Cover




Kapitel 5: Der Besucher






5. Der Besucher



Caitlin



Ruhelos warf ich mich im Bett herum. Immer wieder hörte ich das leise Fauchen Elenzars, sah seine roten Augen blitzen... Und dann war da dieser seltsame, fremde Vampir, der mir einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte. Sanfte, dunkle Augen, die in die meinen sahen, eine zarte Berührung, die ich noch immer einem flammenden Mal gleich auf meiner Wange zu spüren glaubte...
Ein leises Klopfen an meinem Fenster riss mich abrupt aus meinen Gedanken. Ich zuckte erschrocken zusammen. Das war ganz und gar unmöglich! Es war zu hoch, kein Mensch konnte so weit hinauf reichen, zwischen meinem Fensterbrett und dem Erdboden lagen mehr als zwei Mannslängen! Und doch – da war es wieder. Es war jemand vor meinem Fenster! Mein gesunder Menschenverstand gebot mir, mich nicht von der Stelle zu rühren, oder, noch besser, um Hilfe zu rufen und Kian oder Großvater nachsehen zu lassen...aber vielleicht war Er es ja! Er hatte schließlich gesagt, dass ich ihn wiedersehen würde, wenngleich ich es nicht für möglich gehalten hätte, dass es so schnell geschehen würde. Unschlüssig starrte ich zum dunklen Schatten des Fensters hinüber. Durch die Ritzen drang ganz schwach das bleiche Licht des Mondes. Sollte ich es wagen? Kian würde es nicht gutheißen – er hatte mich gewarnt. Und doch konnte ich nicht anders. Zögernd setzte ich mich auf und schlug die Bettdecke zurück. Das Klopfen wurde lauter, drängender. Was, wenn ihn jemand dort draußen sah, schoss es mir auf einmal durch den Kopf. Es wäre mein Tod – und der meiner Familie wohl noch dazu - sollte ihn jemand an meinem Fenster entdecken. Dieser Gedanke, gepaart mit einer unglaublichen Neugierde, gab den Ausschlag. Rasch huschte ich zum Fenster hinüber, entriegelte den Fensterladen und stieß die aus schwerem Holz gefertigten Flügel weit nach außen auf.

Nichts! Tiefe Stille lag über dem Dorf. Da war niemand! Ich starrte in die dunkle Nacht hinaus und kam mir dabei unglaublich töricht vor.
Natürlich war er nicht gekommen! Er hatte mich gerettet – vielleicht hatte er Mitleid mit mir gehabt, vielleicht hatte er meine verzweifelten Schreie vernommen, und ich hatte ihn gedauert. Welchen Grund hatte er, mich erneut aufzusuchen, nun, da ich in Sicherheit war? Vielleicht hatte er mich bereits wieder vergessen. Was auch nicht sonderlich verwunderlich wäre. Ich war schließlich nichts Besonderes. Doch wer hatte dann an das Fenster geklopft? Ich war mir so sicher gewesen, etwas gehört zu haben. Wahrscheinlich waren meine Nerven einfach überreizt, sagte ich mir nach einer kleinen Weile. Ich hörte schon Gespenster! Vielleicht sollte ich doch ein wenig schlafen.
Seufzend beugte ich mich aus dem Fenster, um die Läden wieder zu schließen, als ich einen lautlosen Schatten zu sehen glaubte, der blitzschnell über mich hinweg huschte. Erschrocken fuhr ich herum, die Hand auf den Mund gepresst, um den überraschten Aufschrei zu ersticken.

Er hatte sich auf der Bettkante niedergelassen, dort, wo noch kurze Zeit zuvor mein Bruder gesessen hatte. Sein Blick ruhte sanft auf mir. Mit einem Ruck zog ich die Fensterläden zu – offene Läden gehörten zu jenen Dingen, die verboten waren, und ich wollte mein Glück nicht überstrapazieren. Dann tastete ich nach dem Zunder und entfachte erneut die Kerze, die auf der Truhe neben dem Bett stand.
Langsam und vorsichtig näherte ich mich meinem Besucher und setzte mich schließlich neben ihn auf die Bettkante. Ich zitterte wieder, in der Stille hörte ich deutlich das leise Klappern, mit dem meine Zähne aufeinander trafen. Die Nachtluft war eisig kalt, eine schneidende Kälte, die vom Nahen des Winters kündigte, und ich hatte zu lange am offenen Fenster gestanden. Wortlos langte der Fremde nach der gewebten, bunt gemusterten Decke, die auf meinem Bett lag, und hüllte mich darin ein. Ich glaubte, die Wärme seiner Haut selbst durch den dicken Stoff hindurch zu spüren, als seine Hände einen winzigen Augenblick länger auf meinen Schultern verweilten, als es notwendig gewesen wäre. Seine Auge schimmerten im flackernden Schein der Kerze in einem so intensiven, dunklen Braunton, dass sie beinahe schwarz wirkten.
„Wer bist du?“, flüsterte ich.
„Mein Name ist Ray, Sohn des Cedric. Und du bist Caitlin, ein Kind der Menschen“, erwiderte er leise. Er musterte mich aufmerksam, während er sprach, als erwarte er, dass ich spätestens jetzt vor ihm zurückschrecken würde. Wahrscheinlich sollte ich auch Angst empfinden. Er war ein Vampir – und damit ein Todfeind der Menschen. Wir waren nur ihre Beute, die Nahrung für seine Rasse. Und dennoch hatte er mir das Leben gerettet. Ich fühlte mich sicher in seiner Nähe. Noch nie zuvor hatte ich mich so sicher gefühlt. Instinktiv wusste ich, dass mir vor ihm keine Gefahr drohte.
„Woher kennst du meinen Namen?“, fragte ich.
„Ich beobachte dich schon eine ganze Weile“, antwortete er leise und wandte den Blick ab. „Ich beobachte dich seit jenem Tag, da du meinem Cousin das erste Mal entkamst.“
„Elenzar ist dein Cousin?“ keuchte ich. Und noch eine andere Frage brannte mir auf der Zunge – er hatte mich beobachtet? Mir lief ein eisiger Schauer den Rücken hinab. War das der Grund, hatte er deswegen so genau gewusst, wo ich wohnte – weil er schon öfter hier gewesen war?
„Elenzar ist der Sohn von Carum, der ein Bruder meines Vaters war, und somit mein Cousin, ja“, antwortete Ray düster. „Man kann sich seine Verwandtschaft nicht aussuchen, und ich würde nichts lieber tun, als ihn vom Angesicht dieser Erde zu tilgen. Doch so leicht lässt er sich nicht umbringen – der Dreckskerl ist wendig wie ein Wiesel, und er begibt sich nie in eine Situation, die er nicht beherrschen kann. Ich hätte heute versucht, ihn zu erledigen, aber er war niemals allein. Dir ist es vielleicht nicht aufgefallen, aber es waren zwei Vampire, die uns verfolgten – Elenzar wagt sich nie alleine auf die Jagd. Und ich konnte dich nicht verlassen, das wusste er. Ihm drohte keine Gefahr.“ Selbst im schwachen Schein der Kerze konnte ich deutlich sehen, wie sich sein ganzer Körper anspannte und versteifte. Seine rechte Hand, die zuvor entspannt auf seinem Schenkel geruht hatte, ballte sich zur Faust. Ich fragte mich, welche Ereignisse in der Vergangenheit wohl zu diesem Hass geführt haben mochten.
„Und weshalb trachtet er mir nach dem Leben und du nicht? Was bist du, Ray? Du bist nicht wie die anderen Vampire“, stellte ich vorsichtig fest. Seltsamerweise empfand ich immer noch keine Angst vor ihm, obwohl der Zorn, den er ausstrahlte, beinahe greifbar schien.
„Weshalb bist du dir da so sicher?“ Mit einem Ruck fuhr sein Kopf zu mir herum, und sein Blick schien sich regelrecht in den meinen zu brennen.
„Du hast mich gerettet. Du hast nicht einmal versucht, nach meiner Kehle zu schnappen. Warum?“
„Nicht alle Vampire töten Menschen, Caitlin. Mein Clan erachtet es als Unrecht, menschliches Leben zu nehmen.“ Er schien sich langsam zu entspannen, seine Schultern sanken herab, und die Falten zwischen seinen Augen glätteten sich. Er hielt leise seufzend inne, und dann sprudelten die Worte auf einmal nur so aus ihm heraus. „Wie kann es recht sein, Menschen zu töten? Sie sind uns nicht unähnlich, unsere Rassen sind sehr nah verwandt – wie nah, das wollen sich die meisten von uns nicht eingestehen! Ihr seid fühlende, lebende Wesen, und ihr besitzt eine Seele. Wie kann es recht sein, euch zu töten, wenn es nicht notwendig ist? Wir brauchen kein menschliches Blut, wir können uns anders ernähren! Nur weil menschliches Blut uns mehr Kraft verleiht, weil es besser schmeckt... !“ Seine Stimme brach. Tiefe Verzweiflung glomm nun in seinen Augen, der Zorn war vollständig gewichen. Er saß nicht mehr hier in meiner Kammer auf meiner Bettkante. Ray war an einem anderen, dunklen Ort, in einer anderen Zeit. Ich fragte mich, welche Erinnerungen es wohl waren, die ihn peinigten, und ob diese Erinnerungen der Grund jener seltsamen Traurigkeit waren, die ich in seinen Augen zu erkennen geglaubt hatte. Seine Augen – hier, im weichen Schein der Kerze, hatte sich mir ihre Farbe offenbart, ein dunkler, warmer Braunton, ähnlich der Farbe von Buchenrinde im Regen, der mir seltsam bekannt erschien.
Wie gebannt starrte ich ihn an. Ich wusste wieder, wo ich diese Augen schon einmal gesehen hatte. Wann. Weshalb ich mich so unerklärlich sicher in seiner Nähe fühlte. Wie ein Blitzschlag durchfuhr mich die Erkenntnis.
„Ich kenne dich! Du hast mir bereits das zweite Mal das Leben gerettet!“, entfuhr es mir.
Der starre, verzweifelte Ausdruck wich aus seinen Augen, und sein Blick wurde sanft, als er mich ansah. Dann nickte er wortlos. Ein leises Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Wärme durchströmte mich, und mein Herz begann aus irgendeinem unerfindlichen Grund ein wenig schneller zu schlagen. Er sah so viel jünger und sorgloser aus, wenn er lächelte. Es bezauberte mich, und ich spürte, wie sich meine Lippen ebenfalls zu einem Lächeln verzogen. Einen unmessbaren Augenblick saßen wir so schweigend nebeneinander und lächelten. Die Welt hätte in Flammen aufgehen können, und ich hätte es nicht bemerkt.

Ray war es, der irgendwann den Bann brach. Er wandte den Blick ab und atmete tief ein. Ich schüttelte leicht den Kopf, um meine Gedanken zu klären.
„Warum?“, brachte ich schließlich heraus.
„Warum was?“, gab er die Frage zurück.
„Warum hast du mich gerettet?“, führte ich aus. „Bitte versteh mich nicht falsch, ich bin dir sehr dankbar, ich begreife es nur nicht so ganz, glaube ich. Warum hast du mich gerettet, damals und heute?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete er so leise, dass ich ihn gerade noch verstehen konnte. „Ich...konnte einfach nicht anders. Ich weiß es nicht!“ War das Furcht, die ich in seiner Stimme vernahm?
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollten. Ich beobachtete ihn schweigen, wie sich seine Schultern mit jedem Atemzug sanft anhoben und wieder heruntersanken, wie das rabenschwarze Haar im Licht der Kerze schimmerte. Eine ganze Weile verharrte er so, halb von mir abgewandt, den Blick in die Ferne gerichtet.
Als er sich schließlich wieder zu mir umwandte, war sein Blick sehr ernst.
„Was auch immer meine Beweggründe gewesen sein mögen, ich möchte dich nicht umsonst gerettet haben. Wenn du das nächste Mal, aus welchem Grund auch immer, den Wald betreten musst, lass es mich vorher wissen. Ich werde da sein und auf dich Acht geben.“
„Werden Vampire nicht vom Sonnenlicht getötet? Ich bin doch Tags vor ihnen sicher, nicht wahr?“
Ray zog die Augenbrauen hoch und schenkte mir einen mitleidigen Blick. „Glaubt ihr Menschen das wirklich?“ Seufzend schüttelte er den Kopf. „Die meisten Raubtiere jagen des Nachts, so auch die Vampire, doch das bedeutet nicht, dass wir nicht auch tagsüber auf die Jagd gehen können, wenn uns danach ist. Du bist niemals vor ihnen sicher!“
Ich musste schlucken.
„Und was soll ich dann tun?“, fragte ich. „Soll ich nur noch in Begleitung den Wald betreten? Das tue ich für gewöhnlich auch, nur heute konnte ich niemanden finden, und ich hatte auch nicht vor, mich zu verlaufen...“
„Ja, von nun an gehst du nur noch in Begleitung in den Wald. In meiner Begleitung. Meide ihn so gut als möglich, doch wenn du ihn betreten musst, lass es mich wissen, und ich werde da sein oder jemanden schicken, der Wache hält“, bestimmte Ray. „Jaro sollte die Wachen ohnehin verstärken“, murmelte er leise vor sich hin. „Wir werden das Dorf von nun an nicht mehr aus den Augen lassen. Das hier ist unser Gebiet, und das wissen sie!“
„Und wie soll ich es dich wissen lassen, dass ich in den Wald gehe?“ fragte ich verwundert.
„Schreib mit Kreide eine Nachricht auf das Fensterbrett, bevor du schlafen gehst. Die Rune des Schutzes“, schlug Ray vor.
Mit offenem Mund starrte ich ihn an. „Woher weißt du, dass ich schreiben kann?“, hauchte ich erschrocken. Schreiben war eigentlich eine Fähigkeit, die den Männern vorbehalten war. Es hieß, die Runen seien uns von den Magiern überliefert worden, und ihnen wohne eine Magie inne, die durch die Hand einer Frau entweiht würde.
Großvater war jedoch immer anderer Meinung gewesen.

*****

„Albernes Gewäsch!“, hatte er nur gemeint, als ich eines Tages völlig aufgelöst nach Hause gerannt war und mich in seine Arme geflüchtet hatte. Ich hatte damals sieben oder acht Sommer gezählt. Mein Freund Duncan hatte mich dabei erwischt, wie ich gedankenverloren bedeutungslose Zeichen in den Schlamm am Fluss geritzt hatte, und hatte mir erklärt, es zöge das Böse an, wenn eine Frau Zeichen ritzte, und ich solle es nie wieder tun.
„Der Rat weiß sehr genau, dass das alles Unfug und Aberglaube ist. Zumindest der Teil des Rates, der lesen kann. Aber es kommt ihnen durchaus gelegen, deswegen haben sie es den Frauen tatsächlich bei Strafe verboten, die Kunst des Schreibens zu erlernen. Frauen sollten möglichst nicht in die Geschäfte ihrer Männer Einblick erhalten können, das ist der wahre Grund. Je weniger sie von der Welt da draußen wissen, desto weniger werden sie die Worte ihrer Männer in Zweifel ziehen, desto weniger werden sie ihren Entscheidungen widersprechen.“ Großvater hatte grimmig genickt.
„Machtversessene Bande!“, hatte er dann wie so oft vor sich hin geschimpft. „So viel verlorenes Wissen, das in den Kellern des Ratshauses verborgen schlummert! Wie sollen wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, wenn kaum einer noch die Geschichtsbücher liest? Und niemand wagt es mehr, das Wort dieses versoffenen Priesters in Frage zu stellen, weil niemand mehr die heiligen Bücher lesen kann!“ Dann hatte er mich angesehen und verschmitzt gegrinst.
„Ich werde dir die Zeichen beibringen, Kind, wenn du reif dafür bist“, hatte er mir verschwörerisch zugeflüstert. „Wie deiner Mutter auch, vor so langer Zeit. Du darfst es nur niemandem erzählen!“
„Es mag einmal der Tag kommen, an dem es sich als ganz nützlich erweisen wird, wenn du lesen und schreiben kannst, Kind!“, hatte er gedankenverloren angefügt.
Und er hatte Wort gehalten. Als ich vierzehn Sommer zählte, war er der Ansicht, ich sei nun alt genug, das Geheimnis der Runen zu wahren, und er hatte mich in die Kunst des Lesens und auch des Schreibens eingeweiht. Natürlich besaßen wir nur wenige Bücher, doch diese wurden wie ein kostbarer Schatz gehütet, wenngleich sie gut versteckt werden mussten. Mein Großvater las nicht die Art von Büchern, die der Rat guthieß.

*****

„Du versteckst ein Buch unter deinem Bett. Wenn du lesen kannst, kannst du auch schreiben“, antwortete Ray ebenso leise und holte mich damit wieder in die Gegenwart zurück. Ich blickte ihn entsetzt an.
Woher wusste er von dem Buch? Es war eines der heiligen Bücher, das ich gerade begonnen hatte zu lesen. Ich hätte es besser verbergen müssen! Ich war viel zu leichtsinnig. Aber es hatte noch nie eine der Wachen Einlass in unser Haus begehrt, mein Bruder Connor hatte noch genug Einfluss, um das zu verhindern, und so hatte mich mir nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht, dass es jemand finden könnte. Dennoch war ich mir sicher, es so weit unter das Bett geschoben zu haben, dass Ray es unmöglich sehen konnte!
„Und wie willst du diese Nachricht lesen?“ brachte ich schließlich mühsam heraus. „Wenn ich das Zeichen so groß male, dass du es von der Straße aus lesen kannst, brächte mich das in größte Gefahr – was, wenn es jemand bemerkt? Und selbst um es von der Straße aus zu lesen müsstest du ins Dorf kommen...“
Ray riss sich sichtlich zusammen, dennoch sah ich den Schalk in seinen Augen blitzen. „Du kannst das Zeichen klein und unauffällig in eine Ecke malen – wenn ich unter deinem Fenster wache, bin ich nahe genug. Vampire sehen ein klein wenig besser als Menschen.“
„Wenn du unter meinem Fenster wachst? D-du kommst hierher? Machst du das öfter?“ japste ich entsetzt. „Was, wenn dich jemand sieht? Ich bin des Todes, sollten sie dich hier erwischen, bist du dir dessen bewusst?“

Der Scheiterhaufen war mir gewiss, sollte irgend jemand seine Anwesenheit bemerken. Vampirbuhlen wurden Menschen wie ich genannt, und für ihren Verrat an der Gemeinschaft wurden sie mit dem Tode bestraft. Der Scheiterhaufen war das übliche Vorgehen, natürlich konnten sie mich auch strangulieren, strecken oder vierteilen – und davor würde ich so lange gefoltert, bis ich mein Vergehen gestand - mir wurde übel. Der oberste Richter Bran hatte den Ruf, sehr hart gegen jene vorzugehen, die eine mögliche Gefahr für das Dorf darstellten. Ich hatte nur am Rande die Gespräche der Männer mitbekommen, doch wenn die Sprache auf die Keller unter dem Ratshaus kam, wich selbst Männern wie meinem Bruder Connor das Blut aus dem Gesicht. Duncan, mein Spielgefährte aus Kindertagen, der ab und an als Wache am Tor oder in jenen düsteren Kellern seinen Dienst versah, war nicht sehr mitteilsam, doch aus dem wenigen, das er sagte, und dem, was er nicht sagte, zog ich so meine Schlüsse. Und ich konnte mich nur zu gut an die eine öffentliche Hinrichtung erinnern, der ich beigewohnt hatte. Das Gesetz zwang jeden Dorfbewohner, diesem grausigen Schauspiel beizuwohnen, der abschreckenden Wirkung wegen, wie mir Kian erklärt hatte. Er hatte dicht neben mir gestanden, den Arm beruhigend um meine Schultern gelegt, und ich hatte den Kopf an seiner Brust vergraben, als ich es nicht mehr ertragen hatte, hinzusehen...

Ray wurde augenblicklich ernst. „Caitlin, ich bin mir der Gefahr, in der du meinetwegen schwebst, durchaus bewusst. Ich werde dein Leben nicht unnötig gefährden. Ich werde vorsichtig sein“, versprach er mir. „Aber bis jetzt hat mich noch nie irgendwer entdeckt.“ Selbstsicher grinste er mich an und entblößte dabei weiß blitzende, scharfe Zähne. Ein leiser Schauer rann mir über den Rücken.
„Bis jetzt?“, fragte ich schwach. „Wie oft warst du denn schon hier?“
Er lachte leise. Sein Lachen war beinahe noch bezaubernder als sein Lächeln. Es klang so hell und unbeschwert..
„Willst du das wirklich wissen?“, fragte er.
Ich zog die Augenbrauen hoch und warf ihm einen auffordernden Blick zu.
„Fast jede Nacht... ich sitze oft unter deinem Fenster und wache über deinen Schlaf“, gestand er mir vollkommen unbekümmert.
„Weshalb?" Meine Stimme klang unnatürlich hoch.
„Wie gesagt: es wäre sinnlos gewesen, dich zu retten, wenn ich dich anschließend dem Tod überantwortet hätte. Du wirst niemals vor Elenzar sicher sein – er wird nicht eher ruhen, als bis er sein Ziel erreicht hat.“
Ein eisiger Schauer rann meinen Rücken hinab, als er so beiläufig von meinem Tod sprach. Doch dann gewann die Wut die Überhand.
„Aber warum nur? Ich habe nichts getan!“ empörte ich mich.
„Du hast überlebt. Weil ich dich gerettet habe. Die Tatsache, dass du überlebt hast, wäre schon Grund genug gewesen. Aber dass ich es war, der dich rettete... Ich nahm Anteil an deinem Schicksal, so wusste er, dass dein Tod mich verletzen würde“, erklärte Ray leise und eindringlich. „Es ist meine Schuld, und deswegen ist es auch meine Aufgabe, dich zu beschützen.“
Ich wollte ihm widersprechen – immerhin verdankte ich ihm mein Leben, und ich verstand nicht so recht, warum er sich selbst die Schuld für Elenzars Taten zu geben schien. Doch als ich den Mund öffnete, verzog der sich zu einem langen, tiefen Gähnen. Ray musterte mich besorgt.
„Das war heute ein langer Tag für dich. Du solltest jetzt schlafen“, drängte er.
„Du passt auf mich auf?“ vergewisserte ich mich, ein erneutes Gähnen mühsam unterdrückend.
„Ich bin hier, niemand kommt an mir vorbei“, versicherte er mir ernsthaft. Und ich glaubte ihm. Ich fühlte meine Lider schwer werden, und mit großer Mühe zwang ich mich dazu, noch einmal zu ihm aufzublicken. Seine Augen schienen in der Dunkelheit regelrecht schwarz zu glühen! Mein Herz begann zu rasen, als ich in diesen dunklen Augen ertrank. Ich schluckte. Die Endgültigkeit des Augenblickes senkte sich als düstere Ahnung wie eine bleierne Decke über mich. Es fühlte sich so an, als würde er sich stumm von mir verabschieden. Schmerz erfüllte mich bei dem Gedanken, ich könnte ihn nie wieder sehen.
„Bitte, geh nicht“, hauchte ich. Wortlos flehten ihn meine Augen an, und jetzt sah ich den Schmerz in seinen Augen noch deutlicher. Langsam schüttelte er den Kopf.
„Du solltest jetzt schlafen“, murmelte er sanft, doch er hatte den Blick von mir abgewandt. Als er sich mir wieder zuwandte, war jedwede Regung aus seinen Augen verschwunden. Ich würde nicht mehr zu ihm durchdringen können. Ich seufzte und ließ mich langsam in mein Kissen zurücksinken. Fürsorglich breitete Ray meine Decke über mich.
„Träum süß, Caitlin“, hörte ich ihn noch leise flüstern, und dann umfing mich das dumpfe Vergessen des Schlafes.






Kapitel 6: Winterfeuer






6. Winterfeuer



Caitlin



Am nächsten Morgen war ich wieder alleine – um ehrlich zu sein, ich hatte auch nichts anderes erwartet. Es wäre Wahnsinn gewesen, hätte er länger hier verweilt, denn während des Tages hätte er nicht mehr so unbemerkt verschwinden können. Er hatte mir versprochen, mich nicht in Gefahr zu bringen. Und dennoch war ich ein wenig traurig darüber, dass er gegangen war, ohne sich richtig zu verabschieden.
Als ich mich langsam aufrichtete und mir den Schlaf aus den Augen rieb, fuhr mir ein schwacher, eisiger Luftzug durch das Haar. Ich fröstelte und warf einen Blick hinüber zum Fenster. Es stand einen kleinen Spalt breit offen. Ray hatte es von außen nicht ganz schließen können, vermutete ich, denn der kleine Holzriegel ließ sich nur von innen vorschieben. Dann hatte der Wind die Läden wohl noch ein wenig aufgestoßen. Nur dieser unbedeutende Spalt erinnerte daran, dass ich die letzte Nacht nicht geträumt hatte, dass er wirklich hier gewesen war. Im Licht des neuen Morgens erschien es mir so abwegig, dass wahrlich ein Vampir in meiner Kammer gewesen sein sollte. Ein Vampir, der mir das Leben gerettet hatte. Ein Vampir mit einem wundervollen Lächeln...

„Caiti?“, rief mich die helle Stimme meines jüngsten Bruders wie aus weiter Ferne. „Caiti? Was ist mit dir?“
Hellgraue Augen blickten fragend zu mir auf, und die ersten Sonnenstrahlen spiegelten sich in ihnen wieder. Es war eine ungewöhnliche Augenfarbe, flüssiges Silber im Feuerschein und rauchiger Nebel im Tageslicht. Meine Mutter hatte dieselben Augen gehabt...
Jetzt jedoch glichen sie farblich dem Wasser des rasch fließenden Flusses vor uns, dessen Rauschen so laut war, dass man die Stimme erheben musste, wollte man sich verständigen.
Wieder einmal war ich mit meinen Gedanken abgeschweift, wie schon so oft an diesem Morgen. Trotz des eisigen Flusswassers, das wie mit kalten, unbarmherzigen Fingern nach mir zu greifen schien, war es nur sein Lächeln, das ich sah, die warme Berührung seiner Finger die einzige, die ich auf meiner Haut spüren wollte...
„Ach, es ist nichts, Colin. Es ist nichts...“ Ich schüttelte energisch den Kopf und wandte den Blick zum wiederholten Male vom Wald ab. Er schien heute eine Art magischer Anziehungskraft auf mich zu haben. Immer wieder musste ich dort hinüber sehen, wo wenige Schritte hinter den Feldern, die das Dorf ringförmig umgaben, die ersten Bäume standen. Immer wieder musste ich daran denken, wie Er mich in den Tiefen dieser Wälder gerettet hatte. Wo er jetzt wohl war? Irgendwie gefiel mir der Gedanke, dass er, wenn auch nicht bei mir, so doch irgendwo dort draußen war.
Doch die Strömung zerrte noch immer an dem Eimer, den ich soeben ins Wasser hielt, und ich musste jetzt meine ganze Kraft aufwenden, während nun auch Colin neben mir niederkniete und seine Finger dicht neben den meinen fest um den mit Leder umwickelten Griff des Eimers schloss. Jede der Bewegungen war durch jahrelange Übung aufeinander abgestimmt. Ein letzter Ruck, und das aus Eichenholz gefertigten und mit einer dünnen Schicht Teer versiegelte Gefäß landete auf dem lehmigen Ufergrund zu unseren Füßen.
Gemeinsam machten Colin und ich uns wieder auf den Weg zurück ins Dorf. Der nun randvolle, schwere Wassereimer schwankte zwischen uns leicht hin und her. Ich war dankbar dafür, dass ich ihn nicht alleine schleppen musste. Ich war die einzige Frau im Dorf, die Hilfe beim Tragen dieser Lasten hatte. Colin war für seine zehn Sommer schon recht kräftig, und einer meiner beiden Jungs, wie ich sie insgeheim nannte, war immer zur Stelle, wenn ich wieder einmal zum Fluss musste. Für gewöhnlich wurde das Wasserholen als Frauenarbeit angesehen, und ich wusste, dass Kian und Colin viel Spott über sich ergehen lassen mussten, weil sie mir dabei halfen.
„Ich mag nicht, wie er dich anschaut“, meinte Colin jetzt, als wir durch das zu dieser Tageszeit geöffnete Palisadentor das Dorf betraten. Die angespitzten Enden der hölzernen Pfähle schienen geradewegs in den eisblauen Himmel zu stechen, das von Wind und Wetter gezeichnete Holz schimmerte silbergrau, als die Sonnenstrahlen sich darauf brachen, und die großen, darin eingebrannten Schutzzeichen klaffte wie schwarze, kohlefarbene Wunden in der ansonsten sauber und ebenmäßig gearbeiteten Oberfläche.
„Wie wer mich anschaut?“, erkundigte ich mich verwundert.
„Die Wache auf dem Wehrgang, Kellan heißt er, glaube ich. Jedes Mal, wenn wir durch das Tor gehen, blickt er dich so seltsam an...“ Colin zuckte ratlos die Achseln. „Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber es gefällt mir nicht.“
Ich warf einen Blick hinauf in Richtung des Wehrganges, konnte jedoch gegen das Sonnenlicht nur einen Schatten erkennen. Dennoch glaubte ich, einen Rotstich in dem langen Haar zu erkennen, das im Wind wild flatterte. Die feinen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf, obschon ich den Mann nicht kannte.

Am Abend zog ich mich sehr zeitig in meine Kammer zurück. Obwohl es verboten war und ich wusste, dass ich mit damit in größte Gefahr begab, ließ ich die Läden offen und schob mir den Stuhl vor das Fenster, der außer meinem Bett und der mit Messing beschlagenen Kleidertruhe das einzige Möbelstück in der schmalen Kammer darstellte. Binnen kürzester Zeit klapperten meine Zähne leise aufeinander – die Abendluft war so kalt, dass sich kleine Atemwölkchen vor meiner Nase bildeten. Ungeduldig sah ich zu, wie die letzten Sonnenstrahlen das Dorf in ein wunderschönes, rotglühendes Licht tauchten. Das Rietgras, mit dem die Dächer gedeckt waren, schien regelrecht in Flammen zu stehen. Dann war es endlich soweit. Die Sonne verschwand hinter dem Horizont. Dämmerung senkte sich über das Land. Das Licht verblasste, die ersten Sterne blinkten am Himmel. Ich weiß nicht, wie lange ich wartete. Irgendwann erhob ich mich, um die Decke vom Bett zu ziehen und mich darin einzuhüllen, und da bemerkte ich, dass meine Glieder schon beinahe steif gefroren waren. Ich setzte mich wieder ans Fenster. Und wartete. Und wartete. Irgendwann fielen mir die Augen zu.
Am darauf folgenden Morgen erwachte ich wieder in meinem Bett, die Decke war sorgsam um mich herum festgesteckt, und wie am Tag zuvor stand auch der Fensterladen einen kleinen Spalt breit offen. Ich fragte mich, ob ich mich in der Nacht aus eigener Kraft vom Fenster hierher geschleppt hatte, oder ob Er es gewesen war. Sonst zeugte nichts von seiner Anwesenheit. Das dachte ich zumindest. Bis ich nach dem Frühstück aus dem Haus trat, um meiner üblichen Arbeit auf dem Feld nachzugehen, und beinahe über einen mir wohlbekannten Weidenkorb stolperte, der bis zum Bersten mit Reisig gefüllt war. Das war das Letzte, das ich für lange Zeit von Ray sehen sollte.

Nacht für Nacht wachte ich am Fenster, bis mir schließlich die Augen zufielen. Ich beobachtete den aufsteigenden Mond, und wenn die Nacht wolkenverhangen oder mondlos war starrte ich einfach hinaus in die Finsternis. Ich wusste, dass ich damit mein Leben riskierte. Aber ich konnte einfach nicht anders. Ich konnte die Hoffnung nicht aufgeben, dass es doch kein Traum gewesen war, und dass er eines Nachts zurückkehren würde. Jeden Morgen erwachte ich in meinem Bett, sorgfältig zugedeckt, und das Fenster stand einen kleinen Spalt breit offen. Ich fragte mich, ob es tatsächlich Ray war, der in meine Kammer kam, oder ob nicht vielleicht Kian des Nachts nach mir sah und mich ins Bett trug. Doch warum stand das Fenster dann offen? Ich wagte es nicht, meinen Bruder danach zu fragen, denn was wäre, wenn es tatsächlich Ray war? Ich hatte mir geschworen, mein Geheimnis für mich zu behalten. Kian hatte auch so schon genug Sorgen. Jetzt im Herbst musste die Ernte eingefahren werden, oder wir würden im Winter hungern müssen.
Ray fehlte mir. Obschon ich ihn nicht wirklich hatte kennen lernen dürfen, fehlte er mir. Er war von heute auf morgen Teil meines Lebens geworden, und ebenso schnell war er wieder verschwunden. Er hatte keinerlei sichtbare Spuren hinterlassen. Ich hatte nichts, das mich an ihn erinnerte. Er war wie ein Schatten, wie ein Gedanke, flüchtig wie ein Geist.
Irgendwann kam ich zu dem Schluss, dass er mich mied, da ich für ihn nicht weiter von Belang war, und dass ich ihn wohl auch nicht wieder sehen würde. Alles deutete darauf hin. Vielleicht hatte er sich in meiner Gesellschaft gelangweilt, vielleicht hatte er auch Besseres zu tun, als seine Zeit mit einem Dorfmädchen zu verbringen. Ich dachte mir, dass es so wohl besser war. Sicherer. Ich musste aufhören, mich ständig selbst in Gefahr zu bringen. Von diesem Tag an blieben die Fensterläden geschlossen.

****

Die Zeit verging, und der Winter hielt Einzug. Schnee legte sich einem weißen, federnen Mantel gleich über das Land, und die weiße Decke nahm sowohl die Wärme als auch sämtliche Farben mit sich. Die Tage wurden kürzer, und in den langen Nächten, die nur von flackernden Kerzenlicht und dem Schein des Kaminfeuers erhellt wurden, verbrachte ich viel Zeit in der Stube, in meine gewebte Decke gehüllt und eines der Bücher meines Großvaters in der Hand. Die Luft war von jener seltenen Klarheit, die von großer Kälte zeugt, und des Nachts malten sich wie von Zauberhand Eisblumen an die Fenster in der Stube. Die Stube war der einzige Raum im Haus, in dem wir Fensterscheiben hatten. Großvater war sehr stolz darauf, nicht jedes Haus konnte sich mit verglasten Scheiben rühmen. Er hatte sie noch vor der Geburt meines Vaters bei einem fahrenden Händler erstanden.
Ich lernte sehr viel in jenen Tagen. So erfuhr ich, dass einst alle Dörfer und Städte des Reiches durch ein Straßennetz miteinander verbunden gewesen waren. Fahrende Händler und Kuriere waren auf ihnen gereist, und es hatte einen regen Warenaustausch gegeben. Das war die Zeit der Magier gewesen, und vieles, was heute längst in den Nebeln der Vergessenheit verschwunden war, wie beispielsweise die Kunst, Fenster aus Glas zu fertigen, stammte aus jenem blühenden Zeitalter.
Heute waren die Straßen unbenutzt und von Gestrüpp überwuchert. Die Magier waren verschwunden, und mit ihnen die Magie. Aberglaube beherrschte nun die Menschen, und die Furcht vor den Vampiren oder anderen Wesen der Nacht hatte die Gesellschaft verändert. Starke, mutige Herrscher wurden gesucht, und sie regierten mit eiserner Hand. Wir hatten unser Leben mit dem Preis unserer Freiheit erkauft.

****

Dann kam der Tag des Mittwinterfestes. Mittwinter war die längste Nacht im Jahr, und von jenem Tag an wurden die Nächte wieder kürzer. Es war ein Anlass zum Feiern, und weil im Winter sowieso die meiste Arbeit ruhte, da auf den Feldern nichts mehr gedieh, hatten die Menschen Zeit zu Feiern. Das Mittwinterfest war das fröhlichste und größte Fest im Jahr.
Der große Platz vor dem Ratshaus war zu diesem Anlass vom Schnee freigefegt worden, und in dessen Mitte hatten die jungen Burschen einen großen Holzstoß aufgeschichtet, der mit Einbruch der Nacht entzündet werden und bis Sonnenaufgang brennen würde.
Gemeinsam mit Kian, Colin und Großvater machte ich mich wie alle anderen kurz vor Sonnenuntergang auf den Weg in Richtung des Dorfplatzs, gegen die schneidende Kälte in meinen wärmsten Mantel gehüllt. Wie ein kleines Kind freute ich mich immer wieder auf das riesige, beeindruckende Feuer und die ehrfurchtsvolle Stimmung, die die Menschen an diesem besonderen Tag erfasste.
Kaum waren wir am Feuer angelangt, verschwand Colin auch schon in der Menge, die sich bereits um das Feuer versammelt hatte. Er hatte Alan erspäht, einen Jungen in seinem Alter, mit dem er immer allerlei Unfug anstellte.
Großvater setzte sich auf die Bank, die dem Feuer am nächsten war, neben den alten Bror, den einzigen anderen Menschen im Dorf, der ebenfalls ein so hohes Alter erreicht hatte, dass seine Haare die Farbe frisch gefallenen Schnees angenommen hatten. Wie es die Art alter Männer ist, schickten sie sich an, den Abend Pfeife rauchend und in Erinnerungen schwelgend zu verbringen.

„Tante Caiti, Tante Caiti!“ Eine kleine, in dicke Felle gehüllte Gestalt warf sich so schwungvoll in meine Arme, dass ich einen Schritt zurück taumelte, ehe ich mein Gleichgewicht wieder fand. Hellblonde Locken glänzten im Feuerschein fast golden, und große, haselnussbraune Augen sahen treuherzig zu mir auf.
„Nia!“, lachte ich. „Jetzt hättest du die arme Tante Caiti fast umgeworfen!“
„Tut mit leid“, entschuldigte sich das kleine Mädchen mit großen Augen. Ich schüttelte nur lächelnd den Kopf. Als ich die Hand hob, um ihr über das Haar zu streichen, zuckte meine Nichte erschrocken zurück und vergrub das Gesicht an meiner Schulter. Ich wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Kian.
„Kleines, sieh mich an.“ Die Stimme meines großen Bruders war leise und sanft. Zögernd hob Nia den Kopf. Unendlich vorsichtig strich Kian das dichte Haar hinter ihr Ohr zurück. Ein dunkler Fleck, etwa von der Größe einer Handfläche, zeichnete sich im flackernden Licht der Flammen auf dem zierlichen Wangenknochen ab.
„Connor!“, zischte Kian erbost. „Dieser Drecksack! Dieser erbärmliche Drecksack! Er kann es einfach nicht lassen!“
„Ich war böse“, versuchte Nia zu erklären und sah beschämt zu Boden. „Vater hat gesagt, ich soll die Werkstatt scheuern, und ich hab einen Fleck übersehen. Ich war ein böses Mädchen. Er musste mich bestrafen. Er tut das nicht gern, aber er muss es tun, weil er mich lieb hat.“
Da umfasste Kian sanft mit beiden Händen ihr Gesicht, und der kobaltblaue Blick verschmolz mit dem braunen.
„Nein, Nia!“, sagte er eindringlich. „Es ist nicht deine Schuld, das darfst du niemals glauben. Dein Vater ist nicht mehr er selbst, wenn er getrunken hat. Und daran ist er ganz allein schuld.“
Nia atmete erleichtert aus. „Dann glaubst du nicht, dass ich eine schreckliche Last und ein verzogenes Balg bin?“, fragte sie schüchtern.
„Nein, das bist du nicht. Ganz gewiss nicht. Hat dein Vater das gesagt?“
Die Kleine nickte stumm. In ihren Augen las ich eine tiefe Traurigkeit, für die sie mir noch viel zu jung erschien. Noch ein Kind, das zu früh hatte erwachsen werden müssen.
Ich schluckte und ballte meine Hände zu Fäusten. „Sie ist fünf Sommer alt, Kian!“, flüsterte ich aufgebracht. „Fünf! Wie kann er nur! Und warum unternimmt Eila nichts dagegen?“
Eila war meine Schwägerin. Sie mochte mich nicht besonders, aber sie schien niemanden besonders zu mögen, also nahm ich es ihr nicht wirklich übel. Der grimmige Gesichtsausdruck, den sie stets zur Schau trug, hatte tiefe Falten in ihre Haut gegraben. Dennoch musste sie ein Herz haben - irgendwo.
„Hast du das blaue Auge nicht gesehen, dass sie mit Farbe zu verdecken versucht? Er schlägt sie doch auch. Das ist nichts Ungewöhnliches, Caiti. Du bist sehr behütet aufgewachsen“, erwiderte mein Bruder so leise, dass Nia, die inzwischen wie gebannt in das Feuer starrte, nichts mitbekam. Ich war froh, dass sie wenigstens kurzzeitig Ablenkung finden konnte, jetzt, da ihr Vater anderweitig beschäftigt war und sich nicht mehr groß um seinen Nachwuchs zu kümmern schien. Connor war dabei, sich an die jungen Mädchen heran zu machen, die am anderen Ende des Feuers standen – ich sah, wie er sich zu einem der Mädchen beugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte, woraufhin sie leise kicherte. Ich kannte sie flüchtig, glaubte mich zu erinnern, dass sie Ciara hieß, und wusste, dass sie in etwa in meinem Alter war und demnach seine Tochter hätte sein können. Eile stand wenige Schritte hinter ihm und warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. Ich hoffte um ihretwillen, dass er sich nicht im falschen Moment umwenden und den Ausdruck in ihren Augen sehen würde. Nein, sie hatte wahrlich kein leichtes Leben. Eine leise Woge des Mitgefühls erfasste mich.
„Es ist das Recht der Männer, sich ihre Frauen und Kinder gefügig zu machen.“ Kian spie das Wort aus, als sei es giftig. „Was glaubst du, warum Großvater und ich uns so dafür eingesetzt haben, dass du bei uns lebst? Nicht, dass er sich übermäßig dagegen gewehrt hätte“, fügte er spöttisch an. „Ein Maul weniger zu stopfen. Es war Connor nur zu recht, dich in meiner und Großvaters Obhut zu lassen. Danke Gott dafür.“
Ich nahm das Mädchen noch fester in die Arme und wiegte sie sanft hin und her. „Ich hab dich lieb, Nia. Du wirst schon sehen, alles wird gut!“, murmelte ich leise in ihr Ohr. Wenn ich mich nur selbst davon überzeugen könnte! Wir konnten nichts dagegen tun. Das war das Schlimmste daran. Wir mussten tatenlos mit ansehen, wie unser Bruder seine kleine, zierliche Tochter schlug, mit dem Wissen, dass wir sie nicht davor schützen konnten.

Eine ganze Weile saßen Kian und ich schweigend am Feuer und blickten gedankenversunken in die Flammen. Nia hatte ihren Kopf an meine Brust gelehnt und war eingeschlafen. Ich wiegte mich langsam im Takt der Dudelsäcke, die mit ihren klagenden Klängen die Nacht vertreiben sollten. Da stand Kian auf einmal auf, straffte die Schultern und atmete tief ein, so, als würde er sich selbst Mut zusprechen. Dann ging er mit federnden Schritten um das Feuer herum. Ich sah, wie er sich zu einer jungen Frau hinunter beugte, die etwas abseits auf einem umgedrehten Holzfass saß. Schwarze, lange Haare, die im eisigen Wind flatterten, ein alter, abgenutzter Umhang. Lachend warf sie jetzt den Kopf zurück, und das Gesicht meines Bruders verzog sich zu einem breiten Grinsen. Die sorgenvollen Falten auf seiner Stirn glätteten sich. Ich hatte ihn schon sehr lange nicht mehr wirklich lachen sehen, fiel mir auf. Wer war diese Frau nur?
„Scheint so, als würde sich dein Bruder da drüben prächtig amüsieren“, raunte mir eine tiefe, rauchige Stimme ins Ohr. Der heiße, feuchte Atem ihres Besitzers strich mir über den Nacken und jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Ich fuhr herum, meine Hand legte sich instinktiv auf das aus dunklem Kirschholz geschnitzte Kreuz, das an einem ledernen Band um meinen Hals hing. Es hatte meiner Mutter gehört. Sie hatte immer gemeint, es helfe gegen das Böse, und seit dem Tag, an dem wir sie verloren hatten, hatte ich es niemals abgelegt. Ich fühlte mich ihr nahe, wenn ich es trug, so als wäre ein Teil von ihr noch immer bei mir. Und man sagte, dass ein Kreuz vor Vampiren schützte – doch nach meinem Erlebnis im Wald zweifelte ich daran. Weder Elenzar noch Ray schienen sonderlich davon beeindruckt gewesen zu sein. Vor dem Mann, der nun vor mir stand, konnte es mich wohl ebenfalls nicht beschützen, denn er trug auch eines um den Hals, wie die meisten Wachen es taten.
„Darf ich mich vorstellen – ich heiße Kellan und versehe für gewöhnlich den Wachdienst am Tor.“
„Ich grüße dich“, erwiderte ich kühl. Der Mann war mir unheimlich. Er hatte den Ausdruck eines Jägers in seinen kalten, grauen Augen. Eines menschlichen Jägers. Die breiten Schultern und die grau und rot gesprenkelten Bartstoppeln gaben ihm ein schon beinahe wildes Aussehen, was mir noch zusätzliche Angst einflößte. Kellan. Ich erinnerte mich, den Namen schon einmal vernommen zu haben, und auch die roten Haare kamen mir sehr bekannt vor.
„Und die da drüben, die gerade deinen Bruder anschmachtet, das ist meine Schwester Bria“, fuhr Kellan jetzt fort. „Richte ihm aus, er soll sich in Acht nehmen. Sie ist nicht zu haben.“ Er hielt inne und betrachtete Nia, die nach wie vor auf meinem Schoß saß und sich vertrauensvoll an mich schmiegte. Die tiefe Stimme schien sie aus dem Schlaf geschreckt zu haben, denn sie setzte sich rasch auf und warf mir einen fragenden Blick zu. Ich strich ihr beruhigend über das Haar. Uns würde nichts geschehen. Es waren zu viele Zeugen anwesend, als das er gewagt hätte, sich mir anzunähern. Dennoch war mir nicht wohl in meiner Haut.
„Das Kind steht dir. Gefällt mir. Ist das deines?“, fragte Kellan bedächtig.
„Das meines Bruders“, beschied ich ihm knapp.
„Dann bist du also noch zu haben?“ Er taxierte mich mit einem berechnenden Blick.
„Nicht für dich“, erwiderte ich eisig. Allein bei dem Gedanken, diesem Mann zur Frau gegeben zu werden, gefror mir das Blut in den Adern. Ich wusste, dass ich keine Wahl haben würde, was meinen zukünftigen Ehemann betraf, aber ich hoffte, dass mir noch ein wenig Zeit blieb. Ich hatte nicht den Wunsch, in ein fremdes Haus zu einer mir fremden Familie zu ziehen, zu einem Mann, der über mich würde verfügen können, wie er wollte. Ich bezweifelte, dass ich das Glück haben würde, einen Mann wie Kian zu finden, und ich fürchtete den Tag, an dem ich sein Haus für immer verlassen musste.
„Das werden wir noch sehen!“, gab Kellan ebenso eisig zurück. Er warf mir einen vernichtenden Blick zu, dann machte er auf dem Absatz kehrt und ließ mich mit Nia vor dem Feuer zurück. Ich fühlte mich auf einmal sehr allein und sehr hilflos. Diese Unterhaltung würde noch Folgen haben, dessen war ich mir gewiss. Kellan hatte nicht wie ein Mann gewirkt, der sich abweisen ließ, obwohl ich mir größte Mühe gegeben hatte.

Als Kian weniger später zurück kam und sich neben mich setzte, atmete ich erleichtert auf. Dann sah ich ihn mir genau an. Niemals zuvor hatten seine Augen so gestrahlt, und er schien nicht verhindern zu können, dass sich immer wieder ein leises Lächeln auf seine Lippen stahl.
„Vielleicht ist es jetzt an mir, dich zu warnen, Bruder“, meinte ich leise.
Kian wandte sich zu mir um. „Und wovor, Schwester?“, fragte er, noch immer lächelnd.
„Vor zu offensichtlichem Interesse? Ich weiß es auch nicht so recht, aber kaum warst du gegangen, da kam ein rothaariger Hüne auf mich zu, stellte sich als Kellan vor und sagte, ich möchte dir ausrichten, dass du dich in Acht nehmen soll, da seine Schwester nicht zu haben ist.“
Das Lächeln verschwand, und ich verspürten einen leisen Stich des Bedauerns. Er hatte es verdient, glücklich zu sein, und ich hasste es, ihn in die Wirklichkeit zurück stoßen zu müssen, doch der Wortwechsel mit Kellan hatte ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend hinterlassen, und er schien seine Warnung ernst gemeint zu haben.
„Kellan?“ Kian musterte mich jetzt aufmerksam und zog die im Feuerschein golden glänzenden Augenbrauen zusammen, als er den panischen Ausdruck in meinen Augen gewahrte. „Was wollte er von dir?“
„Mir drohen, nehme ich an? Er schien Interesse an mir zu haben.“ Ich schauderte.
„Wir werden noch vorsichtiger sein müssen als wir es ohnehin schon sind.“ Kian legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Kellan ist vom selben Schlag wie unser lieber Bruder. Gib Acht, dass du niemals mit ihm alleine bist!“

Impressum

Texte: (c) by Schneeflocke alias C.S.
Tag der Veröffentlichung: 06.02.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Vielen Dank an alle, die diese Reihe mit Sternen bedacht haben! Freut mich, dass euch meine Geschichte gefällt! Über ein paar Kommentare würde ich mich wieder wahnsinnig freuen...

Nächste Seite
Seite 1 /