch verfasst. Ich war immer auf der Suche, auf der Suche nach einem Hinweis, dass ich nicht die einzige war, dass es noch mehr gab, die von den Schatten gejagt wurden. Ich war schon immer der Meinung gewesen, dass die Bedeutung meines Namens kein Zufall war, doch bis zum heutigen Tag hatte ich in keinem der Bücher auch nur den kleinsten Hinweis darauf finden können. Ein angenehmer Nebeneffekt meiner unermüdlichen Suche war jedoch gewesen, dass ich das Französische fast besser beherrschte als meine Lehrer. Und aus diesem Grund machte ich mir keine großen Sorgen, wenn ich jetzt ein paar Minuten später zum Unterricht erscheinen würde. Immerhin war es mein erster Tag hier. Ich konnte immer noch behaupten, ich hätte mich verlaufen oder das Zimmer nicht gefunden.

Mit einem erleichterten Seufzen stieß ich schließlich durch das schwere Schultor auf, machte einen übertrieben großen Bogen um diesen schrecklichen Gargoyle herum und trat hinaus in das trübe Dämmerlicht, das hier doch tatsächlich als Tageslicht bezeichnet werden durfte. Es regnete ein wenig, eiskalte Tropfen, die auf mein nach oben gerecktes Gesicht fielen und tränengleich meine Wangen hinabrannen. Der Wind pfiff kalt um das Schulhaus herum, ein hohes, durchdringendes Pfeifen, so dass mir sämtliche Haare zu Berge standen. Und dennoch war es hier draußen so viel angenehmer. Keine tratschenden Weiber, die sich garantiert schon heute das Maul über mich zerrissen, keine flüsternden Schatten, die hinter jeder Ecke auf mich lauerten und darauf warteten, dass ich auch nur einen einzigen Fehler beging. Die nur darauf warteten, dass ich in ihre Hände fiel, damit sie mich bei lebendigem Leib zerfetzen konnten, bis nichts als Staub von mir übrig bliebe...

Die schrille Schulglocke riss mich aus meiner Versunkenheit. Waren wirklich schon fünf Minuten vergangen? Mit einem ergebenen Schulterzucken fügte ich mich schließlich in mein Schicksal und betrat zum zweiten Mal an diesem Tag das Schulhaus, das ich innerhalb so kurzer Zeit schon hassen gelernt hatte. Ich war noch immer ein wenig schwach auf den Beinen, mein Herzschlag ging noch immer ein wenig schneller als gewöhnlich. Der Regen hatte mir den Schweiß von der Stirn gewaschen, und dank des Tageslichtes fühlte ich mich ein klein wenig erfrischter, doch es würde dennoch ein harter Tag werden, das wusste ich jetzt schon. Ich hoffte nur, dass ich wenigstens in der nächsten Stunde das Glück haben würde, einen Platz ohne Schatten zu ergattern.

Tief in Gedanken versunken, wollte ich gerade um die nächste Ecke huschen, hinter der sich, so hoffte ich zumindest, Zimmer 119 verbarg, als ich völlig unerwartet gegen ein weiches Hindernis prallte – oder, besser gesagt, das Hindernis prallte gegen mich.
Ich schwankte, der Zusammenstoß hatte mich aus dem Gleichgewicht gebracht, und im selben Moment schlossen sich zwei starke Hände um meine Oberarme und fingen mich auf.
Ich konnte das schmerzerfüllte Keuchen nicht unterdrücken. Genau so hatte mich mein Vater vor ein paar Tagen festgehalten und mich erbost geschüttelt, als ich es gewagt hatte, leisen Protest anzumelden, dass wir schon wieder einmal umzogen. Ich hätte es besser wissen sollen. Mein Vater war kein Mann, den man verärgern sollte.
Die blauen Flecke, die meine Oberarme zierten, waren ein wenig heller geworden, und die Ränder hatten sich bereits gelb verfärbt, aber sie schmerzten noch immer, wenn man sie berührte.
Die fremden Hände ließen mich augenblicklich los, kaum dass der Laut über meine Lippen getreten war.
„Es tut mir leid“, murmelte eine tiefe, warme Stimme dicht an meinem Ohr, und wieder rann ein leiser Schauer meinen Rücken hinab – doch es war kein kalter Schauer. Auch wenn mir noch einen Augenblick zuvor kalt gewesen war und ich den Biss des Windes noch immer auf meiner Haut zu spüren glaubte, war mir jetzt auf einmal seltsam...warm.
Wer war das nur? Auf einmal hatte ich das Bedürfnis, ihn anzusehen. Langsam hob ich den Blick – und fast stockte mir der Atem.
Tiefe, braune Augen, die den meinen so ähnlich sahen, das ich für einen kurzen Moment das Gefühl hatte, in einen Spiegel zu blicken. Ich las Einsamkeit in ihnen, eine Einsamkeit, die mir nur zu vertraut war, und einen Schmerz, für den er mir noch zu jung erschien. Angst und so etwas wie Hoffnungslosigkeit vermengten sich in den dunklen Tiefen zu einem seltsamen, brennenden Sog. Wie gebannt starrte ich ihn an, ich glaube, ich vergaß für einen Moment sogar, zu atmen. Wer war das nur?
Doch es waren nicht nur die Augen, die mich fesselten. Es war die Dunkelheit, die sein ganzes Wesen auszustrahlen schien, eine Dunkelheit, von der ich wusste, dass sie auch in mir wohnte, dass sie jede Faser meiner Seele durchzog. Rehbraune Locken hingen ihm bis tief in die Stirn hinein, fast ein wenig zerzaust, so, als sei er sich immer wieder mit den Händen durch das Haar gefahren...er sah so unglaublich...süß...aus. Und in diesem Moment wusste ich, wenn ich jemals mit einem Jungen in einer der Ecken des Pausenhofes hatte verschwinden wollen, dann war es dieser hier. Und das durfte niemals geschehen. Ich war gefährlich, gefährlich für jeden, der mir zu nahe kam, und sollte mein Vater jemals davon erfahren, dann würde ich ihn niemals wieder sehen.
„V-verzeih, es war meine Schuld“, flüsterte ich kaum hörbar und trat einen Schritt zurück. Denn es war meine Schuld gewesen, ich hatte nicht aufgepasst, und er hatte nicht ahnen können, dass ich so dicht hinter der Ecke stehen würde. Ich hatte nur dort gestanden, weil ich dem Schatten der hohen Vitrine hatte ausweichen wollte, der bis in die Mitte des Flures hineinragte.
Dann wandte ich mich um, stolperte beinahe über meine eigenen Füße, ehe ich die rettende Ecke erreicht hatte. Fast glaubt ich, seinen warmen Blick in meinem Rücken zu spüren.
Am Liebsten wäre ich vor Scham im Erdboden versunken. Was mochte er wohl jetzt von mir denken. Nicht einmal einen Satz hatte ich herausgebracht, ohne zu stottern! Und es war ihm auch sicherlich nicht entgangen, wie ich ihn angestarrt hatte!
Es kann dir egal sein, was er von dir denkt, schalt ich mich. Du musst dich von ihm fernhalten.
Und obwohl es doch nur ein kurzer Moment gewesen war, schien ich seine Wärme noch immer auf meiner Haut zu spüren, und der Gedanke, dass ich ihm niemals nahe kommen würde, schmerzte mehr, als er sollte.

Erst, nachdem ich vor der Tür von Zimmer 119 angekommen war, fiel mir auf, dass die Schatten leiser geworden waren, als ich mich von ihm entfernt hatte. So, als hätte er einen Teil von ihnen mit sich genommen.


5. Lichtinsel



Leonie

Bis zur nächsten Pause war ich tief in Gedanken versunken. Immer wieder musste ich an diese braunen Augen denken, die mich so seltsam wissend angesehen hatten, an seinen warmen Atem, und den merkwürdigen Schauer, der mir den Rücken hinabgeronnen war. Diese halblangen Locken, die ihm in die Stirn gefallen waren...
Ich sollte nicht an ihn denken. Ich durfte nicht an ihn denken, es würde alles noch komplizierter, noch schwieriger machen, und ich hatte bereits genug Probleme, aber er wollte mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Und das, obwohl unsere Begegnung kaum mehr als drei Minuten gedauert haben konnte. Ich verstand mich selbst nicht mehr, niemals hatte mich ein Junge so in seinen Bann gezogen.
Ich bekam kaum etwas vom Unterricht mit, doch das störte mich nicht. Die Lehrerin ignorierte mich weitestgehend, und dafür war ich ihr sehr dankbar. Normalerweise war Französisch das einzige Fach, in dem ich mich mündlich beteiligte, doch heute blieb ich selbst hier stumm. Wenigstens war es mir diesmal gelungen, einen Platz direkt am Fenster zu bekommen, einen Platz im Tageslicht, ohne Schatten.

Der Kurs war sehr klein, Französisch schien kein beliebtes Fach an dieser Schule zu sein. Aber wo war es das schon? Die meisten Schüler zogen Englisch vor.
Ich glaubte, Blicke auf mir ruhen zu spüren, und ich glaubte, zu sehen, wie zwei der Mädchen flüsternd die Köpfe zusammen steckten und kicherten und dabei hin und wieder verstohlen in meine Richtung sahen. Ich seufzte resigniert. Es war nicht anders zu erwarten gewesen. Die Schule war eindeutig zu klein und zu ländlich. Es war immer das Gleiche. Ich passte nicht hierher, und das fiel auf. Ich war anders. Mein ganzes Leben lang war ich immer anders gewesen. Ich gehörte nicht hierher. Und doch schien es keinen Ort zu geben, auf den dies zutraf.

Ein einzelner Sonnenstrahl brach durch die dicke Wolkendecke hindurch und tauchte den alten Holztisch vor mir für wenige Augenblicke in goldenes Licht. Kleine Staubteilchen tanzten in der Luft, schwebten langsam und anmutig umeinander herum, ehe sie auf einmal wie wild in aller Richtungen auseinanderstoben. Erschrocken sog ich die Luft ein und warf einen verstohlenen Blick zu meiner Nebensitzerin, doch sie schien nichts bemerkt zu haben. Mühsam zwang ich mich dazu, langsam ein- und auszuatmen, obwohl mein Herz raste und mir der Schweiß in Perlen auf der Stirn stand. Die Staubteilchen vor mir formten für einen winzigen Augenblick das Wort „GEH“, dann zog sich der Himmel draußen wieder zu, der Sonnenstrahl verschwand, und zurück blieb das kalte, helle Neonlicht der Leuchtstoffröhren. Ganz langsam ließ ich den Atem entweichen, den ich angehalten hatte, und sank in dem unbequemen, harten Stuhl in mich zusammen.
Wie war das möglich? Es waren doch die Schatten, die mich verfolgten, Herrgott noch mal! Wie konnten die Schatten das Licht beeinflussen? Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein! Das Licht war meine einzige Waffe!
Mit einem leisen Stöhnen vergrub ich das Gesicht in meinen Händen.
„Ist alles in Ordnung?“, flüsterte eine hohe, fast schon gekünstelt weibliche Stimme von nebenan. Sie klang jedoch ehrlich besorgt. Mühsam riss ich mich zusammen und wandte den Kopf in ihre Richtung. Meine Nebensitzerin, die ich zuvor nur am Rande wahrgenommen hatte, musterte mich mit aufrichtigem und dennoch zurückhaltendem Interesse. Sie war klein, noch kleiner als ich, und die dunkelblonden Haare umrahmten ihre schmales Gesicht und fielen in weichen Wellen bis auf ihre Schultern hinab. Ich glaubte mich zu erinnern, dass sie sich als Kathi vorgestellt hatte, aber ich war mir nicht sicher. Namen hatte ich mir noch nie sonderlich gut merken können, und für gewöhnlich musste ich das auch nicht.
„Es geht schon“, brachte ich leise hervor. „Ich glaube, ich habe heute morgen etwas Falsches gegessen.“ Mit der Zeit hatte ich gelernt, wie ich mich in solchen Situationen am Besten herausredete, und die Lüge ging mir nach jahrelanger Übung glatt und überzeugend über die Lippen.
Das Mädchen warf mir einen prüfenden Blick zu, und ich wusste, was sie sah. Das Blut war mir aus dem Gesicht gewichen, ich war aschfahl, und meine Stirn war mit kaltem Schweiß bedeckt. Ich sah so grauenhaft aus, wie ich mich fühlte.
„Vielleicht solltest du nach Hause gehen, wenn es dir nicht gut geht“, meinte sie. „Die Koch wird da sicher nichts dagegen haben.“
Beinahe hätte ich leise aufgelacht. Ja, natürlich, jedes normale Mädchen wäre vielleicht nach Hause gegangen. Doch ich war noch nicht volljährig, noch musste mein Vater meine Entschuldigungen unterschreiben, und ich wusste genau, dass er mir diesen Gefallen nicht getan hätte. Zudem wusste ich, was mich zu Hause erwartete, und ich war nicht erpicht darauf, einen ganzen Tag alleine dort zu verbringen. Die Schatten in der Schule waren auch nicht gerade einfach, aber hier war ich wenigstens von anderen Menschen umgeben. Seltsamerweise fand ich diesen Gedanken zum ersten Mal angenehm. Auch wenn sie mir nicht helfen konnten, auch wenn sie lästern mochten, mich schief von der Seite anstarrten, auch wenn ich im Grunde meines Herzens alleine war, fühlte ich mich das erste Mal weniger einsam. Vielleicht hatte es auch etwas mit der winzigen Hoffnung zu tun, dass ich ihm vielleicht noch einmal über den Weg laufen würde. Eine unsinnige Hoffnung, ich wusste, dass ich Abstand halten sollte. Und doch...
„Es geht schon“, murmelte ich abwehrend, beinahe schroff, und wandte den Blick ab. Das Mädchen war wirklich nett, und ich wollte sie nicht in Schwierigkeiten bringen. In diesem Moment hasste ich mein Leben wie nie zuvor. Zuerst dieser seltsame Junge, nun dieses Mädchen. Wie gerne hätte ich mich einem anderen Menschen anvertraut, wie gerne hätte ich ein Gespräch mit ihr begonnen. Doch es war unmöglich. Zum einen wusste ich, was geschehen würde, wenn ich jemanden einließ. Ich wusste, dass ich damit den Abschied um so schmerzhafter machen würde. Zum anderen war da noch die Gefahr, die meine Nähe mit sich brachte. Ich konnte das Risiko nicht eingehen. Nur zu gut konnte ich mich erinnern, was geschah, wenn ich eine Freundschaft zuließ. Was ich ihr damit antun könnte, oder mir selbst, wenn ich mich öffnete, nur, um wieder verletzt zu werden. Also musste ich sie von mir stoßen, so, wie ich es immer tat. Ich zwang mich dazu, mein Gesicht zu einer kalten Maske erstarren zu lassen, und wandte mich ein wenig von ihr ab.
„Wenn du meinst...“ Ihre Stimme war merklich kühler geworden. Aus den Augenwinkeln glaubte ich zu sehen, wie sie mit den Schultern zuckte.

Den Rest der Stunde war ich wieder alleine mit meinen Gedanken und versuchte vegeblich, die Schatten zu ignorieren, die sich nur wenige Schritte von mir entfernt zwischen den Fenstern bildeten, die sich in den Ecken des Zimmer zusammenballten wie dunkle Gewitterwolken. Hände, Klauen, Krallen und seltsame, hundeähnliche Formen flossen zusammen, verfestigten sich und lösten sich dann wieder auf, als sei nichts gewesen.
„Du bist hier nicht erwünscht!“
„Geh wieder!“
„Geh zurück!“
„Und komm niemals wieder!“, flüsterten sie, die Stimmen klangen heiser, zischten wie Schlangen, die sich langsam an ihr Opfer heranschlichen, ehe sie ihm genüsslich die giftigen Zähne in den Hals schlugen und dann dabei zusahen, wie es langsam verendete. Eisige Finger schienen über meinen Nacken zu streichen. Ich konnte die Bosheit und den abgrundtiefen Hass beinahe spüren. Warum waren sie hier nur so viel stärker als anderswo? Niemals hatte ich mich so verletzlich gefühlt, so wehrlos, so ausgeliefert.

Als es endlich zur Pause läutete, packte ich in fliegender Hast meine Sachen zusammen und war aus dem Raum heraus, ehe die meisten anderen Schüler auch nur ihr Buch zugeklappt hatten. Wiederum konnte ich konnte die verwunderten, fragenden Blicke meiner Klassenkameraden förmlich in meinem Rücken spüren, doch in diesem Moment war es mir egal. Ich musste hier raus, an die frische Luft, ans Tageslicht.

Die Pause verbrachte ich vor dem Schultor. Leise seufzend sog ich das Licht in mich auf wie ein Verdurstender den ersten Schluck Wasser. Es war trübes Licht, und die Kälte durchdrang meine dünne Steppjacke, kroch mit eisigen Fingern an mir empor. Es war feucht und klamm, der nebelähnliche Regen umfing mich, hüllte mich ein wie eine eisige Umarmung. Und doch war ich froh, dass er mir wieder einmal den Schweiß von der Stirn wusch. Ich mochte die Kälte eigentlich nicht, aber sie erschien mir im Moment irgendwie passend. Sie passte zu der Kälte in meinem Inneren.

Das schrille Läuten der Schulglocke schreckte mich auf und erinnerte mich daran, dass ich das Zimmer finden musste, in dem der Geschichtekurs stattfand. Ich wartete, bis die meisten der Schüler an mir vorbeigeströmt waren, und machte mich dann auf den Weg, die rechte Hand fest um den metallenen Griff meiner Taschenlampe gekrallt, die ich in meiner Jackentasche verstaut hatte. Man konnte nie wissen - in diesem Kaff, in dem die Schatten so viel mehr Macht hatten, als ich es gewohnt war, fühlte ich mich bewaffnet einfach sicherer.

***

„Wenn es regnet, dann schüttet es.“ Das war das Lieblingssprichwort meiner Mutter gewesen, und heute konnte ich dem nur aus vollem Herzen zustimmen. Ein leiser Fluch entwischte meinen Lippen, als ich feststellte, dass die Null vor der Zimmernummer bedeutete, dass sich der Geschichteraum im Keller befand. Ich hätte damit rechnen sollen. Irgendeine Macht des Schicksals schien mich zu hassen, und sie hatte sich wohl genau diesen Tag ausgesucht, um es mich einmal wieder richtig spüren zu lassen. Manchmal fragte ich mich, ob es ein Fluch war, der auf mir lastete.
Natürlich befand sich der Raum in der hintersten, dunkelsten Ecke des Kellers. Zumindest hatte ich lange genug gebraucht, ihn zu finden; die anderen Schüler waren schon längst in den Zimmern und warteten auf den Unterrichtsbeginn, und so konnte ich von einem Lichtkreis zum nächsten huschen, die Finger fest um die Taschenlampe gekrallt, ohne dass ich deswegen neugierige Blicke auf mich zog.
Vor der Tür hielt ich zögernd inne. Es war eine schwere Feuerschutztüre, kein Laut drang hindurch, und so konnte ich nicht hören, ob der Unterricht bereits begonnen hatte. Ohne nachzudenken hob ich die Faust und wollte anklopfen, kam dann aber zu dem Schluss, dass der dicke Stahl den leisen Laut schlucken würde. Unruhig verlagerte ich mein Gewicht auf die Fußballen und wippte unentschlossen vor und zurück. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Es war ein Kellerraum, das bedeutete wahrscheinlich auch, dass er schlechter beleuchtet sein würde. Und wenn ich mitten in den Unterricht hereinplatzte, würde es umso mehr auffallen, wenn ich mich an den Schatten vorbeizwängte.

Ein leises Räuspern hinter mir ließ mich zusammenfahren, und ich fuhr herum, sämtliche Muskeln bis zum Zerreißen gespannt. Meine rechte Hand schnellte in meine Jackentasche und krallte sich um die goldene McLight. Gott sei Dank besaß ich jedoch genug Geistesgegenwart, mein Gegenüber erst zu mustern, ehe ich meine Waffe zückte. Denn vor mir stand ein etwas älterer Mann mit ergrautem Haaransatz und einer dicken Aktentasche unter dem Arm, aus der eng bedrucktes Papier hervorlugte. Ich vermutete, dass das wohl der Lehrer war, Herr Bergmann, so stand es zumindest auf meinem Stundenplan. Hastig wich ich ein wenig zur Seite und machte ihm Platz.
„Guten Morgen“, brachte ich gerade noch hervor, doch selbst in meinen Ohren klang meine Stimme zittrig. „ Es tut mir leid, ich habe eine Weile gesucht, bis ich den Raum gefunden habe...entschuldigen Sie die Verspätung...“
Herr Bergmann musterte mich ein wenig erstaunt, und ich war mir sicher, dass er bemerkt hatte, wie sehr mich sein plötzliches Auftauchen aus der Fassung gebracht hatte.
„Sie sind Fräulein Chassé?“, erkundigte er sich schließlich, und ich nickte, immer noch ein wenig atemlos. Der erste Lehrer heute, der meinen Namen richtig aussprach.
„Geht es Ihnen gut?“ , fragte er mit zusammengezogenen Augenbrauen.
Oh, ich kannte diesen besorgen Lehrerblick, auch wenn es nur wenige waren, denen es wirklich auffiel, wenn etwas nicht stimmte.
„Ja, danke, ich war wohl nur ein wenig in Gedanken“, murmelte ich deswegen leise und hoffte, dass er es darauf beruhen lassen würde.
Bergmann warf mir noch einen prüfenden Blick zu, zuckte dann jedoch mit den Achseln, öffnete dann die schwere Stahltüre und bedeutete mir mit einer knappen Geste, einzutreten.
Die meisten Erwachsenen ließen sich so leicht täuschen. Vielleicht war es aber auch nur so, dass sie es einfach nicht wahrhaben wollten, wenn etwas anders war als sonst. Oder sie wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten, und beschlossen deswegen, mein Verhalten zu ignorieren. Mir sollte es recht sein. Was hätte ich auch sagen sollen?
‚Oh, ich dachte, Sie seien einer dieser Schatten, die Gestalt annehmen. Gestern war einer in meinem Zimmer und hat mir gedroht, und seitdem fürchte ich um mein Leben’? Damit wäre mir ein Besuch der nächsten Irrenanstalt wohl sicher gewesen.

Vorsichtig trat ich über die Schwelle – und unterdrückte nur mit Mühe das leise Seufzen, das in mir aufstieg. Oh ja, wenn es regnet, dann schüttet es. Es war schlimmer, als ich es erwartet hatte. Altersschwache Neonröhren erhellten den Raum, und die beiden, die der Tür am nächsten waren, flackerten unruhig. Schatten tanzten an den Wänden, flossen in den Ecken zusammen, ballten sich, flüsterten. Die Luft schien zu stehen, nach mir zu greifen. Für einen kurzen, schrecklichen Augenblick hatte ich das Gefühl, zu ersticken.
Kaum bekam ich mit, wie mich Bergmann kurz dem Kurs vorstellte, meine Augen wanderten unruhig durch den Raum, suchten nach einem freien Sitzplatz, und ich betete, dass ich nicht wieder gezwungen sein würde, eine ganze Doppelstunde im Halbschatten zu verbringen.
Und dann sah ich ihn. Den Jungen, der mich im Flur angerempelt hatte. Im selben Moment hob er den Kopf und sah mich an, und sein Blick schien sich regelrecht in den meinen zu bohren – neugierig, abschätzend und seltsam wissend. Und ich hatte das Gefühl, dass er geradewegs durch sämtliche Mauern, die ich um mein Innerstes errichtete hatte, hindurchzusehen schien.
Bergmann war mit der kurzen Vorstellung fertig und sah mich auffordernd an, und da der einzige freie Platz neben dem Jungen mit den braunen Locken war, dessen Augen ich noch immer auf mir ruhen spürte, nahm ich an, dass er wohl von mir erwartete, dass ich nun dort Platz nahm. Zum ersten Mal nahm ich den freien Platz genauer in Augenschein. Er befand sich in der Mitte des Zimmers, direkt unter der Neonröhre, die am hellsten strahlte. Es gab viele Schatten und unzählige Halbschatten in diesem Raum, aber der Platz neben dem Jungen befand sich inmitten einer kleinen Lichtinsel. Ich fragte mich, ob er bewusst diesen Platz gewählt hatte, ob er ebenso den Schatten mied wie ich. Aber das war unmöglich.
Und dann bemerkte ich, dass es sich tatsächlich um eine Lichtinsel handelte– und um dorthin zu gelangen, musste ich durch den ein oder anderen Halbschatten hindurch. Und an einem sehr dunklen Schatten vorbei, der von einem besonders großen, ungeschickt an der Decke angebrachten Beamer geworfen wurde.
Innerlich stöhnte ich verzweifelt auf, dann atmete ich tief ein und machte mich auf den Weg.

Ich spürte die Blick meiner Klassenkameraden auf mir ruhen. Sicherlich fiel ihnen auf, wie angespannt meine Haltung war. Ich sah zu Boden und beschleunigte meine Schritte. Der erste Halbschatten, und schon spürte ich, wie mein Herz in meiner Brust raste, wie das Adrenalin durch meine Blutbahnen strömte. Wieder traten erste Schweißperlen auf meine Stirn, wieder umfing mich dieses schreckliche Gefühl der Beklemmung, der Hilflosigkeit, und ich konnte regelrecht spüren, wie meine Kraft nachließ. Kälte umfing mich. Die eisige Kälte der Schatten.
Ich hörte es, bevor ich es sah. Das leise Wispern eines gerinnenden Schattens. Eines Schattens, der Gestalt annimmt. Nein, bitte nicht jetzt, nicht hier, flehte ich innerlich, doch wieder einmal wurden meine Gebete nicht erhört. Wie gebannt beobachtete ich, wie der Schatten des Beamers sich verfestigte, wie sich der schwarze Nebel zusammenzog und ballte, wie er die Form einer Hand annahm. Eine Hand, aus der ellenlange Krallen wuchsen. Eine Hand, die blitzartig auf mich zuschoss.
Dann ging auf einmal alles sehr schnell. Mit einer fast schon instinktiven Bewegung riss ich die goldene McLight aus meiner Jackentasche, schnippste den Lampenkopf herum und richtete den Lichtstrahl auf den Schatten. Die Hand war jedoch wendiger, als ich es erwartet hatte, und mit Entsetzen musste ich mit ansehen, dass der dünne Strahl sie nur streifte. Er brannte ein fransiges, qualmendes Loch in das schwarze Schemen, zerstörte den Schatten jedoch nicht vollständig. Im selben Moment wuchs eine neue Hand aus dem Schatten heraus, und da wusste ich, dass ich verloren war. Ich konnte nicht beide gleichzeitig besiegen.
Und dann schoss plötzlich ein sehr viel hellerer, fokussierter Lichtstrahl durch die schwarze Hand hindurch, brannte eine klaffende Wunde hinein. Der Schatten zerstob, zerfiel und zog sich wimmernd und zischend in die Ecke des Zimmers zurück. Doch das bekam ich nur am Rande mit. Suchend blickte ich in die Richtung, aus der der Lichtstrahl gekommen war – und da sah ich, wie der Junge mit den kastanienbraunen Locken, der Junge, mit dem ich zuvor im Flur zusammengestoßen war, der Junge, neben dem ich den Rest der Stunde sitzen würde – wie dieser Junge erleichtert in seinen Stuhl zurücksank und hastig einen handtellergroßen Gegenstand in seiner Tasche verstaute. Er war das gewesen! Er hatte mich gerettet!
Er hatte den Schatten gesehen! Wer war dieser Junge?
Leises Getuschel drang an meine Ohren, riss mich aus meiner Starre. Hastig verstaute ich meine Taschenlampe wieder in meiner Jackentasche, doch ich wusste, dass es zu spät war. Das Flüstern schwoll an, hin und wieder durchbrach ein leises, hohes Kichern die tuschelnden Stimmen. Sie redeten über mich. Was hätte ich auch anderes erwarten sollen? Immerhin hatte ich vor der ganzen Klasse einen Kampf gegen einen für sie unsichtbaren Gegner gekämpft, ich hatte meine Taschenlampe gezückt, hatte mich geduckt, war ihm ausgewichen und hatte dann angegriffen. Natürlich war ihnen das aufgefallen. Spätestens ab dem heutigen Tag war mir der Ruf des Freaks an dieser Schule wieder einmal sicher. Tatsächlich hörte ich da eines der Mädchen eben jenes Wort flüstern. „Freak!“, zischte es sehr deutlich zu meiner Rechten, und ich konnte nicht verhindern, dass ich leicht zusammenfuhr. Sie hatte recht, dass war das Schlimme daran. Ich war ein Freak! Welcher normale Mensch hört schon Schatten, welcher normale Mensch wird von ihnen angegriffen? Ich wusste, dass ich anders war, aber es immer wieder von anderen bestätigt zu hören...
Ich schluckte, wandte mich um und setzte stumm und mit gesenktem Blick den Weg zu meinem neuen Sitzplatz fort. So haben sich also die Hexen im Mittelalter gefühlt, wenn sie auf dem Weg zum Galgen von der Menge mit faulen Eiern und Beschimpfungen beworfen wurden, dachte ich. Zu früheren Zeiten wäre ich bestimmt als Hexe hingerichtet worden...

Ich beschleunigte meine Schritte, und irgendwann war ich schließlich endlich an jenem Tisch in der Mitte des Zimmers angelangt, der von nun an auch der meine sein würde. Der Junge räumte hastig das offene Buch sowie einen eng beschriebenen Block auf seine Hälfte des Tisches und rückte ein wenig zur Seite. Dann warf er mir einen auffordernden Blick zu, und ich lies mich mit einem erleichterten Seufzen auf dem harten, unbequemen Plastikstuhl nieder. Seltsamerweise fühlte ich mich in seiner Nähe...sicher. Das erste Mal, seit ich in diesem schrecklichen Ort angekommen war, fühlte ich mich...beschützt. Ich hatte gesehen, wie geschickt er mit seiner Lampe umgehen konnte, und irgendetwas sagte mir, dass er schon des Öfteren Kämpfe mit den Schatten geführt hatte. Dass er sich zu verteidigen wusste. Und er hatte mich gerettet! Er kannte mich nicht, aber er hatte mich gerettet!
Adrenalin strömte noch immer durch meine Adern, mein Herz raste, mein Atem war flach und schnell. Und der Junge hatte sich wieder abgewandt und lauschte mit scheinbar großem Interesse dem Monolog des Lehrers. Ich vermutete, dass er mir Zeit lassen wollte, mich zu beruhigen – oder ich war ihm egal, und er hatte nur eingegriffen, weil er Mitleid mit mir gehabt hatte. Wahrscheinlich eher letzteres, dachte ich. Warum sollte er auch Interesse an mir haben? Ich war nichts Besonderes, und meinen Ruf hatte ich schon an meinem ersten Tag an dieser Schule zunichte gemacht. Er sollte nicht mit mir befreundet sein, es war besser für ihn. Und für mich. Denn irgendetwas sagte mir, dass es mir das Herz brechen würde, wenn ich ihn einlies, nur um wenige Monate später wieder zu verschwinden. Vielleicht sollte ich dasselbe tun wie er. Vielleicht sollte ich ihn einfach ignorieren und versuchen, dem Unterricht zu folgen. Ich suchte meinen Block und einen Stift aus meinem Rucksack heraus und fing an, mitzuschreiben.

Nach einer kleinen Weile hatte ich mich wieder völlig in meinem Aufschrieb verloren. Ich liebte es, den Vorträgen der Lehrer Struktur zu geben, neue Informationen zu sortieren und einzugliedern. Vielleicht mochte ich das Fach deswegen so sehr, weil ich es recht einfach fand, vergangene Geschehnisse zu strukturieren. Ich war so versunken in meine Arbeit, dass ich die Hand nicht sah, die sich mir näherte. Warme Finger schlossen sich sanft um die meinen, und die Berührung war so zart, dass ich erschrocken und überrascht erstarrte. Wann hatte mich das letzte Mal ein anderer Mensch mit solcher Vorsicht, mit solcher Behutsamkeit berührt? Ich konnte mich nicht mehr erinnern. Und seltsamweise rührte mich diese kleine Geste so sehr, dass mir beinahe die Tränen in die Augen stiegen. Ich verstand mich selbst nicht mehr. Was war nur mit mir los? Ich durfte nicht zulassen, dass er mich so aus der Fassung brachte, dass er mir so nahe kam.
„Vorsicht, du zerbrichst den Stift noch, wenn du dich weiter so an ihm festklammerst“, flüsterte er und gab dann meine Hand wieder frei, langsam und beinahe zögernd, so, als wolle er mich nicht loslassen. Die Luft um uns herum erschien mir auf einmal um einiges kälter als noch zuvor.
Alles, was ich zustande brachte, war ein schwaches, stummes Nicken. Ich wollte ihm nicht zeigen, wie sehr mich die kurze Berührung aus der Fassung gebracht hatte, oder die Sorge, die in seiner Stimme mitgeschwungen war und die sich nicht allein auf den Stift bezogen hatte, da war ich mir sicher. Ich war ihm nicht egal!
Ich zwang mich dazu, weiterzuschreiben, doch nach einer kleinen Weile hielt ich es nicht mehr aus. Er hatte es nicht verdient, dass ich ihn ignorierte. Er hatte mich gerettet, und dann hatte der den leeren Raum zwischen uns überquert und mich berührt. Und seine Hand war so warm gewesen, so vorsichtig, und doch hatte ich die Stärke gespürt, die ihr innewohnte...
Er hatte sich wieder abgewandt, erwartete wohl nicht mehr, dass ich ihm antwortete. Sein Blick war nach vorne gerichtet, und auch er hielt nun einen Stift in der Hand und machte sich Notizen. Seine Schrift war krakelig, abgehackt und spitz, fast ein wenig ungeschickt, und doch seltsam gleichmäßig und ordentlich.
Und ehe ich mich eines Besseren besinnen konnte, tat ich es. Ich berührte ihn. Ich hob meine Hand und legte sie auf die seine, ebenso sanft und vorsichtig, wie er mich zuvor berührt hatte.
„Danke“, flüsterte ich, und ich dankte ihm nicht nur dafür, dass er mich gerettet hatte, sondern auch dafür, dass es ihn gekümmert hatte, was mit mir geschah. Ich dankte ihm für die Sorge, die ich in seiner Stimme gehört hatte.
Mit einem Ruck wandte er den Kopf zu mir um, und zum ersten Mal seit unserem Zusammenstoß im Flur sah ich wieder in seine Augen. In diese tiefen, braunen Augen, doch anders als zuvor las ich nicht nur Einsamkeit und Furcht in ihnen. Da war eine Wärme, eine Freundlichkeit, die mir den Atem nahm. Und fast so etwas wie...Anerkennung?
„Gern geschehen, kleine Löwin“, murmelte er. Eine tief vergrabene Erinnerung schnürte mir die Kehle zu. Löwin. So hatte mich meine Mutter immer genannt. Woher kannte er die Bedeutung meines Namens?


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Texte: (c)by C.S. (Schneeflocke)
Tag der Veröffentlichung: 08.09.2010

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