Nur eine Fensterscheibe trennt uns voneinander, gut zehn Millimeter Glas, durchsichtig. Ich sehe ihn und kann ihn doch nicht berühren, so nah ist er mir, und doch so fern. Und in wenigen Minuten wird er noch viel weiter entfernt sein, denke ich, während ich mich auf den durchgesessenen Polstern niederlasse. Nur noch wenige Augenblicke, die wir uns durch das Fenster schweigend betrachten können, und dann wird sich der Zug rumpelnd in Bewegung setzen, mich forttragen an einen Ort, an dem ich nicht sein will, denn jeder Ort, der nicht bei ihm ist, der bedeutet, dass ich nicht in seiner Nähe sein kann, ist leer, trostlos und grau, jedenfalls erscheint es mir so.
Einem inneren Impuls folgend, lege ich meine Hand an die Scheibe in einer Art stummen Abschiedsgruß, fühle das kalte, harte Glas unter meiner Handfläche. Eine Bewegung auf der anderen Seite, und dann liegt seine Hand an der meinen, Handfläche an Handfläche, nur das dünne Glas trennt uns, so nah und doch so fern.
Meine Augen schweifen von unseren so verbundenen Händen zu seinen Augen, und als ich meinen eigenen Schmerz dort wiedergespiegelt sehe, dort, in den warmen, grünen Tiefen, der einzigen Farbe, die für mich zu existieren scheint, da steigen die Tränen in mir auf, und ich fühle, wie meine Augen feucht werden. Auch in den seinen schimmert es verdächtig, und das ist der Moment, in dem etwas in mir nachgibt, in dem ich es nicht mehr ertrage. Ich reiße meine Hand vom Fenster los und wende mich ab, und dann renne ich den schmalen Gang des Abteils hinab, an den anderen Fahrgästen vorbei, und der ein oder andere sieht mir sicher kopfschüttelnd hinterher, doch es kümmert mich nicht. Nur noch einmal will ich ihn in die Arme schließen, und ich renne, so schnell ich kann, der Atem entweicht mir stoßweise. Dann habe ich endlich das Abteil durchquert, reiße hastig die Tür auf, trete in den Vorraum, kalte Luft strömt mir schon jetzt entgegen, ich fröstele, denn ich habe meinen Mantel im Abteil gelassen, doch es kümmert mich nicht, ebenso wenig wie es mich kümmert, dass auch mein Gepäck dort liegt, unbeaufsichtigt, eine in Gold gefasste Einladung für jeden Taschendieb. Alles, was zählt, ist, dass ich rechtzeitig an dieser Tür bin, dass ich ihm noch einmal gegenüber stehen kann, ein letztes Mal für so lange Zeit.
Mit einem leisen Zischen öffnen sich die Türen, kaum dass ich sie erreicht habe, er scheint den Druckknopf von außen betätigt zu haben. Ein Schwall noch kälterer Luft, und dann steht er vor mir, sein Geruch hüllt mich ein, einen Moment bevor sich seine Arme fest um mich schließen, ein letztes Mal. Ich drücke mich an ihn, den Kopf an seiner Brust vergraben, verliere mich in ihm, hier finde ich Ruhe und Geborgenheit, hier will ich bleiben, für immer. Doch die letzten Sekunden zerrinnen mir zwischen den Fingern wie weißer Rauch, und nur zu bald schneidet das schrille Pfeifen des Schaffners durch die Luft, zerstört den Frieden, beendet unsere innige Umarmung. Ein letzter, hastiger Kuss, ein letzter, inniger Blick, zwei Augenpaare, die miteinander verschmelzen, einander nicht loslassen wollen, doch dann bleibt er auf dem Bahnsteig zurück, eine einsame Gestalt auf dem grauen Asphalt, die Schultern gebeugt gegen den scharfen, kalten Wind, der dort bläst, die Hände in den Hosentaschen vergraben, so sieht er mir hinterher, als sich die Türen vor mir mit einem lauten Knall schließen und der Zug sich mit einem Ruck in Bewegung setzt.
So fern, weil ich mich mit jeder Sekunde weiter von ihm entferne, davongetragen von dem Zug, der rumpelnd und schaukelnd über die Gleise rattert, so nah, weil ich ihn doch immer bei mir trage, tief in meinem Herzen.
Zwei Tage später erreicht mich ein Brief, auf der Rückseite ist seine Hand aufgezeichnet, er hat sie mit einem Bleistift umfahren, wie wir es als Kinder zu tun pflegten. „Damit du mich immer spüren kannst“, steht in seiner krakeligen und dennoch zierlichen Handschrift darunter.
© by Schneeflocke
Texte: (c) by Schneeflocke
(c) Titelbild: stg123
Tag der Veröffentlichung: 22.02.2010
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Widmung:
Ein Abschied