Cover

Es war eine traurige Prozession, die sich da ihren Weg durch den Wald bahnte, allen voran Jaro, der die Leiche seines besten Freundes auf den Schultern trug. Sein Gesicht war wie aus Stein gemeiselt, keine Regung war daran abzulesen. Ich erinnerte mich, wie er sich, mit Tränen in den Augen, auf dem Schlachtfeld über den toten Körper Logans gebeugt hatte und ihm ganz sanft die himmelblauen Augen geschlossen hatte, die blicklos ins Leere gestarrt hatten. Mein Herz hatte sich bei dem Anblick zusammengekrampft, doch meine Augen waren trocken geblieben, ich hatte nur den dumpfen Schmerz des Verlustes gefühlt und gewusst, dass ich später in Ruhe um ihn trauern würde. Ja, wir hatten einen Preis für unseren Sieg gezahlt. Das taten wir immer. Jaro wusste das, und deswegen zog er auch nicht gern in den Kampf. Und das war der Grund, warum er unser Anführer war.

Es war ein langer, beschwerlicher Marsch zurück zur Siedlung. Die meiste Zeit stapfte ich schweigend neben Aiden durch den stellenweise kniehohen Schnee, der in der Mittagssonne angetaut war, was dazu führte, dass wir mit jedem Schritt auch bis zu den Knien darin versanken und uns mühsam wieder herauswinden mussten. Je näher wir der Siedlung kamen, desto mehr fühlte ich meine Kräfte schwinden. Einmal strauchelte ich und musste von Aiden aufgefangen werden, der mich mit einem besorgten Blick musterte.
Das Blut hatte mich zwar soweit gestärkt, dass ich mich wenigstens auf den Beinen hielt, doch es hatte mir auch nicht meine vollständige Kraft zurückgegeben. Der Schweiß stand mir in Perlen auf der Stirn, den eisigen Wind spürte ich selbst durch meinen dicken Mantel hindurch, meine Haare troffen von Schweiß und Blut, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als mich einfach hinlegen zu können und ewig zu schlafen. Ich wusste aus Erzählungen Logans, dass ein Mann, der sich einmal im Schnee schlafen legte, in der Regel nie wieder erwachte. Ich war immer der Meinung gewesen, dass das wohl ein sehr friedlicher Tod sein musste, umgeben von weichem Schnee und der Stille der Wälder friedlich einzuschlummern und niemals wieder aufzuwachen – ich konnte mir Schlimmeres vorstellen, weit Schlimmeres.
Logan – der Gedanke an ihn schmerzte. Ich erinnerte mich an glückliche Tage in meiner Kindheit, als er mich auf seinen Schoß gesetzt und mit mir Reiter gespielt hatte. Und wie er mir damals, als ich elf Sommer zählte, mit einem freundlichen, auffordernden Lächeln das Schwert meines Vaters gereicht hatte. Damals, als ich verstummt war, meine Gesichtszüge in einer ewigen, gleichgültigen Maske erstarrt, und doch hatte ich nicht anders gekonnt, als diese aufrichtige Lächeln zaghaft zu erwidern, selbst ein wenig überrascht, dass ich dazu überhaupt noch fähig war. Und dann hatte sich meine Faust fest um den ledernen Griff geschlossen, und ich hatte das erste Mal das Gefühl gehabt, dass es vielleicht doch etwas gab, wofür es sich zu leben lohnte.
Es war Logan gewesen, der meinen Onkel überzeugt hatte, dass es nun an der Zeit war, dass ich lernte, zu kämpfen, und er war mein erster Lehrer gewesen. Später, als er die Wache an der Grenze übernahm, hatten Jaro und Cyril, der Schmied und Waffenmeister zugleich war, diese Aufgabe übernommen, doch Logan hatte mich die wichtigsten Grundzüge des Kampfes gelehrt.

Der Mann vor mir blieb plötzlich stehen, und ich bemerkte es gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass ich gegen ihn prallte. Ich sah ein Licht in der Dämmerung aufleuchten, die flackernde Flamme einer Fackel in der gespenstischen, beinahe lautlosen Stille, die uns umgab, und vernahm leises Stimmengemurmel. Wir hatten den äußersten Posten der Wachen erreicht, die rund um die Siedlung positioniert waren. Nach einem kurzen Wortwechsel verlosch die Flamme, der Wachposten verschmolz wieder mit den Schatten des Waldes und wir setzten unseren Weg fort.
Als wir schließlich auf die Lichtung hinaustraten, erwartete man uns schon. Die Hütten waren hell erleuchtet, die Kunde von unserer Rückkehr schien sich wie ein Lauffeuer verbreitet zu haben. Männer eilten herbei, um die Toten von den Schultern der Krieger zu nehmen, die sie bis hierher getragen hatten. Sie würden die Nacht über aufgebahrt werden, um dann mit dem Morgengrauen der Erde übergeben zu werden.

Dann waren wir vor unserer Hütte angelangt. Meine Tante, die vor der Tür auf uns wartete, verschwand in Jaros fester Umarmung, und ich sah, wie die beiden ein kurzes, leises Gespräch führten. Selbst im spärlichen Licht des Kaminfeuers, das durch die offene Tür drang, sah ich, wie ein Schatten über Elaines Züge huschte, und sie drückte Jaro noch ein wenig fester an sich und barg für einen Augenblick den Kopf an seiner Schulter. Dann tauschten sie einen letzten, innigen Blick, und mit einem Nicken wandte sich Jaro wieder um und ging denselben Weg zurück, den wir gekommen waren, schweigend, das Gesicht von uns abgewandt, die Schultern hochgezogen und den Rücken entschlossen aufgerichtet, so, als wappne er sich innerlich.
Elaines Arme schlossen sich nun um Aiden und mich, und in der Wärme dieser Umarmung schien ein wenig von der Last der Schuld, die ich mir heute aufgeladen hatte, von mir abzufallen.
„Meine beiden großen Jungs! Aiden, ich habe mir solche Sorgen gemacht!“ Mit einem zitternden Finger strich Elaine über den Schnitt an seiner Kehle. Aiden, dem die mütterliche Zuneigung offensichtlich etwas unangenehm war, wand sich vorsichtig wieder aus der Umarmung.
„Es ist nicht so schlimm, Mutter. Nur ein Kratzer – dank Ray“, fügte er leise hinzu.
Elaine nahm jetzt mich genauer in Augenschein.
„Oh, Ray, du siehst schrecklich aus!“ Sanft fuhr sie mir über das Haar, das im Wind zu einer starren Masse getrocknet war.
Ich grinste schwach. „Dann sehe ich so aus, wie ich mich fühle. Danke für das Kompliment, Tante.“
Ich nickte ihr und Aiden noch einmal zu, wandte mich dann um und ging ohne ein weiteres Wort in den Wald hinein. Ich glaubte, die besorgten Blicke in meinem Rücken förmlich spüren zu können. Doch ich wusste auch, dass mich niemand aufhalten würde, denn sie kannten mich gut genug, um zu wissen, was ich jetzt vorhatte. Ganz egal, wie erschöpft ich nach einem Kampf war, ich brauchte diese wenigen, stillen Minuten, um meine Seele zu reinigen. Nur so gelang es mir, zu vergessen, und damit zu leben, dass ich getötet hatte und es wohl auch wieder tun würde. Ich würde immer kämpfen um meine Familie zu beschützen. Und ich würde auch kämpfen, um Sie zu beschützen, ohne nur einmal mit der Wimper zu zucken.
Leise seufzend ließ ich mich neben dem großen Felsbrocken nieder, der einem steinernen Wächter gleich über der kleinen Lichtung zu wachen schien. Das weiche Gras schmiegte sich raschend an mich, als ich mich mit ineinander verkreuzten Beinen auf dem Boden niederließ. Über mir huschte ein Kleiber den glatten, grauen Stamm einer alten Buche hinab, das kleine Köpfen nickte mit jeder Bewegung leise auf und ab. Ansonsten herrschte eine fast friedliche Stille in dem Wald, über den sich allmählich die nächtliche Dunkelheit senkte, ein starker Kontrast zu den Kampfgeräuschen, die noch immer in meinen Ohren zu klingen schienen, und dem grellen Licht des vom Schnee reflektierten Sonnenscheins des Schlachtfeldes. Dieser Platz war nur den wenigsten bekannt, versteckt in den Tiefen des Unterholzes, das diesen Teil des Waldes dominierte, und außer mir kannte meines Wissens nur Aiden den schmalen Pfad, der hierher führte. Wir hatten ihn vor vielen Jahren beim Spielen entdeckt, und er war zu meinem geheimen Rückzugsort geworden. Er vermittelte mir ein seltsames Gefühl des Friedens, hierher kam ich immer, wenn ich ungestört über etwas nachdenken wollte. Und ich kam hierher, um zu trauern, ein Ritual, das ich an dem Tag begonnen hatte, an dem ich meinen ersten Mann in der Schlacht getötet hatte.

Als sei es gestern gewesen konnte ich mich noch daran erinnern, wie schrecklich das Gefühl der Schuld gewesen war, als ich gesehen hatte, wie das Licht in den grauen Augen erloschen war und ich mir bewusst wurde, dass ich soeben einen Mann ermordet hatte, ihm das Leben genommen hatte. Meinetwegen würde er nie all die Dinge tun können, von denen er vielleicht geträumt hatte, er würde seine Kinder nicht aufwachsen sehen, so wie meine Eltern mich nicht hatten aufwachsen sehen. Ich fragte mich, ob ich wohl dafür verantwortlich sein würde, dass es einem anderen Jungen ähnlich erging, wie es mir selbst ergangen war, und da hatte ich gespürt, wie die Übelkeit sich brennend einen Weg meine Speiseröhre hinauf bahnte, und ich hatte mich abgewandt und mich auf das blutverschmierte Gras zu meinen Füßen übergeben.
Als ich aufgeblickt hatte, hatte ich in Logans verständnisvolle himmelblaue Augen gesehen, und er hatte mich nicht ausgelacht oder mich abschätzend betrachtet, sondern er hatte nur genickt und gesagt, dass ich erst jetzt wirklich zum Mann geworden sei, und dass er auch so reagiert habe, als er das erste Mal getötet habe.
„Wie kann das richtig sein?“, hatte ich verstört gefragt und auf den leblosen Körper zu meinen Füßen geblickt. „Wie kann es richtig sein? Warum lebe ich noch und er nicht?“
„Es ist nicht richtig, Junge“, hatte Logan ernst gemeint, und ich hatte ihn erstaunt angesehen. Er war einer unserer besten Kämpfer, ich hatte nicht erwartet, dass gerade er meiner Meinung sein würde. Logan hatte ein wenig über meine erstaunte Miene gelächelt, doch dann hatten seine Augen einen beinahe traurigen Ausdruck angenommen, das helle Blau hatte sich verdunkelt.
„Es ist niemals richtig, zu töten. Wir tun es nur, um die zu beschützen, die uns am Wichtigsten sind, wir kämpfen, um uns und unsere Familien zu verteidigen. Und wenn wir sie nicht töten, dann töten sie uns. Aber das macht es nicht besser. Es ist niemals recht, zu töten, denk immer daran, Ray, jedes Mal, wenn du dein Schwert gegen jemanden erhebst! Denn das ist es, was uns von ihnen unterscheidet, und wenn wir zulassen, dass uns das Töten zur Gewohnheit wird, dann sind wir nicht besser als sie, dann bräuchten wir sie nicht länger zu bekämpfen, denn es würde keinen Unterschied mehr machen, wer gewinnt.“
Ich hatte nur erstaunt genickt, eigentlich hätte es mich nicht überraschen sollen, Logan war ein guter Freund meines Onkels, und ich wusste, das auch Jaro das Kämpfen nicht guthieß, es nie getan hatte. Im Gegensatz zu meinem Vater waren diese beiden Männer ihren Grundsätzen stets treu geblieben.

Später an diesem Tag hatte Logan mir dann gezeigt, was ihm half, mit der Schuld zurecht zu kommen, er hatte mir gezeigt, wie er um die Männer trauerte, die er getötet hatte.
Und so schickte ich mich auch jetzt wieder an, zu tun, was er mich vor so vielen Jahren geheißen hatte.
„Ich bereue“, begann ich mit leise, jedoch fester Stimme. „Ich bereue, dass ich Leben nehmen musste, Leben, die nun auf immer verloren sind...“
Die so bekannten Worte hallten laut in der Stille des Waldes wieder. Ich schloss die Augen und dachte an die Gesichter der drei Männer, die ich heute von meiner Hand gestorben waren. Ich hatte mir ihre Züge genau eingeprägt, sah sie so deutlich vor mir wie die Gesichter all der anderen Männer, deren Tod auf meinen Schultern lastete.
„Warum trauerst du um diese Männer?“, hatte ich Logan damals gefragt. „Es macht sie nicht wieder lebendig, es nützt ihnen nichts mehr. Es ist zu spät, sie sind doch schon tot.“
„Es mag ihnen nichts mehr nützen, aber es wird dir helfen“, hatte er mir erklärt. „Und so wird auch um all diejenigen getrauert, die niemanden mehr haben, den sie zurücklassen. Denn es sollte keiner in das Schattenreich gehen, ohne dass jemand seinen Fortgang betrauert.“
Und er hatte recht gehabt, denn jedes Mal, nachdem ich die Worte gesprochen hatte, war mir ein wenig leichter ums Herz gewesen, und die Last auf meinen Schultern schien weniger schwer zu wiegen als zuvor, wenngleich sie nie ganz verschwand.
Doch heute trauerte ich nicht nur um die Männer, die ich getötet hatte, ich trauerte auch um den Mann, der mich das Kämpfen gelehrt hatte. Und das erste Mal seit dem Tod meiner Mutter spürte ich, wie heiße Tränen meine Wangen hinunter rannen, denn ich wusste, dass Logan nie wieder diese Worte würde sprechen können, die er mich einst gelehrt hatte, denn auch er war mir genommen worden. Sie starben alle. Alle, die mir etwas bedeuteten, wurden mir früher oder später genommen, es war nur eine Frage der Zeit. Wie ein Fluch schien das auf mir zu lasten, und ich wurde einmal mehr in meinem Entschluss bestärkt, mich von Caitlin fernzuhalten. Ich konnte nicht verantworten, dass auch ihr Leben meinetwegen in Gefahr geriet.
„...und so bitte ich um Vergebung und hoffe, das dereinst auch jemand um mich trauern wird, wenn meine Zeit gekommen ist und ich im Kampf falle.“ Wie eine düstere Vorahnung schienen die Worte in der Stille nachzuhallen.

***

Meine Tante hatte das Feuer geschürt, denn es war angenehm warm in der Stube, als ich schließlich zurückkam. Ich zog den verschmutzten Mantel aus, in der Hoffnung, dass ihn eine gute Wäsche retten würde, und legte ihn über das Trockengestell. Dann schälte ich mich aus dem blutverschmierten, schweißgetränkten Hemd, das eigentlich nur noch aus Fetzen bestand, und warf es in den Kamin. Die Flammen fauchten leise, und ein paar Funken stoben auf, verglommen und fielen dann als Ascheflocken zu Boden.
„Wo ist Jaro?“, fragte ich, denn außer mir waren nur Elaine und Aiden in der Stube zu sehen.
„Den Familien ihr Beileid aussprechen, du weißt schon...“, murmelte Elaine bedrückt, und ich zuckte unwillkürlich zusammen. Natürlich war es Jaros Pflicht als Clanführer, den Familien der gefallenen Männer einen Besuch abzustatten, ihnen sein Beileid auszusprechen und mit ihnen das letzte Gebet zu sprechen.
Nur dass Logan keine Familie gehabt hatte, die er zurücklassen konnte. Vielleicht hatte ich mich ihm deswegen von Anfang an so verbunden gefühlt, weil ich wusste, dass er auch alles verloren hatte, dass er nachempfinden konnte, wie ich mich fühlte. Und doch wusste ich auch, dass man um ihn trauern würde, am Meisten wohl in diesem Haus, denn bevor er zu den Grenzwachen gestoßen war, war er hier ein und aus gegangen. Jaros Familie hatte ihn in ihren Kreis aufgenommen, ganz ähnlich, wie sie es auch mit mir getan hatten. Ich wusste, dass Elaine Logan sehr gemocht hatte und dass sie sein Verlust schwer getroffen haben musste, doch ich wusste nicht, was ich dazu hätte sagen sollen. Worte waren manchmal so unzureichend, das wusste ich aus bitterer Erfahrung. Und so schwieg ich.
Ich hörte das leise Gluckern, als sie heißes Wasser aus dem Kessel über dem Feuer in eine kleine Schüssel füllte. Sie reichte sie mir wortlos, zusammen mit einem weichen Lappen, und wandte sich dann wieder Aiden zu, um dessen Verletzungen zu versorgen. Ich seufzte erleichtert, als das warme Wasser das verkrustete Blut und den Schmutz von meiner Haut löste.
Eben wollte ich mir ein frisches Hemd aus der Kleidertruhe holen, da stand Elaine auch schon wieder vor mir und drückte mich mit sanfter Gewalt auf die Bank zurück, auf der ich gesessen hatte.
„Nicht so schnell, Ray“, meinte sie bestimmt. „Zuerst will ich mir noch diese Wunde da ansehen.“
„Jaro hat sie bereits verbunden, es ist halb so schlimm, wie es aussieht“, wehrte ich ab.
„Das will ich schon selbst beurteilen“, widersprach Elaine. Sie drehte meinen Oberkörper, so dass der Feuerschein den Verband an meiner rechten Schulter beleuchtete, und nickte grimmig. „Wie ich es mir dachte – die Binde ist durchgeblutet. Und ich bin mir sicher, dass ihr keinen Alkohol dabei hattet, habe ich recht?“
Ich nickte nur und ergab mich meinem Schicksal. Meine Tante war die Heilerin unserer kleinen Siedlung. Sie verstand ihr Handwerk, auch wenn ihre Behandlungen meist schmerzhaft waren.
„Beiß die Zähne zusammen, Junge“, warnte sie mich jetzt. Mit einem Ruck riss sie mir den Verband, der durch das geronnene Blut an meiner Wunde klebte, von der Schulter. Dann goss sie Alkohol aus einer kleinen Flasche über die nun wieder offene Schnittverletzung.
Ich spannte den Kiefer an und konnte doch nicht verhindern, dass mir ein leises Stöhnen über die Lippen drang. Glühendheiße Flammenzungen loderten in meiner Schulter auf, als sich die bräunliche Flüssigkeit in die Wunde brannte. Bunte Sternchen tanzten vor meinen Augen, und die Ränder meines Blickfeldes verschwammen. Übelkeit verkrampfte meinen Magen zu einem harten Ball.
„Tut mir leid, Ray, aber das musste sein“, entschuldigte sich meine Tante. „Du solltest jetzt ausatmen“, fügte sie mit einem leichten Lächeln hinzu, und ich stieß keuchend die Luft aus, die ich angehalten hatte. Dann legte sich ein kühlender Schleier über die schmerzende Stelle und linderte das flammende Feuer zu einem sanften Glühen. Ein straffer Verband fixierte die Kräuterpaste, die Elaine soeben aufgetragen hatte, auf der Wunde. Die Wärme des Kaminfeuers entspannte meine verkrampften Muskeln, und gegen meinen Willen schlossen sich meine Lider.
„Er schläft schon im Sitzen. Bring ihn nach oben...“, waren die letzten Worte, die ich noch hörte, und dann ergab ich mich endgültig der sanften Umarmung des Schlafes.

***

„Ray“, flüsterte eine helle Stimme direkt neben meinem Ohr. Mit einem leisen Aufschrei schrak ich aus dem Schlaf, der so tief gewesen war, dass er fast einer Ohnmacht gleichgekommen war.
Jemand kicherte. Ich schlug die Augen auf – und blickte direkt in ein anderes Paar von der Farbe dunklen Mooses im Sonnenlicht. Der kleine Junge, der mit untergeschlagenen Beinen neben mir auf dem Bett saß, strahlte mich fröhlich an.
„Vater hat gesagt, ich darf dich wecken. Es ist immer so langweilig, wenn Aiden nicht da ist. Spielst du mit mir?“
„Ray ist noch ein wenig erschöpft, Marlon“, antwortete eine tiefe Stimme, ehe ich auch nur ein Wort über meine Lippen brachte. Jaro lehnte am Türrahmen. Er sah alt aus – tiefe Sorgenfalten standen auf seiner Stirn, und diesmal lagen Schatten unter seinen Augen.
„Na, weilst du wieder unter den Lebenden, Ray?“, fragte er mich mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. „Wie geht es deiner Schulter?“
„Ganz gut, denke ich.“ Ich streckte versuchsweise den rechten Arm – und zuckte ein wenig zusammen.
Jaro nickte wissend. „So etwas braucht länger als eine Nacht, um zu heilen, Junge.“
Verwirrt blinzelte ich in das Licht, das durch das Fenster fiel. „Wie lange habe ich geschlafen?“
„Die ganze Nacht und den halben Morgen“, meldete sich Marlon jetzt wieder zu Wort. „Und ich wollt doch unbedingt wissen, wo Aiden ist und was mit dir los ist, und keiner hat mir was gesagt.“
„WAS?“, rief ich so laut, dass der Junge an meiner Seite erschrocken zusammenfuhr.
„Ganz ruhig!“ Jaro hatte seinen Platz an der Tür verlassen und sich neben Marlon auf meine Bettkante gesetzt. Der kleine Junge blickte mich erstaunt an.
„Tut mir leid, Marlon, ich wollte dich nicht erschrecken“, murmelte ich und zauste dem Jungen mit der linken Hand ungeschickt durch das lockige Haar. „Aber Caiti... Ich war nicht da! Sie war ohne Schutz! Ich muss wissen, ob es ihr gut geht!“, wandte ich mich an meinen Onkel.
„Keine Sorge – wir lassen das Dorf nicht aus den Augen. Und wenn er zurückkommt, kannst du Aiden fragen, wie es Caitlin geht – er war die letzte Nacht in Gwenara“, erwiderte dieser.
„Aiden! Aber...er ist doch auch verletzt. Warum habt ihr nicht jemanden geschickt, der ausgeruht ist?“
„Nicht so schlimm wie du. Und er hat darauf bestanden, deinen Platz einzunehmen. Hat irgendetwas von verdächtigen Spuren gefaselt, und davon, dass du dir Sorgen machen würdest. Keiner konnte ihn davon abbringen, im Dorf zu wachen. Ich habe es versucht, glaub mir.“ Mein Onkel fuhr sich leise seufzend mit der Hand durch das ohnehin schon leicht zerzauste Haar.
„Im Dorf?“, fragte ich erstaunt.
„Ich sagte doch, er wollte deinen Platz einnehmen. Er meinte, das wäre er dir schuldig.“
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Ihr hättet mich wecken sollen. Zwei Nächte hintereinander ohne Schlaf? Er ist erst sechzehn Sommer alt, Jaro. Und nach diesem Kampf...“
Mein Onkel lächelte. „Du warst sogar noch jünger“, erinnerte er mich und erhob sich.
„Und jetzt lasse ich dich mit deinem Gast alleine, ich muss den Rat zusammenrufen. Elaine ist unterwegs und versorgt die Verwundeten, könntest du ein wenig auf den kleinen Frechdachs hier aufpassen?“, fragte er mich.
Ich nickte. „Natürlich.“
„Und du, mein Junge“, wandte sich Jaro mit erhobenem Zeigefinger an seinen Sprössling, „strengst den armen Ray nicht zu sehr an.“

***

Noch immer ein wenig unsicher auf den Beinen, aber so wach wie schon lange nicht mehr, ging ich schließlich die Treppen hinunter in die Stube. Marlon, den ich mir wie einen Sack über die linke Schulter geworfen hatte, kreischte vor Vergnügen und strampelte so wild mit den Beinen, dass ich ihn schließlich an den Fersen packte und kopfüber hinunter trug. Der Junge stieß daraufhin ein begeistertes Quieken aus, das so komisch klang, dass ich nicht anders konnte als leise zu lachen.
Das Lachen verstummte jedoch abrupt in meiner Kehle, als ich am Ende der Treppe anlangte und eine erschöpfte Gestalt gewahrte, die sich über den Kamin beugte. Aiden saß dort vor dem Feuer und wärmte sich zitternd die klammen Finger. Die Schneeflocken, die sich in seinem dichten, lockigen Haar verfangen hatten, schmolzen zu kleinen, im Schein der Flammen glitzernden Wassertropfen. Er trug noch immer den durchweichten, mit Blut und Schlamm verschmierten Mantel vom Vortag.
„Hallo, Aiden!“ Ich setzte mich neben ihn auf die Bank und ließ Marlon langsam zu Boden gleiten. „Hallo, Ray! Na, von den Toten wieder auferstanden?“, grüßte Aiden mich mich mit einem leichten Grinsen. Er sah müde aus, dunkle Schatten lagen auch unter seinen Augen, und die Erschöpfung und die Kälte hatten tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben. Sein Arm war nach wie vor von einem Verband umhüllt, und auf der blassen Haut seines Halses zeichnete sich dunkel der schmale Schnitt ab, den das Schwert des feindlichen Vampirs dort hinterlassen hatte. Ich fragte mich, ob er wohl eine Narbe behalten würde, doch ich wusste zugleich, dass das Aiden nicht stören würde. So, wie ich ihn kannte, würde er sie mit Stolz tragen, vielleicht gar versuchen, das ein oder andere Mädchen damit zu beeindrucken. Der Gedanke ließ mich leise schmunzeln.
Kaum hatte ich den Jungen abgesetzt, warf sich dieser auch schon in Aidens Arme und unterband damit jeden Versuch einer weiteren Unterhaltung.
„Hallo, kleiner Mann!“ Liebevoll fuhr mein Cousin seinem Bruder durchs Haar.
„Aiden! Du bist wieder da! Machst du den Trick mit der Münze? Bitte?“ Große Augen blickten bettelnd zu ihm auf, und ich wusste, dass Aiden ihnen nicht widerstehen konnte. Leise seufzend langte er in seine Tasche, dann zog er mit geheimnisvoller Geste eine kleine Münze hinter Marlons Ohr hervor.
„Aiden, du solltest dich ausruhen“, warf ich ernst ein. Er war schon viel zu lange auf den Beinen.
„Das hatte ich vor...sobald ich meine Finger wieder spüre“, erwiderte Aiden.
„Du hättest das nicht tun müssen, Cousin“, fuhr ich fort. Ich fühlte mich schuldig, dass er meinetwegen so viel auf sich genommen hatte, und dennoch war ich unendlich froh, dass er es getan hatte, dass Caitlin in Sicherheit war. Die widerstreitenden Gefühle mussten sich in meinen Gesichtszügen widerspiegeln, denn Aiden grinste schwach, als er zu mir hinüber sah. Er wusste sofort, wovon ich sprach.
„Ich weiß. Aber du warst nicht in der Lage, da raus zu gehen, und ich schon...und sie bedeutet dir sehr viel, oder? Und ich wusste, dass du dir Sorgen machen würdest – wegen der Spuren – also...
Ich habe es gern getan.“
„Danke, Aiden.“
Er nickte nur.
„Es waren keine da, weißt du“, meinte er nach einer Weile nachdenklich und legte die Stirn leicht in Falten.
„Keine Spuren“, fügte er hinzu, als er meinen fragenden Blick sah. „Und ich hab auch niemanden ums Haus schleichen sehen. In der Nacht war alles ruhig.“


12. Erkenntnis




Ray



Die aus blankem Eichenholz geschnitzten Bänke, die ansonsten in der Mitte des Raumes um den großen Esstisch angeordnet waren, waren an die Wände gerückt worden, und Elaine hatte sämtliche Stühle und selbst ein Salzfass angeschleppt, um allen einen Sitzplatz anbieten zu können, und sie in einem großen Kreis angeordnet, der die gesamte Wohnstube einnahm.
Ich saß auf dem Esstisch, den Rücken an die Holzplanken der Wand gelehnt, dicht neben Aiden, der die Beine im Schneidersitz ineinander verschränkt hatte. Zu meiner Rechten stand Jaro, als einziger der Versammelten hatte er nicht Platz genommen, und gemeinsam beobachteten wir Rodrig, der den Raum in schnellen Schritten durchmaß.
Der neue Anführer der Grenzwachen lief ruhelos im Kreis umher und fuhr sich immer wieder mit der Hand durch das inzwischen recht wirre, zerzauste schwarze Haar, wie er es für gewöhnlich tat, wenn er sehr angespannt war. Sein langer, schwarzer Mantel, der ihn als Grenzwache kennzeichnete, flatterte hinter ihm durch die Luft, und die Kapuze in seinem Nacken wippte im Rhythmus seiner Schritte auf und ab. Ich fragte mich im Stillen, ob er wohl Spuren im Hartholz der Bodendielen hinterlassen würde, wenn er seine Geschwindigkeit beibehielt. Ungeduldig wartete er, bis sich der Raum gefüllt hatte, und als ihm Jaro mit einem Kopfnicken bedeutete, dass er nun reden konnte, hielt er abrupt in seinem Lauf inne. Er sah einem nach dem anderen in die Augen, wippte dabei unruhig auf den Fußballen hin und her, und als er sich vergewissert hatte, dass ihm die volle Aufmerksamkeit der Männer zuteil wurde, begann er zu sprechen.
„Der Schattenclan dringt immer öfter über unsere Grenzen vor, aber das hat Euch Logan schon berichtet, nehme ich an“, sagte er mit seiner tiefen, volltönenden Stimme, die in der Stille von den Wänden wiederzuhallen schien.
Erneut durchfuhr mich dumpfer Schmerz bei der Nennung von Logans Namen – es würde dauern, bis ich mich an den Gedanken gewöhnt hatte, dass er nicht mehr unter uns weilte. Und es war so seltsam, dass nun Rodrig für die Grenzwachen sprach. Ich sah aus den Augenwinkeln, dass auch Jaro leicht zusammenfuhr, und dachte, dass es für ihn wohl noch schmerzhafter sein musste.
„Immer wieder überschreiten sie die Grenzen und ziehen sich dann wieder zurück, so, als wollten sie feststellen, wie schnell wir uns zum Gegenangriff formieren können. Wir sind zu wenige, wir können unsere Augen nicht überall haben, und wir schlagen wesentlich langsamer zurück, als wir es sollten. Und in letzter Zeit scheinen sie uns zudem genau zu beobachten, so, als wollten sie herausfinden, wann welche Stelle der Grenze abgeschritten wird. Das beunruhigt uns zutiefst. Sie planen etwas, davon war auch Logan überzeugt. Und es ist so gut wie unmöglich, alles zu sehen. Uns entgeht zu viel. Wir benötigen mehr Männer, Jaro!“
„Wir haben keine Männer mehr, Rodrig!“, erwiderte mein Onkel stirnrunzelnd. Er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber ich kannte ihn gut genug, um die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen zu bemerken, die stets dort erschien, wenn er besorgt war. „Ich kann dir nicht mehr geben. Einen, vielleicht zwei, um Logans Verlust zu ersetzen, aber mehr nicht! Ich muss die Wachen um die Dörfer verdoppeln, das hätte ich schon früher tun sollen, und auch diese Siedlung hier sollte besser geschützt werden – hier sind unsere Frauen und Kinder, hier sind wir am verwundbarsten. Ihr habt schon ausreichend Männer, wir können einfach nicht mehr entbehren, es tut mir leid!“
Rodrig öffnete den Mund, so als wolle er protestieren, schloss ihn dann jedoch nach einem kurzen Blick in Jaros Richtung hastig wieder.
„Nimm dir zwei der Jungen, die dir geeignet erscheinen, um Logans Verlust zu ersetzen, aber mehr kann ich dir beim besten Willen nicht geben“, fuhr mein Onkel unbeeindruckt fort.
Rodrig verzog das Gesicht, als hätte er von einer bitteren Frucht gekostet, dann presste er die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, doch er versuchte nicht einmal, Jaro vom Gegenteil zu überzeugen. Wenn mein Onkel gesprochen hatte, stand sein Entschluss fest, und der war meist unumstößlich. Rodrig kannte ihn gut genug, um das zu wissen. Nachdenklich legte er nun die Stirn in Falten und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Seine dunklen Augen blieben schließlich an mir hängen.
„Logan ist unersetzlich, aber er hat immer große Stücke auf den jungen Ray hier gehalten“, meinte er langsam. „Wie wäre es mit ihm? Und Rowan könnten wir auch gebrauchen.“
Fragend blickte mich Jaro an und gab mir mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass es meine Entscheidung war, ob ich den Grenzwachen angehören wollte. Es war eine große Ehre, denn nur die besten Späher und Kämpfer wurden den Grenzen zugeteilt. Eine lange Weile ruhte mein Blick auf dem auf den schwarzen Stoff über Rodrigs Brust aufgestickten Zeichen, ein goldenes, stilisiertes Auge auf blauem Grund, darunter ein Schwert und ein Schild, die einander kreuzten. Das Zeichen der Grenzwachen. Ich erinnerte mich, wie ich als Knabe immer bewundernd zu den stolzen Männern aufgeblickte hatte, die das Zeichen tragen durften, und ich wusste, Logan hätte gewollt, dass ich diesen Weg einschlug, in seine Fußstapfen trat. Ein Teil von mir sehnte sich danach, wäre am Liebsten aufgesprungen und hätte von ganzem Herzen zugestimmt. Aber dann war da noch dieser andere Teil in mir, der sich wild dagegen sträubte. Dem der bloße Gedanke, so weit von Caitlin entfernt zu sein, sie Wochen oder gar ganze Monde nicht zu sehen, nicht wissend, ob sie wohlauf war, Übelkeit verursachte. Ich hatte eine Aufgabe, die mich an das Dorf band. Ich hatte mir geschworen, auf sie acht zu geben, und ich hatte es ihr versprochen. Ich würde mein Wort nicht brechen. Irgendwo tief in mir drinnen befürchtete ich gar, dass ich es auch einfach nicht konnte. Es war, als wäre mir mein freier Wille genommen worden, und ich konnte mich nicht anders entscheiden. Diese Entscheidung war für mich gefällt worden, schon vor langer Zeit.
Ich räusperte mich und schüttelte dann den Kopf. „Nein!“, antwortete ich schließlich fest. „Ich fühle mich zutiefst geehrt für Euer Vertrauen in meine Fähigkeiten, Rodrig, aber ich kann nicht. Ich werde bei der Dorfwache bleiben.“
„Überleg es dir gut, Junge, das ist eine einmalige Gelegenheit“, warf Rodrig ein, die Augenbrauen steil nach oben gezogen. Er hatte keine Ablehung erwartet.
„Ich weiß, Rodrig, ich weiß. Es tut mir leid“, murmelte ich und wandte den Blick ab, als sich die bekannten tiefgrünen Augen in die meinen bohrten, ungläubig und fragend.
„Wir werden das Dorf nicht unbewacht lassen, das weißt du. Wir beschützen die Menschendörfer schon seit vor deiner Geburt. Du bist hier nicht unabkömmlich, ich werde die Wachen um die Dörfer ohnehin verstärken“, meinte Jaro so leise, dass nur Aiden und ich ihn verstehen konnten. Es war, als hätte er meine Gedanken gelesen. Manchmal fand ich es beinahe unheimlich, wie gut er mich kannte.
„Sie wird in Sicherheit sein, ich denke nicht, dass du dir Sorgen machen musst. Notfalls kann auch Aiden ein Auge auf sie haben, wenn es dir keine Ruhe lässt“, fügte mein Onkel an, und Aiden nickte bestätigend.
Doch ich schüttelte nur stumm den Kopf. Ich wusste, ich würde es nicht übers Herz bringen, sie alleine zu lassen, auch wenn mir die Vernunft sagte, dass ich mir unnötige Sorgen machte. Allein der Gedanke, sie so lange Zeit nicht wieder zu sehen, schmerzte mehr, als er sollte. Ich begann allmählich, mir Sorgen um meinen Verstand zu machen. Doch mein Entschluss stand fest. Über meine Beweggründe würde ich mir später den Kopf zerbrechen.
Rodrig warf mir einen bedauernden Blick zu, schürzte die Lippen und wandte sich dann um.
Er wählte einen anderen Mann aus, Glen, den Sohn des Schmiedes, und er und Rowan zögerten nicht einen Augenblick mit ihrer Zustimmung. Ich spürte Jaros Blick nach wie vor nachdenklich und besorgt auf mir ruhen, als die Versammlung begann, sich anderen Themen zuzuwenden.

***

Tage wurden zu Wochen, Wochen zu Monden. Die Wunde an meiner Schulter heilte, wenn auch der Muskel nach wie vor noch ein wenig schwächer war als zuvor. Die Temperaturen stiegen, und der Schnee wich mit dem Voranschreiten des Winters allmählich zurück und hinterließ braunes, vermodertes Gras und einen aufgeweichten Boden, der erst mit dem nahenden Frühjahr wieder aufblühen würde.
Es war jedoch noch immer kalt, und die Kälte schien regelrecht Gestalt anzunehmen, als sie jetzt durch meine nassen Stiefel drang und langsam unter meinen Mantel kroch. Ich hatte die ganze Nacht vor Caitlins Fenster gewacht, nicht stark genug, ihre Nähe zu ertragen, und war nun durchgefroren und sowohl in körperlicher als auch in seelischer Hinsicht erschöpft, als ich endlich aus dem Wald heraustrat und die letzten Schritte zu unserer Hütte zurücklegte.
Leise öffnete ich die Tür, um nicht unbeabsichtigt jemanden aus dem Schlaf zu reißen, und war überrascht, als ich meinen Onkel gewahrte, der auf der Bank vor dem Feuer saß und mich zu sich winkte. Zögernd zog ich die Türe hinter mir ins Schloss, streifte die durchweichten Stiefel von meinen Füßen, um keine Dreckspur auf dem sauberen Boden zu hinterlassen, und ging dann zu Jaro hinüber. Die Holzdielen knackten leise unter meinen Schritten, doch sie waren angenehm warm. Das Feuer schien schon eine Weile zu brennen.
„Ich weiß, du bist alt genug, und musst deinen eigenen Weg gehen und deine eigenen Fehler machen, Junge. Ich werde mir nicht herausnehmen, über dein Handeln zu urteilen, so lange es den Clan nicht gefährdet. Aber ich werde auch nicht wortlos dabei zusehen, wie du dich selbst zu Grunde richtest. Was ist los, Ray?“ Grüne Augen sahen fragend in die meinen.
Ich seufzte schwer. Ich hatte gewusst, dass dieses Gespräch eines Tages kommen würde, bis jetzt war ich meinem Onkel aus dem Weg gegangen, so gut ich konnte, aber seine besorgten Blicke, mit denen er mich bedachte, wenn er sich unbeobachtet glaubte, waren mir nicht entgangen.
„Es ist nichts“, wehrte ich leise ab und setze mich neben ihn auf die Bank. Dann streckte ich die Hände über die lodernden Flammen und stöhnte erleichtert, als die Wärme langsam meine steifen Glieder durchdrang.
„Nein, ganz gewiss nicht. Seit vier Monden sehe ich dir dabei zu, wie du dich immer mehr in dich selbst zurückziehst. Du schläfst kaum. Wann warst du das letzte Mal auf der Jagd? Und ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich dich seit Winteranfang habe lachen sehen. Und dann lehnst du es ab, in Logans Nachfolge zu treten und zu den Grenzwachen zu stoßen. Du bist ein Schatten deiner selbst geworden, Junge. Was ist geschehen, das dich so verändert hat?“, beharrte Jaro, und ich wusste, dass ich ihm nicht länger würde ausweichen können. Dennoch versuchte ich es ein letztes Mal.
„Du würdest es nicht verstehen, Onkel.“
„So, meinst du? Ray, auch ich war einmal jung. Und manchmal hilft es, über Dinge, die einen bedrücken, zu sprechen“, erwiderte Jaro leise. „Du musst nicht alles mit dir selbst ausmachen, du hast eine Familie, die für dich da ist, wenn du sie brauchst. Du bist nicht alleine.“ Dann fuhr er mir sanft mit der Hand durch das vom Wind zerzauste Haar, und diese liebevolle Geste, so ungewöhnlich für meinen normalerweise ernsten, beherrschten Onkel, war es, die meine mühevoll um mein Inneres errichteten Wände zerbröckeln ließ. Ich war es so leid, immer allein mit meinen Gedanken zu sein, ich war es so leid, mich von Caitlin fernzuhalten, und auf einmal sprudelten die Worte nur so aus mir heraus, und ich schüttete Jaro mein Herz aus.
„Es ist so schwer! Jede Nacht an ihrer Seite zu sein, ohne dass sie auch nur etwas davon ahnt. Ihr so nahe zu sein, und doch nie nahe genug. Ich...ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertragen kann. Es tut so weh!“, würgte ich mit erstickter Stimme hervor. Ich schluckte mühsam und ballte die Hände zu Fäusten. Oh, es war eine Folter, nachts an ihrer Seite zu wachen! So sehr sehnte ich mich danach, sie zu berühren, die Sorgenfalten zu glätten, die immer häufiger ihre Stirn bedeckten, wenn sie sich im Schlaf ruhelos herumwarf. Wie gern hätte ich sie einfach in den Armen gehalten und sie beruhigt, über das seidige Haar gestrichen, das im Schein des Mondes silbern glänzte, und ihren Duft eingeatmet. Wie gern hätte ich mit ihr gesprochen wie damals, als ich mich ihr das einzige Mal gezeigt hatte, ihr bezauberndes Lächeln gesehen, ihrer sanften Stimme gelauscht...
„Und warum tust du es dir dann an?“, fragte mein Onkel ruhig.
„Sie ist nicht sicher! Du hast es damals selbst gesagt! Jemand muss über sie wachen, und dieser Jemand bin nun einmal ich!“
„Nein, ich meinte, warum hältst du dich von ihr fern?“
„Ich muss! Ich kann nicht zulassen, dass sie mir zu wichtig wird, mir zu viel bedeutet!“, rief ich verzweifelt.
„Weswegen?“
Über diese Frage sann ich eine Weile nach. Ich war ein Mann, verdammt! Ein Mann fürchtet sich nicht vor dem Tod in der Schlacht, weswegen sollte er dann irgendetwas anderes fürchten? Doch es gab Schlimmeres als den Tod.
„Weil ich Angst habe!“, gestand ich schließlich kleinlaut ein.
„Wovor?“
„So zu werden wie Vater!“, brach es aus mir heraus. „So voller Hass...nicht mehr Herr meiner selbst...und weil ich nicht denselben Schmerz erleiden möchte wie er!“
„Du hältst dich also von der Liebe fern, um nicht in Gefahr zu sein, verletzt zu werden und dich dem Hass hinzugeben“, fasste mein Onkel zusammen. „Aber siehst du deinen Irrtum denn nicht, Junge?“
„Welchen Irrtum?“, fragte ich verwundert.
„Wofür lebst du dann noch? Welchen Sinn findest du – in einem Leben ohne Liebe? Und begreifst du nicht? Du tust es doch schon längst! Du liebst!“
„Nein, ich liebe sie nicht!“, wehrte ich ab. Doch Jaro schüttelte mit einem leisen Lächeln den Kopf.
„Irgendwann wirst du dir auch das eingestehen. Nein, ich meinte etwas anderes. Nimm den kleinen Marlon, Aiden, deine Tante, mich. Würde es dich verletzen, einen von uns zu verlieren?“
„Natürlich!“, antwortete ich entsetzt. Die Familie meines Onkels war nach dem Tod meiner Eltern zu meiner eigenen geworden. Ich hätte mein Leben für sie alle gegeben.
„Dann liebst du bereits“, stellte mein Onkel fest. „Es ist zu spät, Ray. Du bist nicht für die Einsamkeit geschaffen. Du hast bereits eine Familie, die dir etwas bedeutet – wäre es so schlimm, da noch einen Menschen hinzuzufügen?“
„Aber – was soll ich dann tun?“, fragte ich verzweifelt.
„Liebe, Junge. Lass es geschehen, du wirst es ohnehin nicht verhindern können. Zum Leben gehört der Schmerz und der Verlust dazu. Ohne den Schatten wüsstest du nicht, was Licht ist. Ohne Schmerz weißt du nicht, was Liebe ist. Und ohne Liebe zu leben – das ist kein Leben, glaub mir.“


Caitlin



Die Nächte wurden kürzer, die Tage länger. Der Schnee, der den ganzen Winter über das Land bedeckt hatte, begann zurückzuweichen, der Fluss trat über die Ufer, wie er es jedes Jahr zur Schneeschmelze tat, und überschwemmte die nahe gelegenen Felder, denn nun begannen auch die Schneemassen des weit entfernten Riesengebirges zu tauen, in dessen eisigen Höhen der Refoin entsprang. Das Wasser war trüb und aufgewühlt, helle Schaumkronen tanzten auf den Wellen, und wenn wir unsere Eimer mit dem Flusswasser füllten, mussten wir es zunächst durch ein Stück Stoff in einen zweiten Eimer gießen, um den gröbsten Dreck herauszufiltern.
Die ersten Frühblüher streckten zaghaft ihre Köpfchen durch den aufgeweichten Erdboden, helle Tupfen von Grün in dem trostlosen Braun des matschigen Bodens, den der Schnee zurückgelassen hatte, und ich musste mir jeden Tag, wenn ich vom Feld nach Hause kam, die Schuhe vor der Haustüre ausziehen, da sie über und über mit weichem Schlamm bedeckt waren, der wie eine zweite Sohle an ihnen haftete.
Es war spät am Nachmittag, und ich war ein wenig früher aufgebrochen, da ich mich um die Wäsche kümmern wollte, die dringend gewaschen werden musste. Jetzt, mit Anbruch des Frühjahrs, war der Boden auf dem Feld feucht und schlammig, und unsere Kleidung starrte jeden Abend vor Dreck, selbst das unermüdliche Ausbürsten half da nicht viel. Zu keiner Jahreszeit musste so oft gewaschen werden wie im Frühjahr.
Kian und Colin waren noch auf dem Feld, und Großvater war zu Hause geblieben, er hatte sich erkältet, und in seinem Alter war mit Krankheiten nicht zu spaßen. Sein Husten hatte seltsam tief und rau geklungen, sein Brustkorb zog sich mit jedem Anfall schmerzhaft zusammen. Ich machte mir Sorgen um ihn, er war alt geworden diesen Winter, und er hatte merklich an Gewicht verloren. Und so hatte ich darauf bestanden, dass er heute den Tag am warmen Kaminfeuer verbrachte und nicht durch den kalten Schlamm des Feldes stapfte.

Als ich nun alleine zum Dorf zurückstapfte war ich froh, dass er nicht mit uns gekommen war. Die Kälte schien bis zu meinen Knochen vorgedrungen zu sein, und als mir eine leichte Brise durch das nebelfeuchte Haar zauste, begannen meine Zähne leise aufeinander zu schlagen. Es war noch früh im Jahr, und der Wind schien geradewegs aus den Höhen des Riesengebirges zu kommen, so eisig war die Luft, die er mit sich brachte. Sämtliche Muskeln angespannt, schlang ich die Arme um meinen Oberkörper. Ich versuchte verzweifelt, mir die Wärme des Kaminfeuers in Erinnerung zu rufen, doch durchgefroren wie ich war, versagte meine Vorstellungskraft. Ich beschleunigte meine Schritte, in der Hoffnung, dass ich meine steifen Glieder durch die Bewegung ein wenig würde erwärmen können, doch der Schmerz, der daraufhin durch meine ohnehin schon schweren Beine schoss, belehrte mich bald eines Besseren. Nach dem langen Winter, den ich zum größten Teil im Haus verbracht hatte, war ich die schwere Arbeit auf dem Feld einfach nicht mehr gewohnt.

Ich ging alleine durch das offen stehende Tor, den Blick wie üblich gesenkt, um keinem der Männer dort versehentlich in die Augen zu sehen. Ein direkter, von mir verursachter Blickkontakt konnte als Einladung missverstanden werden, und das wollte ich auf keinen Fall riskieren, nicht nach dem Gespräch mit Kellan am Mittwinterfest. Der große Mann hatte mir Angst eingejagt, und Kians Worte hatten mich nur darin bestärkt, dass er gefährlich war und ich mich um jeden Preis von ihm fernhalten sollte, zu meinem eigenen Besten. Ich wusste, dass nicht jeder Mann sich einer Frau aufzwang, doch er hatte gewirkt, als würde er stets dafür sorgen, zu bekommen, was er wollte. Nur zu gut konnte ich mich an das gefährliche Feuer erinnern, dass in seinen Augen gelodert hatte. Es war kein warmes, sanftes Glühen gewesen wie das in Rays Augen...
Hastig schob ich den Gedanken an Ray beiseite, ich hatte mir verboten, an ihn zu denken, an diesen einen, wundervollen Abend, den ich mit ihm verbracht hatte. Ich hatte mich so sicher bei ihm gefühlt, so geborgen, und da war dieses unglaublich starke Gefühl gewesen, als sei ein fehlender Teil meiner Selbst zurückgekehrt, das fehlende Puzzlestück meines Lebens, meines Herzens...
Jedenfalls war das Feuer in Kellans Augen ein anderes gewesen, ein hungriges Feuer, eines, das mich verschlingen würde und mich zu Asche verbrennen würde.
Über die Jahre hatte ich mich an die anzüglichen Sprüche der Torwachen gewöhnt, dennoch behagte es mir keineswegs, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Es waren Männer, die die Gefahr kannten, die Tag für Tag mit ihr lebten. Sie kannten keine Skrupel, sie wähnten sich im Recht. Sie dachten, da sie uns beschützten, konnten sie tun und lassen, was sie wollten. Ich war mir der Gefahr, die von diesen Männern ausging, durchaus bewusst, da hätte es Kians Warnung nicht bedurft. Dass er mich dennoch vor Kellan gewarnt hatte, sagte mir, dass der Mann vielleicht noch gefährlicher war, als ich ohnehin schon vermutet hatte. Ich schauderte und beschleunigte meine Schritte.

Dann, nach einer mir endlos erscheinenden Zeitspanne, hatte ich endlich das Tor passiert. Die ersten Häuser der Langen Gasse warfen einen kühlen Schatten, der das spärliche Sonnenlicht, das durch die Wolkendecke drang, verdeckte, und ich fröstelte leicht, war zugleich aber auch froh darüber, da ich wusste, dass ich nun aus dem Blickfeld des Tores verschwunden war. Erleichtert atmete ich auf. Heute würden sie mich also in Ruhe lassen.

Dennoch war mir, als würde ich beobachtet, ich glaubte, zu spüren, dass ein Blick auf mir ruhte. Einem eiskalten Atemhauch gleich schien er über meinen Nacken zu huschen und sich dann in meinen Rücken zu bohren. Sämtliche Härchen auf meinem Körper stellten sich auf, und mein Herz begann zu rasen. Etwas stimmte nicht. Etwas war anders als sonst, und ich fühlte mich bedroht, in die Enge gedrängt wie ein gejagtes Tier, das das Nahen eines Raubtieres spürt.
Als ich spürte, wie sich eine große, starke Hand um meinen linken Unterarm schloss, fuhr ich mit einem kleinen Aufschrei zusammen. Ich wagte es nicht, mich zu rühren oder mich gar umzudrehen, wie ein Kind, das Angst vor den Monstern unter seinem Bett hat und glaubt, vor ihnen in Sicherheit zu sein, so lange es sie nicht ansieht. Ein tiefes Lachen ertönte direkt neben mir, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich kannte dieses Lachen, und es klang zu selbstsicher, zu zufrieden. Zu allem Unglück schien ich auch noch alleine mit ihm zu sein. Ich hatte niemanden auf der Straße gesehen, und wir waren schon ein gutes Stück vom Tor entfernt, die anderen Wachen würden mich nicht hören, wenn ich schrie. Und selbst wenn sie mich hören sollten, würden sie sich gegen ihren Kameraden stellen? Irgendwie bezweifelte ich das. Ich war auf mich allein gestellt.
„Was willst du von mir, Kellan?“, fragte ich, bemüht ruhig, den Blick nach wie vor auf den Boden gerichtet. Sämtliche Muskeln meines Körpers schienen bis zum Zerreißen gespannt, und ich versuchte verzweifelt, das leise Zittern zu unterdrücken, das durch mich hindurchrann. Ich durfte ihn nicht merken lassen, wie sehr ich mich fürchtete, denn das würde ihm noch mehr Macht über mich geben, als die, über die er ohnehin schon verfügte.
„Ich wollte mich nur ein wenig mit dir unterhalten, Mädchen. Und sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche!“, fuhr er mich an, und es gelang mir nicht, den leisen Schauer zu unterdrücken, der mich durchfuhr, als ich den eiskalten Klang seiner Stimme direkt neben meinem Ohr vernahm. Er war mir so nahe gekommen, dass ich seine Wärme in meinem Rücken spüren konnte, sein Geruch nach Met und Zwiebeln umhüllte mich, und ich unterdrückte mühsam den Würgereiz. Mit einem scharfen Ruck an meinem Arm zerrte er mich zu sich herum. Ich biss die Zähne zusammen, wusste, dass er einen blauen Fleck auf meinem Handgelenk hinterlassen würde, doch ich wagte es nicht, auch nur einen Laut von mir zu geben. Er war ein Mann, und da wir keine Zeugen hatten, würde sein Wort gegen das meine stehen. Niemand würde mir glauben, und selbst wenn, so würde mein Wort nicht zählen. Ich war eine Frau, ich hatte kein Stimmrecht.
Verzweifelt sehnte ich mich nach meinem großen Bruder, ich wünschte, er wäre jetzt bei mir und würde mich beschützen. Ich wusste nicht, was Kellan vor hatte, ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, und so erstarrte ich, wie ein Kaninchen, dass einem Adler im Sturzflug auf sich herabstoßen sieht. Und ähnlich dem Kaninchen hatte wohl auch ich keine Chance.
Eine ganze Weile verharrten wir so, und ich konnte seinen Blick nach wie vor regelrecht fühlen, wie er mich einem Speer gleich zu durchbohren schien. Ich wusste, dass er vor Wut bebte, da er mir einen Befehlt erteilt hatte, dem ich nicht Folge geleistet hatte, ich spürte es am leichten Zittern seiner Hand. Er wollte, dass ich ihn ansah, dass ich in diese boshaften, grauen Augen blickte, doch das konnte ich nicht tun. Denn in dem Moment, in dem er meine Augen sehen würde, würde er wissen, dass ich ihn fürchtete, dass ich wehrlos war, ihm ausgeliefert.
Er trat noch einen Schritt näher, seine eine Hand umklammerte nach wie vor einem Schraubstock gleich mein Handgelenk. So nahe war er mir jetzt, dass ich die Wärme seines Körpers spüren konnte, doch sie war nicht tröstlich und einladend wie die meines Bruders oder die Rays. Seine Wärme war heiß, unerbittlich, tödlich. Wie ein Feuer, das einen mit Haut und Haaren verschlingt.
Ich zog und zerrte verzweifelt, wand mich in seinem Griff, doch er lachte nur über meine Bemühungen und packte so fest zu, dass ich glaubte, die Knochen leise knirschen zu hören. Ich wimmerte, als der Schmerz einem glühenden Pfeil gleich meinen Arm hinauf schoss, und sackte leicht in mich zusammen. Er nutzte diesem Moment, um noch näher zu kommen, und presste mich mit seiner breiten Brust gegen die nächste Hauswand. Seine freie Hand strich mir beinahe zärtlich das Haar von der Schulter und entblößte meinen Hals. Er seufzte befriedigt, und dann spürte ich eine seltsame Härte an meinem Bauch.
In diesem Moment durchfuhr mich die Erkenntnis wie ein Blitz. Auf einmal wusste ich, dass er mich jetzt unterwerfen wollte, dass er mich nehmen wollte, mit oder ohne mein Einverständnis und notfalls auch ohne das Einverständnis des Rates oder das meines Bruders. Ich schrie auf, laut und durchdringend, als sich eine Angst in mir breitmachte, wie ich sie noch nie zuvor verspürt hatte. Denn auch wenn ich wusste, dass Vergewaltigung ein häufig auftretendes Verbrechen war, hatte ich nie etwas mehr gefürchtet als dies. Ich schrie, wie ich noch nie zuvor geschrien hatte.
Die brutale Hitze des Männerkörpers vor mir, die schneidende Kälte des Steins in meinem Rücken. Ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Mein Herz pochte wie wild in meiner Brust, mein Atem ging schwer und stoßweise, Luft, ich brauchte Luft! Da hörte ich ihn leise aufstöhnen, befriedigt und zugleich seltsam und bedrohlich hungrig, direkt neben meinem Ohr. Ich schloss verzweifelt die Augen, in mir schien sich alles zu drehen, und ich spürte, wie sich die Übelkeit brennend einen Weg meinen Hals hinauf bahnte.
Dann wich Kellan jedoch auf einmal von mir, das Gewicht wurde von meiner Brust genommen. Wie durch einen dicken Nebel vernahm ich zwei aufgebrachte Stimmen, die einander anzuschreien schienen. Ich sackte schwer gegen die kalte, steinerne Mauer und atmete keuchend ein und aus, kämpfte um jeden Atemzug.

Eine vertraute Hand legte sich um meine Schultern und half mir vorsichtig auf. Als ich wagte, aufzusehen, blickte ich in die besorgten, tiefblauen Augen meines Bruders. Niemals zuvor hatte ich mich so sehr über den Anblick eines Menschen gefreut wie in diesem Moment. Und dann lag ich in seinen Armen, seine Nähe beruhigte mich, und er strich mir tröstend über das Haar und hielt mir den Kopf, als ich mich würgend in den Rinnstein übergab.
„Ist schon gut, Caiti“, murmelte Kian leise und strich mir das schweißnasse Haar aus der Stirn. „Schsch. Ist schon gut. Du bist jetzt in Sicherheit. Ich bringe dich nach Hause.“

***

An den Weg nach Hause kann ich mich nur verschwommen erinnern. Ich weiß noch, dass ich von Kian mehr getragen als gestützt wurde, und dass er mir immer wieder einen besorgten Blick zuwarf, auf den ich jedes Mal mit einem wortlosen Kopfschütteln antwortete. Ich war wie betäubt, den Schmerz in meinem Handgelenk nahm ich nur am Rande war, ein dumpfes Pochen, das kaum zu mir durchdrang. Mein Herz klopfte noch immer wie wild, und ich fühlte mich besudelt und beschmutzt von Kellans dreckigen Fingern. Mir war, als würde ich ein unsichtbares Zeichen tragen, als würde jeder sehen, was er getan hatte, und mit dem Finger auf mich zeigen. Das war natürlich Unsinn, wir waren noch immer allein auf der Straße, und es würde niemand erfahren, was vorgefallen war. Dennoch hatte ich im Moment nur den einen Wunsch, mich unter meiner Bettdecke zu vergraben und vor der Welt zu verstecken und nie wieder aufstehen zu müssen.

Als wir schließlich endlich zu Hause angekommen waren und Kian die Tür hinter uns schloss und sorgfältig verriegelte, setzte auf einmal die Panik ein, die ich bis jetzt erfolgreich zurückgedrängt hatte. Mein Herz begann zu rasen, und ich schnappte keuchend nach Luft. Mit einem Satz war Kian an meiner Seite und fing mich auf, als meine Beine unter mir nachgaben. Ganz fest hielt er mich, und ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust und atmete seinen vertrauten Geruch ein. Er strich mir beruhigend über den Rücken und murmelt mir leise ins Ohr. Die Worte konnte ich über das Geräusch meiner lauten, japsenden Atemzüge nicht verstehen, doch der ruhige, tröstende Tonfall drang zu mir durch, und ich entspannte mich ein wenig.
Irgendwann begann ich haltlos zu zittern, und da hob er mich auf und trug mich zu dem Teppich vor dem Kamin, wo er sich mit mir in den Armen niederließ und mich in einer warme Decke hüllte. Großvater, den ich zuvor nicht wahrgenommen hatte, brachte mir eine Tasse dampfend heißen Tees, und ich nahm sie dankbar an. Bis Einbruch der Dunkelheit saßen wir so schweigend vor dem Feuer, und ich war ihnen allen so unendlich dankbar, dass sie für mich da waren und mir Gesellschaft leisteten und mir die Zeit gaben, die ich brauchte, um damit fertig zu werden. Colin kümmerte sich wiederspruchslos um das Abendessen, obwohl er ansonsten selten am Herd stand, da er nicht einmal das Salz von dem Zucker unterscheiden konnte. Mit Hilfe von Großvaters Anweisungen bekam er jedoch tatsächlich einen eßbaren Eintopf zustande.

Die Übelkeit schnürte mir immer noch die Kehle zusammen, und es gelang mir nur sehr mühsam, ein paar Bissen hinunterzuwürgen. Ich warf Colin einen entschuldigenden Blick zu, als ich ihm die noch fast volle Schüssel ungeschickt mit meiner linken Hand hinüberschob. Meine rechte Hand war inzwischen fest in einer Schlinge um meinen Hals fixiert und schmerzte noch immer außerordentlich, trotz des gesüßten Weidenrindentees von Großvater, der für gewöhnlich Wunder wirkte bei Schmerzen jeglicher Art.
„Es tut mir leid“, murmelte ich heiser. „Ich kann einfach nicht...“
Colin winkte hastig ab. „Ist schon in Ordnung, Schwester. Umso mehr bleibt für mich übrig“, versuchte er zu scherzen, ehe er sich dann in übertriebener Gier über den Inhalt meiner Schüssel hermachte. Ich brachte tatsächlich ein schwaches Lächeln zustande. Ein warmes Gefühl stieg in meinem Inneren auf, als ich daran dachte, wie sehr sie sich alle um mich kümmern wollten, wie sehr ich mich auf meine Familie verlassen konnte. Sie waren für mich da, wenn ich sie brauchte, und das war so unglaublich erleichternd. Was auch geschah, ich war nicht alleine. Das Gefühl der Sicherheit, das dieses Wissen in mir auslöste, legte sich wie ein wärmender Umhang um meine Schultern und milderte das Entsetzen, das die Geschehnisse des heutigen Tages hinterlassen hatten, ein wenig ab. Dennoch war es noch immer da, das leichte Zittern meiner Hände, die Übelkeit in meiner Magengrube, der bittere Geschmack auf dem hinteren Teil meiner Zunge.
„Du solltest etwas essen“, wandte Kian vorsichtig ein, und ich gewahrte die steile Falte auf seiner Stirn, die gewöhnlich zum Vorschein kam, wenn er etwas missbilligte. Ich wusste, dass ich Nahrung zu mir nehmen sollte, ich spürte selbst die merkwürdige Schwäche in meinen Beinen, und die Stube hatte ein wenig getanzt, als ich mich zuvor von meinem Platz am Kamin erhoben hatte, um zum Esstisch zu gehen.
„Ich weiß, glaub mir, ich weiß das. Es geht einfach nicht...“, flüsterte ich und räusperte mich. Ich hatte laut geschrien, zuvor, und als ich mich übergeben hatte, hatte die Magensäure Feuerzungen gleich in meiner Kehle gebrannt. Meine Stimme klang noch immer rau wie ein Reibeisen.
Besorgte, tiefblaue Augen blickten suchend in die meinen. Schließlich nickte Kian seufzend und lies es auf sich beruhen.

Es war spät am Abend, und noch immer machte ich keine Anstalten, meinen Platz am warmen Feuer in der Stube zu verlassen. Großvater und Colin waren schon vor geraumer Zeit die Treppe hinaufgestiegen, und das leise, gleichmäßige Schnarchen des alten Mannes war selbst durch die dicken Deckenbalken hindurch zu hören. Kian jedoch war nicht von meiner Seite gewichen.
„Willst du heute in meiner Kammer schlafen?“, bot er schließlich leise an.
„Nein“, murmelte ich. Ich sehnte mich so sehr nach der Sicherheit, die ich stets in der Nähe meines Bruders empfand, aber trotz allem bestand die winzig kleine Chance, dass Ray vielleicht doch noch über mir wachte. Ich wollte in meiner Kammer schlafen. Und Kians Zimmer war nur wenige Schritte den Gang hinab, für den Fall der Fälle.
Als hätte er meinen Zwiespalt gespürt, blickte Kian mich an, mit einem merkwürdigen, beinahe wissenden Ausdruck in den Augen.
„Wenn du willst, kannst du hier in meinen Armen einschlafen, und ich trage dich dann in dein Bett, wenn du schläfst. Ist das in Ordnung? Und wenn du mich brauchst – du weißt, wo du mich findest. Du kannst mich jederzeit wecken.“
Ich warf meinem großen Bruder einen zutiefst dankbaren Blick zu. Dann schlossen sich seine Arme fest um mich, und in der Sicherheit seiner Wärme schlief ich wenige Momente später ein.


Ray



Ich war über die Palisaden geklettert und wollte eben im Schatten des nächstgelegenen Hauses verschwinden, als ich ein Gespräch der beiden Wachen vernahm, das für meine Ohren laut durch die Stille der Nacht zu schneiden schien. Widerstreitende Instinkte kämpften in mir, einerseits wollte ich so schnell als möglich bei Caitlin sein, andererseits sagte mir mein Gefühl, dass ich noch ein wenig lauschen sollte. Ich war dazu erzogen worden, auf meine Instinke zu hören, jeder Krieger wusste, dass sie einem im Kampf das Leben retten konnten. Zögernd verschwand ich noch ein wenig tiefer in den Schatten, blieb jedoch in Hörweite.

„Na, kein Glück gehabt?“, fragte eine tiefe Männerstimme, die zu einem der vielen Wachmänner gehörte, die des Nachts den Wehrgang entlang patrouillierten.
„Sehe ich etwa so aus?“, zischte eine andere Stimme, und ich biss die Zähne zusammen, um das leise Knurren zu unterdrücken, dass in meiner Kehle aufstieg. Es war die Stimme des Mannes, der Caitlin am Mittwinterfest bedroht hatte, Kellan.
„Diese Göre geht mir aus dem Weg, versteckt sich hinter diesem Feigling von Bruder, und er ist immer im dann zur Stelle, wenn ich meinen Spaß haben will!“, fuhr Kellan jetzt wutentbrannt fort, und ich atmete erleichtert ein. Kian schien also tatsächlich Wort zu halten. Nicht, dass ich daran gezweifelt hatte, er war Caitlins Bruder, und er war ein aufrichtiger Mensch, einer der wenigen, wie ich hatte feststellen müssen. Aber es war nicht immer einfach, Caitlin zu beschützen, vor allem, wenn sie die Aufmerksamkeit der falschen Männer auf sich gezogen hatte. Und es besorgte mich zutiefst, dass sie das Interesse dieses Wachmanns geweckt zu haben schien. Die Art, wie ihm die meisten Menschen aus dem Weg gingen, wie sie sich in seiner Gegenwart bewegten und benahmen, war mir nicht entgangen. Sie fürchteten ihn. Selbst der andere Wachmann schien Angst vor ihm zu haben, das verriet mir das leichte, für menschliche Ohren wohl nicht wahrnehmbare Zittern seiner Stimme und sein rascher Herzschlag.
„Nicht, dass ich ihm nicht schon zuvor gedroht hätte, sich verdammt noch mal da raus zu halten, doch anscheinend war die Drohung nicht deutlich genug. Das werde ich bald nachholen. Ich muss nur in der Stimmung dazu sein, und dann kann sie ihm ihr Leid klagen und ihm etwas vorheulen, damit er weiß, dass ich es ernst meine, dass es seine Schuld ist und dass er sich verdammt nochmal aus Dingen raushalten sollte, die ihn nichts angehen. Ich will Caitlin, und ich werde sie bekommen, und er wird mich nicht davon abhalten!“, knurrte Kellan jetzt. „Und das Mädchen hat doch allen Ernstes die Dreistigkeit besessen, mich in aller Öffentlichkeit zu demütigen! Da sagt sie mir doch tatsächlich vor aller Ohren am Mittwinterfest dass sie mich nicht will! Wie kann sie es wagen, mir das ins Gesicht zu sagen? Das hat noch keine Frau gewagt, und ich schwöre dir, auch dafür wird sie zahlen!“
„Sie ist nur eine Frau. Sie hat nicht darüber zu bestimmen“, wandte der andere Wachmann beschwichtigend ein. „Wenn du sie willst, musst du nur ihren Bruder fragen. Ich denke nicht, dass es Kian wagen wird, dir einen Wunsch abzuschlagen.
„Ja, wenn es nur dieser Kian wäre, der wäre kein Problem, den habe ich in der Hand, auch wenn er sich im Moment noch ein wenig dagegen sträubt. Aber dieser verdammte Connor hat nun einmal als ihr Vormund das Recht, sie mir zur Frau zu geben, und er verlangt einfach zu viel für sie! Ich sehe es nicht ein, ihm eine volle Ernte abzutreten, diesem elenden Halsabschneider!“
„Du weißt, es gibt immer noch eine andere Möglichkeit...“, wandte der andere Mann ein, und der Tonfall gefiel mir gar nicht.
„Du meinst...“ Ein dreckiges Lachen hallte durch die Stille der Nacht. Aus einem unerfindlichen Grund erfüllte mich eine düstere Vorahnung, und ein eiskalter Schauer rann mir über den Rücken.
„Ja, das ist eine gute Idee! Daran habe ich auch schon gedacht. Zwar wäre mein Ruf dahin, wenn ich dabei erwischt werde, doch was solls! Ich denke, das wäre es wert, und es würde der kleinen Wildkatze Manieren beibringen...“

Ich ballte meine Fäuste, so fest, dass sich meine Fingernägel in das weiche Fleisch meiner Handballen gruben und dort hellrote Male hinterließen, die noch am nächsten Morgen sichtbar sein würden. Nur mit Mühe hielt ich mich davon ab, wie ein Racheengel über die beiden Männer herzufallen. Es hätte mir keine allzu großen Schwierigkeiten bereitet, mit den beiden fertig zu werden, obwohl ich im Moment nur mit meinem kleinen Dolch bewaffnet war – es waren Menschen, schwach und feige. Dennoch widersprach es jeder Moral, die mich mein Onkel und Logan gelehrt hatten, und ich wusste, wenn ich den Weg, für den ich mich entschieden hatte, erst einmal verließ, würde es kein Zurück mehr geben. Ich musste darauf vertrauen, dass Kian sein Versprechen halten würde, ich konnte nicht einfach jeden Menschen ermorden, der um Caitlins Hand anhielt, so gerne ich es auch getan hätte. Vor allem bei diesem da, der keine Skrupel zu kennen schien. Aber in jenem Moment schwor ich mir, ihn ein wenig im Auge zu behalten, und sollte er ihr einmal zu nahe kommen, würde ich tun, was getan werden musste, zur Hölle mit meinen Prinzipien.

***

In dieser Nacht schlief sie besonders unruhig, warf sich immer wieder von einer Seite auf die andere. Ich vermutete, dass dies etwas mit ihrer Verletzung zu tun haben könnte. Der helle Verband an ihrem rechten Handgelenk war mir aufgefallen, kaum dass ich durch das offenen Fenster geklettert war. Ich fragte mich, was ihr wohl zugestoßen sein mochte, und ich hoffte, dass sie keine allzu großen Schmerzen litt. „Nein!“, stöhnte sie dann auf einmal leise auf, „Lasst mich, ich bitte Euch, Kellan! Nicht! Bitte!“
Und da dämmerte mir auf einmal, was wohl vorgefallen sein könnte. Meine Vermutung schien sich zu bestätigen, der Mistkerl hatte es anscheinend wirklich gewagt, sich ihr zu nähern! Ich biss die Zähne zusammen und versuchte mühsam, die Wut im Zaum zu halten, die wie loderndes Feuer durch meine Adern strömte. Der Zorn, den ich zuvor empfunden hatte, als ich das Gespräch dieser beiden verabscheuungswürdigen Menschenmänner belauscht hatte, war nichts im Vergleich zu der rasenden Wut, die mich jetzt durchfuhr, als ich die Angst gewahrte, die dieser Dreckskerl ihr eingejagt hatte. Die Ränder meines Blickfeldes verschwammen, verfärbten sich rot, während ich mühsam um Beherrschung rang. Nur das Wissen, dass Kellan nicht bekommen hatte, was er wollte, und das Kian wohl im rechten Moment eingeschritten war, half mir, meine Gefühle im Zaum zu halten und reglos an ihrer Seite zu bleiben.
Im Licht des Mondes, das durch den schmalen Fensterspalt hindurchdrang und auf ihr Gesicht fiel, erkannte ich da auf einmal eine silbern glänzende Tränenspur auf ihrer Wange. Augenblicklich wich die Wut zurück. Ein anderes, unglaublich starkes Gefühl ergriff mich, ich konnte es nicht benennen, doch es fühlte sich an, als würde ein schweres Gewicht auf meine Brust drücken, und meine Kehle schnürte sich zu. Der Anblick schnitt mir ins Herz, doch ich zwang mich, den Blick abzuwenden, fixierte die hölzerne Struktur der Bodendielen zu meinen Füßen. Ich musste mich mit aller Macht davon abhalten, sie noch einmal anzusehen, diese seltsame Schwäche, die ihr Anblick in mir auslöste, jagte mir mehr Angst ein, als ich jemals zuvor empfunden hatte.
Nur zu gut konnte ich mir vorstellen, was sie wohl träumen mochte. Ich wusste, wie es war, von Albträumen heimgesucht zu werden, ich schrak selbst oft schreiend und schweißüberströmt aus dem Schlaf, wenn ich wieder einmal von jenen schrecklichen Tagen im Kerker meines Onkels geträumt hatte. All die Erinnerungen, die ich am Tage zu verdrängen suchte, schienen im Schlaf an die Oberfläche zu treten, dann, wenn ich am wehrlosesten war. Und ich schämte mich dafür, schämte mich für die Schwäche, die ich damit preisgab. Obwohl ich ein Mann war, ein Kämpfer, war ich in meinen Träumen ein kleiner Junge, der Angst vor der Dunkelheit hatte, denn mit der Dunkelheit kamen die Geister der Vergangenheit, die mich nicht loslassen wollten. Manchmal fragte ich mich, ob ich jemals würde vergessen können. In all den Jahren hatte ich nicht einen Moment vergessen, den ich in der Gefangenschaft Carums verbracht hatte.

Ich wusste so genau, wie schlimm ein Traum sein konnte, wie er einen fesselte, nicht mehr loslassen wollte und einen glauben machte, er sei die Wirklichkeit, und man könne ihm nicht entfliehen. Und ich wusste genau, in welch einer Situation sie sich glaubte. Sie träumte von einem Szenario, das Kellan nur zu gern wahrhaben würde...ich schluckte mühsam, drängte die Übelkeit zurück, die gemeinsam mit den Erinnerungen aufzusteigen drohte, und zwang mich, auf meinem Platz zu erstarren. Ich begann in meiner Verzweiflung gar, die Astlöcher in den Brettern zu zählen, aber als sie dann leise zu wimmern begann, hielt ich es nicht mehr aus, und meine Entschlossenheit brach zusammen. Sie klang so einsam, so hilflos, und der kleine, verzweifelte Laut zerriss mich innerlich. Ich blickte auf - und war verloren.

Sie lag auf der Seite und hatte mir das Gesicht zugewandt, und der bleiche Mondschein brach sich auf den hellen Tränenspuren auf ihren Wangen. Doch weitaus schlimmer als die Tränen war ihr Gesichtsausdruck. Sie sah so klein aus, so unschulig und verletzlich, und so verdammt verängstigt, die Augen fest zusammengekniffen, die Hände neben ihrem Gesicht zu Fäusten geballt, doch sie lagen nicht entspannt neben ihrem Kopf auf dem Kissen, wie sie es sonst für gewöhnlich taten. Sie zitterten. Ihr ganzer Körper war angespannt, wie der eines Tieres auf der Flucht.
Mit einem Satz durchquerte ich die schmale Kammer, setzte mich auf die Bettkante und beugte mich zu ihr hinunter. Ganz behutsam wischte ich ihr die Nässe von den Wangen, doch immer mehr Tränen traten unter ihren geschlossenen Lidern hervor, und dann vernahm ich ein leises Schluchzen, das mir durch Mark und Bein ging und weitaus schlimmer schmerzte als all die Foltern, die ich in Carums Kerker hatte ertragen müssen. Vorsichtig hob ich die andere Hand und strich ihr beruhigend über das Haar. Weich und warm schmiegte es sich in meine Hand, doch ich war vollkommen auf die angstverzerrten Züge des Mädchens konzentriert. „Schsch“, murmelte ich ihr beruhigend zu und strich ihr eine helle Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich in ihren Wimpern verfangen hatte. „Ist ja gut. Ich bin da. Niemand wird dir ein Leid zufügen. Du bist in Sicherheit. Ich werde nicht zulassen, dass er dir jemals zu nahe kommt.“
Ob es der Klang meiner Stimme war, oder die sanften Berührungen, mit denen ich über ihr Haar fuhr, vermochte ich nicht zu sagen, doch ganz langsam ließ das Schluchzen nach, und die Spannung wich allmählich aus ihrem Körper.
Und dann erstarrte ich wie vom Donner gerührt, als ich eine warme, sanfte Berührung an meinem Handrücken spürte. Die Hand, die zuvor neben ihrem Kopf gelegen hatte, legte sich auf einmal um meine Finger, die noch immer auf ihrem Haar lagen. Ihre kleinen, schlanken Finger berührten die meinen und umschlossen sie, zunächst sanft, dann immer fester. Warm und weich schmiegte sich ihre Hand um die meine, und ich konnte ein leises Stöhnen nicht unterdrücken. Auch wenn sie nicht sehr stark war, nur ein Mensch, und eine Frau noch dazu, so war sie doch merkwürdigerweise stark genug, mich zu halten.
Ich brachte es nicht über mich, meine Hand aus der ihren zu reißen. Sie klammerte sich so fest an mich, ich wusste, dass sie nun sämtliche Kraft aufwandte, über die sie verfügte, und es war genau wie an jenem Tag, da wir uns das erste Mal begegnet waren: ich brachte es einfach nicht über mich, ihr den Trost zu nehmen, den ihr meine Nähe zu spenden schien.

Die restliche Nacht verbrachte ich wie erstarrt auf ihrer Bettkante, unsere Hände nach wie vor ineinander verschlungen, und ihr warmer Atem strich über meinen Arm und jagte heiße und kalte Schauer durch mich hindurch. Es war Himmel und Hölle zugleich, ihr so nahe zu sein, ich genoss ihre sanfte Berührung, und wusste doch, dass ich dafür würde zahlen müssen, sobald sich die Nacht dem Ende zuneigte, denn von nun an würde es noch viel schwerer sein, mich von ihr fernzuhalten, als es ohnehin schon war. Warum hatte ich den sicheren Platz am anderen Ende des Raumes verlassen, warum hatte ich mich dazu hinreißen lassen, zu ihr zu gehen, warum hatte ich sie trösten müssen?
Und obwohl ich mich innerlich dafür verfluchte, dass ich es soweit hatte kommen lassen, und obwohl ich wusste, dass ich dafür würde zahlen müssen, überkam mich auf einmal ein seltsamer Frieden, während ich so neben ihr saß und das Gesicht des nun ruhig schlummernden Mädchens betrachtete, das meine Hand nach wie vor fest in der ihren hielt. Jaros Worte klangen in meinen Ohren: „Liebe, Junge. Lass es geschehen, du wirst es ohnehin nicht verhindern können.“
Ich hatte ihm nicht geglaubt, hatte ihm nicht glauben wollen. Doch während ich jetzt so neben ihr saß, hob sich meine freie Hand wie von selbst, und ich strich ihr zärtlich erneut diese widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. In dem Moment, in dem meine Hand ihre Haut streifte, hoben sich ihre Lippen zu einem leichten Lächeln. Mein Herz machte einen Satz, und ich wandte rasch den Blick ab, doch ich wusste, dass es zu spät war. Jaro hatte recht gehabt. Ich konnte es nicht verhindern, der Versuch war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Denn schon als Kind war es ihr gelungen, mich tiefer zu berühren, als ich es jemals für möglich gehalten hätte, als ich es jemals hatte zulassen wollen. All die Jahre hatte ich mich dagegen gesträubt. Doch es fühlte sich so richtig an, ihre kleine, warme Hand in der meinen zu halten, und da spürte ich, wie der erste Stein aus der Mauer brach, die ich um mein verletzliches Herz errichtet hatte.

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Texte: (c) by Schneeflocke
Tag der Veröffentlichung: 18.03.2010

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