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13. Ein Funke in der Dämmerung



Caitlin



Mit dem Frühjahr kam auch die Zeit, in der die Äcker umgegraben und neu bepflanzt werden mussten. Ein gut vier Steinwürfe breiter Streifen Felder umgab das Dorf. Jede Familie besaß einen gewissen Anteil an dem Land, das sie das Jahr über bewirtschaftete und auf dem sie Getreide und Kartoffeln anbaute, welche unsere Hauptnahrungsmittel darstellten.

Jetzt im Frühjahr musste die Wintersaat zur Bodendüngung untergepflügt werden, eine schwere, schweißtreibende Arbeit, die vor allem den Männern überlassen wurde. Aufgabe der Frauen war es, auf dem frisch gepflügten Acker die gröbsten Steine aufzulesen, die gemeinsam mit dem tieferen Erdreich nach oben befördert worden waren, und dann in den Furchen die neuen Samen auszusäen und mit einer dünnen Schicht Erde zu bedecken. Auch die Kartoffeln wurden jetzt gepflanzt, und das war heute meine Aufgabe.

Mit zusammengebissenen Zähnen schleppte ich den schweren Sack Kartoffeln vom vergangenen Jahr hinter mir her und vergrub im Abstand von einer Elle die Knollen in den von meinen Brüdern aufgeschütteten Dämmen.

Es war früher Abend, und die Sonne näherte sich allmählich dem Horizont. Langsam richtete ich mich auf und reckte mich. Die Arbeit auf dem Feld war mühsam, und heute war ich besonders erschöpft, da am Morgen meine monatliche Blutung eingesetzt hatte. Mein Magen verknotete sich an solchen Tagen verlässlich zu einem schmerzenden, harten Ball, und in regelmäßigen Abständen fuhr mir ein stechender Schmerz in den unteren Rücken, der sich anfühlte, als bohre mir jemand ganz langsam und genüsslich ein Messer in die Wirbelsäule. Es war ein Wunder, dass ich nicht jedes Mal in die Knie ging, wenn wieder einmal eine Welle der Pein durch mich hindurch jagte.

Der Tag, der sich endlos in die Länge gezogen hatte, schien sich also endlich dem Ende zuzuneigen. Ich atmete erleichtert auf. Doch in eben diesem Moment fuhr mir wieder einmal das Messer in den Rücken, und ich formte meinen Mund zu einem lautlosen Stöhnen und krümmte mich. Die Fingerknöchel der rechten Hand, die den inzwischen zur Hälfte geleerten Kartoffelsack umklammerte, färbten sich weiß, und ich grub meine Schneidezähne so tief in meine Unterlippe, dass ich den metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge spürte. Es geht vorüber, beschwor ich mich, es geht vorüber.
Als ich nach geraumer Zeit wieder aufblickte, war ich fast alleine auf dem Feld.

„Ist alles in Ordnung, Caiti?“, fragte Kian leise.
Ich hatte nicht gehört, wie er sich mir näherte, und zuckte deswegen ein wenig zusammen, als seine Stimme so dicht neben meinem Ohr erklang. Mein älterer Bruder stand neben mir und betrachtete mich besorgt.
Ich nickte als Antwort auf seine Frage und brachte tatsächlich ein zittriges Lächeln zustande. „Ja, es ist nur diese Frauengeschichte – es geht schon“, murmelte ich verlegen.

„Wir sollten jetzt zurück zum Dorf gehen, es ist schon spät. Meinst du, du schaffst das?“
Ich nickte stumm. Vertraute Hände entwanden vorsichtig den groben Leinensack aus meinem starren Griff, und ich warf meinem Bruder einen dankbaren Blick zu. Er antwortete mit einem Lächeln und einem Schulterzucken. Dann zog ich ein altes, zerschlissenes Tuch aus meiner Schürzentasche und wischte mir den Schweiß von der Stirn und die Erde von den Fingern. Nichts hasste ich mehr als das Gefühl trocknenden Schlammes auf der Haut.
Allmählich ließ der stechende Schmerz nach und wich auf ein erträgliches Maß zurück. Ich atmete tief ein, dann richtete ich mich vorsichtig auf und straffte entschlossen die Schultern.

Langsam gingen wir zum Dorf zurück, das stete, quatschende Geräusch unserer Schritte seltsam laut in der Stille des anbrechenden Abends. Kian wirkte unruhig, immer wieder warf er einen Blick hinüber zum Waldrand. Ich wusste, was ihm Sorgen bereitete. Es wurde allmählich dunkel. Die Dämmerung war nicht mehr fern.

Wir waren schon fast am Tor angelangt, als ich auf einmal erschrocken bemerkte, dass das Gewicht meines hölzernes Kreuz nicht wie gewohnt um meinen Hals hing und mit jedem Schritt über meiner Brust leicht hin und her schwang. Hastig suchte ich sämtliche Taschen an meinem Rock ab, ohne das Erbstück zu finden. Und ich war mir sicher, dass es heute morgen noch da gewesen war. Ich legte es niemals ab, nicht einmal zum Schlafen, und ich konnte mich erinnern, dass ich heute während der kurzen Mittagspause einen Blick zum Waldrand hinüber geworfen hatte und dabei mit der Rechten nach dem Kreuz gegriffen hatte, das dann für einen Moment warm und glatt und beruhigend in meiner Handfläche geruht hatte. Es musste mir wohl bei der Arbeit unbemerkt über den Kopf gerutscht sein!

Ich hielt inne, und Kian sah fragend zu mir hinunter.
„Kian, ich habe mein Kreuz auf dem Feld verloren!“
„Lass es dort liegen, es wird morgen auch noch da sein...“, setzte Kian an, doch ich hatte mich bereits umgewandt und eilte zum Feld zurück. Es war das Kreuz meiner Mutter, meine letzte Erinnerung an sie. Ich konnte es einfach nicht über Nacht hier liegen lassen!
„Verdammt, Caiti, es ist schon zu spät!“, brüllte Kian mir hinterher.
„Ich bin gleich wieder da!“, rief ich und zwang meine Beine in einen noch schnelleren Schritt. Schon bald ging mein Atem unregelmäßig, und meine Lungen brannten von der kühlen Luft, die ich in japsenden Atemzügen einsog.

Hektisch suchend lief ich den ganzen Teil des Feldes ab, den ich heute bearbeitet hatte, eine Hand an meine Taille gepresst in dem Versuch, den stechenden Schmerz zu verdrängen, der mich erneut durchfuhr. Manchmal war es so verdammt lästig, eine Frau zu sein! Doch von meinem Kreuz fehlte jede Spur.

Dann verblasste der letzte Sonnenstrahl hinter dem Horizont, und die Dämmerung senkte sich einem rötlichen Schimmer gleich über das Feld. Das Licht schwand zusehends, die Schatten der Wälder rücken näher, dürren Fingern gleich schienen sie nach mir greifen zu wollen. Der Waldrand ragte plötzlich bedrohlich nahe vor mir auf.

Mir stockte der Atem, Angst bemächtigte sich meiner und lähmte mich für einige Herzschläge. Ganz langsam richteten sich die feinen Härchen in meinem Nacken auf. Ich fühlte mich beobachtet. Ich war nicht allein! Woher diese Wissen kam, vermochte ich nicht zu sagen, aber ich hätte schwören können, das ein Blick auf mir ruhte. Und dasselbe unheimliche Wissen sagte mir auch, dass dieser Jemand, der mich beobachtete, sich dort in den Schatten des Waldes verbarg.

Ich wandte mich um und starrte in die Dunkelheit zwischen den noch immer kahlen Bäumen, deren Äste im schwindenden Licht bleichen Knochen ähnelten, die in den schieferfarbenen Himmel ragten. Doch seltsamerweise wirkte der Wald auf einmal auch merkwürdig anziehend auf mich, und die dürren Finger der Äste schienen mich zu locken, nach mir zu rufen. War ich verrückt geworden? Sehnte ich mich bereits nach dem Tod? Dennoch ließ sich das Gefühl einfach nicht abschütteln. Wie gebannt starrte ich in die dunkleren Schatten des Waldes, unfähig, den Blick abzuwenden.


Ray



Die letzten Sonnenstrahlen brachen sich in glühendem Rubinrot in den Wassertropfen, die die Rinde der noch immer kahlen Bäume hinunter rannen. Die Nässe war überall, selbst die Luft schien schwerer zu sein als sonst, gesättigt von der allgegenwärtigen Feuchtigkeit. Ich hasste diese Übergangszeit zwischen Winter und Frühling, wenn die Kälte mit klammen Fingern überall Einlass fand und das Land noch in der Totenstarre des Winters gefangen war. War das Weiß im Winter die vorherrschende Farbe, dann war es zu Beginn des Frühjahrs dieses allgegenwärtige, schlammige Braun, trist, öde, trostlos.

Ein Eichhörnchen schimpfte auf einem Ast über mir keckernd nach einem Raben, und verstummte dann augenblicklich, als es meiner gewahr wurde. Ein leises Flüstern von weichen Pfoten, die über die feuchte Baumrinde huschten, und es war mit einem letzten Aufblitzen rostroten Pelzes hinter dem Stamm einer entfernten Buche verschwunden. Eine gespenstische Stille herrschte im Wald, und ich fragte mich unwillkürlich, ob ich alleiniger Urheber dieser Stille war, oder ob noch vor mir jemand durch das Unterholz geeilt war...doch der hätte im Schlamm sicherlich Spuren hinterlassen, und ich fand keine. Aber vielleicht war er ja auch einen anderen Weg gekommen...

Ich war auf dem Weg zum Dorf, wie fast jede Nacht, doch heute war ich tief in Gedanken versunken. Das Gespräch, das ich am Tag zuvor mit Jaro gehabt hatte, wollte mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. War es tatsächlich so? War ich schon in sie verliebt? War mein Versuch, mich von ihr fern zu halten, schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen? Und was sollte ich nun mit diesem Wissen anfangen? Sollte ich mich ihr zeigen? Einfach so, nach Monden des Schweigens? Würde sie mich einfach so in ihrem Leben willkommen heißen? Sie sollte es nicht tun. Ich wusste, dass es nicht gut enden konnte. Liebe endete niemals gut. Denn alles, was gut und schön ist im Leben, endet irgendwann. Und irgendwann kommt immer zu früh, hatte ich feststellen müssen.

Und doch...seit letzter Nacht wusste ich, dass es hoffnungslos war, dass der Versuch, mich von ihr fernzuhalten, zum Scheitern verurteilt war. Es hatte regelrecht geschmerzt, meine Hand aus der ihren zu lösen, als sich die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont getastet hatten und ich hatte gehen müssen, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Sie hatte leise geseufzt, als ich mich vorsichtig aus ihrer Umklammerung gelöst hatte, und dann hatte sich ihre nun leere Hand zur Faust geballt, so, als versuche sie unbewusst, meine Wärme und das Gefühl der Berührung zu behalten. Ich hatte geschluckt und mich dazu gezwungen, mich von ihr abzuwenden. Jeder Schritt, den ich mich weiter von ihr entfernte, schien unendlich mühsam zu sein, so, als wate ich durch tiefes, reißendes Wasser, das an meinen Hosenbeinen zerrte und dessen Strömung stets in ihre Richtung zu fließen schien. Es wäre so einfach, nachzugeben, zu ihr zurückzukehren.

Und doch musste ich fortgehen. Für ihre Sicherheit, aber auch, weil ich zu nahe am Abgrund taumelte. Ein falscher Schritt, und ich wäre verloren. Und irgendwie wusste ich, dass es kein Zurück mehr geben würde, wenn ich einmal fiel.
Doch je weiter ich mich von ihr entfernte, von dem schlafenden Mädchen, um dessen Mund noch immer ein so bezauberndes Lächeln spielte, desto unwohler fühlte ich mich. Meine Hand schien noch immer leicht zu glühen, und ihre Wärme, die ich noch immer auf meiner Haut zu spüren glaubte, schien einen Weg bis tief in mein Innerstes gefunden zu haben.

Das erste Mal seit dem Tod meiner Eltern hatte ich mich nicht alleine gefühlt. Es war gewesen, als sei eine schwere Last von meinen Schultern genommen worden, eine Last, die ich nie bewusst wahrgenommen hatte. Und nun war sie wieder da, die unsichtbare Last, drückte mich mit jedem Schritt, den ich mich von Caitlin entfernte, und damit auch von dem Frieden, den ich für kurze Zeit bei ihr gefunden hatte, ein wenig mehr nieder. Die Kälte schlich sich auf verborgenen Pfaden wieder in mein Herz, und mit ihr kehrte die Einsamkeit zurück.
Ich hätte mich nie als einsam bezeichnet. Doch das schale Gefühl, das mich nun erfüllte, konnte ich mir nicht anders erklären. Ich hatte immer geglaubt, dass ich es vorzog, alleine zu sein, doch dieser Morgen schien mich eines Besseren belehrt zu haben, denn ich hätte alles dafür gegeben, um nur ein wenig länger bei ihr bleiben zu können. Nur noch ein einziges Mal dieses Lächeln zu sehen, nur noch ein einziges Mal die Wärme ihrer Haut auf der meinen zu spüren. Und da wusste ich es. Ich wusste, dass ich dagegen ankämpfen konnte, doch eines Tages würde ich unterliegen. Ich war nicht so stark, wie ich geglaubt hatte, und sie hatte mehr Macht über mich, als ich mir hatte eingestehen wollen. Es war nicht mehr die Frage, ob ich nachgeben würde, sondern wann.

Es wäre so passend, wenn sie jetzt sterben würde, dachte ich bitter, während ich lautlos durch das Unterholz des Waldes huschte, auf dem Weg zu ihr, in der Hoffnung, dass es nicht bereits zu spät war. Jetzt, da ich endlich bereit war, mich ihr zu zeigen. Doch die Angst siegte rasch über die Bitterkeit.

Heute war ich früher aufgebrochen als sonst, da die Grenzwachen einen Boten geschickt hatten, der erst am frühen Abend eingetroffen war. Sie vermuteten, dass ein Vampir des Schattenclans unsere Grenzen überschritten hatte, sie hatten Spuren gefunden, hatten ihn allerdings nicht mehr einholen können. Die Spuren hatten in Richtung Nordosten gewiesen, ehe sie sich in den steinigen Hängen des Vorgebirges verloren hatten. In dieser Richtung lagen, von der Grenze aus gesehen, sowohl unsere Siedlung als auch das Dorf Gwenara.
Es konnte ein einzelner Vampir auf der Jagd sein, so etwas kam vor, wenn auch selten. Und dennoch hatten seine Spuren in direkter Linie nach Nordosten gewiesen, so, als verfolgte er ein Ziel, als wüsste er genau, wohin er wollte. Auf der Jagd gingen wir jedoch selten zielstrebig vor, wir ließen uns treiben, überließen es unserem Instinkt und unserem Geruchssinn, eine geeignete Beute aufzustöbern. Dieser Vampir hatte allerdings allem Anschein nach genau gewusst, wohin er wollte. Und das ließ genau zwei Schlüsse zu: er hatte vor, unsere Siedlung auszuspähen und zu beobachten, oder er interessierte sich für unsere Gewohnheiten, für die Menschendörfer, die wir bewachten, und deren Verteidigung. Alles wies darauf hin, dass er ein Späher war, das war zumindest der Schluss, zu dem Jaro gelangt war. Und er stellte auf jeden Fall eine Gefahr da. Sollte er jemals in die Nähe des Dorfes oder unserer Siedlung gelangen, dann mussten wir um jeden Preis verhindern, dass er seine Aufgabe zu Ende bringen konnte und etwas herausfand, das dem Schattenclan dienlich sein würde.

Jaro hatte die Wachen um die Siedlung herum verdoppelt, kaum das der Bote eingetroffen war, und sie angewiesen, die Verfolgung aufzunehmen, sollten sie des Spähers gewahr werden. Auch die Grenzwachen wurden angewiesen, aufmerksam zu beobachten, was jenseits der Grenzen vorging, denn ein Späher war immer der Vorbote eines Angriffes. Es war schon lange nicht mehr vorgekommen, dass Elenzar einen Vorstoß gegen uns gewagt hatte. Natürlich hatte es den ein oder anderen Überfall auf ein Menschendorf gegeben, aber niemals war ein Angriff auf unsere Siedlung oder die Dörfer, die uns am nächsten lagen, erfolgt. Manod war bereits näher gewesen, als er sich die letzten Jahre gewagt hatte, und seither war die Grenze öfter überschritten worden, als uns lieb war.

Unsere Grenzen erstreckte sich über viele Tagesmärsche, es war so gut wie unmöglich, alles im Auge zu behalten. Dennoch war es uns in all der Zeit immer gelungen, unsere Feinde davon abzuhalten, in unser Gebiet vorzudringen. Doch diesmal war etwas anders. Die Vampire schienen genau zu wissen, wann die Wachen wo patrouillierten. Und sie übertraten die Grenzen mit einer Regelmäßigkeit, die Anlass zur Besorgnis war. Für gewöhnlich spürten die Grenzwachen die feindlichen Vampire jedoch innerhalb kürzester Zeit wieder auf und stellten ihn. Dies war unseres Wissens der erste, dem es gelungen war, so weit vorzudringen.

Ich fragte mich, ob diese Spuren dieselben Spuren waren wie diejenigen, die ich vor Caitlins Fenster gesehen hatte. Ich hoffte, dass ich mich irrte, dass der Unbekannte vor Caitlins Fenster ein Mensch gewesen war und kein Vampir, denn sollte es ein Vampir gewesen sein...dann hatte er an meinem Geruch erkannt, dass ich bei ihr war. Und wusste daher bereits, dass ich nach wie vor über ihr wachte. Dass sie mir demnach sehr viel bedeuten musste. Zu viel. Denn meine größte Sorge war, dass Jaro und die Grenzwachen irrten und es kein Späher war, sondern ein Vampir, geschickt von Elenzar, mit einem Auftrag. Einem Auftrag zu einem Mord.
Das Mädchen, dass mir, wie ich hatte feststellen müssen, mehr bedeutete, als ich mir jemals hatte eingestehen wollen, als ich jemals zulassen wollte, befand sich möglicherweise in großer Gefahr.
Und wenn der Vampir bereits in der letzten Nacht die Grenzen überquert hatte, hatte er einen bedeutenden Vorsprung. Er konnte inzwischen überall sein, hatte vielleicht sein Ziel bereits erreicht. Bei diesem Gedanken trieb ich mich zu noch größerer Eile an.


Caitlin



Aus den Augenwinkeln sah ich noch einen verschwommenen Schatten, der in einer unglaublichen Geschwindigkeit auf mich zueilte. Im nächsten Augenblick verlor ich den Boden unter den Füßen und fand mich wenig später an den dicken Stamm einer alten Eiche gepresst.

Ich wurde so eng an den Baum gedrückt, dass ich mich nicht mehr rühren konnte. Kräftige Arme fesselten meine Hände über meinem Kopf. Der Griff war beinahe sanft, doch ich wusste, dass ich ihm dennoch nicht entkommen konnte – obwohl sich die breiten Hände nur locker um meine schlanken Handgelenke legten, spürte ich doch die eiserne Stärke, die ihnen innewohnte. Die raue Rinde bohrte sich in meine Handrücken, feucht, kühl und unnachgiebig.

Zu Tode erschrocken sah ich auf – und blickte in bekannte, braune Augen, die mich wütend anfunkelten, und ich glaubte, einen Schimmer von Rot in ihren Tiefen zu erkennen. Ich zuckte zusammen.
„Ray...“, hauchte ich. Mehr brachte ich nicht heraus. Er presste mich jetzt noch dichter an den Baum, und ich konnte ihn am ganzen Körper spüren, sein warmer Atem strich über meine Wangen. Mir wurde schwindelig. Noch nie war ich jemandem so nahe gewesen. Selbst mein Bruder, der mich oft in den Arm genommen hatte, um mich zu trösten, wenn ich wieder einmal aus einem meiner Alpträume geschreckt war, hatte mich nie so umarmt. Er hatte seine großen, warmen Hände auf meine Schultern gelegt und meinen Kopf an seine Brust gedrückt, aber der Rest meines Körpers war stets eine Handbreit von ihm entfernt gewesen.

„Du hast dein Wort gebrochen!“ fuhr Ray mich jetzt an. Sein Gesicht war vollkommen unbewegt, doch ich gewahrte den Zorn in seiner Stimme, den er nur mühsam beherrschte. Seine Augen schienen Funken zu sprühen.
„Was kümmert es dich? Du bist einfach aus meinem Leben verschwunden. Du hattest mich vergessen!“ Meine Stimme klang nicht so aufgebracht, wie sie es hätte sollen, doch der Schreck saß mir noch immer in den Gliedern. Und ich hatte den leisen Verdacht, dass es nicht nur die Angst war, die mir den Atem geraubt hatte. Er ragte über mir wie ein Rachegott, so nahe, wie er mir noch nie zuvor gewesen war. Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich dazu, all das zu ignorieren. Ich fürchtete ihn nicht. Daran hatte sich nichts geändert. Und ich war...wütend. Die widersprüchlichsten Empfindungen jagten rasend schnell durch mich hindurch, und ihre Intensität verwirrte mich.

„Ich hatte dich nicht vergessen, wie kommst du denn darauf! Ich hatte dir mein Wort gegeben, auf dich acht zu geben, und ich halte mein Wort!“, zischte er. Ich schrak vor seinem eisigen Tonfall zurück, doch er half mir auch dabei, wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Tief in meinem Inneren trugen nun der Zorn und der Trotz den Sieg davon. Ich wusste, dass ich ihm versprochen hatte, mich vom Wald fern zu halten. Und Herrgott, bis zum heutigen Tag hatte ich das auch wirklich getan! Ich war nur kurz umgekehrt, um nach meinem Kreuz zu suchen. Ich war nicht einmal in die Nähe des Waldrandes gekommen! Und da wagte er es, mir vorzuwerfen, ich hätte mein Wort gebrochen! Er, der ohne ein Wort des Abschiedes einfach verschwunden war!

„Vier Monde, Ray! Es waren vier Monde! Ohne eine Nachricht! Natürlich hattest du mich vergessen! Warum sonst bist du so plötzlich wieder verschwunden?“, rief ich mit vor unterdrückter Wut bebender Stimme. Was fiel ihm ein, jetzt aufzutauchen und mich zurechtzuweisen!
Er wandte den Blick ab.
„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig!“, schleuderte ich ihm entgegen. „Du hast deine Pflicht getan und mich gewarnt, jetzt kannst du wieder verschwinden, wie du es das letzte Mal getan hast! Ich musste zurück, und so bin ich eben gegangen!“, fügte ich leise und giftig an.

„Allein?! Ohne Begleitung?! Der Wald ist gefährlich, wie oft soll ich dir das noch sagen!“, brüllte Ray, der jetzt vollends die Beherrschung zu verlieren schien. „Was zum Teufel ist mit dir los? Begreifst du die Bedeutung des Wortes Gefahr nicht?“
„Kian ist in der Nähe. Und außerdem kann ich selbst auf mich Acht geben, danke!“ erwiderte ich trotzig.
Meine Knie wurden weich unter seinem eindringlichen Blick, der bis tief in mein Innerstes zu sehen schien. Ich war dankbar, dass er mich nach wie vor fest gegen den Baum presste und mich so aufrecht hielt. Außerdem fühlte es sich unglaublich gut an, seinen warmen Körper so nahe an meinem zu spüren. Es fühlte sich richtig an. Energisch schüttelte ich den Kopf, um wieder klar denken zu können.

„Was bist du nur für ein stures Menschenmädchen, Caitlin! Willst du unbedingt sterben? Weißt du nicht, dass du in Lebensgefahr schwebst, sobald du die Palisaden verlässt? Du bist Elenzar entkommen! Er wird nicht eher ruhen, bis er dein Blut getrunken hat!“ Zornig blitzten die braunen Augen und bohrten sich in meine.
„In letzter Zeit haben sie sich so weit in unser Gebiet vorgewagt wie noch nie zuvor. Wir haben die Wachen verdoppelt, aber das heißt nicht, dass sich ein einzelner Vampir nicht unbemerkt an ihnen vorbei schleichen kann. Weißt du, wie knapp du das letzte Mal dem Tod entronnen bist? Hast du eine Vorstellung davon, was Elenzar mit dir gemacht hätte, wenn ich nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen wäre? Er ist ein Vampir des Schattenclans! Sie ernähren sich von Euresgleichen! Muss ich noch deutlicher werden, Caitlin? Muss ich dir beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn allmählich das Leben aus dir herausrinnt? Wie du dich fühlst, wenn dir bewusst wird, dass dies das Ende ist, dass es der letzte Atemzug ist, den du jetzt tun wirst? Dann ist es vorbei, Mädchen! Wenn er dir zu viel Blut genommen hat, kann dir niemand mehr helfen!“

Ich schauderte leise. Seine Worte beschworen ein unwillkommenes Bild vor meinem inneren Auge herauf – rotglühende Augen, die mich gierig anstarrten, blitzende Zähne, die sich mir näherten, meine Kehle aufrissen, mein Blut tranken – der metallische Geschmack von Blut füllte auf einmal meinen Mund, und mir wurde übel. Die Angst, so lange zurückgedrängt, brach sich Bahn. Ich war schwach. Hilflos und schwach. Mir wurde heiß, dann kalt. Eiskalt. Ich zitterte.

„Ich kann nicht immer in der Nähe sein und dich retten, weißt du“, fuhr Ray leise fort; er löste den Griff um meine Handgelenke, umfasste meine Schultern und schüttelte mich leicht, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
„Meine Cousins sind talentierte Jäger, warum musstest du ausgerechnet heute, wenn sich dieser vermaledeite Vampir wahrscheinlich auch noch irgendwo hier in der Nähe aufhält...“, redete er sich allmählich wieder in Rage. „Merktest du nicht, in welch einer Gefahr du dich befandest? Begreifst du nicht, wie gefährlich wir sind? Ich ... es ist schon schwer genug, dich zu beschützen, musst du es mir noch schwerer machen?“, brach es schließlich aus ihm heraus.

„Warum machst du dir überhaupt die Mühe? Was kümmert es dich? Lass mich doch einfach diesem Elenzar!“
„Als ob ich das könnte! Verdammt noch mal, merkst du denn nicht... !“, rief Ray aufgebracht.
„Was soll ich denn merken? Dass ich nur ein unzulänglicher Mensch bin, der zu tollpatschig ist, auf sich acht zu geben? Dass ich zu schwach bin, eine hilflose Beute? Dass ich ständig bedroht werde und mich nirgends mehr sicher fühlen kann? Dass ich dir eine Last bin?“

„Dass ich es nicht ertragen würde, dich zu verlieren! Dass du mir zu viel bedeutest!“ flüsterte Ray und schluckte. Seine Augen wurden weich. In ihren braunen Tiefen glaubte ich noch immer ein Glühen zu erkennen, doch es war anders als zuvor. Sanfter, aber nicht weniger eindringlich, und seltsam entschlossen, so als hätte er nach reiflicher Überlegung eine Entscheidung getroffen.

Ich starrte ihn wie gebannt an. Ich brachte keinen Ton heraus. Unsere Blicke trafen sich, verfingen sich ineinander, ließen sich nicht mehr los. Meine Welt löste sich auf, die Teile trudelten eine Weile haltlos umher, bis sie sich schließlich zu einem völlig neuen Bild zusammenfügten.

Ray löste zögernd seine Hände von meinen Schultern. Vorsichtig umfasste er mein Gesicht. Die Hitze seiner Handflächen schien mich zu wärmen wie ein offenes Feuer, dem man zu nahe kommt, und ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. Die Wärme schien einem feurigen Strom gleich durch meine Adern zu fließen und breitete sich bis in meine Zehenspitzen aus. Wie gebannt starrte ich ihn an, überwältigt von diesen mir völlig unbekannten Empfindungen, und in seinen Augen las ich dasselbe Staunen, aber auch eine Intensität und Versunkenheit, die mein Herz schneller schlagen ließen.

Er neigte den Kopf, sein Gesicht kam immer näher, bis seine glühenden Augen zu einem einzigen braunen Fleck verschwammen, und dann berührten seine Lippen vorsichtig und zaghaft die meinen.
Ein Schauer durchrieselte mich. Wie von selbst fanden meine Hände ihren Weg in seine Haare und vergruben sich in den weichen Locken in seinem Nacken. Langsam, beinahe unwillig, löste er seinen Mund von meinem und wich ein wenig zurück, um mir in die Augen sehen zu können. Sein hungriger, flammender Blick traf auf meinen, suchte mein Einverständnis und fand es. Mit einem leisen Seufzen legten sich da seine Lippen erneut auf meinen Mund, sanft und warm, aber nicht mehr ganz so zaghaft wie zuvor. Seine Arme schlangen sich fest um mich, zogen mich noch näher an ihn heran. Ich spürte ihn jetzt am ganzen Körper, seine Wärme durchdrang die Stoffschichten, die uns voneinander trennten. Seine Zungenspitze fuhr zärtlich über meine Unterlippe, öffnete behutsam meinen Mund, und meine Knie wurden weich. Er stöhnte leise, als seine Zunge die meine berührte, ein überraschter, tiefer Laut, der in meinem Mund wiederhallte, und da begann ich haltlos zu zittern. Nur seine Arme hielten mich jetzt noch aufrecht. Der Kuss wurde drängender, stürmischer.

„Caiti!“, hörte ich da meinen Bruder wie aus weiter Ferne nach mir rufen. Ich blinzelte verwirrt, es war, als hätte mich ein Kübel eiskaltes Flusswasser aus einem wunderschönen Traum gerissen. Einen Augenblick lang verschmolzen meine Augen mit Rays, dann war er verschwunden. Schmerz durchfuhr mich, und zugleich verspürte ich eine wilde, verzweifelte Freude. War das schon wieder ein Abschied? Kaum hatte ich ihn gefunden, verlor ich ihn schon wieder. Er war einfach nicht greifbar, mehr ein Traum als Realität. Doch der Kuss eben war kein Traum gewesen! Zaghaft fuhr ich mir mit den Fingern über die Lippen. Sie fühlten sich fremd an, beinahe ein wenig geschwollen.


Ray



Ich wollte eben aus dem Wald treten, als ich sie sah. Sie stand wenige Schritte vom Waldrand entfernt – und blickte mir geradewegs in die Augen. Nicht, dass ihre Augen bei der anbrechenden Dämmerung die Schatten, die mich im Wald verbargen, zu durchdringen vermocht hätten. Dennoch fuhr mir dieser Blick einem flammenden Pfeil gleich durch das Herz.
Und dann spürte ich die Wut, die sich auf einmal meiner bemächtigte. Was hatte sie hier zu suchen, so kurz vor Einbruch der Dunkelheit? Wollte sie sich absichtlich in Gefahr begeben? Bedeutete ihr ihr Leben so wenig, oder war es gar bloße Gedankenlosigkeit? Sie sollte es besser wissen! Hatte ich sie nicht erst vor vier Monden aus demselben Wald gerettet? Tat sie das absichtlich, damit ich immer und immer wieder mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass ich sie nicht verlieren konnte? Brachte sie sich bewusst in Gefahr, um mich dazu zu zwingen, mir meine Gefühle für sie einzugestehen?

Ehe ich mich versah, war ich auch schon aus meiner Deckung heraus, hatte sie an mich gezogen und war mit ihr einen Steinwurf weit in den Wald gerannt, außer Hörweite ihres Bruders, der in der Nähe der Palisaden auf sie wartete. Ich presste sie gegen einen Baum, ließ ihr damit keine Chance, mir zu entkommen. Ich wollte Antworten, ich wollte eine Erklärung, und ich wollte sicherstellen, dass sie die Gefahr begriff, in der sie schwebte.

Ich konnte nicht verhindern, dass meine Augen vor Zorn blitzten, und meine Wut schien dazu zu führen, dass sie trotzig wurde wie ein kleines Kind. Sie wollte nicht über sich und ihr Leben bestimmen lassen, das erkannte ich nur zu deutlich. Ich glaube sogar, dass sie irgendwann begriff, dass sie unvernünftig gehandelt hatte – vielleicht war es ihr auch von Anfang an bewusst gewesen. Als ich ihr vor Augen führte, wie real die Gefahr war, die von Elenzar und dem Schattenclan ausging, sah ich Angst in ihren Augen. Diese Angst schien ein unglaublich starkes Bedürfnis in mir zu wecken, sie vor allem und jedem zu beschützen und niemals zuzulassen, dass ihr ein Leid geschah. Doch ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Ich musste ihr die Gefahr begreiflich machen, oder jeder Versuch, sie zu schützen, war zum Scheitern verurteilt.

Und als sie mich dann fragte, warum es mich kümmerte, ob sie nun starb oder nicht, und warum ich Elenzar nicht sein Werk vollenden lassen wollte, als ich das Bild vor meinem inneren Auge sah – Caitlin, todesbleich, die sanften blauen Augen bar jeden Lebens- durchfuhr mich die Erkenntnis wie ein Donnerschlag. Ich konnte sie ganz einfach nicht verlieren. Ich konnte sie genauso wenig verlieren wie den kleinen Marlon, Aiden, Elaine oder Jaro – weil sie irgendwie den Weg in mein Herz gefunden hatte. Jaro hatte recht gehabt.
Ich war verloren, und ich wusste es.

Diese großen, kornblumenblauen Augen sahen jetzt wie gebannt zu mir auf, und ich verlor mich in ihren Tiefen. Fast ohne mein Zutun senkten sich meine Lippen auf ihren weichen Mund. Zart und warm und so weich schmiegten sie sich an die meinen – wollte sie das? Mühsam zwang ich mich dazu, ein wenig zurückzuweichen, und blickte suchend in ihre Augen. Ein Feuer schien in ihnen zu brennen, so heiß und lodernd wie in den meinen. Ich spürte, wie sich ihre kleinen Hände in meinem Haar wanden, und mit einem erleichterten Seufzen, das irgendwo tief aus meinem Inneren zu kommen schien, legte ich meinen Mund erneut auf den ihren.

Meine ganzer Körper schien in Flammen zu stehen. Lodernde Flammen, die mich verzehrten. Meine Sinne waren wie benebelt, das Blut sang in meinen Adern, und ich spürte einen unwiderstehlichen Drang, sie an mich zu pressen und zu verschlingen. Immer fester pressten sich meine Lippen auf die ihren, so weich und warm und einladend, und dann öffnete sich ihr Mund unter dem meinen. Ich spürte, wie ich immer mehr die Kontrolle über mich verlor, ein tiefes Stöhnen entwischte mir, ein beinahe animalischer Laut, und ich konnte einfach nicht genug bekommen, es war, als schrie alles in mir nach Mehr, Mehr, MEHR...

„Caiti!“, schnitt der Ruf ihres Bruders einem Messer gleich durch die Stille des Waldes. Wie war er so schnell so nahe gekommen, ohne dass ich etwas bemerkt hatte? Mit einer Willensanstrengung, derer ich mich nicht mehr für fähig gehalten hatte, riss ich mich von ihr los. Gerade eben ging die Sonne unter, der unbekannte Vampir durchstreifte noch immer ungehindert unsere Wälder, die Menschen durften uns nicht gemeinsam sehen, sonst lief sie Gefahr, als Verräterin hingerichtet zu werden, ich wusste nicht, inwieweit ich ihrem Bruder trauen konnte, und ich konnte es mir jetzt nicht leisten, so abgelenkt zu sein, wenn sich Caitlin derart offensichtlich in Gefahr befand!

Ich verfluchte mich innerlich für meine Unaufmerksamkeit. Was hatte sie nur mit mir gemacht? Ich hatte nicht die Absicht gehabt, sie zu küssen! Ich hatte sie zurechtweisen, sie vor der Gefahr warnen wollen, in der sie schwebte, der sie sich so völlig bedenkenlos ausgesetzt hatte. Ich war wütend gewesen. Schon dieser Zorn war eine völlig neue Erfahrung für mich.

Dieses Mädchen durchbrach sämtliche Schutzschilde, die ich so sorgsam um mein Innerstes errichtet hatte, vollkommen mühelos! Sie besaß eine gefährliche Macht über mich. Sie konnte mich zerstören, vollkommen und restlos. Und doch schlug mein Herz noch immer in einem unglaublich schnellen Rhythmus, und eine tiefe Freude und ein Gefühl des Friedens durchströmten mich, wie ich es noch nie verspürt hatte...

Irgendwo tief in meinem Inneren fragte ich mich, ob es bei meinem Vater vielleicht ähnlich gewesen war. Vielleicht gab es noch etwas anderes als den Schmerz und den Hass. Und vielleicht, nur vielleicht, gab es manchmal etwas, das es wert war, den Schmerz zu ertragen. Ich fragte mich, ob mein Vater, hätte ich ihn gefragt, nicht vielleicht sogar geantwortet hätte, dass er nichts bereute. Dass das Glück, das er bei meiner Mutter gefunden hatte, all das wert gewesen war.


14. Ein Licht in der Dunkelheit



Caitlin



Erst jetzt wurde mir bewusst, wie dunkel es bereits geworden war, nur noch ein schwacher Lichtschimmer drang durch das spinnennetzähnliche Gewirr von Ästen über meinem Kopf, deren Schatten in dem leichten Windstoß, der mit einem unheilverkündenden, hohen Pfeifton durch die Bäume strich, seltsame Muster malten und mir den Blick erschwerten. Bis auf diesen gespenstisch klingenden Laut war der Wald unheimlich still, und obschon ich mir sicher war, dass Ray in der Nähe war und mich beschützte, konnte ich dennoch nicht verhindern, dass mir ein leiser Schauer der Furcht über den Rücken rann. Zu deutlich standen die Bilder, die Ray mit seinen warnenden Worten gemalt hatte, noch vor meinen Augen. Keinen Augenblick länger wollte ich hier verweilen.

Erneut drang Kians Stimme zu mir herüber, und ich vernahm einen drängenden, beinahe schon verzweifelten Unterton in seinen Worten. Rasch wandte ich mich um und ging zurück zum Feld, in die Richtung, aus der die Rufe kamen. Und dann sah ich ihn, als ich mich dem Waldrand näherte, ein schattenhaftes Schemen gegen den sich verdunkelnden Himmel, das sich mir näherte und an Gestalt gewann. Er lief mir entgegen, und ich beschleunigte meine Schritte, stolperte über eine aus dem Waldboden ragende Wurzel in meiner Hast, konnte mich aber gerade noch mit der linken Hand abfangen. Ein spitzer Ast bohrte sich in das weiche Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger, und ich fühlte, wie mir ein wenig Blut warm über die Hand lief, doch es war keine gefährliche Verletzung, und so biss ich die Zähne zusammen und rannte weiter.
Wir trafen uns genau am Waldrand. Die Sonne war schon hinter dem Horizont verschwunden, doch ein letzter Rest Helligkeit war noch geblieben, auch wenn ich jetzt, da die Bäume mir nicht mehr den Blick versperrten, bereits die ersten Sterne am Himmel blinken sah. Elian, der Abendstern, leuchtete strahlend hell über dem dunklen Schatten des Palisadenzaunes, der sich in der Ferne deutlich gegen den Himmel abhob.

Mein Bruder fasste mich an den Schultern und sah mir prüfend ins Gesicht. Ich war dankbar für die Dämmerung. Vielleicht verbargen die Schatten meine glänzenden Augen und meine geröteten, erhitzten Wangen vor ihm.
„Caiti! Geht es dir gut?“, fragte Kian fast ein wenig panisch, umfasste mein Gesicht und drehte es so, dass er meine Augen sehen konnte. Ich zuckte ein wenig zusammen, und er bemerkte auf einmal, dass ich meine linke Hand fest mit der Rechten umklammerte. Vorsichtig löste er meinen Griff und besah sich die Verletzung im trüben Dämmerlicht. Ich sog zischend die Luft ein, als er das Blut mit seinem Ärmel rasch aber dennoch sorgsam fortwischte, damit er die Wundränder genauer betrachten konnte. Er wusste genauso wie ich, dass er das Hemd damit verdarb, denn ich würde die dunklen Flecken nie wieder aus dem Stoff herauswaschen können, und deswegen fand ich diese fürsorgliche Geste seltsam rührend. Nachdem er die Wunde eingehend betrachtet hatte und sich damit vergewissert hatte, dass ich nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebte, sah er mich fragend an, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengekniffen.
„Es war nur ein Ast, ich bin gestolpert und habe versucht, mich aufzufangen. Es geht schon“, beruhigte ich ihn. Er riss wortlos einen Streifen vom Saum seines Hemdes ab und verband mir die Wunde vorsichtig. Dafür, dass er so kräftig war, konnte er erstaunlich sanft sein.
Als er den notdürftigen Verband angebracht hatte, sah er tief in meine Augen, und ich wappnete mich innerlich. Die seinen schienen Funken zu sprühen. Ich kannte ihn gut, ich wusste, was nun folgen würde. Unwillkürlich zog ich die Schultern ein wenig hoch.
„Verdammt, Mädchen, was hast du getan? Erst rennst du zum Feld zurück, und dann gehst du auch noch in den Wald! Hast du einen Todeswunsch? Was ist nur in dich gefahren?“ Kian schüttelte mich leicht, und ich brachte keinen Ton über die Lippen.
„Wer war da im Wald, Caiti? Mit wem hast du gesprochen?“, drang er weiter in mich.
„Niemand...ich war allein...da ist niemand“, murmelte ich und wich seinem Blick aus. Ich war eine erbärmliche Lügnerin, und noch ehe die Worte meinen Mund verließen wusste ich, dass er mir nicht glauben würde.
„Ist es wieder dieser Vampir, Caiti? Verdammt, sieh mich an, wenn ich mit dir rede!“ Forschend blickte mein Bruder mir in die Augen. Ich versuchte, mein Gesicht zu einer ausdruckslosen Maske erstarren zu lassen, so, wie ich es ihn schon oft hatte tun sehen, wenn er mit den Wachen sprach, doch er durchschaute mich. Er kannte mich zu gut. Was er in meinen Augen las, ließ ihn erbleichen.
„Ich wusste es!“, keuchte er. „Mein Gott, Caiti, weißt du, was du da tust? In welch eine Gefahr du dich begibst? Er ist ein Vampir, verdammt noch mal! Er ernährt sich von Menschen!“
„Das tut er nicht! Und er hat mir jetzt schon zwei Mal das Leben gerettet, das weißt du!“, widersprach ich ihm heftig.
„Selbst, wenn es so sein sollte – Caiti, wenn euch jemand erwischt...! Das kann nicht gut enden, und du weißt das!“
Ich schluckte. Ja, ich wusste, dass er recht hatte. Welche Zukunft konnten Ray und ich schon haben? Ich gehörte in meine Welt und er in die seine. Doch allein der Gedanke, ihn nie wieder zu sehen...
Ich hatte gewusst, dass Kian es nicht gutheißen würde. Wie konnte er auch? Ich war seine Schwester. Aber ich wusste ebenfalls, dass mein Bruder mich nie verraten würde. Einen langen Moment spürte ich seinen Blick auf mir ruhen, und dann fasste er mich an meinem unverletzten Handgelenk und eilte so schnell auf das Dorf zu, dass ich nur mühsam Schritt halten konnte. Ich hatte den leisen Verdacht, dass er mich notfalls hinter sich her geschleift hätte, ich wusste selbst, dass uns nur noch sehr wenig Zeit blieb, und so zwang ich meine müden Beine in eine noch schnellere Bewegung. Binnen weniger Augenblicke ging mein Atem unregelmäßig und keuchend, und meine linke Hand begann, schmerzhaft zu pochen.

Als wir am Tor anlangten, fanden wir es bereits für die Nacht verschlossen, und mein Herz machte einen erschrockenen, beinahe schmerzhaften Satz in meiner Brust. All dies war meine Schuld, und wenn wir jetzt zu spät waren - doch dann stellte ich erleichtert fest, dass der Schatten der Sonnenuhr noch leicht erkennbar war und wir es also gerade noch rechtzeitig zum Dorf geschafft hatten. Die Sonnenuhr waren kunstvoll angefertigte, reich verzierte Zeiger aus filigranem Eisen, die an allen vier Seiten des höchsten der drei Wachtürme angebracht worden waren und so von jedem der Felder aus gesehen werden konnte. Sie zeigte uns die Tageszeit an, je nachdem, auf welches der drei Bilder der Schatten fiel, und wenn der eiserne Zeiger keinen Schatten mehr warf, wurde der schwere Riegel innen vor das Tor gelegt, und es durfte dann bis zum Sonnenaufgang nicht wieder geöffnet werden. Alle, die das Dorf nicht erreichten, bevor es verriegelt wurde, wurden zu den Verlorenen gezählt, und das kam einem Todesurteil gleich.
„Öffne das Tor für uns, Wachmann!“, rief Kian jetzt dem Wächter zu, der oben auf dem schmalen Wehrgang saß. Ich fragte mich, warum er das Tor überhaupt schon geschlossen hatte, wenn die Sonnenuhr noch immer einen Schatten warf. Dann hob der Wachmann den Kopf – und ich fuhr keuchend zurück. Breite Schultern und ein Schopf, der im flackernden Licht der Laterne rostrot schimmerte - Kellan grinste wissend und überheblich zu uns hinunter und verschränkte lässig die Arme auf der Brüstung.
„So spät noch unterwegs? Was hattet ihr so lange da draußen zu suchen? Meines Wissens liegt euer Feld nicht einmal auf halbem Wege zum Fluss, und Colum, dessen Feld am weitesten vom Tor entfernt ist, ist längst zurück. Was hat euch aufgehalten? Ein Vampir vielleicht?“, rief er uns zu. Seine Zähne blitzten im Licht der Fackel, die zu seiner Rechten in einer eisernen Halterung brannte, und sein Lächeln war geradezu wölfisch. Der Ausdruck eines Raubtieres, das Beute wittert, schoss es mir durch den Kopf.
Ich erbleichte. Er war so verdammt nahe an der Wahrheit. Noch immer konnte ich Rays Lippen auf den meinen spüren, und mir war, als trüge ich ein sichtbares, glühendes Zeichen, das mich als Verräterin brandmarkte. Ob er es wohl auch sah, dass ich eine andere war als zuvor?
„Die Sonne ist gerade erst untergegangen, Kellan, und die Sonnenuhr zeigt noch einen Schatten“, meinte Kian beschwichtigend. Ich bewunderte ihn für seine Ruhe, mir selbst war vor Angst regelrecht übel geworden. Kellan hatte uns in der Hand, und er wusste es. Ich hatte den Verdacht, dass er auf eine solche Chance regelrecht gelauert hatte. Und es war allein meine Schuld, dass wir uns jetzt in dieser Situation befanden. Der Gedanke daran, dass mein Bruder nur meinetwegen in Gefahr schwebte, weil ich unvorsichtig gehandelt hatte – ich würde es mir nie verzeihen, sollte er um meinetwillen bestraft werden. Aber mit dieser Last würde ich dann auch nicht lange leben müssen, dachte ich bitter.
„Lass uns hinein“, forderte Kian.
Kellan musterte mich nachdenklich. „Das werde ich“, meinte er schließlich langsam. „Aber nur für einen Kuss von der Kleinen da!“ Sein Blick schweifte über meine Lippen und blieb schließlich an meiner Brust hängen. Unwillkürlich zog ich das wollene Schultertuch noch fester um mich. Ich fühlte mich auf einmal schrecklich entblößt, obwohl Kellan sicherlich nicht viel zu erkennen vermochte - dank meiner weiten Arbeitskleidung und dem spärlichen Licht der Fackel, deren Schein uns nicht ganz erreichte, konnte er vom Wehrgang aus wohl nur unsere dunklen Umrisse gegen den etwas helleren Nachthimmel erkennen.
„Komm schon, Schätzchen, du willst es doch auch!“ Er lachte leise und siegesgewiss, und mir wurde übel bei dem Gedanken, diesen breiten, harten Mund auf dem meinen zu spüren. Nicht, nachdem ich soeben erfahren hatte, wie tief mich ein Kuss berühren, wie er seine Spuren in meinem Herzen hinterlassen konnte. Noch immer konnte ich Rays süßen Atem riechen, wie er warm über mein Gesicht gestrichen war, und die weichen Lippen fühlen, die sich auf die meinen gelegt hatten, so unendlich zart zunächst und dann ein wenig stürmischer, so, als könnte er nicht länger wiederstehen...
Jetzt von Kellan zu so etwas gezwungen zu werden, würde der Entweihung eines Heiligtums gleichkommen, es würde den schönsten Moment meines Lebens in den Schmutz ziehen. Ganz zu schweigen davon, dass ich damit meinen Ruf vernichten würde, denn ein Kuss ohne ein vorheriges Eheversprechen würde meine Ehre auf ewig beflecken. Ich würde es tun, wenn es denn sein musste, um unser beider Leben zu retten, aber ich spürte auf einmal auch einen leidenschaftlichen Hass in mir auflodern, dessen ich mich zuvor nicht für fähig gehalten hatte. Nur mühsam hielt ich meinen Zorn im Zaum, denn ich wusste sehr wohl, dass Kellan eindeutig im Vorteil war. Wut und Angst rangen einen wilden Kampf miteinander, ehe schließlich die Angst den Sieg davontrug.
Augenblicklich schob sich Kian vor mich und schirmte mich dadurch vor Kellans lüsternen Blicken ab.
„Das werde ich nicht zulassen! Verdammt, jetzt lass uns hinein, du hast kein Recht, uns hier draußen festzuhalten!“, knurrte er. Er stand aufrecht und stolz, jede Faser seines Körpers angespannt, für einen Kampf bereit. Doch das hier war ein Kampf, der nicht mit Körperkraft gewonnen werden konnte, und das wusste er ebenso gut wie ich.
„Hüte deine Zunge!“, zischte Kellan leise und giftig, und ich gewahrte erstaunt, dass Kian ein wenig zusammenzuckte und die Hände an seinen Seiten zu Fäusten ballte. Dann sanken seine Schultern wie besiegt herab, und er senkte den Kopf. Es war, als habe Kellan eine für mich unhörbare Drohung ausgesprochen. Ich hatte meinen Bruder bis zum heutigen Tag als sehr furchtlosen Mann kennen gelernt. Irgendetwas musste Kellan gegen ihn in der Hand haben, anders konnte ich mir seine Reaktion nicht erklären.
„Kellan, es ist noch nicht zu spät. Wir sind vor dem Wachwechsel hier angelangt, wir haben also nicht gegen die Regeln verstoßen!“, versuchte Kian es noch einmal, diesmal sehr viel leiser und in respektvollem Ton. Der Wachwechsel erfolgte für gewöhnlich gleichzeitig mit dem Schließen des Tores.
„Oh, da wäre ich mir nicht so sicher. Denn seht – soeben verblasst auch der letzte Schatten. Jetzt seid ihr also zu spät. Es sei denn, die Kleine würde mir doch noch einen Kuss gewähren...“
„Nur über meine Leiche!“, schnappte Kian.
„Dann eben nur so!“, grinste Kellan.
Mich schauderte. Ich wusste, worauf er anspielte. Wenn er uns den Zutritt zum Dorf verwehrte und wir bei Eintreffen der Wachablösung immer noch vor den Toren standen, wurden wir zu den Ausgestoßenen gezählt. Dann hatten wir die Wahl, entweder unser Glück in den Wäldern zu versuchen oder im Morgengrauen zurück nach Gwenara zu gehen, um des Verrates angeklagt und verurteilt zu werden. Und dann, wenn ich eine Gefangene in den Verliesen unter dem Ratshaus war, konnten die Wachen mit mir verfahren, wie es ihnen beliebte. Sie waren unter der Erde das Gesetz. Ich wusste von Duncan, was dort unten geschah – das wenige, was er bereit war, mir zu erzählen. Was dort mit Frauen geschah...ich spürte einen sauren, schalen Geschmack im hinteren Teil meines Mundes, als sich die Übelkeit einen Weg meinen Hals hinauf brannte.

„Was ist hier los?“, hörte ich da eine vertraute Stimme fragen, und ich weinte beinahe vor Erleichterung, als ich den hellblonden, wild zerzausten Haarschopf sah, der jetzt im Schein der Fackel oben auf dem Wehrgang erschien. Mein Herz raste noch immer wie wild in meiner Brust, als wolle es davonrennen, während meine Füße bewegungslos am Boden festgefroren zu sein schienen, und wieder einmal war ich froh darüber, dass ich in Gegenwart meines Bruders nicht würde sprechen müssen. Ich hätte keinen Ton über die Lippen gebracht.
„Duncan...Kellan will uns nicht durch das Tor lassen! Wir waren vor dem Wachwechsel hier, aber er besteht darauf, uns den Einlass zu verwehren“, erklärte Kian mit ruhiger Stimme unsere Situation, und nur die Art, wie er seine linke Hand in rascher Abfolge zur Faust ballte und wieder entspannte, verriet mir, wie nervös er tatsächlich war.
„Lass die beiden hinein, sie haben nicht gegen die Regeln verstoßen. Nun komm schon, Mann! Ab jetzt ist es mein Wachdienst, und da sie hier waren, ehe ich ihn angetreten habe, werde ich sie hineinlassen, wenn du es nicht tust“, bestimmte Duncan. Ein leiser Fluch war zu hören, dann folgte ein dumpfes Poltern, mit dem der Riegel zur Seite geschoben wurde, und die Torflügel schwangen mit einem leisen, protestierenden Knarren ein wenig nach innen, gerade so weit, dass wir uns hintereinander durch den so entstandenen Spalt zwängen konnten.
Ich atmete erleichtert auf, und kaum war ich hindurch geschlüpft, legte Kian mir den Arm um die Schultern und ging so, dass er mich wiederum vor Kellans Blicken abschirmte. Dennoch glaubte ich, seine Augen auf mir zu fühlen, ein boshaftes Starren, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Mit einem dumpfen Poltern fiel das schwere, hölzerne Tor hinter uns wieder ins Schloss.
Ich warf meinem ältesten Bruder einen zutiefst dankbaren Blick zu. Er nickte nur. „Nun geht schon! In wenigen Augenblicken beginnt die Sperrstunde! Macht, dass ihr nach Hause kommt!“

„Warum kann er mich nicht in Frieden lassen, Kian?“, fragte ich verzweifelt, nachdem wir uns außer Hörweite der Wachen befanden und Seite an Seite durch die menschenleeren Straßen des Dorfes eilten. „Was will er nur von mir?“
„Oh, ich glaube, ich habe eine sehr gute Vorstellung davon, was er von dir will, Schwester“, meinte Kian düster. „Du hast ihn abgewiesen, aber Kellan ist kein Mann, der sich abweisen lässt. Du hast seinen Stolz verletzt. Er beobachtet uns seither sehr genau. Er wird jeden noch so kleinen Verstoß gegen die Regeln bemerken und gegen uns verwenden. Wir müssen auf der Hut sein! Heute hatten wir Glück, aber es darf nie wieder vorkommen, dass wir so spät am Tor anlangen und damit seiner Gnade ausgeliefert sind. Vielleicht verlangt er das nächste Mal mehr als einen Kuss, und nicht immer wird es Duncan sein, der ihn ablöst!“
„Es tut mir so leid, Kian!“, murmelte ich entschuldigend. Mir war bewusst, welch einer Gefahr ich uns soeben ausgesetzt hatte und wie knapp wir davongekommen waren. Ich wollte ihm nicht in die Augen sehen und blickte daher auf meine schlammbedeckten Stiefel, die mit jedem Schritt knöcheltief im Matsch versanken. Sie waren inzwischen völlig durchnässt, und ich hatte das Gefühl, mit jedem Schritt in meinen Socken zu schwimmen. Die Kälte kroch mit eisigen Fingern an meinen Beinen empor. Jetzt, da die Anspannung ein wenig nachließ, begann ich auch wieder das unangenehme Pochen in meiner Hand wahrzunehmen.
„Das will ich hoffen, Schwester“, meinte Kian, doch er klang schon etwas versöhnter.
„Ich weiß, dass ich unvernünftig gehandelt habe, glaub mir. Aber allein der Gedanke, auch noch das letzte Andenken an Mutter zu verlieren...“ Ich schluckte und rang um Fassung, und Kian warf mir einen mitfühlenden Blick zu. Es gelang mir noch immer nicht, von ihr oder meinem Vater zu sprechen ohne zu stocken. Mit Gewalt drängte ich den Gedanken an meine Eltern zurück. „Ich habe nicht nachgedacht. Und ich wäre ganz schnell wieder zurück gewesen, wäre Ray nicht gekommen“, versuchte ich zu erklären.
„Jetzt heißt er also schon Ray! Was wollte er eigentlich von dir?“
„Mich zurechtweisen. Mich vor der Gefahr warnen. Er war wütend, dass ich solch ein Wagnis eingegangen bin, als ich vorhin zurück rannte.“ Den Teil mit dem Kuss überging ich wohlweislich.
„Dann sind wir wenigstens in einem Punkt der gleichen Meinung“, schloss mein Bruder grimmig.


Ray



Mühsam zwang ich meine Hand, den beinahe schon schmerzhaften Griff um das Heft des Dolches zu lösen. Sämtliche Muskeln angespannt, lauschte ich aufmerksam auf das sich entfernende Geräusch der Menschenschritte. Zwei Paar, im Einklang miteinander, das eine schwere als das andere, und doch kannte ich beide so gut, dass ich sie unter hunderten anderen wiedererkannt hätte. Caitlin schien ihre Füße mehr vorwärts zu schleppen als dass sie ging, sie schien erschöpft zu sein, und ich hatte die dunklen Ringe unter ihren Augen bemerkt. Sie hatte ihre Schultern nicht so stolz und aufrecht gereckt wie sie es ansonsten tat, und ich hatte mich besorgt gefragt, ob sie wohl krank war, was ihr fehlte.
Mir war die Beschleunigung ihres Herzschlages nicht verborgen geblieben, als sie der Wache auf dem Wehrgang gewahr geworden war. Und dann hatte ich das rote Haar gesehen und die seltsam schleppende, höhnische Stimme vernommen, die mir nur allzu bekannt war. Ich hatte mir geschworen, niemals zuzulassen, dass er ihr zu nahe kam, doch allein die Tatsache, dass er ihr wieder einmal drohte, gar die Dreistigkeit besessen hatte, einen Kuss von ihr zu verlangen, brachte mein Blut zum kochen. Er war nichts als ein Stück Dreck, und er erdreistete sich, etwas einzufordern, das stets nur mit Liebe gegeben werden sollte. Denn alles andere war leer, bedeutungslos und falsch, so unglaublich falsch...

Ungebeten blitzte ein Bild vor meinem inneren Auge auf, meine Mutter, an die dreckige, moderige Kerkerwand gepresst, und Carums breiter Rücken, der ihre zierliche Gestalt beinahe vollständig vor mir verbarg. Aber nur beinahe, denn über seine rechte Schulter konnte ich einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Dieser Blick verfolgte mich seit jenem Tag in meinen schlimmsten Alpträumen. Es war nicht das Entsetzen, das ich zu sehen erwartet hatte. Keine Verzweiflung, keine Furcht verzerrte ihr Gesicht. Ihre Miene war ausdruckslos, ihr Blick ging ins Leere. Es war, als sei sie nicht mehr da. Als sei es ein empfindungsloser Körper, eine leere Hülle, die dort an der Wand in sich zusammengesunken war. Die Frau, die für mich da gewesen war, so lange ich hatte denken können, die immer stark gewesen war, die mich gelehrt hatte, niemals aufzugeben – diese Frau gab es nicht mehr. Meine Mutter war gebrochen. Es war ein Bild, das ich niemals vergessen würde.

Mit einem wütenden Knurren drängte ich die Erinnerung zurück und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt. Auf Caitlin, die dank ihrer Brüder in Sicherheit war. Auf ihre leisen Schritte, die sich immer mehr in der Ferne verloren. Ich atmete tief ein und aus, lies die kalte Nachtluft in meine Lungen strömen und spürte, wie allmählich die Anspannung von mir abfiel. Langsam steckte ich den Dolch zurück in die Scheide an meiner Wade, erleichtert und zugleich fast ein wenig bedauernd.
Ich war so kurz davor gewesen, einzugreifen, diesem elendigen Bastard endlich den Hals umzudrehen, wie ich es in meiner Phantasie wohl schon dutzendmal getan hatte. Er hatte nichts weniger verdient, und nach allem, was ich bereits von ihm wusste, wäre es vermutlich noch ein gnädiger Tod. Doch es gab zu viele niederträchtige Männer auf der Welt, und ich konnte Kellan nicht töten, weil mir seine Ansichten nicht zusagten. Streng genommen hatte er noch nichts getan, dass dies rechtfertigt hätte, und ich wollte Caitlins Familie nicht in Schwierigkeiten bringen weil ich mein Temperament nicht beherrschen konnte. Kian hatte wieder einmal bewiesen, dass er zu seinem Wort stand, und eben, als es schien, als müsste ich doch handeln, war der andere Bruder erschienen, den ich bis zu diesem Zeitpunkt kaum zu Gesicht bekommen hatte. Seine wahren Motive schienen andere zu sein, denn er schien sich nicht groß um Caitlins und Kians Leben zu scheren, doch er war ihnen zu Hilfe gekommen, das musste ich ihm lassen. Familienbande schienen also noch einen gewissen Wert zu haben unter den Menschen.

Ich warf einen letzten, hasserfüllten Blick zurück in Richtung des Wehrganges und entschied, dass ich zunächst ein wenig Abstand zwischen uns bringen sollte. Ich wollte nicht riskieren, doch noch Gebrauch von meinem Dolch machen zu müssen. Das wäre zu riskant gewesen, denn es hätte ein ungünstiges Licht auf Kian geworfen, war er es doch gewesen, der zuletzt in Kellans Nähe gesehen worden war. Zudem wusste ich, dass Aiden diese Nacht in der Nähe des Tores wachen würde, und ich zog es vor, ihm vorerst nicht über den Weg zu laufen. Er war stets so aufmerksam, und ich musste meine Gedanken sortieren. Alleine und ungestört. Vorzugsweise am anderen Ende des Palisadenzaunes.

***

Mit ironisch herabgezogenen Mundwinkeln betrachtete ich die kleinen Motten, die hoch oben auf dem Wehrgang um die Fackeln herum tanzten, während ich selbst meine Runden an der Mauer zog und auf die Geräusche der Nacht lauschte. Noch war Leben im Dorf, die Familien versammelten sich zu einem späten Nachtmahl am Tisch, die kleinsten Kinder wurden zu Bett gebracht und in den Schlaf gesungen. Ein seltsames Gefühl der Schwere griff nach meinem Herzen, als ich die sanften, beruhigenden Töne eines Wiegenliedes vernahm. Auch meine Mutter hatte mich in den Schlaf gesungen. Sie hatte die Bettdecke um mich herum festgesteckt, und eingehüllt in diesen warmen, weichen Kokon aus Decken hatte ich ihrer leisen Stimme gelauscht und mich den Wellen des Schlafes ergeben...

Mit einem frustrierten Seufzen schüttelte ich den Kopf. Selten hatte ich mich so verwundbar gefühlt, selten hatte die schmerzhafte Vergangenheit so dicht unter der Oberfläche meines Bewusstseins gelauert. Ich hatte einen Verdacht, dass das etwas mit der zerbröckelten Mauer zu tun haben konnte. Mit einem Ruck zwang ich mich, mich abzuwenden, so lange an den Palisaden entlang zu gehen, bis ich das verstörende Lied nicht mehr vernahm. Die abgehackten Töne eines streitenden Ehepaares drangen, durch den hölzernen Wall ein wenig abgedämpft und kaum verständlich, zu mir durch. Schon besser. Ich seufzte erleichtert und richtete meinen Blick wieder auf den hellen Lichtkegel der Fackel, die mir am nächsten war.

Wie an einer Perlenschnur aufgereiht leuchteten sie sanft in der Dunkelheit, diese Fackeln, in regelmäßigen Abständen am Palisadenzaun angebracht um den Wachen den Weg zu leuchten. Sie strahlten eine seltsame Ruhe und Geborgenheit aus, die leise flackernden Flammen, helle Lichtpunkte in der Dunkelheit der Nacht. Ich konnte es den Motten nicht verdenken, dass sie sich davon angezogen fühlten. Aufgeregt flatterten die kleinen, zerbrechlichen Flügel, so schnell, dass selbst meine Augen den Bewegungen kaum folgen konnten. Immer enger wurden die Kreise, die sie um die hellen Flammen zogen. Hin und wieder versuchte eines der Tierchen, sich von dem so anziehenden Lichtschein zu entfernen, doch die Fackeln schienen eine schon fast magische Macht auszuüben. Es gelang den Motten nie, sich völlig aus dem Lichtkegel heraus zu bewegen, ehe sie sich wieder umwandten und ihren ewigen Tanz fortsetzten, die Kreise immer enger und aufgeregter. Mit zusammengezogenen Augenbrauen beobachtete ich, wie wieder einmal eines der Insekten der Flamme zu nahe kam. In einem kurzen, hellen Lichtblitz flammten die zarten Flügel einen Augenblick auf, und in diesem Augenblick überstrahlte die todgeweihte Motte ihre Artgenossen, die nur als dunkle Schatten gegen das hellere Fackellicht erkennbar waren. Doch dann hatten die Flammen die Flügel verzehrt, und der kleine Körper fiel leblos zu Boden, nur eine unkenntlich, schwarze Masse aus verkohltem Chinin, leicht wie eine Feder. Binnen weniger Tage würde sie zu Staub zerfallen, und der Wind würde sie verwehen.
Ich fühlte mich so merkwürdig verbunden mit dieser toten, gefallenen Motte. Diese merkwürdige Strömung, die mich zu Caiti zog, die an mir zerrte und die mir keine Ruhe lies, wenn ich nicht in ihrer Nähe war. Es wäre so einfach, mich ihr hinzugeben, der Strömung nachzugeben, wie die Motten, die das Licht umschwirrten. Es war eine seltsame Macht, die sie über mich ausübte, ich misstraute ihr, da ich nicht wusste, ob ich ihr entkommen konnte, hatte ich mich erst einmal ihrem Bann überlassen. Nein, verbesserte ich mich in Gedanken, ich misstraute ihr nicht. Ich fürchtete sie. Ich fürchtete sie, wie eine Maus sich vor der Katze fürchtet. Niemals in meinem Leben hatte ich etwas so gefürchtet, nicht einmal in Carums Kerker hatte ich solche Furcht gekannt. Damals hatte ich wenigstens erahnen können, was mich erwartete. Was Caiti anbelangte, fühlte ich mich so...hilflos. Ahnungslos. Diesen seltsamen, neuen Empfindungen ausgeliefert, und alles in mir sträubte sich dagegen, das als Liebe zu bezeichnen, was ich ihr gegenüber empfand. Sie zog mich zu sich, wie das Feuer die Motte, die wissentlich in ihr Verderben rannte. Denn Feuer ist tödlich. Kommt man ihm zu nahe, verbrennt es einen zu Asche, die im Wind verweht. Vielleicht war es also doch Liebe, die ich empfand, denn ich wusste, dass Liebe ebenso unwiederbringlich zerstören konnte wie Feuer.
Und doch konnte mich selbst dieses Wissen nun nicht von ihr fern halten. Und auch wenn ich mich dagegen sträubte, es vor mir selbst zuzugeben, wusste ich doch, dass es zu spät war. Dass ich bereits in ihrem Bann war, ohne Hoffnung auf Entkommen. Denn der Kuss hatte mein Schicksal besiegelt. Der Kuss war mein Verderben. Sie hatte die Mauer zu meinem Herzen niedergerissen, und ich fühlte mich so bloß und verletzlich und zugleich so...frei. Ich hatte es niemals bemerkt, es nie wahrhaben wollen, aber die Mauer hatte mir nicht nur Sicherheit gegeben, sie hatte mich auch eingeengt, erdrückt, erstickt. Ich war es so leid, alleine zu sein, mich dort in der Dunkelheit zu verstecken. Sicherlich, es war sicherer so gewesen. Bequemer. Vertrauter. Einsamer. Kälter. Trostloser.
Es war meine Entscheidung gewesen, mich in der Strömung treiben zu lassen, die Augen zu öffnen und ins Licht zu sehen, zuzulassen, was ihre Nähe in mir auslöste. Und jetzt war ich gebannt, wie die Motte von der Flamme, und jede Hoffnung auf Rettung war vergebens.


15. Im Bann der Flammen



Caitlin



An diesem Abend ging ich sehr früh zu Bett. Nachdem ich die Türe sorgsam hinter mir verschlossen hatte, nahm ich wie schon so oft meinen Platz vor dem Fenster ein und starrte in die endlose, dunkle Nacht hinaus.

In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so erschöpft und zugleich so wach gefühlt, so lebendig und so unglaublich verwirrt. Ich wusste nicht, wie ich in Worte fassen sollte, was in mir vorging, so viele verschiedene, sich widersprechende Empfindungen jagten durch mich hindurch, alles war in Aufruhr.
Alles war so neu, so aufregend, so beängstigend und gefährlich. Und ich wusste noch nicht einmal, ob dieser Kuss, dieser bedeutendste Moment meines Lebens, etwas ändern würde, ob er ihm ebensoviel bedeutet hatte wie mir. Vielleicht würde er trotz allem nicht zurückkehren. All die Monde, die ich geglaubt hatte, er sei aus meinem Leben verschwunden, obgleich er doch jede Nacht an meiner Seite gewesen war. Unsichtbar. Ich schien ihm also nicht gleichgültig zu sein. Doch warum dieser Abstand? Warum hatte er sich von mir fern gehalten?

Irgendetwas sagte mir, dass ich heute vielleicht Glück haben würde. Ich hatte etwas in seinem Kuss gespürt, eine Sehnsucht, ein verzweifelter Wunsch nach Nähe, der dem meinen sehr ähnlich war. Ich klammerte mich an diese Hoffnung. Zugleich hallten Kians Worte nach wie vor in meinen Ohren: Das kann nicht gut enden, und du weißt das!


Ja, das wusste ich. Er war ein Vampir, ich ein Mensch. Selbst wenn er mich nicht tötete, war ich doch verloren, wenn herauskam, dass er hier gewesen war. Sollte auch nur ein Verdacht auf mich fallen, war ich verloren.
Leise stöhnend vergrub ich mein Gesicht in den Händen. Ich hatte nicht um dieses schreckliche Gewirr von Gefühlen gebeten, noch um das Chaos, in das sich mein Leben im Moment zu verwandeln schien.

Ich hatte in all meinen Träumen und vagen Vorstellungen, die ich als Kind von meiner Zukunft gehabt hatte, nur einen einzigen Wunsch gehabt. Liebe. Um mehr hatte ich nicht gebeten, und selbst als kleines Kind hatte ich gewusst, dass dies der einzige, wirklich wichtige Wunsch war. Alles andere war unwichtig, wo ich lebte, wie ich lebte, so lange ich ein Heim hatte, in dem es Liebe gab. Geborgenheit. Und selbst damals war ich mir darüber im Klaren gewesen, dass dies ein Wunsch war, der wohl unerfüllt bleiben würde. Dass Liebe in meiner Welt eine Seltenheit war, und dass ich, wenn ich sie denn jemals kennen lernen würde, mich wohl mit einem schwachen Abbild davon würde abgeben müssen. Die Menschen heirateten selten aus Liebe, und noch seltener wurde diese Liebe erwidert.
Mein ganzes Leben lang hatte ich mich vor meiner Zukunft gefürchtet, weil ich wusste, dass ich im Grunde hilflos war, dass die Entscheidungen, die über meine weiteres Leben bestimmen würden, von anderen getroffen werden würden. Ich hatte nicht um dieses Chaos gebeten, ich scheute vor der Gefahr zurück, in die ich mich begab, doch ein Teil von mir schien sie zu begrüßen.

All dies war so...neu und...aufregend. Mein Herz raste, und mein Magen zog sich auf eine seltsame, flatternde Art zusammen. Ich wusste, dass meine Wangen nach wie vor gerötet waren, niemals war mir die Nachtluft so angenehm erfrischend erschienen. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so gefühlt wie an diesem Abend – so seltsam...frei. Wie ein Vogel, der soeben den ersten Schritt über den Rand des Nestes gewagt hat, der in den Abgrund springt und darauf vertraut, dass ihn seine kleinen, noch ungeübten Flügel in der Luft halten werden. Der darauf vertraut, dass er fliegen kann.
Ich stand am Abgrund, in diesen endlosen Momenten, die ich am Fenster verbrachte und auf ihn wartete. Ich wusste, dass ich mich in große Gefahr begab, und nicht nur mein Leben, sondern auch das meiner Familie gefährdete, wenn ich ihn in mein Zimmer ließ. Und doch – ich konnte einfach nicht anders. Es war, als habe er mich mit einer uralten Magie verhext, betört, in seinen Bann gezogen. Ich war hilflos, und zugleich fühlte ich mich auch auf einmal unglaublich...stark. Denn trotz der seltsamen, unbekannten Gefühle, die Ray in mir auslöste und die uns aneinander zu binden schienen, war es mein Entschluss, ihn einzulassen.
Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich eine wichtige Entscheidung selbst getroffen, und ich fühlte mich erwachsen. Ich war bereit, zu fliegen. Und ich hoffte darauf, dass meine Flügel stark genug wären, mich zu tragen.

Und dann stand Ray auf einmal wie aus dem Nichts vor mir. Behände und lautlos landete er auf dem Fensterbrett, und ehe ich mich versah, sprang er anmutig zu mir ins Zimmer. Mit einer fließenden Bewegung wandte er sich um, und die Läden schlossen sich mit einem kaum hörbaren Klappern. Der leichte Windstoß ließ das Kerzenlicht auf meiner Truhe leise aufflackern, und die Schatten tanzten wild an den Wänden.
Ich konnte es kaum glauben, aber er war tatsächlich gekommen. Mein Herz pochte so schnell, dass ich beinahe fürchtete, es könne zerspringen. Ich sah zu ihm auf, tief in seine dunklen Augen, die bis in mein Innerstes zu sehen schienen, und mir wurde schwindelig. Das erste Mal seit Monden sah ich ihn wieder, sah ihn wirklich, denn im Wald war es zu dunkel gewesen, um viel zu erkennen. Meine Augen glitten langsam über das so seltsam vertraute Gesicht. Bilder erschienen vor meinem inneren Auge, unscharf und halb in den Nebeln des Vergessens verschwunden und so eng mit einem Gefühl der Nähe und des Vertrauens verwoben, wie ich es ansonsten nur bei Kian oder meinem Großvater empfand. Warum ich ihn an jenem Tag im Wald nicht erkannt hatte, erschien mir unbegreiflich.

Ich sog seinen Anblick in mir auf wie den ersten Sonnenstrahl nach einem langen, eisigen Winter. Ich wusste nicht, wie lange er dieses Mal bleiben würde, und ich wollte jeden einzelnen Augenblick in mein Gedächtnis brennen.
Jetzt, da ich ihn im hellen Schein der Kerze genauer betrachten konnte, erkannte ich wieder diese seltsame, helle Aura, die ihn umgab, als würde ihn das Licht schmeichelnd umscheinen, es war, als habe er sich in einen unsichtbaren Mantel gehüllt, seine Augen jedoch lagen nicht länger im Schatten. Statt dessen strahlten sie, als würde er von einem inneren Licht erhellt. Und zum ersten Mal bemerkte ich, dass sie keineswegs nur von tiefbrauner Farbe waren. Ein strahlenförmiger Kranz umgab die dunklen Pupillen, ein Kranz leuchtenden Grüns – wie eine Wiese im Frühling, schoss es mir durch den Kopf, eine Wiese, in der noch die letzten Tautropfen der Nacht glitzern. Flammenzungen gleich schien das Grün in seinen Augen zu tanzen. Es lockte mich. Hastig wandte ich den Blick ab, ehe ich mich völlig in ihnen verlor. Doch dann konnte ich die Augen doch nicht von ihm lassen.

Er sah müde aus. Dunkle Schatten lagen halbkreisförmig unter seinen Augen, und seine Lider hatten eine dunklere Färbung als die meinen. Ganz langsam näherte ich mich ihm. Die Augenbrauen leicht nach oben gezogen, stand er still wie eine Statue und beobachtete mich neugierig. Ich glaubte, einen stummen Widerstreit in seinen Augen zu lesen, und doch blieb er regungslos und lies zu, dass ich so dicht vor ihn trat, dass ich seinem Atem auf meinem Gesicht spüren konnte. Der Geruch nach kühler Nachtluft und frisch geschlagenem Holz umfing mich. Die Luft schien schwerer zu werden. Fast ohne mein Zutun hob sich meine Hand, und ich strich behutsam mit der Fingerspitze meines Zeigefingers über die dunklen Ringe unter seinen Augen. Er schluckte. Und dann schloss er die Augen und seufzte leise. Sämtliche Anspannung schien aus ihm heraus zu fließen.
Einen Moment später hoben sich seine Lider, und mich traf ein warmer, beinahe glühender Blick.

Er betrachtete mich nicht minder intensiv als ich ihn, und die Luft zwischen uns schien noch schwerer zu werden, beinahe so, als wollte sie Gestalt annehmen. Mein Atem beschleunigte sich. Einen unmessbaren Augenblick standen wir uns so reglos gegenüber. Sein Brustkorb schien sich im selben Rhythmus zu heben wie der meine, als seien wir durch ein unsichtbares Band verbunden.
„Caiti“, hauchte er und streckte ebenfalls sehr vorsichtig seine Hand aus, so als habe er Angst, sich zu verbrennen. Dann strich er mir sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und seine Hand verweilte dort, strich zärtlich über meine Wange, folgte der Linie meines Kinns und hielt schließlich an meiner zitternden Unterlippe inne. Eiskalte und brennend heiße Schauer rannen abwechselnd durch mich hindurch. Das Grün in seinen Augen schien sich in einen wirbelnden Sog verwandelt zu haben, und eben, als mich die Strömung mit sich fortreißen wollte, trat er einen Schritt zurück. Meine Haut war so kalt ohne die Wärme seiner Finger.

Seine Hand verschwand in einer der Taschen seines dunklen Mantels und lag einen Augenblick später in meinem Nacken. Ein vertrautes Gewicht legte sich auf meine Brust, und als ich den Blick senkte, sah ich, dass das Kreuz meiner Mutter wieder an seinem ledernen Band um meinen Hals hing.
„Danke!“, flüsterte ich lächelnd. Ich war so froh, das Kreuz nicht verloren zu haben, das so vertraute Gewicht gab mir ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, und ich glaubte, den Geist meiner Mutter an mir vorbei streifen zu fühlen, ein leiser Hauch in der Dunkelheit, der so schnell verschwand, wie er gekommen war, jedoch ein warmes Glühen in meinem Herzen hinterließ.
„Gern geschehen“, murmelte Ray. Und ohne ein weiteres Wort war der Streit von zuvor vergessen.

„Bleibst du?“, wagte ich die Frage zu stellen, die mir schon den ganzen Abend auf der Zunge brannte, und ich konnte die Sehnsucht in meiner Stimme nicht ganz verbergen.
„Fürs erste“, antwortete er ebenso leise. „Ich weiß, es ist nicht richtig, und es kann nicht gut enden, da muss ich deinem Bruder recht geben. Du solltest auf ihn hören. Aber ich...konnte einfach nicht anders.“
Ich sah den Konflikt in seinen Augen toben, biss mir auf die Lippen und senkte den Blick. Es war derselbe Konflikt, der auch in mir tobte, ein Zwist zwischen meinem Herzen und meinem Verstand, zwischen dem, was richtig war, und dem, was mir mein Gefühl sagte.
„Es fühlt sich aber richtig an“, murmelte ich, selbst ein wenig erstaunt über meinen Mut. Es war, als wäre ein Damm gebrochen, denn die Worte sprudelten nun regelrecht aus mir heraus. „Ich kann es nicht genau beschreiben, aber es... es fühlt sich richtig an, weißt du. Als du mich...geküsst hast, war es, als... als solle es so sein. Es war so ... mächtig, so bedeutend, ... ich weiß, es klingt seltsam, aber...“ Verlegene Röte überzog mein Gesicht, und ich wandte den Blick ab. Ich schien keinen zusammenhängenden Satz herauszubringen. Seine Nähe verwirrte mich, verunsicherte mich. Selten hatte ich mich so bloßgestellt, so verletzlich gefühlt. Warum nur hatte ich damit herausplatzen müssen? Was, wenn er es nicht verstand? Ich hatte wie ein kleines, dummes Kind gewirkt, und am liebsten hätte ich mich selbst geohrfeigt. Ich war nicht eine dieser Frauen, die sich schmachtend dem nächstbesten, gut aussehenden Mann an den Hals wirft und etwas von Vorbestimmung und Schicksal faselt. Und doch war es so gewesen, dieses Gefühl, das Richtige zu tun...

Da legte er mir einen Finger unter das Kinn und hob meinen Kopf behutsam an.
„Du hast es auch gespürt?“ Seine Stimme war so leise, und sie schien seltsam zu beben, so als wagte er kaum, die Worte über die Lippen zu bringen.
Wie gebannt starrte ich ihn an, mein Atem beschleunigte sich, ebenso wie der seine. Wir atmeten im Gleichklang, und die Spannung, die in der Luft hing, war beinahe greifbar.
Dann wandte er den Blick ab und sah zu Boden. „Ich bin verloren“, flüsterte er, so leise, dass ich mir nicht sicher war, tatsächlich etwas gehört zu haben. Sein Körper schien sich zu versteifen, er entfernte sich von mir, obwohl er sich doch keinen Deut von der Stelle bewegt hatte.

Eine ganze Weile verharrte er so, und da spürte ich auf einmal, wie müde ich war. Der Schmerz, den ich so lange mit äußerster Willensanstrengung zurückgedrängt hatte, und die panische Angst, die ich am Tor empfunden hatte und die mein Herz in einen viel zu schnellen Rhythmus gezwungen hatte, forderten jetzt ihren Tribut. Ich ging die wenigen Schritte zu meinem Bett und ließ mich erschöpft darauf nieder.
Ray fuhr bei dem Geräusch meiner Schritte herum. Er blinzelte, schüttelte wie abwesend den Kopf und saß einen Augenblick später neben mir auf dem Bett. Stirnrunzelnd betrachtete er meinen angespannten Kiefer und meine fest zusammengepressten Lippen und strich dann vorsichtig mit der Hand über mein Haar.
„Was ist los, Caiti?“, fragte er leise. „Es tut mir leid, dass ich ein wenig abwesend war, mir geht heute sehr viel durch den Kopf.“
„Nein, das ist es nicht“, murmelte ich. Erneut verkrampften sich meine Muskeln, und meine Hand fuhr unwillkürlich an meinen Bauch und legte sich schützend über die schmerzende Stelle.
„Was hast du?“ Ray klang jetzt beunruhigt.
„Nichts, wirklich... das ist... so peinlich“, murmelte ich noch leiser.
Ray sog auf einmal mit einem Ausdruck tiefster Konzentration die Luft ein. „Caiti, du blutest!“, flüsterte er entsetzt. „Du bist verletzt!“
Ich spürte, wie mir heiße Röte ins Gesicht schoss. Das durfte ja wohl nicht wahr sein!
„Ja, ich weiß, dass ich blute!“ erklärte ich beschämt. Ich wünschte, der Boden würde sich unter mir auftun, damit ich darin versinken konnte, als habe es mich niemals gegeben. Weshalb nur konnten ihm gewisse Dinge nicht einfach entgehen! Schlagartig wurde mir da bewusst, weshalb er über so scharfe Sinne verfügte, wer da neben mir saß - ein Vampir, der sich von Blut ernährte! Erschrocken blickte ich ihn an - und sah nichts als Besorgnis in seinen noch immer ruhigen, braunen Augen.
"Wie kannst du so ruhig bleiben?", fragte ich erstaunt.
"Es ist nur Blut, Caiti", erklärte er ungeduldig. "Verlierst du die Herrschaft über dich selbst, wenn dir der Geruch von Essen in die Nase steigt? Und jetzt sag mir, was los ist! Was fehlt dir?"
„Nichts. Es geht mir gut.“
Der braune Blick bohrte sich in den meinen, ernst und bestimmt und so besorgt, dass ich nicht anders konnte. Gegen meinen Willen gestand ich ihm schließlich mit kaum hörbarer Stimme, was mir fehlte.
„Es ...es ist diese Frauengeschichte, weißt du...“
„Oh!“ Erleichtert sanken seine Schultern herab. Das Grün in seinen Augen flackerte fast ein wenig belustigt, und dann hoben sich seine Mundwinkel kaum merklich zu einem beinahe verlegenen, leisen Lächeln.
War es möglich, noch mehr zu erröten? Augenscheinlich schon. Meine Wangen glühten nun regelrecht. Auch das würde ihm wohl trotz der Dunkelheit nicht entgehen. Ich wandte mich ein wenig von ihm ab, doch er schlang einen Arm um mich und zog mich noch näher zu sich heran. Dann legte er eine warme Hand über die meine, die noch immer auf meinem Bauch lag.
„Schmerzt es hier?“, murmelte er.
„Ja“, seufzte ich.
Ein seltsamer, warmer Strom schien auf einmal von seiner Hand auszugehen, er breitete sich in sanften Wellen in mir aus, umfing mich wie eine warme, weiche Decke und legte sich lindernd über meinen schmerzenden, verkrampften Unterleib. Ich spürte, wie sich meine Muskeln entspannten, wie sich mein Herzschlag verlangsamte.

Ganz allmählich schwand der Schmerz unter der Wärme, die von Rays Hand auf mich überging, verblasste wie die Sterne am Nachthimmel, die von der Morgensonne überstrahlt werden. Er lauerte noch immer, irgendwo tief verborgen, doch er war nicht mehr so quälend wie zuvor. Ich seufzte erleichtert auf und entspannte mich, legte den Kopf an Rays Schulter und schloss die Augen.
Er rückte vorsichtig noch ein wenig näher an mich heran, so dass ich jeden seiner Atemzüge in meinem Rücken spüren konnte. Sein Brustkorb hob und senkte sich beruhigend und gleichmäßig, und mein Atem passte sich dem seinen an. Nach einer mir endlos erscheinenden Zeit spürte ich einen leichten Druck auf meinem Haar, so, als habe er mir einen sanften Kuss gegeben, und dann legte er seine Wange auf meinen Kopf. Ich seufzte zufrieden. Es war, als sei die Welt um uns herum verschwunden, es gab nur ihn und mich und diesen warmen Strom, der uns zu verbinden schien. Niemals hatte ich einen solchen Frieden verspürt.

Doch so, wie aus meinem Körper die Spannung wich, schien sie in seinem zuzunehmen. Ich nahm das kaum merkliche Stocken seines Atems wahr, und dann spannte sich die Hand über meinem Bauch ein wenig an und bebte leicht.
Ich wandte den Kopf, sah über meine Schulter zu ihm auf und blickte in warmes Grünbraun. In seinen Augen las ich Überraschung, wenn nicht gar Bewunderung, und er blickte mich ausgesprochen neugierig an.
„Du hast mir meinen Schmerz genommen“, flüsterte ich. Ich wagte es nicht, lauter zu sprechen, da ich diese seltsame, friedliche Ruhe, in die er uns gehüllt hatte, nicht stören wollte.
„Nein“, erwiderte er ebenso leise. „Das würde meine Fähigkeiten übersteigen. Ich teile ihn mit dir, aber ich kann ihn nicht ganz von dir nehmen.“
„Danke!“, murmelte ich gerührt. Ich war ergriffen von der Art, in der er sich so selbstverständlich um mich kümmerte, ohne mir das Gefühl zu geben, dass ich mich schämen müsste für diesen Schmerz, der bei uns stets verschwiegen wurde, und wenn er denn doch zu Sprache kam, dann nur in geflüsterten Gesprächen hinter dem Rücken der Männer, hinter vorgehaltener Hand, als sei es etwas Widernatürliches, dass mit meinem Körper geschah, etwas, das besser unausgesprochen blieb. Als es das erste Mal geschah, war ich völlig entsetzt gewesen über das viele Blut, und Kian hatte mir schließlich mit einem Kopf, der das tiefe Rot einer Tomate angenommen hatte, erklärt, dass es der Fluch der Frau war, der mich getroffen hatte. Als wäre es gestern gewesen konnte ich mich noch heute an dieses Gefühl der Erniedrigung erinnern, als ich meinen großen Bruder um Rat gefragt hatte, ebenso wie an die Scham. Ich hatte mich unrein gefühlt, seltsam beschmutzt.
Doch in Rays Blick las ich keine dieser Empfindungen. Er fühlte sich nicht abgestoßen. Er war näher gerückt, umfing mich mit seiner Wärme ebenso wie mit seiner Sorge und seinem Verständnis. Ein Gefühl der Nähe, wie ich es noch niemals zuvor verspürt hatte, stieg in mir auf.
„Gern geschehen“, murmelte er in mein Haar hinein, und ein leiser Schauer rann meinen Rücken hinab, als sein warmer Atem über meinen Nacken strich.

„Ist das Magie?“, fragte ich. „Wirkst du Magie mit deinen Händen?“
„Ja“, antwortete er einfach, so, als sei es nichts Besonderes.
„Bist du ein Magier?“
„Nein. Die Magie wohnt allen Lebewesen inne. Ihr Menschen habt nur vergessen, wie man über sie verfügt. Früher gab es Menschen, die Magie mit Schriftzeichen wirkten – vielleicht sind sie euch deswegen verboten“, sinnierte er.
Seine Worte holten mich schlagartig wieder in die Wirklichkeit zurück. Denn das Schreiben von Runen war nicht das Einzige, das mir verboten war.
„Ray, wir müssen vorsichtig sein“, murmelte ich.
„Machst du dir Sorgen wegen dieses Wachmannes?“, fragte er leise.
„Woher weißt du...“
„Ich kletterte gerade über die Palisade, als ich eure Stimmen vernahm.“ Seine Arme schlossen sich noch ein wenig fester um mich. „Glücklicherweise war es nicht notwendig, einzugreifen. Ich bin deinem Bruder sehr dankbar, dass er dich beschützt. Aber wenn es dieser Mensch nur noch einmal wagt, sich dir zu nähern...sei versichert, dann werde ich mich nicht mehr zurückhalten“, meinte er grimmig.
„Ray, ich mache mir vor allem um Kian Sorgen. Es ist eine Sache, wenn ich für meine Unvernunft und meine Unvorsichtigkeit gerade stehen muss – ich weiß, dass ich mich in große Gefahr begebe. Doch es ist etwas ganz anderes, wenn mein Bruder für meine Taten bluten muss. Das werde ich nicht zulassen!“ Ich dachte zurück an den Wortwechsel zwischen Kian und Kellan vor dem Tor - die unausgesprochene Drohung in Kellans Worten, die Reaktion meines Bruders...er hatte sich schützend vor mich gestellt, bereit, für mich zu kämpfen. Ich würde es mir nie verzeihen, sollte ihm meinetwegen ein Leid geschehen.
„Caiti, wenn wir erwischt werden, dann wirst du diejenige sein, die dafür sterben muss. So verlangen es die Gesetze eures Dorfes. Und das werde ich wiederum nicht zulassen. Niemals!“
Ich sah überrascht zu ihm auf. Das Grün in seinen Augen blitzte, und das Braun schien sich verfestigt zu haben. Einen Moment war mir, als sei er mit seinen Gedanken an einem anderen, dunkleren Ort. Doch dann atmete er tief ein und sah mir ernst in die Augen. Und in diesem Moment wusste ich, dass er meinte, was er gesagt hatte. Dass es nicht nur leere Worte waren, Versprechungen, die er nicht einhalten würde. Noch nie hatte ich einen entschlosseneren Ausdruck auf dem Gesicht eines Mannes gesehen, und ich glaubte ihm. Ich war sicher bei ihm.

Sein Blick brannte sich in meinen, und auf einmal lag wieder diese eigentümliche Spannung in der Luft. Wie von selbst hob sich meine Hand, und ich strich ihm vorsichtig mit dem Zeigefinger über die Unterlippe. Ein leiser Schauer rann durch ihn hindurch, und dann beugte er sich vor und streifte sanft meinen Mund mit dem seinen. Meine Hände vergruben sich in seinem Hemd, zogen ihn noch näher an mich heran, und da schlang er seine Arme um mich, eine Hand tief in meinem Haar vergraben, und der Kuss wurde drängender. Seine Zunge fuhr sanft die Umrisse meiner Lippen nach, und ich hörte mich unwillkürlich aufstöhnen. Mein Atem ging jetzt zu schnell und zu flach. Seine weichen Lippen bewegten sich zärtlich über die meinen, öffneten sich leicht, und sein warmer Atem strömte in meinen Mund. Ich schloss die Lippen um seine Unterlippe und saugte leicht daran, und ein seltsamer Laut entfuhr ihm, irgendwo zwischen einem Seufzen und einem Stöhnen.

Als er sich schließlich vorsichtig aus meiner Umklammerung löste, atmete er ebenfalls keuchend. Seine Augen glühten wieder, wie zwei Kohlenstücke im Feuer. Unsere Blicke wollten einander nicht loslassen. Eine endlose Zeitspanne verharrten wir so, doch irgendwann konnte ich die Schwere in meinen Gliedern nicht länger ignorieren.
Ray musterte mich sehr genau. „Du siehst müde aus“, stellte er schließlich fest, noch immer ein wenig außer Atem. „Du solltest jetzt schlafen.“
Widerwillig musste ich ihm recht geben. Ich war wirklich todmüde. Enttäuscht sanken meine Schultern herab. Ich hatte gehofft, dass mir ein wenig mehr Zeit mit ihm bleiben würde, doch mein eigener Körper hatte mich verraten.
„Bleibst du noch ein wenig?“, fragte ich leise.
„Wie jede Nacht, Caiti. Ich lasse dich nicht alleine“, versicherte er mir.

Dann erhob er sich ohne ein weiteres Wort, trat er ein paar Schritte zurück und ließ sich mit untergeschlagenen Beinen auf dem blanken Fußboden nieder, den Rücken an die Holzplanken der Zimmerwand gelehnt. Die Kälte der Nacht traf mich wie ein Schlag, obgleich seine Wärme ein wenig bei mir zu bleiben schien. Wie ein dünner Mantel umgab sie mich, und die sanften Wellen umspielten nach wie vor meinen Unterleib. Auch wenn leerer Raum zwischen uns lag, er schien diese magische Verbindung aufrecht zu erhalten. Dennoch fröstelte ich. Die Luft in der kleinen Kammer schien auf einmal außerordentlich kalt zu sein. Ich starrte ihn ungläubig an, verstand nicht, warum er auf einmal so auf Abstand gegangen war.
„Was hast du vor?“, fragte ich vorsichtig und ein wenig verletzt, obwohl ich mich mühte, mir das nicht anmerken zu lassen. Was hatte ich getan, dass er auf einmal vor mir zurückwich?
„Ich wache über dich“, erklärte er mir, das Gesicht auf einmal merkwürdig regungslos und seltsam abweisend. „So wie jede Nacht.“
Und da begriff ich. Zuvor, im Wald, hatte er gesagt, dass er all die Monde stets über mir gewacht hatte, auch wenn er sich mir nicht gezeigt hatte. Ich verstand nicht, warum er sich von mir fern gehalten hatte, doch ich spürte zugleich, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, ihn danach zu fragen. Aber er hatte mich nicht vergessen, soviel hatte ich verstanden, und er war jede Nacht hier gewesen. In meinem Zimmer. Und wahrscheinlich genau an der Stelle, an der er sich soeben niedergelassen hatte.
„Aber – kannst du nicht ein bisschen näher kommen, wenn du über mich wachst?“, fragte ich vorsichtig.
Selbst in der Dunkelheit sah ich, wie er schluckte, und die regungslose Maske schien ihm zu entgleiten. Ich glaubte, so etwas wie Angst in den tiefen, dunklen Augen flackern zu sehen, aber das konnte natürlich nicht sein. „Wie nahe?“, flüsterte er heiser.
Ich schlug die Bettdecke zurück und warf ihm einen auffordernden Blick zu. Ich wollte nicht zu aufdringlich, zu verzweifelt erscheinen, aber allein der Gedanke, dass er alleine in der Kälte bleiben sollte, während ich warm und sicher unter den dicken Decken lag, war mir unerträglich. Und dann war da auch noch dieser kleine, aber sehr überzeugende Teil von mir, der sich verzweifelt nach seiner Nähe sehnte, jetzt, da er endlich wieder bei mir war...
Seine Augen weiteten sich überrascht, doch er rührte sich noch immer nicht.
„Bist du dir da ganz sicher?“, fragte er leise.
Ich nickte und hob die Bettdecke noch ein kleines Stück weiter an. „Bitte“, flüsterte ich, nachdem er noch immer keine Anstalten machte, sich zu erheben. Ich sah, wie er noch einmal schluckte.
Dann atmete er tief ein, straffte die Schultern, und war mit zwei großen Schritten neben meinem Bett angelangt.

Ohne ein weiteres Wort zog er seinen Mantel aus, warf ihn achtlos auf den Boden und schlüpfte anschließend rasch aus seinen Stiefeln. Dann legte er sich neben mich auf die schmale Matratze, zog mich vorsichtig an sich und hüllte uns sorgsam in die Decke ein. Seine breiten Schultern schienen nicht nur die Kälte der Nacht, sondern auch alle Gefahren, die die Dunkelheit barg, von mir fernzuhalten. Ich seufzte zufrieden. Rays Arme waren um meine Taille geschlungen, seine Hände ruhten auf meinem unteren Rücken, mein Kopf lag auf seiner Schulter, und ich konnte ihn am ganzen Körper spüren.
Ich hatte mich noch nie so geborgen gefühlt. Ich schloss die Augen und kuschelte mich vorsichtig noch ein wenig enger an ihn. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien mein Herz zu rasen. Ich wünschte, dieser Moment würde nie enden.
„Kommst du morgen Abend wieder? Bevor ich eingeschlafen bin?“ Ganz bestimmt sah er die Sehnsucht in meinem Blick, als ich meinen Kopf ein wenig hob und ihm in die Augen sah.
„Ich verspreche es“, versicherte er mir ernsthaft und zog mich noch ein wenig fester an sich. Zum ersten Mal seit jenem Tag, an dem Kellan mich bedroht hatte, fühlte ich mich völlig sicher.


16. Der Gefangene



Ray

Ich schrak abrupt aus dem Schlaf. Da waren Schritte. Leise, für menschliche Ohren wohl unhörbare Schritte, die durch das reetgedeckte Dach über mir raschelten. Verdammt, wie hatte ich nur so unvorsichtig sein können, einfach einzuschlafen, gerade heute, wenn dieser unbekannte Vampir womöglich immer noch dort draußen war? Verwirrt gewahrte ich das warme, weiche Gewicht auf meiner Brust und die kleine, warme Hand, die sich in meinem Haar vergraben hatte – Caitlin.
Schlagartig kehrte meine Erinnerung zurück, und die verwirrenden Gefühle des gestrigen Tages brachen wie eine Welle über mir zusammen, raubten mir für einen Augenblick den Atem. Die Angst, die Wut, das seltsame Hochgefühl, als wir uns geküsst hatten, diese Verzweiflung, als ich erkannte, dass es sinnlos war, mich länger von ihr fernzuhalten, und die Erkenntnis, dass ich einfach nicht mehr stark genug dafür war. Dieser innere Widerstreit, als ich mich immer wieder versucht hatte, gegen diese unglaubliche Anziehung zur Wehr zu setzen, ehe ich schließlich vollends aufgab. Jedenfalls so weit, wie ich es mir erlauben konnte, ohne ihre Sicherheit zu gefährden. Ich hatte mir geschworen, dass ich mich nicht noch einmal so würde gehen lassen wie zuvor im Wald. Niemals hatte ich so die Beherrschung über mich verloren, und es ...beunruhigte mich. Mehr als das – es gab nicht viel, das ich fürchtete, doch dies war eine meiner größten Ängste. Mich selbst zu verlieren, nicht Herr meiner Sinne zu sein.
Es war gefährlich, nicht nur für mich, auch für sie. Wie sollte ich sie schützen, wenn ich derart abgelenkt war, dass sich jeder Feind mühelos an mich anschleichen konnte, ohne dass ich etwas davon bemerkte? So wie sich ihr Bruder uns genähert hatte, dort, im Wald. Er war ein Mensch, laut und ungeschickt und ungeübt in der Kunst des Anschleichens. Und doch hatte er mich fast überrumpelt. Nie wieder würde ich solch ein Risiko eingehen.
Und so hatte ich den letzten Kuss unterbrochen, ehe ich mich vollständig in ihm verlor. Es hatte einer immensen Anstrengung bedurft, mich von ihren weichen, warmen Lippen loszureißen, doch ihr Leben war zu wertvoll, als dass ich es durch meine Unvorsichtigkeit riskieren konnte.
Dann hatte ich versucht, ein wenig Abstand zwischen uns zu bringen. Mein Herz hatte noch immer wie wild in meiner Brust geklopft, und ich hatte nicht so recht gewusst, was ich mit all diesen neuen Empfindungen anfangen sollte, die durch mein Innerstes wirbelten wie ein wilder Sturm, der nichts zurücklässt, wie es gewesen ist.
Dieser Frieden, den ich empfunden hatte, als sie in meinen Armen eingeschlafen war und ich sie endlich in Sicherheit wusste. Dieses Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Das leise, beruhigende Pochen ihres Herzens so nah an meiner Brust hatte mich irgendwann in den Schlaf gelullt. Und das erste Mal seit ich zurückdenken konnte hatte ich einfach nur geschlafen. Ohne auch nur einmal aufzuwachen, ohne auch nur einen einzigen Albtraum, hatte ich sie die ganze Nacht in den Armen gehalten und hatte einfach geschlafen. Ich konnte mich an keinen Augenblick meines Lebens erinnern, in dem ich mich so gefühlt hatte wie in diesem Moment. Es war, als sei über Nacht ein anderer Mann aus mir geworden. Sie hatte mich verwandelt. Die Trauer und Vorsicht, die bis jetzt all meine Handlungen bestimmt hatten, waren noch da, irgendwo tief in mir, und ich wusste, dass sie wieder zum Vorschein kommen würden, dass sie ein Teil von mir waren, mich geprägt hatten und mich zu dem Mann gemacht hatten, der ich geworden war. Doch zugleich war da etwas Neues, etwas, für das ich noch keinen Namen gefunden hatte, ein seltsames Gefühl der Wärme in meinem Inneren.
Ich war so wach wie schon lange nicht mehr, und das musste ich wohl auch sein, denn es schien so, als hätten wir Besuch bekommen. Die Schritte waren in den wenigen Augenblicken, die vergangen waren, seit ich aus dem Schlaf geschreckt war, immer näher gekommen. Vorsichtig hob ich das schlafende Mädchen von meiner Brust und seufzte erleichtert, als sie sich ein wenig zur Seite drehte und die Stirn runzelte, jedoch nicht aufzuwachen schien. Ich deckte sie zu und war mit einem Satz am Fenster, der gezückte Dolch in meiner Hand, bereit, Caiti mit meinem Leben zu verteidigen – und blickte in das grinsende Gesicht meines Cousins, grau im Dämmerlicht. Der erste, helle Schimmer des anbrechenden Morgens war bereits erkennbar, und das bedeutete, dass uns nicht mehr viel Zeit blieb.
„Na, Ray, gut geschlafen?“, fragte Aiden gut gelaunt und zwinkerte mir vergnügt zu.
„Aiden! Was zum Teufel machst du hier?“, brachte ich heraus, und er wurde augenblicklich ernst.
„Ich sorge dafür, dass euer kleines Geheimnis nicht entdeckt wird! Verdammt, Ray, weißt du, wie spät es ist? Die Sonne geht bald auf, wir müssen zurück. Wenn du hier erwischt wirst, bist es nicht du, der dafür zahlen muss! Wo bist du nur mit deinen Gedanken, Cousin?“, zischte er leise.
Ich warf hastig einen Blick über die Schulter, zu meinem schlafenden Mädchen – mein Mädchen, so weit war es also schon gekommen, dass ich einen Kosenamen für sie hatte? Seltsamerweise jagte dieser Gedanke mir jedoch nicht so viel Angst ein, wie ich gedacht hätte. Es war ungewohnt, aber irgendwie passend – richtig. Mein Mädchen. Ein leises Lächeln stahl sich auf meine Lippen, und ich war froh, dass ich Aiden den Rücken zukehrte, denn ich war mir sicher, dass er rückwärts vom Fenster gestürzt wäre, hätte er dieses verträumte Lächeln gesehen. Ich hatte seit Monden nicht mehr gelächelt. Und auch davor hatte ich nur ein schwaches Abbild eines wirklichen Lächelns zustande gebracht. Das letzte wirkliche Lächeln hatte ich an jenem Abend gelächelt, an dem mein Onkel in mein Leben getreten war und es zerstört hatte. Doch daran wollte ich jetzt nicht denken.

Ich wusste, dass die Zeit drängte, dass Aiden recht hatte und wir von hier verschwinden sollten, wollte ich Caitlin nicht in Gefahr bringen. Und doch brachte ich es nicht über mich, ohne ein Wort zu gehen. Ich hatte es gestern Abend gespürt, ihre Angst, dass ich sie noch einmal verlassen würde, ohne mich zu verabschieden, dass ich verschwinden würde, als sei nichts gewesen. Sie hatte mich mit diesen dunklen, blauen Augen so bittend angesehen, und erst da war mir bewusst geworden, was sie wohl die letzten Monde empfunden haben mochte, was mein Verschwinden für sie wohl bedeutet hatte. Anscheinend hatte sie mich nicht vergessen, wie ich gehofft hatte, und als ich diese Unsicherheit in ihren Augen sah, die Hoffnung, gemischt mit dem Zweifel, diese Angst vor der Hoffnung, die ich nur zu gut kannte, da hatte ich mir geschworen, dass ich ihr eines Tages erklären würde, warum ich es getan hatte. Und mit diesem Wissen brachte ich es jetzt nicht über mich, einfach so zu gehen. Mit zwei großen Schritten stand ich wieder neben dem Bett, kniete mich neben ihr nieder und strich ihr sanft mit dem Handrücken über die Wange.
„Ich muss gehen, Caitlin, es dämmert schon“, flüsterte ich.
Ganz langsam öffneten sich ihre vom Schlaf noch leicht verklebten Lider, und sie blinzelte verwirrt zu mir auf. Für sie herrschte wohl noch tiefste Nacht. Und doch schien sie mein Gesicht zu erkennen, denn ein leises Lächeln huschte über ihre Züge. Dann dämmerte die Erkenntnis in ihren Augen, und ehe ich mich versah, hatte sie ihre Arme um meinen Hals geschlungen und presste mich fest an sich. Ich lachte überrascht, erwiderte ihre Umarmung jedoch und strich ihr sanft über das zerzauste Haar.
„Ich komme heute abend wieder, sobald die Sonne untergegangen ist“, wiederholte ich mein Versprechen vom Abend zuvor, murmelte die Worte leise in ihr Haar und atmete ihren Duft ein. Sie nickte nur und presste mich noch ein wenig fester an sich. Ich gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn.
Ein leises Räuspern aus der Richtung des Fensters schrak mich aus dem süßen, kostbaren Moment, in dem ich mich wieder einmal verloren hatte. Aiden. So sehr ich ihn auch für die Unterbrechung verwünschte, mein Cousin hatte recht. Es wurde Zeit.
„Ich muss gehen, Caitlin“, murmelte ich und schob sie widerstrebend ein wenig von mir.
Sie nickte nur. Ich zwang mich dazu, den Blick abzuwenden, und sprang dann mit einem einzigen, kräftigen Satz aus ihrem Fenster hinaus.

Einen Augenblick später landete ich neben Aiden, der schon ungeduldig auf mich wartete. Er öffnete den Mund, wahrscheinlich, um mich für meine Unvorsichtigkeit zu schelten, doch dann warf er einen kurzen Blick in mein Gesicht und hielt abrupt in der Bewegung inne. Seine Augen weiteten sich für einen Moment kaum merklich, dann wandte er sich wortlos um und huschte mir voran über die Dächer des Dorfes, das allmählich erwachte.

***

Schweigend gingen wir nebeneinander durch den Wald. Craig, der ebenfalls in der Nacht über das Dorf gewacht hatte, war wohl schon aufgebrochen, denn seine Fußspuren zeichneten sich deutlich im schlammigen Waldboden ab. Ich konnte immer noch nicht so recht glauben, dass ich so lange geschlafen hatte. Trotz des durchweichten Bodens, der an meinen Stiefel zog und zerrte, waren meine Schritte seltsam beschwingt, und immer wieder stahl sich ohne ersichtlichen Grund ein leises Lächeln auf meine Lippen.
Morgennebel stieg in dünnen Schwaden auf, umhüllte uns, ein kalter, feuchter Hauch, der letzte Bote der schwindenden Nacht. Wie ein weißer Schleier lag er auf dem Fluss zu unserer Rechten. Zartes Rosa schimmerte durch die noch kahlen Baumkronen hindurch, verjagte das dunkle Blau der Morgendämmerung. Der neue Tag brach an, still und erhaben, denn der Wald um uns herum war wie üblich verstummt. Ein merkwürdiges, ungewohntes Gefühl des Friedens erfüllte mich.

Wieder einmal spürte ich Aidens Blick auf mir ruhen. Ich wandte mich zu ihm um und zog fragend eine Augenbraue nach oben.
„Was?“
„Nichts“, murmelte er, doch noch immer lagen die silbergrauen Augen fast fragend auf mir.
Ich fühlte mich ein wenig unbehaglich unter diesem prüfenden, forschenden Blick. „Ist mir über Nacht ein drittes Auge gewachsen? Was starrst du nur so?“
„Es ist schön, dich so zu sehen.“ Ein leises Lächeln lag auf seinen Lippen, schimmerte sternengleich in seinen Augen...sternengleich...was war nur los mit mir? Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. „Ich bin noch der gleiche Ray wie gestern.“ Versuchte ich ihn davon zu überzeugen, oder mich?
„Ja, das bist du, und doch wieder nicht“, gab Aiden nachdenklich zurück.
„Was ist denn anders?“
„Du bist...glücklich...“
Glücklich. Glücklich? Hm. War das das seltsame Gefühl der Wärme in mir? Dieser Frieden, diese Leichtigkeit? Fühlte sich Glück so an?
„Glücklich...und verliebt?“, taste sich Aiden zaghaft vor.
„Verliebt! Das ist ein starkes Wort, findest du nicht?“, wehrte ich ab, fast schon ein wenig defensiv.
„Liebe ist...gefährlich“, murmelte ich, mehr zu mir selbst. „Ich...ja, ich denke ich bin...glücklich.“ Das Wort klang so ungewohnt, wollte kaum über meine Lippen gehen. „Und ich will sie nicht verlieren...“
„...und du konntest dich gerade eben nur mit größter Anstrengung von ihr losreissen...“, warf mein Cousin grinsend ein.
Ich seufzte leise. „Ja, das auch. Da ist diese...Strömung...diese fast schon magische Kraft, die mich zu ihr zieht...“
„Aber du liebst sie nicht.“
„Nein,ja...ich...Herrgott, ich weiß es doch auch nicht! Hast du eine Ahnung, wie verwirrend das alles für mich ist? Ich fühle mich so hilflos...und ich darf sie nicht lieben...“
„Und du hast Angst“, warf Aiden ein. Der Schalk war aus seinen Augen verschwunden. Ernst und seltsam wissend blickte er mich an. Er sah auf einmal so viel älter aus.
„Natürlich habe ich Angst!“, brauste ich auf.
„Angst um dich, oder Angst um sie?“
„Angst um sie, um mich, um uns...so viel könnte geschehen...und sie ist niemals völlig sicher...“ Meine Stimme war immer lauter geworden, und ich riss mich nur mühsam zusammen.
„Ist schon gut, Ray“, meinte Aiden leise. „Ich weiß. Und ich verstehe dich, glaub mir. Ich möchte, dass du weißt, dass ich da bin, wenn du mich brauchst.“
„Danke“, murmelte ich leise. Und ich war dankbar dafür, dass er an meiner Seite sein würde. Dass er für mich kämpfen würde, so wie früher. So, wie ich jederzeit für ihn kämpfen würde. Doch ich wusste auch, dass ich auf dieses Angebot nicht zurückkommen würde. Aiden war noch ein halbes Kind, und ich würde meine Kämpfe alleine ausfechten, so, wie ich es immer getan hatte. Wenn ich mich in Gefahr begab, war das meine Sache. Ich würde ihn nicht mit hineinziehen.

***

Als wir an der Siedlung anlangten, herrschte eine seltsame, gespannte Ruhe. Vor unserer Hütte standen zwei Männer in dunklen Umhängen. Grenzwachen, das golden und blau gefärbte Emblem prangte stolz auf ihrer Brust. Sie hatten ihre Klingen vor dem Eingang gekreuzt, so, als würden sie einen kostbaren Schatz bewachen.
Als sie mich und Aiden sahen, ließen sie die Schwerter jedoch sinken und winkten uns hindurch. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend trat ich über die Schwelle – und erstarrte verblüfft. Solch eine Ansammlung von Grenzwachen hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Wenn Jaro unsere Grenzen derart entblößt hatte, musste etwas Ernstes vorgefallen sein.
„Elaine, was ist geschehen?“, fragte ich meine Tante, die damit beschäftigt war, die durchnässten Umhänge der Wachen vor dem Kamin über das Trockengestell zu hängen.
„Mehrere Späher haben die Grenzen überschritten“, erklärte Elaine und musterte mich nun aufmerksam. „ Sie haben einen von ihnen gefangen genommen, und...“
Weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür, die in den Keller führte, und Rodrig trat hindurch.
„Der Gefangene ist jetzt bereit, Jaro“, meinte er, und mein Onkel, der bis zu diesem Augenblick in ein Gespräch mit einem der Wachmänner vertieft gewesen war, nickte nur. Gespannte Stille legte sich über den Raum, das leise Murmeln verstummte schlagartig.
„Dann werde ich jetzt hinunter gehen und sehen, was ich aus ihm herausbekomme“, sagte Jaro. Seine Stimme war seltsam tonlos, und er sah so unglaublich müde aus. Und alt. Er mochte nicht mehr als vierzig Sommer erlebt haben, doch in diesem Augenblick sah er uralt aus. Als würde er die Last vieler Jahre auf seinen Schultern tragen. Dann raffte er sich auf und ging auf die Türe zu, die ich noch nie durchschritten hatte. Die Türe, die in jenen Keller führte, den ich mir nicht einmal vorstellen wollte.
„Komm mit mir, Ray“, befahl er, ohne sich umzuwenden. Es war keine Bitte, und ich blinzelte überrascht. Jaro war stets alleine gegangen, wenn er einen Gefangenen verhört hatte. Einen kurzen Augenblick fragte ich mich, ob ich mich geehrt fühlen sollte oder ob ich mich vor dem, was mich dort erwarten würde, fürchten sollte. Die Furcht überwog. Ich wusste, dass das, was dort unten in den Kellern geschehen würde, Erinnerungen heraufbeschwören würde. Erinnerungen, die ich am Liebsten vergessen hätte. Ich warf Elaine einen fragenden Blick zu, und sie nickte kaum merklich, doch ich sah die Sorge in ihren Augen.
Jaro hielt mir die Türe auf, und ich konnte seine Ungeduld regelrecht spüren. Die Luft im ganzen Raum schien auf einmal schwerer zu werden, sie lastete auf meinen Schultern und brannte in meinen Lungen. Zögernd erhob ich mich und folgte meinem Onkel die dunkle Treppe hinab in den Keller.

Schwaches Fackellicht erhellte den in den Stein gehauenen Gang nur spärlich. In diesem Teil des Kellers war ich noch nie gewesen, und das hatte seinen Grund. Hier wurden die Gefangenen untergebracht. Niemals sonderlich lange, denn die Gegenseite tauschte ihre Gefangenen genausowenig ein wie wir die unseren. Sie wurden verhört und dann getötet. So war es schon immer gewesen. Der Kampf zwischen den beiden Clans wurde erbittert geführt.
Jaro stieß eine Tür zu seiner Rechten auf. Es war eine schwere, massive Eisentüre, und die Angeln quietschten protestierend. Er trat ein, und ich folgte ihm.
Es war eine kleine Zelle, die Wände unbehauen und doch trocken. Kein Moos wuchs hier, und es war auch nicht feucht, und doch erinnerte mich der Raum so sehr an einen anderen, mir so vertrauten Ort, dass sich mein Magen schmerzhaft zusammenzog. Ich atmete tief ein und zwang mich, mich zu entspannen. Ich war in Sicherheit. Carum war tot. Er konnte mir nichts mehr anhaben, und ich war frei.
Es gelang mir tatsächlich, mich zu beruhigen. Doch dann flammte eine Fackel in Jaros Hand auf, und ich sog erschrocken die Luft ein. Dort, direkt vor mir auf einem Tisch, lag der Mann, den sie gefangen genommen hatten. Er lag auf einem blanken Holztisch, reglos, denn seine Arme und Beine waren mit dicken Stricken an die Beine des Tisches gefesselt. Er war hilflos. Uns ausgeliefert. Und direkt neben dem Tisch stand ein weiterer, kleinerer Tisch. Ich kannte die Messerchen, die Klammern, all die Gerätschaften, die dort lagen. Ich wusste, wozu sie dienten, ich wusste, welchen Schmerz sie verursachen konnten, wenn sie von einer talentierten Hand geführt wurden. Ich schluckte krampfhaft. Ich hatte gewusst, was mich erwarten würde, wenn ich Jaro folgte. Ich hatte gewusst, dass den Gefangenen die Geständnisse gewaltsam entlockt wurden. Doch es mit eigenen Augen zu sehen und zu wissen, dass ich Zeuge all dieser Taten werden würde, war etwas völlig anderes.
Während Jaro langsam zu dem Tischchen hinüberging, blickte ich wieder auf den fremden Vampir. Er wirkte beinahe gelassen, sein Gesicht war entspannt, die grauen Augen ruhig und klar wie das Wasser eines Sees zur Morgendämmerung. „Ihr werdet nichts aus mir herausbekommen“, erklärte er fest.
„Das werden wir sehen“, meinte Jaro nur, und seine Hand schloss sich fest um einen der Gegenstände auf dem Tischchen. Dann wandte er sich um, und sein Blick war fremd. Ich erkannte den Mann nicht wieder, der nun mit kühlem, berechnenden Blick sein Opfer fixierte. Mit einer blitzschnellen, kraftvollen Bewegung rammte er das Messer in den linken Oberschenkel des Gefangenen. Der Mann zuckte schwach, doch kein Laut drang über seine Lippen. Nur sein Kiefer spannte sich an, die Lippen pressten sich zu einem dünnen, bleichen Strich zusammen. Der scharfe, metallische Geruch von Blut hing in der Luft, drang zu mir herüber. Jaro drehte das Messer, langsam, abwartend, und erste Schweißtropfen traten auf die Stirn des Gefangenen. Noch immer gab er keinen Laut von sich. Mir wurde übel.
„Nimm seine Hand und fühle seinen Schmerz, Ray!“ Jaros Stimme schnitt laut durch die Stille des Raumes. Ein eisiger Schauer rann meinen Rücken hinab.
„Nein!“, wisperte ich entsetzt. Wie konnte er das von mir verlangen? Wie konnte er nur? War es nicht genug, dass ich all dies mit ansehen musste?
„Nimm seine Hand!“, zischte mein Onkel. Da war eine Kälte, eine Berechnung in seinen Augen, die mich zu sehr an Carum erinnerte. An einen dunklen Kerker, an jene endlosen Tage der Hoffnungslosigkeit, der Verzweiflung, an einen uralten Schmerz.
Ich hatte stets zu Jaro aufgesehen, er war wie ein Vater für mich gewesen, war es noch immer, und ich liebte ihn. Doch in diesem Moment hasste ich ihn aus tiefstem Herzen, ich hasste ihn, weil er so kalt sein konnte, so berechnend, weil er darauf bestanden hatte, dass ich mit ihm kommen sollte, weil er mich zwang, Zeuge dieser Gräueltaten zu werden, und weil die Szenerie vor meinen Augen Erinnerungen heraufbeschwor, die mich noch heute in meinen Träumen verfolgten. Ich war einmal an der Stelle dieses Vampirs gewesen, ich war Carum genauso hilflos ausgeliefert gewesen wie er jetzt uns. Ich wusste, wie er sich fühlte. Ich brauchte nicht nach seiner Hand zu greifen, um das zu wissen.
Doch die auf einmal so kalten, grünen Augen blitzten mich an, und ich wusste, wollte ich verhindern, dass Jaro den feindlichen Vampir noch mehr folterte, dann musste ich tun, was er von mir verlangte. Ich griff nach einem aus grobem Holz geschnitzten Schemel, der bislang unter dem Tisch halb verborgen gewesen war, setzte mich und streckte dann eine bebende Hand aus, umfasste die bleichen, angespannten Finger. Sie waren erstaunlich weich, und erstaunlich warm. Die Finger eines Künstlers, nicht die eines Kriegers. Ein heißer Strahl der Pein fuhr durch mich hindurch, kaum dass meine Haut die seine berührt hatte. Ich zwang mich dazu, ruhig zu bleiben, die Wellen des Schmerzes in meinen eigenen Körper aufzunehmen. Nur mühsam unterdrückte ich das leise Stöhnen.
„Fühlst du es? Spürst du, wie weit wir ihn schon haben?“, meinte Jaro leise, und dann war er mit einem Satz auf der anderen Seite des Vampirs, und ich hörte das vertraute, leise Flüstern von Stahl, der durch Fleisch schneidet. Die fremde Hand bebte in der meinen, und ein sengender, glühender Pfeil schoss meinen Arm hinauf. Sterne tanzten vor meinen Augen, so intensiv war der Schmerz, und Übelkeit krampfte meinen Magen zusammen. Ích war schon oft verwundet worden, Schmerz war nichts Neues, und ich hatte gelernt, ihn zu unterdrücken, ihn auszublenden. Doch diese ziehende, reißende, sengende Hitze war ungleich grausamer.
„Ist er schon so weit, Ray? Denkst du, er wird jetzt sprechen?“, drang die beherrschte, kühle Stimme meines Onkels zu mir vor.
„Herrgott, Jaro, ich glaube nicht, dass er noch mehr ertragen kann!“, würgte ich hervor. Ich wusste, dass ich an der Grenze meiner Belastbarkeit angelangt war, und ich trug nur einen Teil seiner Schmerzen. Es verwunderte mich, dass er noch leben konnte. Jaro schien genau zu wissen, was er tat, und es widerte mich an. Es widerte mich an, dass er so kalt, so herzlos, so grausam sein konnte. Das war eine Seite meines Onkels, die ich noch nie gesehen hatte, und ich wünschte mir, sie wäre für immer verborgen geblieben.
„Unterschätz mich nicht...Junge...“, keuchte der Gefangene, und dann bohrten sich die so seltsam sanften, grauen Augen in die meinen. „Ich...tue das...für...meine Maisi. Und…sie hat..es…nicht verdient…einen Verräter zu…lieben.“
Ich blinzelte den Schleier vor meinen Augen fort, zwang mich dazu, mein Gesicht zu einer reglosen Maske erstarren zu lassen. Er hatte eine Frau! Oh Gott, er hatte eine Frau, und er liebte sie. Unseretwegen würde er sie niemals wieder sehen.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Jaro jetzt den Hammer schwang. Diesen Hammer, der dazu da war, Knochen zu zertrümmern. Er zielte auf die Beine des Mannes, und ich wandte den Blick ab. Der Vampir rang keuchend nach Luft, seine Finger schlossen sich fest um die meinen, doch noch immer kam kein Laut über seine Lippen. Ich biss die Zähne zusammen, als mich eine neue Welle der Pein überrollte.
„Wirst du mir jetzt sagen, was ich wissen will?“, fragte Jaro leise. Für einen Augenblick glaubte ich, so etwas wie Bedauern in seiner Stimme zu hören, doch als ich zu ihm aufsah, waren seine Augen nach wie vor unergründlich. Kalt.
Der Vampir brachte nur ein schwaches Kopfschütteln zustande. Er war so stolz, und ich bewunderte ihn dafür, dass er die Seinen nicht verriet. Das erste Mal brachte ich einem unserer Gegner wirkliche Achtung entgegen. In diesem Moment wünschte ich so sehr, wir könnten ihn gehen lassen. Doch das war unmöglich, er würde uns verraten. Ich wusste, was nun folgen würde. Jaro würde ihn zum Sprechen bringen, ich hatte die Entschlossenheit in seinem Blick gelesen, als er die schwere Eisentüre hinter uns geschlosssen hatte. Ich schloss die Augen und wappnete mich.

Nach einer Ewigkeit sprach der Gefangene dann doch. Meine Hand bebte inzwischen mindestens ebensosehr wie die seine, und kalter Schweiß stand in Tropfen auf meiner Stirn. Übelkeit brannte in meinem Magen, stieg bis in meine Kehle hinauf. Flüsternd und mit gebrochener, tonloser Stimme berichtete er von den anderen drei Spähern, die gemeinsam mit ihm ausgesandt worden waren, um uns auszukundschaften, unsere Verteidigung, die Lage unserer Siedlung, die Menschendörfer, die wir bewachten. Mehr wusste er nicht. Elenzar war klug genug gewesen, ihn über seine wahren Pläne im Dunkeln zu lassen.
Kaum hatte das letzte Wort die Lippen des Vampirs verlassen, schnellte Jaros Messer vor. Der Körper des Gefangenen bäumte sich lautlos auf, und dann erschlaffte die warme Hand in der meinen, der Schmerz erlosch. Ein leises Schluchzen drang an meine Ohren. Meines.

***

Eine halbe Ewigkeit saß ich auf dem kalten, nassen Waldboden. Ich wusste nicht, wieviel Zeit verstrichen war, seit ich wortlos aus dem schrecklichen Kellerraum geflüchtet war. Jaro hatte nicht versucht, mich aufzuhalten. Elaine hatte mir einen besorgten Blick zugeworfen, war jedoch ebenfalls stumm geblieben. Nur Aiden hatte mir ein erstauntes: „Ray! Wo zur Hölle willst du denn hin?“, hinterhergeworfen, war aber glücklicherweise nicht auf den Gedanken gekommen, mir zu folgen. Ich wollte alleine sein. Ich musste alleine sein.
Ohne mein Zutun hatten meine Beine mich hierhergetragen, an jenen Ort, an dem ich schon immer Ruhe und Frieden gefunden hatte, wenn mich etwas besonders aufgewühlt hatte. An jenen Ort, an dem ich mich Logan am nächsten fühlte. Irgendwie wusste ich, dass er mich verstanden hätte. Dass er die richtigen Worte gefunden hätte. Doch Logan war tot, ebenso tot wie die braunen Eichenblätter zu meinen Füßen. Wie lange ich schon hier in meinem Versteck im Unterholz saß und ins Leere starrte, wusste ich nicht. Es war mir gleich. Immer wieder sah ich diese seltsam offenen, grauen Augen, und wie das Leben langsam in ihnen erlosch. Es war nicht der erste Mann, den ich hatte sterben sehen. Doch er war wehrlos gewesen. Ausgeliefert. Und er hatte mich so sehr an mich selbst erinnert, als ich damals in der Gewalt Carums gewesen war. Was unterschied uns noch von ihm, wenn wir genauso töteten? Wenn wir genauso folterten? Welchen Sinn hatte ein Kampf gegen den Schattenclan, wenn wir ihnen so sehr ähnelten, dass es keinen Unterschied machte, ob sie herrschten oder wir?
Schritte raschelten durch das tote Laub, das den Boden bedeckte, näherten sich mir, doch ich rührte nicht einen Finger. Einen Augenblick dachte ich, wenn das ein Feind sein sollte, dann sollte er mich töten, denn ich wusste kaum noch, was mich so sehr von ihnen unterschied. Was uns von ihnen unterschied. Doch dann fuhr meine Hand zu dem Messer an meinem Gürtel. Caiti. Ich musste an Caiti denken. Wenn ich starb, dann gab es niemanden mehr, der sie beschützen konnte.
Die Schritte waren jetzt neben mir angekommen. Ich sprang auf, die Klinge drohend erhoben, auch wenn mich jeglicher Kampfwille verlassen hatte.
Doch es war Jaro. Ich hatte nicht gewusst, dass er meinen Rückzugsort kannte, aber so war Jaro eben. Nichts blieb ihm verborgen. Und er hätte mich wohl niemals so breitwillig gehen lassen, wenn er nicht gewusst hätte, wo er mich finden konnte. Schweigend ließ er sich wenige Schritt von mir entfernt nieder, betrachtete mich wortlos.
„Wie konntest du nur!“, fuhr ich ihn an.
Unergründliche, moosfarbene Augen bohrten sich in die meinen. „Denkst du, ich habe das gerne getan?“
„Es scheint dich jedenfalls nicht sonderlich gestört zu haben!“, zischte ich.
„Was willst du von mir hören?“, fragte Jaro müde. Seine Schultern sanken herab, er lehnte sich gegen einen dicken Baumstamm, ließ mich jedoch nicht aus den Augen.
„Ja, ich wusste, was ich tat. Ja, ich weiß, wie man Informationen gewaltsam erpresst. Und irgendwer musste es tun, sonst wüssten wir jetzt nicht, dass noch mehr Späher unterwegs sind, dass wir uns wappnen müssen. Es war unvermeidbar, ich musste es tun, um uns zu schützen, unsere Familien, diejenigen, die ich liebe. Ich habe jeden Augenblick dort unten gewünscht, es gäbe eine andere Möglichkeit, oder einen anderen, der es an meiner Statt tun könnte. Aber wenn ich es nicht selbst tue, dann würde ich eines Tages vergessen, wie schmerzhaft diese Informationen erkauft wurden. Ich muss es selbst tun, damit ich nicht einen einzigen Augenblick vergesse. Damit ich nicht eines Tages leichfertig befehle. Ja, es war grausam. Ja, ich habe gelernt, ruhig zu bleiben. Aber verwechsle Ruhe niemals mit Kälte, mein Junge. Ich habe jeden Messerstich genauso gefühlt wie du. Wenn du mich jetzt verurteilen willst – nur zu. Aber eines Tages wirst du mir dafür danken, dass ich dich mitgenommen habe. Spätestens dann, wenn du an meiner Stelle sein wirst.“
Mein Onkel seufzte leise und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, brannte sich sein Blick in den meinen, beschwörend, durchdringend.
„Wir sind im Krieg, Junge. Vergiss das niemals. Wenn du leben willst, musst du bereit sein, zu kämpfen. Nicht nur gegen deine Feinde, auch gegen dich selbst. Gegen deine Ängste, und manchmal auch gegen dein Mitgefühl. Aber ganz gleich, was geschieht, du darfst dich dabei nicht selbst verlieren. Deswegen wollte ich, dass du seine Hand nimmst. Du solltest dir immer im Klaren darüber sein, was Entscheidungen bewirken können. Denn sonst wirst du sie eines Tages zu leichtfertig treffen.“


17. Träume

Ray



Mit einem Satz war ich durch das geöffnete Fenster hindurch gesprungen und sah direkt in das warme Braun von Caitis lächelnden Augen.
„Hallo“, murmelte sie leise und sah zögernd zu mir auf, so, als wage sie es nicht, sich mir zu nähern. Einen kurzen Augenblick fragte ich mich, ob sie den Tod sehen konnte, der an mir haftete, der mich zu verfolgen schien. Mir war, als würde ein winziger Teil des Schmerzes, den ich von dem fremden Vampir übernommen hatte, noch immer bei mir verweilen, so als wäre etwas von ihm zurückgeblieben. Ein dunkler Schatten, der mein Innerstes mit eisiger Kälte erfüllte. Ein Tod, der zum Teil an meinen Händen haftete. Denn auch wenn ich das Messer nicht geführt hatte, das ihm das Leben nahm, hatte ich doch nichts unternommen, die Tat zu verhindern. Ich war stiller Zeuge gewesen, so, wie Elenzar damals seinem Vater zugesehen hatte. Auch er hatte keine Hand gegen mich erhoben, doch er war dort gewesen. Er hatte nicht verhindert, was mir angetan worden war. Was meiner Mutter angetan worden war.
Die kalte Nachtluft umfing mich, sie schien bis in mein Herz zu reichen. Ich hatte den halben Tag dort auf dem nassen, feuchten Waldboden verbracht, hatte die Erinnerungen, die in mir aufgestiegen waren, gewaltsam zurückgedrängt. Erschöpfung lag nun wie ein bleierner Umhang auf meinen Gliedern, lähmte mich, betäubte mich. Mir war so unglaublich kalt, und ich brauchte ihre Wärme, brauchte sie mehr als die Luft zum Atmen. Mit einem einzigen Schritt hatte ich den Raum überwunden, der uns voneinander trennte, schlang meine Arme um Caiti und zog sich dicht an mich.
„Hallo“, flüsterte ich in ihr Haar, und sie erschauerte leise, als mein Atem über ihren Nacken strich. Sie war warm, wärmer als jedes Kaminfeuer. Und doch war es eines sanfte Wärme. Ich atmete tief ein und seufzte leise, als ich spürte, wie die Anspannung allmählich von mir abfiel. Das erste Mal seit jenen Augenblicken in Jaros Keller fühlte ich, wie sich meine Lippen zu einem schwachen Lächeln verzogen. Der Duft nach frischem Gras und Veilchen legte sich lindernd über den Tumult in meinem Inneren. Mein Herzschlag verlangsamte sich, passte sich dem ihren an. Frieden. Caiti war Frieden. Ich schloss die Augen, drückte ihren weichen, warmen Körper noch ein wenig fester an mich, und erlaubte mir für einen Moment, alles um mich herum zu vergessen.
„Ray, was hast du?“ Ihre Stimme klang besorgt.
“Nichts…”, murmelte ich leise, abwehrend. Ich wollte nicht darüber sprechen, ich wollte die Erinnerung nicht erneut heraufbeschwören. Nicht hier. Dieser Ort war rein, unbefleckt. Ich wollte ihn nicht mit meinen Erinnerungen beschmutzen.
Caiti seufzte nur und schüttelte leicht den Kopf, und da wusste ich, dass ich ihr nichts vormachen konnte. Irgendwie schien sie zu spüren, dass ich ein anderer war als gestern.
Sie schien es jedoch auf sich beruhen zu lassen, und dafür war ich ihr unendlich dankbar. Spürte sie, dass sie mich jetzt nicht drängen durfte, dass ich so kurz davor war, in ihren Armen zusammenzubrechen, wie der kleine Junge, der ich dort in den Kerkern gewesen war?

Ich weiß nicht, wie lange wir so verharrten. Kleine, warme Hände fuhren beruhigen über meinen Rücken, strichen durch mein Haar, und sie murmelte sinnlose, kleine Trostlaute, die mich so sehr an meine Mutter erinnerten, dass es mir beinahe die Tränen in die Augen trieb.
Eine halbe Ewigkeit standen wir so in der Mitte ihrer kleinen Kammer, ihr Körper so dicht an meinem, dass ich ihren Herzschlag spüren konnte. Ich atmete tief ein, spürte, wie allmählich ein Teil meiner Anspannung von mir abfiel.
Nach einer halben Ewigkeit löste sie sich ein wenig von mir – nur ein wenig, denn ich hatte nach wie vor die Arme fest um ihre Taille geschlungen und weigerte mich stumm, sie gehen zu lassen. Sie sah mir noch ein letztes Mal fragend in die Augen, doch ich schüttelte abwehrend den Kopf. Sie nickte, doch ich sah die Sorge in ihrem Blick.
„Es ist schon gut“, murmelte ich. „Können wir einfach...können wir einfach versuchen, zu schlafen? Ich will dich nur im Arm halten...lass mich dich im Arm halten...“
Da griff sie nach meiner Hand und zog mich zum Bett hinüber. Ich folgte ihr widerspruchslos.

***

Eine Kammer, nur von schwachem Kerzenschein erhellt. Die harten Eisenringe um meine Handgelenke schnitten unbarmherzig in mein Fleisch. Die Striemen der Peitsche brannten noch immer wie Feuer auf meinem Rücken, und ich spürte die Wärme des Blutes, die klebrige Nässe, dort, zwischen den Schulterblättern. Es war so kalt, so verdammt kalt. Meine Zähne klapperten aufeinander, aber das kümmerte mich schon lange nicht mehr. Fast hieß ich den Schmerz willkommen, lenkte er mich doch ein wenig von meinen ewig kreisenden Gedanken ab. Wo war er nur? Wo war mein Vater? Er musste uns doch retten! Er musste uns doch retten kommen! Er hatte mich noch niemals enttäuscht, immer hatte er seine Versprechen gehalten, und ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er uns vergessen hatte. Dass er uns nicht suchen kommen würde. Aber wo war er nur? Wo war er nur?
Lange würden wir hier nicht mehr überleben. Das spürte ich. Auch wenn es so dunkel war, auch wenn ich ihre Augen nicht sehen konnte, auch wenn ich gerade so den dunklen Umriss ihrer Gestalt ausmachen konnte, dort, auf der anderen Seite der Zelle, so sah ich doch, dass sie kraftlos in ihren Fesseln hing. Und ich spürte es, ich spürte ihre Hoffnungslosigkeit. Wie ein dunkler, bitterere Geruch hing sie in der Luft.
„Ray...“ Ein Wispern, kaum mehr als ein Atemhauch.
„Ja, Mutti?“ Meine eigene Stimme klang so hohl, so verloren, so seltsam dünn, als sie von den kalten, feuchten Steinwänden zu mir zurückgeworfen wurde. Sie klang wie die Stimme eines kleinen Jungen. Aber ich musste doch ein Mann sein. Ich musste ein Mann sein! Nur ein Mann wäre stark genug, uns beide zu retten...ich musste stark sein!
„Egal, was geschieht, vergiss nie, dass ich dich liebe!“
Es klang nach Abschied. Es klang zu sehr nach Abschied!
„Nein!“, rief ich, lauter als beabsichtigt. „Nein, es wird alles gut werden, Mutti! Vater wird kommen, bestimmt wird er kommen. Wir müssen nur noch ein wenig warten können...nur noch ein wenig, bitte, Mutti!“
Ihre Antwort hörte ich nicht mehr. Denn in diesem Moment öffnete sich die schwere, eisenbeschlagene Tür unseres Verlieses mit diesem vertrauten, unheilverkündenden Quietschen.
„Nein, nicht den Jungen, nehmt mich!“, hörte ich den beinahe tonlosen Protest meiner Mutter, dann sah ich eine hastige Bewegung aus dem Augenwinkel, und sie verstummte mit einem leisen Wimmern.
„Du wirst schon noch früh genug wieder an der Reihe sein, keine Sorge, Weib!“, zischte Carum gehässig. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, öffnete die schweren, eisernen Ringe, die mich an die Kerkerwand fesselten. Und dann schlossen sich kräftige, unbarmherzige Finger um die offenen Wunden an meinen Handgelenken, schleiften mich mit sich fort. Ich hatte nicht mehr die Kraft, mich aufrecht zu halten.
Sie brachten sie mich in den Raum, in den grässlichen Raum mit den vielen Messern und Zangen, und ich wusste, was mich erwartete. Warum taten sie das? Ich verstand es nicht. Ich hatte ihnen nichts getan...und sie hatten mir niemals auch nur eine Frage gestellt.
„Nein!“, wisperte ich, als mich die harten, breiten Hände an der Kehle fassten, mich auf den Holztisch drückten, als sich die dicken, rauen Stricke wieder schmerzhaft fest um meine Handgelenke schnürten. Übelkeit stieg in meiner Kehle auf, brennende Übelkeit. „Nein, bitte nicht! Nein...nein...nein!“

„Ray!“
Das war eine andere Stimme, eine warme Stimme, eine sanfte Stimme. Sie gehörte nicht hierher in den Kerker und in diesen schrecklichen Raum. Eine seltsame Wärme breitete sich in meinem Inneren aus, und das Bild eines Mädchens erschien vor mir, eine Erinnerung...Caiti...das war Caiti...sie durfte nicht hier sein! Nicht hier, nicht bei den grausamen Männern, nicht bei Carum, nicht hier im Kerker. Das war nicht richtig! Und doch war sie hier, ihr helles Nachtgewand schimmerte weiß, stach leuchtend und strahlend hell gegen den Hintergrund der düsteren Kerkerwände hervor. Sie war ein Engel. Ein Engel in einem schimmernden, weißen Gewand.
Und doch war sie in höchster Gefahr, auch wenn die beiden Wachen sie bis jetzt noch nicht bemerkt zu haben schienen, auch Carum nicht, der mir den Rücken zuwandte und noch immer über die Folterinstrumente gebeugt war. Er ließ sich immer sehr viel Zeit dabei, wählte seine Werkzeuge mit Bedacht und Grausamkeit. Noch wandte er ihr den Rücken zu. Doch sobald er sich umdrehte, musste er sie sehen. Und dann wäre sie verloren. Das durfte ich nicht zulassen. Das konnte ich nicht zulassen.
„Geh!“, presste ich hervor. „Herrgott, Caiti, bitte geh!“ Meine Augen flehten sie an, doch ihre Haltung drückte Entschlossenheit aus. Sie griff nach meiner gefesselten Hand, strich mir mit der anderen Hand das schweißgetränkte Haar aus der Stirn.
„Nein!“, widersprach sie mir, sanft, aber bestimmt. „Nein, ich gehe nicht. Ich lasse dich nicht alleine. Komm! Komm mit mir!“




Caitlin



Ich hatte es gewusst. Von dem Moment an, da er durch das weit geöffnete Fenster in meine kleine Kammer gesprungen war, hatte ich es gewusst. Er war so seltsam – angespannt gewesen. Etwas war geschehen. Der sanfte, liebevolle Ray vom Vortag war verschwunden. Statt dessen stand nun ein Schmerz in seinen Augen, der mir so vertraut war. Einen Schatten dieses Schmerzes hatte ich erahnt, als er mich an jenem schicksalhaften Tag aus dem Wald gerettet hatte, als er vor ein paar Monden erneut in mein Leben getreten war. Doch es war damals nur ein Schatten gewesen, eine dunkle Ahnung. Heute war dieser verlorene Blick in den braunen Tiefen so viel deutlicher. Eine steile Falte stand zwischen den dichten, rabenschwarzen Augenbrauen, die sich zusammengezogen hatten, wie Gewitterwolken, die sich dunkel am Horizont ballen, Boten, die dem Unwetter vorauseilten. Etwas war geschehen.
Ich war unsicher gewesen, wie ich mich verhalten sollte. Sollte ich ihn in Frieden lassen, war es Zeit, die er benötigte? Doch dieser verzweifelte, verlorene Ausdruck, mit dem er mich betrachtet hatte – und dann hatte er mich fest in seine Arme geschlossen, sich an mich geklammert, wie sich ein Ertrinkender an einen rettenden Baumstamm klammern würde. Und ich hatte versucht, ihm Trost zu spenden, so gut ich es vermochte.
Irgendwann war er in meinen Armen eingeschlafen, und ich war noch lange wach gelegen, hatte ihm durch das weiche, zerzauste Haar gestrichen und mich gefragt, was nur geschehen war, was ihn so mitgenommen hatte. Selbst im tiefsten Schlaf hatte sich sein Griff nicht gelockert, seine Arme drückten mich fest an seine Brust. In der Sicherheit seiner Umarmung war auch ich irgendwann den warmen Wellen des Schlafes erlegen.

Mitten in der Nacht schrak ich aus dem Schlaf. Verwirrt blickte ich um mich, doch die Dunkelheit, die mich umgab, war undurchdringlich. Was hatte mich nur aufgeweckt? Und dann hörte ich es. Ein leises, verzweifeltes Wimmern neben mir. Ray!
Ich tastete eilig über ihn hinweg nach dem Zunder und entfachte mit bebenden Händen die Kerze auf der Truhe neben meinem Bett. Ihre warme, flackernde Flamme spendete gerade genug Licht, und der Anblick, der sich mir nun bot, schnürte mir die Kehle zu. Ray lag neben mir, das Gesicht mir zugewandt, sein Körper ein lebender Schild zwischen mir und dem geschlossenen Fenster und den Gefahren, die mir von dort draußen drohten. Genauso hatte er auch die letzte Nacht geschlafen, und diese stillschweigende Ritterlichkeit und die Selbstverständlichkeit, mit der er mich schützte, rührten mich zutiefst. Doch der starke, stolze Beschützer war nun verschwunden. Rays Gesicht glänzte feucht im Kerzenschein, ob es Schweiß oder Tränen waren, das vermochte ich nicht zu sagen. Seine Lider waren fest zusammengekniffen, seine Züge zu einer Maske der Pein erstarrt. Er sah so sehr wie ein kleiner Junge aus, wie er so dort lag und die Arme um sich geschlungen hatte, als wolle er sich selbst umarmen. Ein kleiner, verlorener Junge.
„Nein!“, hauchte er jetzt, so leise, dass ich ihn kaum verstand. „Nein...nein...nein!“ Auch seine Stimme war eine andere – sie war so hoch, so...jung.
Und dann schluchzte er. Es war ein leiser, herzzerreissender Laut, der mir die Tränen in die Augen trieb. Was immer er träumen mochte, es musste ein schrecklicher Alptraum sein. Ich hoffte nur, dass er nicht ebenso wie ich von Dingen träumte, die er erlebt hatte. Allein der Gedanke, jemand könne ihn verletzt haben, war mir unerträglich, und ein völlig unbekannter Drang, ihn zu beschützen, rührte sich in mir. Niemals zuvor hatte ich einem Mann gegenüber so empfunden. Und als ich so in sein schmerzverzerrtes Gesicht blickte, während mir meine eigenene Tränen heiß über die Wangen rannen, wusste ich, dass ich alles tun würde, das nötig war, um ihn aus diesem schrecklichen Traum zu reissen. Nur zu gut wusste ich, wie schlimm Träume sein konnten.

„Ray!“ Vorsichtig strich ich ihm eine feuchte Strähne aus der Stirn, wischte ihm mit den Fingern die Nässe von den Wangen. Seine Haut war so warm, und für einen Mann erstaunlich zart. „Ray, bitte, wach auf!“ Ich erkannte meine eigene Stimme kaum, sie zitterte, und ich war heiser von den Tränen, die ich hinuntergeschluckt hatte.
Sein ganzer Körper versteifte sich, und sein Brustkorb hob sich unter mir, als er erschrocken die Luft einsog. „Caiti!“, wisperte er entsetzt. „Geh! Herrgott, Caiti, bitte geh!“ Die Falte zwischen seinen Brauen wurde noch steiler, doch seine Augen waren nach wie vor geschlossen. Er war noch immer in seinem Traum gefangen, und ich betete, dass es mir gelingen möge, ihn zurückzuholen. Alle Vorsicht in den Wind schlagend, fasste ich ihn fest an der Schulter und rüttelte ihn. „Nein! Ray, du musst aufwachen! Bitte, wach auf! Wach auf...“, flehte ich.
Da, endlich, ging ein Ruck durch seinen Körper.
Dann schlug er die Augen auf...und ich sog überrascht die Luft ein. Tränen standen in ihnen, doch das war es nicht, was mich so aus der Fassung brachte. Ich hatte mit allem gerechnet – mit Entsetzen, mit Verzweiflung, mit Schmerz. Aber nicht mit diesem glühenden, braunen Blick, mit dem er mich nun betrachtete.
„Caiti!“, hauchte er, beinahe ehrfürchtig, und dann schlang er seine Arme um mich, zog mich dicht an seine Brust. Seine großen, warmen Hände strichen über meinen Rücken, über mein Haar, über meine Arme, so, als müsse er sich vergewissern, dass ich tatsächlich da war, dass ich unverletzt war, dass mir nichts geschehen war. „Oh, Caiti, du bist in Sicherheit, es geht dir gut...“, seufzte er leise. Dieselben Worte wollten auch über meine Lippen dringen, doch ich hielt sie zurück. Er war ein Mann, und, so nahm ich an, wohl auch ein Krieger. Ich wollte ihm seine Schwäche nicht vor Augen halten, ich ahnte, dass Männer in dieser Hinsicht einander glichen, ob sie nun Vampire waren oder Menschen. Und doch war da noch immer diese Sorge um ihn, die mir bleiern auf den Schultern lastete. Wie oft hatte er Träume wie diesen? Warum hatte er Träume wie diesen?
„Du warst dort. Du warst in meinem Traum! Du hast mich zurückgeholt! Wie hast du das nur zuwege gebracht?“, flüsterte Ray nach einer kleinen Weile in mein Ohr. Ich weiß nicht, wie lange wir dort nebeneinander auf dem Bett gelegen und einander in den Armen gehalten hatten, während ich seinem Herzschlag gelauscht hatte, der sich ganz allmählich beruhigt hatte.
Ich sah verblüfft zu ihm auf, und dieser seltsam glühende Blick, mit dem er mich betrachtete, löste eine seltsame, unbekannte Wärme in mir aus.
„Ich weiß es nicht“, murmelte ich. „Aber was es auch war, ich bin dankbar dafür. Ich hätte es nicht länger ertragen, dich so zu sehen...“
Langsam hob sich seine Hand, und dann wischte er mir ganz sanft die Tränen fort. „Nein, ich danke dir“, flüsterte er und schluckte. Dann huschte sein Blick zu meinen Lippen hinunter, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich las seine Absicht in seinen Augen, in diesem seltsam hungrigen Blick, und einen Moment später lagen seine Lippen auf den meinen, weich, warm und noch immer ein wenig salzig von seinen Tränen. Oder waren es die meinen? Es spielte keine Rolle.
Sämtliche Kraft schien aus mir herauszufließen, als sich seine Lippen fordernd und entschlossen über die meinen bewegten. Meine Arme gaben unter mir nach, weigerten sich, das Gewicht meines Oberkörpers länger zu tragen. Und da ich mich über ihn gebeugt hatte, fiel ich nun auf ihn hinab. Doch er beschwerte sich nicht über mein Gewicht, das nun so plötzlich auf ihm lastete. Er stöhnte leise, und dann schlossen sich seine Arme noch fester um meine Taille, und seine Hand vergrub sich in meinem Haar, während sein Kuss noch wilder und stürmischer wurde als zuvor. Es war, als sei seine Verzweiflung und seine Angst in wilde Leidenschaft umgeschlagen. Wärme breitete sich in meinem ganzen Körper aus, pulsierte durch mich hindurch, drang bis in meine Zehenspitzen.
Doch dann schmeckte ich Salz in unserem Kuss. Sein Körper bebte unter meinem, doch es war ein schmerzvolles Beben, ein leises, unterdrücktes Schluchzen, das ihn erschütterte.
Vorsichtig löste ich meinen Mund von seinem, legte meine Stirn an die seine und murmelte leise und beruhigend auf ihn ein.
„Es ist in Ordnung, Ray. Es war nur ein Traum, hörst du? Nur ein Traum...“
Er schloss die Augen und atmete tief ein. Seine dichten Wimpern warfen dunkle Schatten auf die feinen Wangenknochen. „Du warst in meinem Traum“, flüsterte er. „Du warst dort, und ich hatte solche Angst. Solche Angst, Caiti! Was, wenn er dich gesehen hätte? Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er dich...dass er dich auch...“
„Schsch. Ich bin hier. Ich bin in Sicherheit. Mir ist nichts geschehen, und dir auch nicht. Es war nur ein Traum...“
„Nein!“, widersprach er mir heftig. Seine Augen öffneten sich ruckartig, seine Hände legten sich um mein Gesicht, und er setzte sich auf und rückte ein wenig von mir ab. Dann sah mir ernst in die Augen. „Es war kein Traum, Caiti. Es war eine Erinnerung. Und ich schwöre...“, wieder bannte mich sein brennender Blick, und dann schluckte er, und seine Stimme wurde noch leiser, noch ernster, noch entschlossener. „Ich schwöre, dass ich niemals zulassen werde, dass dir ein Leid geschieht. Ich werde niemals zulassen, dass so etwas noch einmal geschieht...“
„Das was noch einmal geschieht?“ Die Frage war mir herausgerutscht, ohne dass ich es verhindern konnte, und ich bereute es augenblicklich, denn der Schmerz loderte wieder in seinen Augen, ein dunkles, verzehrendes Feuer. Langsam rückte er von mir ab, und ich spürte die kalte Luft über meine Wangen streichen, als er seine Hände von mir löste. Sein Blick verlor sich in der Ferne, während er dort, am anderen Ende des Bettes, in sich zusammensank, so als habe ihn jegliche Kraft verlassen.
„Es tut mir leid!“, flüsterte ich, doch er reagierte nicht. Ich glaubte schon nicht mehr daran, dass er mir noch antworten würde, lange Zeit sah er nur mit diesem düsteren, verlorenen Blick zu Boden und rührte sich nicht. Doch dann fuhr er sich mit der Hand durch das Haar, atmete tief ein und begann mit leiser, beinahe emotionsloser Stimme zu sprechen.
„Als ich noch ein Knabe war, geriet ich gemeinsam mit meiner Mutter in die Hände unserer Feinde. In die Hände meines Onkels Carum. Lange Monde haben wir dort in seinem Kerker verbracht, und sie sind nicht gerade sanft mit uns umgegangen. Meine Mutter starb, ehe mein Vater uns retten konnte. Weil ich nicht stark genug war, uns zu befreien...“
„Oh, Ray!“, hauchte ich entsetzt, und in diesem Augenblick wünschte ich mir so sehr, über seine Gabe zu verfügen. Ich hätte alles dafür getan, ihm diesen Schmerz zu nehmen, und zugleich ahnte ich, dass das unmöglich war, denn es war kein körperlicher Schmerz. Mein Herz zog sich zusammen, als ich dachte, was er mit diesen wenigen, nüchternen Worten vor mir hatte verbergen wollen, die ganze Grausamkeit dessen, was geschehen war. Ein kleiner Junge in der Folterkammer seiner Feinde...ich wusste genug von den Kerkern unter dem Ratshaus, um zu verstehen, dass es das sein musste, was er so fürchtete. Folter und Tod. Und doch hatte seine erste Sorge mir gegolten. Als es mir gelungen war, ihn aus den Klauen des Alptraumes zu befreien, hatte er sich erst versichert, dass mir nichts geschehen war...
„Oh, Ray, es tut mir so leid, es tut mir so leid...ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen!“, wisperte ich. Seine Worte hallten in meinem Kopf nach, diese leise, ausdruckslose Stimme, mit der er gesprochen hatte...“weil ich nicht stark genug war, uns zu befreien...“
„Es war nicht deine Schuld, Ray!“, flüsterte ich. „Du warst noch ein Kind! Wie hättest du euch befreien können?“
Noch immer rührte er sich nicht, steif saß er mir gegenüber, und auf einmal war dieser Graben, der sich zwischen uns aufgetan hatte, mehr, als ich ertragen konnte. Ich musste ihn berühren, ich musste ihm irgendwie helfen, denn ich spürte mehr, als dass ich sah, wie er innerlich den Halt verlor. Ganz vorsichtig, ganz langsam kroch ich über die harte, knotige Matraze auf ihn zu. Ich rückte so nahe, bis ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte, und dann nahm ich all meinen Mut zusammen, langte über den Graben hinweg und zog ihn an mich. Er atmete einmal tief ein, dann erwiderte er die Umarmung mit einer Kraft, die mich beruhigte. Er schien keinen Groll gegen mich zu hegen.
„Ich...ich kann nicht darüber sprechen“, brachte er irgendwann heraus. „Nicht jetzt, nicht heute. Vielleicht ein andermal, aber...nicht heute. Bitte.“
„In Ordnung.“
Und ohne ein weiteres Wort zu wechseln, legten wir uns zum Schlafen nieder. Wie zuvor war es sein Körper, der den meinen vor dem Fenster abschirmte, und er hielt mich fest umschlungen, als wolle er sich vergewissern, dass er sein Versprechen würde halten können.

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Texte: (c) by Schneeflocke alias C.S.
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2010

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Für alle meine treuen Leser - ihr wisst nicht, wie sehr ihr mich mit euren lieben Kommentaren motiviert. Ich bin dennoch offen für Kritik, also keine falsche Scheu, wenn euch etwas auffällt. Lg Flocke

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